Gebieterin des Wassers - Christine Feehan - E-Book

Gebieterin des Wassers E-Book

Christine Feehan

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Beschreibung

Lev hat die Erinnerung an sein bisheriges Leben verloren, als er von der Taucherin Rikki aus dem stürmischen Ozean gerettet wird. Die Herkunft seiner unzähligen Narben gibt Rätsel auf. Sind sie Zeugnis einer zwielichtigen Vergangenheit? Aber auch Rikki hat ein Geheimnis – und sie muss sich eine wachsende Zuneigung zu dem Unbekannten eingestehen. Doch die Liebenden werden sehr schnell von ihrer Vergangenheit eingeholt.

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Das Buch

Rikki scheint am Wendepunkt ihres Lebens angekommen zu sein, als sie einen geheimnisvollen Fremden aus dem aufgewühlten Meer rettet. Lev verliebt sich in die hübsche Taucherin, und auch Rikki fühlt sich immer mehr zu dem »Mann ohne Vergangenheit« hingezogen, denn Lev Prakenskij kann sich durch das Unglück zunächst nicht mehr an sein bisheriges Leben erinnern. Rikki wiederum kämpft mit ihren eigenen furchtbaren Erinnerungen: Ihre Eltern und ihr Verlobter sind in Bränden ums Leben gekommen, deren Entstehung Rätsel aufgibt. Ist Rikki selbst für die Brände verantwortlich? Lev ist von ihrer Unschuld überzeugt, da er ihr Geheimnis herausgefunden hat: Sie hat Macht über das Wasser. Auch Lev besitzt übernatürliche Gaben. Die beiden scheinen füreinander bestimmt zu sein. Aber Levs bisheriges Leben wird zur Gefahr für ihre Sicherheit, und auch das Feuer scheint zu einer erneuten Bedrohung für Rikki zu werden. Reichen ihre übersinnlichen Fähigkeiten und ihre innige Liebe aus, um den lebensbedrohlichen Gefahren zu entkommen?

Die Autorin

Christine Feehan wurde in Kalifornien geboren, wo sie heute noch mit ihrem Mann und ihren elf Kindern lebt. Sie begann bereits als Kind zu schreiben und hat seit 1999 mehr als vierzig erfolgreiche Romane veröffentlicht, die in den USA mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet wurden und alle auf die New-York-Times-Bestsellerliste gekommen sind.

Mehr Informationen über die Autorin und ihre Bücher finden sich im Anschluss an diesen Roman und auf ihrer Website

www.christinefeehan.com

CHRISTINE FEEHAN

Gebieterin

des Wassers

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Uschi Gnade

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe WATER BOUND

erscheint bei Penguin Group, New York

Deutsche Erstausgabe 10/2011

Copyright © 2010 by Christine Feehan

Copyright © 2011 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung und Konzeption: © Nele Schütz Design, München

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-06365-8

www.heyne.de

Für Mike Carpenter

und unsere geliebte Lillyana

1.

Flammen rasten an den Wänden hinauf und breiteten sich über die Decke aus. Orange. Rot. Lebendig. Das Feuer sah ihr mitten ins Gesicht. Sie konnte es atmen hören. Es erhob sich, zischend und spuckend, und folgte ihr, als sie über den Fußboden kroch. Rauchschwaden wogten durch den Raum und nahmen ihr die Luft zum Atmen. Sie blieb dort unten und hielt so oft und so lange wie möglich den Atem an. Die ganze Zeit griffen die gierigen Flammen heißhungrig nach ihr, züngelten über ihre Haut, sengend und kokelnd, und fackelten ihre Haarspitzen ab.

Brocken flammender Trümmer fielen von der Decke auf den Boden, und Glas barst. Eine Reihe von kleinen Explosionen zog durch den Raum, als die enorme Hitze Lampen zerspringen ließ. Sie schleppte sich dem einzigen Ausgang entgegen, der kleinen Hundeklappe in der Küche. Hinter ihr tobte das Feuer, als sei es erzürnt über ihren Fluchtversuch.

Eine tanzende, schimmernde Feuerwand. Ihr Blickfeld engte sich ein, bis die Flammen zu einem gigantischen Monster wurden, das seine langen Arme und einen schaurigen, entstellten Kopf nach ihr ausstreckte. Es kroch auf dem Boden hinter ihr her, und seine abscheuliche Zunge leckte an ihren nackten Füßen. Sie schrie, doch der einzige Laut, der hervorkam, war ein entsetzliches würgendes Husten. Sie drehte sich zu ihrem Feind um und fühlte seine Bosheit, als sich die Flammen über sie ergossen und sie verzehren wollten, sie von innen heraus zu verschlingen versuchten. Endlich zwängte sich ihr Schrei an dem furchtbaren Kloß vorbei, der ihre Kehle verstopfte, und in einem schrillen Heulen kreischte sie ihr Entsetzen heraus. Sie versuchte zu rufen und das Wasser zu bitten, es möge zu ihr kommen, um sie zu retten. In der Ferne schwoll das Schrillen der Sirenen an und wurde immer lauter. Sie warf sich zur Seite, um den Flammen zu entgehen …

Rikki Sitmore landete hart auf dem Boden neben ihrem Bett. Dort blieb sie mit rasendem Herzklopfen liegen; Grauen strömte pochend durch ihre Adern, und ihr Verstand rang darum, die Tatsache zu verarbeiten, dass es nichts weiter als ein Alptraum war. Derselbe vertraute alte Alptraum. Sie war in Sicherheit und unversehrt, obwohl sie die Glut des Feuers noch auf ihrer Haut fühlen konnte.

»Verdammt nochmal.« Ihre Hand tastete nach dem Radiowecker, und auf der Suche nach dem Knopf zum Abstellen des Wecktons, der ganz ähnlich klang wie die Feuerwehrsirene in ihrem Traum, schlugen ihre Finger blind darauf ein. In der nachfolgenden Stille konnte sie das Geräusch von fließendem Wasser hören, das ihrem Hilferuf Folge geleistet hatte, und sie wusste aus Erfahrung, dass jeder Wasserhahn in ihrem Haus aufgedreht war.

Sie zwang sich dazu, sich aufzusetzen, und stöhnte leise, als ihr Körper protestierte. Ihre Gelenke und Muskeln taten so weh, als hätte sie Stunden in einer starren Haltung verbracht.

Rikki wischte sich mit einer Hand das schweißüberströmte Gesicht ab, stand langsam auf und zwang ihren schmerzenden Körper, von einem Raum in den anderen zu laufen und alle Wasserhähne zuzudrehen. Am Schluss floss nur noch Wasser aus dem Hahn über dem Waschbecken und aus der Dusche in ihrem Badezimmer. Auf dem Rückweg durch das Schlafzimmer schaltete sie das Radio an, und der regionale Küstensender ließ Musik in das Zimmer strömen. Heute brauchte sie das Meer, ihr geliebtes Meer. Nichts bewährte sich besser, um ihr Gemüt zu beruhigen, wenn sie der Vergangenheit zu nah kam.

Sowie sie die Schwelle zu ihrem Badezimmer überschritt, war sie von kühlen Meeresfarben umgeben, die sie sofort mit Ruhe erfüllten. Der graugrüne Schiefer unter ihren Füßen passte im Farbton zu den graugrünen Seeschildkröten, die an den Wänden durch ein Meer aus schillerndem Blau schwammen.

Sie duschte immer abends, um das Meersalz von ihrem Körper zu spülen, doch nach einem besonders üblen Alptraum fühlten sich die sprühenden Wasserstrahlen auf ihrer Haut wie eine besänftigende Reinigungslotion für ihre Seele an. Sie betrat die Duschkabine und wurde augenblicklich von dem warmen Wasser beschwichtigt; es sickerte tief in ihre Poren und erfrischte sie. Die Tropfen auf ihrer Haut fühlten sich sinnlich an und hypnotisierten sie geradezu mit der Perfektion ihrer Form. Sie verlor sich darin und driftete sofort in eine andere Realität ab, ein Reich, in dem jegliches Chaos aus ihrem Inneren verschwunden war.

Dinge, die normalerweise schmerzhaft für sie sein konnten – Geräusche, taktile Strukturen, Alltäglichkeiten, die für andere selbstverständlich waren –, wurden fortgespült wie der Schweiß aus ihren Alpträumen oder das Salz aus dem Meer. Wenn sie im Wasser stand, kam sie der Normalität näher als jemals sonst, und sie kostete dieses Gefühl aus. Wie immer verlor sie sich unter der Dusche, versank in der reinen, erfrischenden Wonne, die das Wasser ihr bereitete, und verschwand darin, bis das warme Wasser von einem Moment auf den anderen aufgebraucht war und ein eiskalter Schauer sie abrupt aus ihrer Trance herausriss.

Sowie sie wieder frei durchatmen konnte, rieb sie sich mit einem Handtuch trocken und zog ihren Trainingsanzug an, ohne die Narben auf ihren Waden und auf ihren Füßen anzusehen. Sie konnte es nicht gebrauchen, diese Momente von neuem zu durchleben – und doch kehrte das Feuer Nacht für Nacht zurück, sah sie an und hielt ihr den Tod vor Augen.

Sie erschauerte und stellte ihr Radio lauter, damit sie es im ganzen Haus hören konnte, bevor sie ihren Laptop aussteckte und ihn durch den Flur in ihre Küche trug. Kaffee war das einzige Heilmittel, um törichte Alpträume abzuschütteln. Sie ließ den Kaffee durchlaufen, während sie sich die Lokalnachrichten anhörte. Als der Wetterbericht kam, ließ sie sich auf einen Stuhl sinken und hörte konzentriert zu. Sie wollte wissen, wie das Meer heute Morgen aufgelegt war. Ruhig? Zornig? Ein wenig aufbrausend? Sie streckte sich beim Zuhören. Ruhige See. Kaum Wind. Eine verflixte Tsunami-Übung?

Nicht das schon wieder. »So ein Blödsinn«, murmelte sie laut vor sich hin und ließ niedergeschlagen die Schultern hängen. »Das braucht doch kein Mensch.«

Sie hatten gerade erst eine alberne Übung hinter sich gebracht. Alle hatten sich bereitwillig gefügt. Wie hatte sie die Meldung in den Lokalnachrichten verpassen können, dass sie schon wieder eine angesetzt hatten? Wenn man Übungen dieser Größenordnung anberaumte, wurden sie immer mit viel Trara angekündigt. Aber andererseits … Rikki setzte sich aufrecht hin, und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Vielleicht war diese Tsunami-Übung ja genau die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte. Heute war ein geradezu idealer Tag, um arbeiten zu gehen. Wenn eine Tsunami-Warnung ausgegeben wurde, würde niemand außer ihr draußen auf dem Meer sein, und sie würde es ganz für sich allein haben. Das war die perfekte Chance, ihr geheimes Tauchgebiet aufzusuchen und das kleine Vermögen in Form von Seeigeln zu ernten, das sie dort entdeckt hatte. Sie hatte die Stelle schon vor Wochen gefunden, wollte aber nicht dort tauchen, wenn möglicherweise andere in der Nähe waren und ihre Schatztruhe sehen könnten.

Rikki schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und schlenderte auf die Veranda hinaus, um den ersten Schluck vollauf zu genießen. Heute würde sie die dicke Kohle machen, vielleicht sogar genug Geld, um den Frauen, die sie in ihre Familie aufgenommen hatten, die Ausgaben zu erstatten, die sie ihretwegen gehabt hatten. Wenn sie nicht gewesen wären, wäre ihr geliebtes Boot immer noch nicht fertig. Wahrscheinlich würde sie nur wenige Stunden arbeiten müssen, um das Boot zu füllen. Hoffentlich würde ihr Abnehmer, der die Ware weiterverarbeitete, die Seeigel für ebenso gut halten, wie sie es tat, und Spitzenpreise bezahlen.

Rikki sah sich nach den Bäumen um, die im frühen Morgenlicht schimmerten. Vögel flatterten von einem Ast zum anderen, und wilde Truthähne spazierten an dem fernen Bach entlang, wo sie Samen für sie ausgestreut hatte. Ein junger Rehbock äste auf der Wiese nicht weit von ihrem Haus. Als sie dasaß, ihren Kaffee trank und die Tiere beobachtete, die um sie herum in Freiheit lebten, begannen sowohl ihr Körper als auch ihr Geist zur Ruhe zu kommen.

Sie hatte sich nie ausgemalt, dass sie jemals Gelegenheit haben würde, an einem solchen Ort zu leben und ein solches Leben zu führen. Und dazu wäre es auch nie gekommen, wenn die fünf Fremden nicht gewesen wären, die in ihr Leben getreten waren und sie in ihrer aller Leben eingelassen hätten. Sie hatten ihre Welt für immer verändert.

Ihnen verdankte sie alles. Ihren »Schwestern«. Sie waren nicht ihre leiblichen Schwestern, aber keine blutsverwandte Schwester hätte ihr näherstehen können. Sie nannten sich Schwestern des Herzens, und genau das waren sie für Rikki. Ihre Schwestern. Ihre Familie. Sie hatte niemanden außer ihnen, und sie wusste auch, dass sie nie jemand anderen haben würde. Sie besaßen ihre glühende und unerschütterliche Loyalität.

Die fünf Frauen hatten an sie geglaubt, als sie jeglichen Glauben verloren hatte und so kaputt gewesen war wie noch nie. Sie hatten sie eingeladen, eine von ihnen zu werden, und obwohl ihr davor gegraut hatte, das Übel würde sich an ihre Fersen heften und ihr auch dorthin folgen, hatte sie die Einladung angenommen, denn andernfalls wäre sie gestorben. Diese eine Entscheidung war bei weitem das Beste, was sie jemals getan hatte.

Die Familie lebte gemeinsam auf der Farm. Sechs Frauen. Auf mehr als hundertzwanzig Hektar verbargen sich sechs wunderschöne Häuser. Ihres war das kleinste von allen. Rikki wusste, dass sie niemals heiraten oder Kinder haben würde, und daher brauchte sie kein großes Haus. Außerdem liebte sie die Schlichtheit ihres kleinen Häuschens mit der großzügigen Raumaufteilung, den hohen Deckenbalken und den beschwichtigenden Meeresfarben, die ihr tiefen inneren Frieden gaben.

Ein leiser Schauer, der ihren Körper durchzuckte, diente ihr als Warnung. Sie war nicht allein. Rikki drehte ihren Kopf um, und bei dem Anblick der Frau, die sich näherte, ließ ihre Anspannung ein wenig nach. Blythe Daniels war groß und schlank und hatte eine elegante Frisur; ihr üppiges blondes Haar wies trotz ihrer zweiundvierzig Jahre keine Spur von Grau auf. Blythe war die älteste von Rikkis fünf Schwestern und das anerkannte Familienoberhaupt.

»He, du«, rief Rikki zur Begrüßung. »Du konntest wohl nicht schlafen.«

Blythe lächelte sie strahlend an. Rikki fand ihr Lächeln ungeheuer liebenswert und zugleich wunderschön – leicht schief, doch es ließ gerade weiße Zähne aufblitzen, die sie von Natur aus hatte und nicht etwa Zahnspangen verdankte.

»Du fährst doch heute nicht raus aufs Meer?«, fragte Blythe und ging mit der größten Selbstverständlichkeit auf den Hahn an der Seite des Hauses zu, um ihn zuzudrehen.

»Klar fahre ich raus.« Verflixt nochmal, sie hätte alle vier Schläuche kontrollieren müssen. Rikki mied Blythes allzu verständnisvollen Blick.

Blythe sah unruhig in Richtung Meer. »Ich habe ein ungutes Gefühl …«

»Wirklich?« Rikki zog die Stirn in Falten und stand auf, um zum Himmel aufzublicken. »Mir scheint es ein perfekter Tag zu sein.«

»Nimmst du einen Tender mit?«

»Nein, ganz bestimmt nicht.«

Blythe seufzte. »Du hast bei unserem letzten Gespräch gesagt, du würdest es dir durch den Kopf gehen lassen. Es ist sicherer, Rikki. Du solltest nicht allein tauchen.«

»Ich kann es nicht leiden, wenn jemand meine Ausrüstung anfasst oder meine Schläuche falsch aufrollt. Das Werkzeug liegt dann irgendwo, nur nicht an seinem Platz. Nein. Ausgeschlossen.« Sie bemühte sich, ihre Worte nicht aggressiv klingen zu lassen, aber es kam überhaupt nicht in Frage, dass sie jemanden in ihrem Boot duldete, der ihre Sachen in Unordnung brachte.

»Es ist sicherer.«

Rikki verdrehte die Augen. Wenn irgendein Idiot in dem Boot saß, während sie unter Wasser war, dann tauchte sie doch trotzdem allein, oder etwa nicht? Sie fasste ihre Gedanken nicht in Worte, sondern versuchte stattdessen zu lächeln. Das war schwierig. Sie lächelte nicht oft und schon gar nicht dann, wenn die Alpträume zu nah waren. Und sie war barfuß. Sie konnte es nicht leiden, barfuß ertappt zu werden, und obwohl Blythe wild entschlossen war, nicht hinzusehen, wurde ihr Blick unwillkürlich von den Narben angezogen, die Rikkis Füße und Waden bedeckten.

Rikki wandte sich zum Haus um. »Möchtest du eine Tasse Kaffee?«

Blythe nickte. »Ich kann sie mir selbst holen, Rikki. Genieße du lieber den frühen Morgen.« Selbst in Turnschuhen und Trainingsanzug gelang es Blythe immer noch, elegant zu wirken. Rikki hatte keine Ahnung, wie sie das anstellte. Blythe war kultiviert und gebildet und all die Dinge, die Rikki nicht war, aber das schien für Blythe nie eine Rolle zu spielen.

Rikki holte tief Atem und zwang sich, wieder auf den Stuhl zu sinken und ihre Füße unter sich anzuziehen. Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie der Gedanke beunruhigte, jemand ginge in ihr Haus.

»Du trinkst deinen Kaffee wieder schwarz«, sagte Blythe und warf ein Stück Würfelzucker in Rikkis Becher.

Rikki sah sie finster an. »Das war gemein.« Sie sah sich nach ihrer Sonnenbrille um, weil sie ihren Blick verbergen wollte. Sie neigte dazu, Menschen anzustarren, und sie wusste, dass sich die meisten Leute daran störten. Blythe schien es nie etwas auszumachen, aber Rikki ließ es lieber nicht darauf ankommen. Sie fand die Sonnenbrille auf dem Geländer und setzte sie auf ihre Nase.

»Wenn du heute tauchen gehst, brauchst du den Zucker«, hob Blythe hervor. »Du bist viel zu dünn und mir ist aufgefallen, dass du wieder nicht einkaufen warst.«

»Wozu denn? Die Schränke sind voll mit Lebensmitteln«, hob Rikki hervor.

»Von Erdnussbutter kann man sich nicht ernähren. Du hast nichts anderes als Erdnussbutter im Schrank. Ich rede von richtiger Nahrung, Rikki.«

»Ich habe Erdnussbutter-Smarties und Erdnussbutter-Eiskonfekt. Und Bananen.« Wenn jemand anderes in ihren Schränken herumgeschnüffelt hätte, wäre Rikki wütend geworden, aber Blythe konnte sie einfach nicht böse sein.

»Du musst versuchen, dich gesünder zu ernähren.«

»Das mache ich doch. Immerhin habe ich Bananen in meinen Speiseplan aufgenommen, weil du mich darum gebeten hast. Und jeden Abend esse ich Brokkoli.« Rikki schnitt eine Grimasse. Sie tunkte das rohe Gemüse in Erdnussbutter, um es genießbarer zu machen, aber da sie es Blythe versprochen hatte, aß sie ergeben den Brokkoli. »Allmählich schmeckt mir das Zeug sogar, obwohl es grün ist und sich wie Kieselsteine in meinem Mund anfühlt.«

Blythe lachte. »Dann bedanke ich mich wohl besser bei dir dafür, dass du wenigstens Brokkoli isst. Wo gehst du tauchen?«

Sie hätte sich ja denken können, dass Blythe sie danach fragen würde. Rikki wand sich ein wenig. Blythe war einer dieser Menschen, die man einfach nicht belog – oder ignorierte –, wie Rikki es bei anderen häufig tat. »Ich habe da diesen Blackout gefunden und will ihn abernten, ehe es zu spät ist.«

Blythe verzog das Gesicht. »Verschone mich bloß mit deinem Taucherlatein, meine Liebe. Ich habe keinen Schimmer, wovon du sprichst.«

»Seeigel, einer neben dem anderen, eine riesige Herde. So viele, dass ich glaube, ich kann innerhalb von wenigen Stunden zweitausend Kilo einsacken. Wir könnten das Geld gebrauchen.«

Blythe musterte Rikki mit festem Blick über den Rand ihres Kaffeebechers. »Wo, Rikki?«

Sie war wie eine verdammte Bulldogge, wenn sie sich erst einmal festgebissen hatte. »Nördlich von Fort Bragg.«

»Du hast mir erzählt, diese Gegend sei gefährlich«, rief ihr Blythe in Erinnerung.

Rikki verfluchte sich stumm für ihr großes Mundwerk. Sie hätte niemals mit den anderen über ihre eigenartigen Gefühle reden dürfen. »Nein, ich habe gesagt, sie sei mir unheimlich. Das Meer ist überall gefährlich, Blythe, aber du weißt doch, dass ich immer auf Sicherheit bedacht bin. Ich befolge sämtliche Vorsichtsmaßnahmen für Taucher und halte mich streng an all meine eigenen Sicherheitsregeln. Ich bin vorsichtig, und ich gerate nicht in Panik.«

Normalerweise tauchte sie nicht entlang der Verwerfungslinie, die direkt oberhalb der Küste von Fort Bragg verlief, weil der Abgrund tief war und das Gebiet von Weißen Haien als Jagdgrund genutzt wurde. Im Allgemeinen arbeitete sie ganz unten auf dem Meeresboden. Haie griffen von unten an, und daher war sie relativ sicher vor ihnen. Aber Seeigel am Festlandsockel zu ernten war riskant. Sie würde Lärm machen, und ein Hai könnte von unten kommen. Andererseits wollte sie das Geld … Ihr lag wirklich daran, ihren Schwestern all die Unkosten zurückzuerstatten, in die sie sich gestürzt hatten, um ihr bei ihrem Boot zu helfen.

Blythe schüttelte den Kopf. »Ich rede nicht von deinen Sicherheitsregeln. Wir wissen alle, dass du eine tolle Taucherin bist, Rikki, aber du solltest nicht allein dort draußen sein. Alles Mögliche kann schiefgehen.«

»Wenn ich allein bin, bin ich nur für mein eigenes Leben verantwortlich. Ich verlasse mich auf niemand anderen. Jede Sekunde zählt, und ich weiß genau, was ich zu tun habe. Ich bin schon unzählige Male in Schwierigkeiten geraten, und ich kann damit umgehen. Allein ist es einfacher.« Und sie brauchte auch mit niemandem zu reden oder nett zu ihm zu sein. Sie konnte schlicht und einfach sie selbst sein.

»Warum ausgerechnet nördlich von Fort Bragg? Du hast mir erzählt, der Meeresboden sei dort ganz anders, und es gäbe viel mehr Haie; außerdem hättest du es dort so unheimlich gefunden, dass du fast ausgeflippt wärst.«

Jetzt hätte Rikki beinah verschmitzt gelächelt. Wenn Blythe ausgeflippt sagte, dann hieß das, sie hatte sich länger mit Lexi Thompson unterhalten. Lexi war die Jüngste in ihrer »Familie«.

»Ich habe einen Sockel in etwa neun Metern Tiefe gefunden, der vollständig mit Seeigeln bedeckt ist. Sie machen einen fantastischen Eindruck. Die Verwerfungslinie verläuft durch diese Gegend, und daher ist dort ein Abgrund, der etwa zwölf Meter breit ist. Auf der anderen Seite ist noch ein Sockel, zwar etwas kleiner, aber auch gesteckt voll. Niemand hat die Stelle bisher gefunden. Es ist ein Blackout, Blythe, eine ganze Herde, ein Seeigel neben dem anderen. Ich kann etwa zweitausend Kilo ernten, und dann verschwinde ich wieder.«

Die Aufregung in Rikkis Stimme war nicht zu überhören. Blythe schüttelte den Kopf. »Das gefällt mir nicht, aber ich verstehe es.« Und genau das war das Ärgerliche – sie verstand es tatsächlich. Rikki war sowohl brillant als auch äußerst introvertiert. Sie schien ihre Begabungen als etwas ganz Selbstverständliches anzusehen. Blythe brauchte sie nur zu bitten, auf dem Computer etwas zu programmieren, und schon schrieb Rikki auf die Schnelle ein Programm, das besser funktionierte als alles, was Blythe jemals ausprobiert hatte.

Rikkis Leben war eine Tragödie, und Blythe hätte sie oft am liebsten in ihre Arme gezogen und sie eng an sich geschmiegt, doch sie wusste, dass sie das besser bleiben ließ. Rikki sperrte sich sehr gegen menschliche Berührungen und gegen jede Form von zwischenmenschlichen Beziehungen – im Grunde genommen gegen alles, was mit anderen zu tun hatte. Sie hatte jede der fünf anderen Frauen in ihre Welt eingelassen, aber nur in begrenzte Bereiche, und wenn sie einen Schritt zu weit gingen, verschloss sich Rikki vollständig. Ihre Vergangenheit verfolgte sie – das Feuer, das ihre Eltern getötet und die Häuser von Pflegefamilien niedergebrannt hatte. Das Feuer, das ihr ihren Verlobten genommen hatte, den einzigen Menschen, den zu lieben sich Rikki jemals gestattet hatte.

»Du hattest wieder einen Alptraum, nicht wahr?«, fragte Blythe. »Nur damit du dich nicht wunderst – ich habe auch die Hähne der drei anderen Wasserschläuche, die aus deinem Haus kommen, zugedreht.«

Blythe fragte nicht, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass die Hähne aufgedreht waren. Die ganze Familie wusste, dass Wasser und Rikki untrennbar miteinander verknüpft waren und dass seltsame Dinge geschahen, wenn Rikki Alpträume hatte.

Rikki biss sich auf die Unterlippe. Sie versuchte es mit einem lässigen Achselzucken, das besagen sollte, Alpträume seien nicht der Rede wert, doch sie wussten beide, dass es nicht so war. »Vielleicht. Ja. Ab und zu träume ich immer noch davon.«

»Aber in der letzten Zeit hast du häufig Alpträume«, hakte Blythe behutsam nach. »Ist das nicht schon der vierte oder fünfte innerhalb der letzten Wochen?«

Sie wussten beide, dass es viel mehr gewesen waren. Rikki stieß prustend ihren Atem aus. »Das ist einer der Gründe, weshalb ich heute tauchen gehe. Es hilft immer.«

»Ich weiß, dass du kein Risiko eingehst«, wagte sich Blythe vor. »Aber ich könnte mit dir kommen, ein Buch oder so was mitnehmen und im Boot lesen.«

Rikki wusste, dass Blythe sie auf diese Weise fragte, ob sie vielleicht vorsätzlich unachtsam sein könnte. Weil sie vielleicht immer noch trauerte oder sich Vorwürfe machte. Da sie die Antwort selber nicht kannte, änderte sie ihre Taktik. »Ich dachte, du gehst zu der Hochzeit. Heiratet nicht heute Elle Drake? Darauf hast du dich doch schon gefreut.« Ein weiterer Grund, weshalb das Meer ihr gehören würde, ihr ganz allein. Alle waren zu der Drake-Hochzeit eingeladen.

»Nun, wenn du nicht zu der Hochzeit gehst und stattdessen aufs Meer hinausfahren musst, dann werde ich mit dem größten Vergnügen dort draußen ein Buch lesen«, beharrte Blythe.

Rikki warf ihr eine Kusshand zu. »Nur du würdest dir eine Hochzeit entgehen lassen, um mich zu begleiten. Dabei würdest du dich die ganze Zeit übergeben, solange wir dort draußen wären. Du wirst doch immer seekrank, Blythe.«

»Ich versuche es mit Ingwer«, sagte Blythe. »Lexi sagt, es gibt nichts Besseres.«

»Sie muss es ja wissen.«

Lexi wusste alles, was es über Pflanzen und deren Verwendung zu wissen gab. Wenn Lexi sagte, Ingwer würde helfen, dann war Rikki sicher, dass sie Recht hatte, aber es kam überhaupt nicht in Frage, dass Blythe darauf verzichtete, ihren Spaß zu haben – bloß, weil sie um Rikkis Sicherheit besorgt war. Das Meer war Rikkis Leben. Sie konnte nicht fern von ihm sein. Sie musste es nachts hören können, das beschwichtigende Anrollen der Wellen, das stürmische Tosen der Brandung, das Gebell der Robben, die Nebelhörner. All das war in ihrem Leben notwendig, damit sie ihr inneres Gleichgewicht bewahrte.

Aber in erster Linie war es das Wasser selbst. Sowie sie es berührte, ihre Hände hineingleiten ließ, fühlte sie sich anders. Dafür gab es keine Erklärung. Wie konnte sie jemand anderem erklären, dass sie inneren Frieden und vollständige Freiheit verspürte, wenn sie im Wasser war? Sie verstand es ja selbst nicht.

»Es wird alles gutgehen, Blythe. Ich freue mich schon auf das Tauchen.«

»Du verbringst wieder zu viel Zeit allein«, sagte Blythe unverblümt. »Komm mit zu der Hochzeit. Alle anderen gehen hin. Judith kann etwas zum Anziehen für dich finden, wenn du magst.«

Rikki hatte den Hang, sich bei Judith Rat zu holen, was sie anziehen und wie sie sich zurechtmachen sollte, wenn sie eine Veranstaltung besuchte, bei der sie auf eine größere Ansammlung von Menschen treffen würde. Blythe verfolgte offensichtlich eine Absicht damit, sie jetzt zu erwähnen – sie hoffte, Rikki würde es sich doch noch anders überlegen.

Rikki schüttelte den Kopf und versuchte sich keine körperliche Reaktion anmerken zu lassen, obwohl der grässliche Gedanke an die Menschenmenge sie von Kopf bis Fuß erschauern ließ. »Das kann ich nicht tun. Du weißt, dass ich es nicht kann. Ich sage immer die falschen Sachen und bringe die Leute aus der Fassung.«

Sie hatte Blythe in einer Gruppe, in der es um Trauerbewältigung ging, kennengelernt und irgendwie – warum wusste Rikki bis heute noch nicht – war es dazu gekommen, dass sie vor den anderen mit ihrer Befürchtung herausgeplatzt war, sie, Rikki, könne gemeingefährlich sein. Sie sprach nie mit jemandem über sich selbst oder ihre Vergangenheit, doch Blythe hatte eine Art an sich, andere Menschen zum Reden zu bringen, weil sie sich in ihrer Gegenwart wohlfühlten. Sie war die toleranteste Frau, der Rikki jemals begegnet war. Wenn es darum ging, etwas zu tun, das Blythe oder eine ihrer anderen Schwestern abgeschreckt oder gar gegen sie aufgebracht hätte, war Rikki zu keinem Risiko bereit. Und das hieß, dass sie sich von den Bewohnern von Sea Haven fernhalten musste.

»Rikki«, sagte Blythe mit ihrer nachtwandlerischen Fähigkeit, die Rikki glauben ließ, sie könnte Gedanken lesen, »an dir ist nichts auszusetzen. Du bist ein wunderbarer Mensch, und du bringst uns nicht in Verlegenheit.«

Rikki versuchte verzweifelt, sich nicht zu winden. Sie wünschte, sie wäre bereits draußen auf dem Meer und so weit wie möglich von diesem Gespräch entfernt. Sie rückte ihre Sonnenbrille zurecht, um sicherzugehen, dass sie nicht ungebührlich starrte. Himmel nochmal. Es gab so verflucht viele Regeln im gesellschaftlichen Umgang. Wie konnten sich die Leute das bloß alles merken? Da war ihr das Meer allemal lieber.

»Und in meiner Gegenwart brauchst du auch keine Sonnenbrille zu tragen«, fügte Blythe behutsam hinzu. »Mir macht es überhaupt nichts aus, wie du mich ansiehst.«

»Dann bist du die Ausnahme, Blythe«, fauchte Rikki und biss sich im nächsten Moment fest auf die Unterlippe. Schließlich war Blythe nicht schuld daran, dass Rikki entweder überglücklich oder todtraurig war, dass sie eine Stinkwut auf jemanden haben konnte oder ihm aus der Hand fraß. Für sie gab es nur Extreme auf der emotionalen Skala, und das erschwerte ihr – ob Blythe es zugeben wollte oder nicht – den Umgang mit anderen Menschen. Außerdem ärgerte sie sich ständig teuflisch über alle.

»Ich bin anders, Blythe. Ich fühle mich wohl dabei, und es macht mir nichts aus, anders zu sein, aber andere Menschen fühlen sich unwohl in meiner Gegenwart.« Das war eine Tatsache, die Blythe nicht bestreiten konnte. Rikki weigerte sich oft, jemandem auf eine direkte Frage zu antworten, wenn sie der Meinung war, das ginge denjenigen nichts an. Und alles Persönliche ging sowieso niemanden außer ihr selbst etwas an. Sie empfand das Ausbleiben einer Reaktion in solchen Fällen als absolut angemessen, aber die Person, die ihr die Frage gestellt hatte, sah das im Allgemeinen nicht so.

»Du ziehst dich vor der Welt zurück, und das tut dir nicht gut.«

»So komme ich am besten klar«, sagte Rikki mit einem kleinen Achselzucken. »Ich bin liebend gern hier bei dir und den anderen. Hier fühle ich mich sicher. Auch wenn ich im Wasser bin, fühle ich mich sicher. Ansonsten …« Sie zuckte wieder die Achseln. »Mach dir um mich keine Sorgen. Ich bringe mich schon nicht in Schwierigkeiten.«

Blythe trank einen Schluck Kaffee und musterte Rikki mit einem nachdenklichen Blick. »Du bist eigentlich ein Genie, Rikki. Das weißt du doch, oder nicht? Jemand wie du ist mir noch nie begegnet, jemand mit solchen Fähigkeiten, wie du sie hast. Du kannst innerhalb von Minuten ein Lehrbuch auswendig lernen.«

Rikki schüttelte den Kopf. »Ich lerne es nicht auswendig. Ich behalte einfach nur alles, was ich lese. Ich glaube, deshalb lassen auch meine Umgangsformen viel zu wünschen übrig. Für solche Dinge ist kein Platz in meinem Kopf. Und ich bin kein Genie. Das Genie ist Lexi. Ich kann einfach nur ein paar seltsame Dinge tun.«

»Ich finde, du solltest mit jemandem über die Alpträume reden, Rikki.«

Das Gespräch war qualvoll für sie, und wenn es nicht ausgerechnet Blythe gewesen wäre, hätte Rikki sich gar nicht erst angestrengt. Die Themen, die es streifte, kamen der Vergangenheit etwas zu nah – und das war ein Ort, an den sie niemals gehen würde. Diese Tür in ihrem Innern war fest verschlossen. Sie konnte es sich nicht leisten zu glauben, sie sei zu Dingen fähig, die andere ihr vorgeworfen hatten – Sachen in Brand zu stecken, ihre eigenen Eltern zu töten, mehrere Versuche zu unternehmen, andere zu verletzen. Und Daniel …

Sie wandte sich von Blythe ab, denn sie hatte plötzlich das Gefühl, sie bekäme keine Luft mehr. »Ich muss jetzt los.«

»Versprich mir, dass du vorsichtig sein wirst.«

Rikki nickte. Das war einfacher als eine Auseinandersetzung. »Hab deinen Spaß auf der Hochzeit und richte meine Glückwünsche aus.« Es war viel leichter, auf dem Umweg über die anderen gesellig zu sein. Ihre Schwestern waren alle sehr beliebt und hatten Läden oder Büros in Sea Haven – sie alle nahmen rege am Leben der kleinen Gemeinde teil. Rikki dagegen hielt sich immer abseits und wurde weniger um ihrer selbst willen akzeptiert, sondern eher als Teil der Gemeinschaft, die auf der Farm lebte. Die Einwohner von Sea Haven hatten die Frauen akzeptiert, aus denen sich Rikkis provisorische Familie zusammensetzte, als sie sich erst vor wenigen Jahren hier angesiedelt hatten. Für sie alle war es ein Versuch, die unterschiedlichsten Verluste zu bewältigen.

Sie zwang sich zu einem Lächeln, weil Blythe diejenige gewesen war, die ihr einen Ort gegeben hatte, den sie ihr Zuhause nennen konnte. »Mir fehlt wirklich nichts.«

Blythe nickte und reichte ihr den leeren Kaffeebecher. »Das möchte ich doch sehr hoffen, Rikki. Ich wäre verloren, wenn dir etwas zustieße. Du bist mir wichtig – uns allen.«

Rikki wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Echte Gefühle waren ihr unangenehm und brachten sie in Verlegenheit, und Blythe gelang es immer, echte Gefühle in ihr hervorzurufen. Rikki empfand zu viel, wenn sie sich Gefühle erlaubte, und zu wenig, wenn sie es sich nicht gestattete. Sie zog sich von ihrem Stuhl hoch und sah Blythe hinterher, als sie fortging. Rikki war wütend auf sich, weil sie Blythe nicht gefragt hatte, warum sie schon so früh am Morgen ihre Runden drehte – warum sie nicht schlafen konnte.

Blythe war ihr von all den Frauen das größte Rätsel. Rikki war eine gute Beobachterin, und sie hatte bemerkt, dass Blythe jeder von ihnen Frieden brachte, als nähme sie einen kleinen Teil ihrer jeweiligen Last auf sich.

Rikki seufzte und kippte ihren restlichen Kaffee mit Schwung ins Gras. Zucker im Kaffee. Was sollte das denn? Sie blickte zu dem klaren Himmel auf und versuchte sich darauf zu konzentrieren und an ihr Meer zu denken, die enorme Weite des Wassers, all die Blau- und Grau- und Grüntöne. Wohltuende Farben. Selbst dann, wenn sie ganz besonders aufgewühlt und unberechenbar war, brachte der Ozean ihr Ruhe.

Sie ging wieder in ihr Haus und öffnete die Hintertür weit, um sich nicht beengt zu fühlen, ließ aber das Fliegengitter geschlossen. Die Schränke wischte sie rasch dort ab, wo Blythe sie berührt und unsichtbare Fingerabdrücke hinterlassen hatte. Dann spülte sie die Kaffeebecher und reinigte sorgfältig das Spülbecken.

Rikki summte leise vor sich hin, als sie ihr Mittagessen zusammenstellte. Sie brauchte eine kalorienreiche Mahlzeit. Jede Menge Eiweiß und Zucker. Sie schmierte Erdnussbutterbrote, zwei davon mit Bananen, obwohl eine alte Redensart besagte, Bananen brächten Pech. Zur Ergänzung packte sie eine Handvoll Erdnussbutter-Eiskonfekt und zwei Tüten Erdnussbutter-Smarties ein. Das sollte zur Stärkung genügen. Ihr stand Schwerstarbeit bevor, die viel Kraft erforderte, doch sie liebte ihre Arbeit und genoss sie, insbesondere die Einsamkeit, wenn sie sich unter Wasser und in einer vollkommen andersartigen Umgebung aufhielt – einer Umgebung, in der sie regelrecht aufblühte.

Wichtig war auch, mehr als sonst zu trinken. Daher stellte sie eine Fünfliterflasche Wasser kalt, bevor sie ein nahrhaftes Frühstück zu sich nahm – Erdnussbutter auf Toast. Sie mochte zwar keinen Zucker in ihrem Kaffee, aber sie war nicht so dumm, tauchen zu gehen, ohne sich vorher die notwendigen Kalorien zugeführt zu haben, damit ihre Körperfunktionen im kalten Wasser aufrechterhalten blieben.

Sie aß den Toast aus der Hand – ihr Geschirr blieb unbenutzt. Ihre Schwestern hatten ihr ein erlesen schönes Service mit Muscheln und Seesternen auf dem Rand jedes Tellers geschenkt. Donnerstags spülte sie das gesamte Service sorgfältig und jeden Freitag spülte sie ihr wunderbares Sortiment an Töpfen und Pfannen. All diese Utensilien waren immer sichtbar aufgestellt, damit sie sie ansehen konnte, während sie ihre Sandwichs mit Erdnussbutter aß.

Ihren Taucheranzug hatte sie am Vorabend gewaschen und desinfiziert, und ihre Ausrüstung hatte sie gründlich inspiziert. Rikki hielt ihre gesamte Ausrüstung mit größter Gewissenhaftigkeit instand und wartete auf den einen Moment, wenn all ihre Sinne ihr sagten, es würde Windstille herrschen, und die Bedingungen seien gut zum Tauchen. Ihre Ausrüstung war stets bereit und zu jeder Zeit gepackt, damit ihr nichts im Weg stand, wenn sie wusste, dass sie jetzt tauchen gehen konnte.

Ihr Boot und ihr Pick-up waren ebenfalls immer in vorbildlichem Zustand. Außer den Frauen in ihrer Familie erlaubte sie niemandem, in ihr Boot zu steigen, und selbst das kam selten vor. Kein anderer als Rikki rührte jemals den Motor ihres Boots an. Das galt auch für ihren noch größeren Schatz, den Atlas-Copco-Kompressor mit dem Honda-Motor. Sie wusste, dass von guter Luft ihr Leben abhing. Sie benutzte drei Filter, um das Kohlenstoffmonoxid abzusaugen, das vor ein paar Jahren zwei weithin bekannte einheimische Taucher getötet hatte.

Dank des Northern California Tidelog, ihrer Bibel, kannte sie sich mit den Gezeiten bestens aus. Obwohl sie das Buch in- und auswendig kannte, las sie täglich zum Spaß darin, eine Art Zwangshandlung, gegen die sie machtlos war. Heute hatte sie dort, wo sie tauchen wollte, optimale Arbeitsbedingungen – minimale Gezeiten und hoffentlich kaum Strömung.

Trotz aller Sorgen, die Blythe sich machte, stand für Rikki die Sicherheit wirklich an erster Stelle. Rikki verstaute ihren Taucheranzug und ihre Ausrüstung gemeinsam mit ihrer Reserve-Ausrüstung in dem Pick-up – Taucher hatten im Allgemeinen aus Gründen der Sicherheit für jeden Bestandteil ihrer Ausrüstung einen Ersatz zur Hand, und für Rikki galt das erst recht. Ihre Reserve-Ausrüstung bewahrte sie in einem luftdichten, abgeschlossenen Behälter auf, und sie überprüfte sie in regelmäßigen Abständen, damit sie sicher sein konnte, dass alles funktionsfähig war. Wenige Minuten später fuhr sie zum Hafen von Port Albion und summte dabei zu einer CD von Joley Drake. Die ziemlich berühmte Drake-Familie lebte in dem kleinen Städtchen Sea Haven. Die Drakes waren mit ihren Schwestern befreundet, vor allem mit Lexi und Blythe, die, genau genommen, eine Cousine von ihnen war. Doch Rikki hatte nie mit einer der Drake-Schwestern geredet – und schon gar nicht mit Joley. Sie liebte Joleys Stimme und wollte sich auf keinen Fall vor ihr blamieren.

Es war schon merkwürdig, aber ihr war es immer egal gewesen, wie andere über sie dachten. Freundschaften waren ihr zu kompliziert. Es kostete sie zu viel Mühe, sich anderen anzupassen und damit beschäftigt zu sein, stets das Richtige zu sagen; daher war es einfacher, wenn sie für sich blieb und sich nichts daraus machte, wie andere über sie dachten. Aber bei jemandem, den sie bewunderte – wie Joley –, ging sie kein Risiko ein. Da war es besser, von vornherein Abstand zu halten.

Rikki sang mit, als sie auf der Schnellstraße fuhr und gelegentlich aufs Meer hinausblickte. Das Wasser funkelte wie Edelsteine und lockte sie an – es bot ihr den Frieden, den sie so dringend brauchte. Ein paar Monate lang war sie von ihren Alpträumen verschont geblieben, doch jetzt waren sie mit aller Macht zurückgekehrt und stellten sich fast jede Nacht ein. Das Schema war ihr vertraut, denn im Lauf der Jahre war es schon häufig vorgekommen, dass sie über längere Zeiträume von Alpträumen geplagt wurde. Sie konnte nichts dagegen tun, nur warten, bis die Phase wieder einmal vorbei war.

Ihre Familie war bei einem Brand ums Leben gekommen, als sie dreizehn Jahre alt gewesen war. Eindeutig Brandstiftung, hatten die Feuerwehrleute gesagt. Ein Jahr und sechs Monate später hatte ein Feuer das Haus der Pflegefamilie zerstört, die sie aufgenommen hatte. Niemand war gestorben, aber das Haus war ebenfalls angezündet worden.

Der dritte Brand hatte an ihrem sechzehnten Geburtstag das Haus ihrer zweiten Pflegefamilie zerstört. Sie war mit rasendem Herzklopfen und Atemnot aufgewacht und schon am Rauch und an ihrer Angst fast erstickt. Sie war auf Händen und Knien in die anderen Zimmer gekrochen, um die Bewohner zu wecken und sie zu warnen. Alle waren entkommen, doch das Haus und alles, was sich darin befunden hatte, war verloren gewesen.

Die Behörden wollten nicht glauben, dass sie keines der Feuer entfacht hatte. Sie konnten ihr nichts nachweisen, aber danach wollte sie niemand mehr aufnehmen. Keiner traute ihr und in Wahrheit traute auch sie selbst sich nicht mehr. Wie waren die Brände zustande gekommen? Einer der vielen Psychologen hatte angedeutet, sie könne sich eventuell nicht daran erinnern, das Feuer entfacht zu haben, und vielleicht war das ja die Wahrheit. Danach war sie in einem staatlichen Heim untergebracht worden, abgesondert von den anderen. »Brandstifterin«, hatten sie ihr nachgerufen, und sie hatten sie auch die »Todbringende« genannt. Sie hatte den Hohn über sich ergehen lassen, und dann war sie aggressiv geworden und hatte sich mit rücksichtsloser, brutaler Gewalt geschützt, als die Dinge eskaliert waren und ihre Peiniger sie körperlich misshandelt hatten. Nun bekam sie auch noch den Stempel der Unruhestifterin aufgedrückt, aber das machte ihr nichts mehr aus.

Sowie sie achtzehn wurde, verschwand sie. Sie war von einem Tag zum anderen abgehauen und untergetaucht. Und sie war nirgendwo länger geblieben, bis sie Daniel kennengelernt hatte. Auch er war Taucher gewesen.

Rikki bog mit ihrem Pick-up in die Abzweigung ein, die zum Hafen hinunterführte, und atmete den Geruch der Eukalyptusbäume ein, die die Straße säumten. Sie waren so hoch und die Stämme so dick, dass sie wie ein Wald von Wächtern wirkten. Nach einer scharfen Kehre kam das Fischerdorf Albion in Sicht. Sie fuhr über den großen, leeren, geschotterten Parkplatz und brachte den Wagen rückwärts vor der Holzschranke zum Stehen, die die Landungsbrücke und den Bootssteg absperrte.

Als sie ihre Ausrüstung auslud, verblassten die letzten Reste ihres Alptraums. Jetzt, bei Tageslicht und nahe dem Meer, konnte sie fast dankbar für die Alpträume sein. Sie sensibilisierten sie immer für die Sicherheitsmaßnahmen auf der Farm, und die Flut von Alpträumen in der letzten Zeit erinnerte sie daran, dass es höchste Zeit war, sämtliche Feuermelder, Sprinkleranlagen und Feuerlöscher zu überprüfen. Sie konnte es sich nicht leisten, jemals wieder unachtsam zu sein.

Selbst wenn sie nicht diejenige war, die diese Feuer in irgendeiner Form entfacht hatte, dann hatte es ein anderer getan. Für sie war es offensichtlich, dass jemand sie und alle in ihrer Nähe töten wollte. Fast wäre sie vor Blythe und den anderen davongelaufen, um sie zu schützen, aber zu dem Zeitpunkt war Rikki fix und fertig gewesen, derart am Ende, dass sie ohne die Frauen nicht überlebt hätte. Und trotz allem war Rikki noch nicht bereit zu sterben. Zum Glück hatten ihre neu entdeckten Schwestern erkannt, wie wichtig ihr die Brandvorsorge war, und sie hatten die Ausgaben nicht gescheut und alles angeschafft, worum sie gebeten hatte.

Rikki lief am Pier entlang, bis sie bei ihrem Prachtstück, der Sea Gypsy, angekommen war. Sie kaufte sich nichts zum Anziehen und auch keine Möbel. Ihr Haus war spärlich eingerichtet, aber das hier, dieses Boot, war ihr ganzer Stolz und ihre Freude. Sie liebte das achteinhalb Meter lange Boot. Jeden einzelnen Quadratzentimeter. Alles auf ihrem Boot war in einem tadellosen Zustand. Niemand außer ihr berührte ihre Ausrüstung. Sogar das Schweißen hatte sie selbst erledigt, als sie Veränderungen am Ladebaum vorgenommen hatte, damit sie ihre Netze leichter an Bord ziehen konnte.

Das Wasser des Kanals, in dem ihr Boot lag, war ruhig. Eine beruhigende Mischung an Geräuschen war zu vernehmen, das Schwappen des Wassers und die Rufe der Seevögel. Ein einsamer Wohnwagenanhänger stand auf dem Parkplatz und niemand war in Sicht. Der Hafen war nahezu menschenleer. Sie nahm ihre Routinekontrollen vor und ließ den Motor an. Rikki löste die Taue und legte ab. Eine vertraute Lebendigkeit jagte durch ihre Adern, als sie die Sea Gypsy vom Anlegesteg abstieß.

Für Rikki konnte sich nichts an dem faszinierenden Gefühl messen, auf dem Deck ihres Boots mit dem leistungsfähigen Motor zu stehen, einem 454 Mercruiser mit einem Bravo-Three-Heckantrieb und zwei Edelstahlpropellern, der unter ihren Füßen rumpelte, während sich vor ihr wie ein blauer Pfad der Fluss erstreckte. Die Holzbrücke, die ihn überspannte, mit einer Sandbank und Felsen auf beiden Seiten, war ihr Tor zum Meer. Der Kanal war schmal und bei Ebbe oder schwerem Seegang unpassierbar. Mit dem Wind im Gesicht manövrierte sie das Boot von seinem Liegeplatz weg und fuhr mit gedrosseltem Motor durch den Kanal. Die Sandbank zu ihrer Rechten konnte Probleme machen; daher hielt sie sich in der Mitte, als die Sea Gypsy die Kurve nahm, um ins offene Meer zu gelangen.

Auf einer kleinen Felseninsel in der Nähe, auf der die Vögel nisteten oder sich ausruhten, machten schwarze Kormorane einander den Platz streitig. Rikki lächelte die Vögel an, während sie sich ein Urteil über das Meer, ihre Herrin, bildete. Sie verließ sich nie hundertprozentig auf die Wettervorhersage und die Gezeitentabellen – sie musste das Meer mit eigenen Augen sehen, um sich eine exakte Vorstellung von seiner Stimmung zu machen. Manchmal wirkte das Meer im Schutze des Hafens ausgesprochen ruhig und verriet erst jenseits der Landmasse einen jähen Zorn. Heute war es ruhig, das Wasser glatt und glitzernd.

Die Sea Gypsy glitt aufs offene Meer hinaus, und Rikki entspannte sich vollständig. Das hier war ihre Welt, der eine Ort, an dem sie sich wirklich wohlfühlte. Hier kannte sie die Spielregeln und die Gefahren und verstand sie auf eine Weise, auf die sie gesellschaftliche Situationen und den Umgang der Menschen miteinander niemals verstehen würde. Als das Boot über das Wasser sauste, war der Himmel über ihr blau und klar und die Fläche unter ihr so spiegelglatt, wie es an der kalifornischen Küste nur selten vorkam. Sie hatte einen fantastischen Motor, der eine hohe Geschwindigkeit erreichte, ein Geschenk ihrer Schwestern, für das sie ihnen gar nicht genug danken konnte.

Sie schoss an Höhlen, Sandbänken und Klippen vorbei – von hier aus schien die Küste eine vollkommen andere Welt zu sein. Pelikane, Kormorane und Fischadler teilten sich den Himmel mit Möwen und tauchten manchmal tief; ihre Körper waren wendig und biegsam, wenn sie hinter Fischen her in die Tiefe abtauchten. Kleine Köpfe hüpften da und dort auf und ab, wenn Möwen auf der Jagd nach einer Mahlzeit in Küstennähe aus dem Wasser auftauchten. Zwei Robben spielten miteinander und schlugen immer wieder Purzelbäume im Wasser.

Gischt sprühte als eine Art Kraftbezeugung an den Klippen auf. Sie streckte ihr Gesicht der salzigen Luft entgegen, fühlte das Wasser auf ihrer Haut und lächelte. Sie begann zu singen und zeichnete mit einer Hand eine Choreographie in die Luft, während sie mit der anderen das Boot steuerte. Das Singen war nahezu ein Zwang; sie tat es jedes Mal, wenn sie allein war und niemand sie sehen oder hören konnte. Eine Einladung. Eine Sprache der Liebe. Es war, als hüpften die Noten neben ihrem Boot über die Wasseroberfläche.

Winzige Säulen begannen sich zu formen, funkelnde Röhren, die wie Miniaturzyklone über die Oberfläche tanzten. Die Sonne schillerte durch sie hindurch und ließ sie farbenprächtig wirken, als sie sich anmutig bogen und drehten. Einige erhoben sich hoch in die Luft, sprangen in schmalen Regenbögen über das Boot und formten einen gewölbten Durchgang. Rikki schoss lachend durch diesen Bogengang und fühlte Wind und Wasser auf ihrem Gesicht. Ihr Haar wurde wie von Fingern zerzaust.

Hier draußen, fern der Küste, an dem sichersten Ort, den sie kannte, spielte sie mit dem Wasser, das auf allen Seiten um ihr Boot herumsprang. Auf irgendeine mysteriöse Weise, die sie nicht verstand, fühlte sich Wasser von ihr angezogen; es kam zu ihr, wenn sie es darum bat, und es hatte ihr schon zahlreiche Male das Leben gerettet und ihr ein Gefühl von innerem Frieden gegeben, als ihr alles, woran sie hing, und alle, die sie liebte, genommen worden waren. Unter ihrer Anleitung wurde das Wasser plastisch und bildete Formen. Die Freude, die in ihr aufsprudelte, wenn sie dort draußen auf dem Meer war, wo sie sich so lebendig fühlte, wollte sich an Land nie einstellen, denn dort gab es für sie nichts als Verletzbarkeit und Leere.

Sie ankerte dicht an dem Kontinentalsockel, gab sich aber reichlich Platz für den unwahrscheinlichen Fall, dass tatsächlich eine große Welle aus dem Nichts auf sie zukam. Sie überprüfte ein letztes Mal ihre Ausrüstung. Aufregung stieg in ihr auf, Vorfreude, die durch keine Spur von Furcht getrübt wurde. Sie liebte es, im Wasser zu sein. Und obendrein allein. Hier brauchte sie nicht zu versuchen, sich an konventionelle Umgangsformen zu halten. Sie brauchte sich keine Sorgen zu machen, sie könnte die Gefühle eines anderen Menschen verletzen, ihre Wahlfamilie in Verlegenheit bringen oder von jemandem verspottet zu werden.

Hier draußen im Wasser konnte sie einfach nur sie selbst sein und das genügte ihr. Hier konnte sie die Schreie der Toten nicht hören, die sengende Hitze eines lodernden Feuers nicht fühlen und auch keinen Argwohn auf den Gesichtern um sie herum sehen.

Nachdem sie sich mit Babyshampoo eingerieben hatte, wärmte sie ihren Taucheranzug vor, indem sie heißes Wasser aus dem Motor hineingoss, bevor sie ihn anzog. Wieder überprüfte sie ihren Kompressor – ihre Rettungsleine. Sie hatte viel Geld für den Honda-Motor mit seinen 5,5 PS und ihren Atlas-Copco-Zweistufenkompressor mit den drei extrem teuren Filtern ausgegeben, zwei Partikelfilter und einen zusätzlichen Kohlenstofffilter. Sie hatte einen nicht verriegelten Schnellverschluss an ihrem Ende des Hauptschlauchs, damit sie ihn schnell lösen konnte, falls es nötig wurde. Auf dem Rücken trug sie eine kleine, vier Liter fassende Sauerstoffflasche als Reserve, ihr Ersatzatemgerät. Manche Taucher tauchten ohne diese zusätzliche Absicherung, aber da sie im Allgemeinen allein tauchte, wollte sie diese weitere Schutzmaßnahme. Rikki wollte in der Lage sein, mit einer angemessenen Geschwindigkeit nach oben zu kommen, falls etwas passieren sollte; beispielsweise, dass ihr Hauptschlauch durch einen Bootsfahrer, der ihre Taucherflagge übersah, durchtrennt wurde.

Sie zog ihren Bleigurt an, schnallte sich dann die Notsauerstoffflasche auf den Rücken und legte nun ihr wichtigstes Instrument an – ihren Computer, der die Zeit für sie im Auge behielt, damit keine Gefahr bestand, dass sie zu lange unten blieb. Sie hatte einen Kompass, damit sie wusste, wo sie war und wohin sie wollte. Sie schnappte sich das Werkzeug, das sie für die Seeigel brauchte, glitt ins Wasser und nahm vier Netze mit, die jeweils zweihundertfünfzig Kilo Fassungsvermögen und Tragkraft hatten.

Das abrupte Versinken im Wasser kam ihr vor, als verließe sie die Erde und begäbe sich in den Weltraum, eine Erfahrung, die ihr jedes Mal wieder Ehrfurcht einflößte. Das kühle Wasser umschloss sie wie eine willkommene Umarmung und brachte ein Gefühl von Frieden mit sich. Alles in ihr kam zur Ruhe, ergab Sinn, kam ins Lot. Es war ihr unmöglich, anderen Menschen, die diese eigenartigen Gefühle nicht kannten, zu erklären, was sie empfand, wenn sie berührt wurde. Manchmal taten ihr Stoffe auf der Haut weh, und Geräusche machten sie verrückt, aber hier, in dieser stillen Welt voller Schönheit, kam sie sich vor, als sei sie am richtigen Ort, und das Chaos in ihrem Innern legte sich.

Als sie abtauchte, kreisten Fische neugierig um sie herum und eine einsame Robbe zischte an ihr vorbei. Robben bewegten sich schnell im Wasser, wie kleine Raketen. Normalerweise würden sich viele von ihnen in ihrer Nähe herumtreiben, doch heute schien das Wasser, von vereinzelten Fischen abgesehen, entvölkert zu sein. Zum ersten Mal lief ihr ein Schauer über den Rücken, und sie sah sich in ihrer Umgebung um. Wohin waren sämtliche Fische verschwunden?

Der San-Andreas-Graben war tückisch. Bei einer Tiefe von annähernd dreihundert Metern war er ein langer schwarzer Abgrund, der sich über den Meeresboden zog. In einer Tiefe von etwa neun Metern ragte ein Sockel hervor und die lange, zerklüftete Felslinie war mit Seeigeln bedeckt. Die Kliffkante war etwa zehn Meter breit und dort gab es auf einem kürzeren Vorsprung ebenfalls Unmengen von Meeresbewohnern.

Rikki landete auf dem Vorsprung in etwa neun Metern Tiefe und machte sich augenblicklich an die Arbeit. Ihr Rechen schabte über die von Seeigeln verkrusteten Felsen entlang des Steilhangs, und der Lärm hallte durch das Wasser und war für die Geschöpfe des Meeres weithin zu vernehmen. Sie arbeitete schnell, da sie wusste, dass Haie sie von unten angreifen konnten.

Ihr aufkommendes Grauen verstärkte sich mit jedem Harken ihres Rechens. Sie ertappte sich dabei, dass sie im Abstand von wenigen Minuten immer wieder innehielt, um sich umzusehen. Sie musterte den Abgrund. Lauerte etwa ein Hai dort unten in den Schatten? Ihr Herzschlag beschleunigte sich, doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben, während sie sich wieder an die Arbeit machte, da sie entschlossen war, es hinter sich zu bringen. Die Seeigel waren groß und in reichlichen Mengen vorhanden, und ihre Ausbeute war erstaunlich.

Ihr erstes Netz füllte sie innerhalb von zwanzig Minuten, und als das Gewicht zunahm, füllte sie den Schwimmer mit Luft, um es auszugleichen. Nach weiteren zwanzig Minuten hatte sie ein zweites Netz gefüllt. Beide Netze trieben nicht weit von ihr auf einer Seite, während sie begann, das dritte Netz zu füllen. Da sie in neun Metern Tiefe arbeitete, wusste sie, dass sie noch reichlich Grundzeit hatte, um alle vier Netze mit jeweils zweihundertfünfzig Kilos zu füllen, doch sie spürte, wie ihre Kraft nachließ.

Nachdem sie das letzte Netz gefüllt hatte, hakte sie alle vier an ihren Schlauch und blieb unten, während sie die Netze an die Oberfläche aufsteigen ließ und den Schlauch festhielt, damit die Seeigel langsamer aufstiegen und die Luft nicht aus dem Schwimmer entwich, sowie er die Oberfläche erreichte. Sie selber stieg nicht mehr als einen knappen Meter in drei Sekunden an ihrem Schlauch hinauf, bis sie nur noch drei Meter unter der Oberfläche war, und dort blieb sie fünf Minuten, denn erst dann konnte sie ihren Aufstieg gefahrlos fortsetzen.

Das Anstrengende an der Arbeit im Wasser war der ständige Wellenschlag; er konnte einen Taucher hin und her stoßen, und da sie ihm schutzlos ausgesetzt war und aufpassen musste, dass sie nicht in den Abgrund fiel, während sie die Seeigel erntete, fühlten sich ihre Arme jetzt bleischwer an. Als sie an die Oberfläche kam, hakte sie die Netzschnüre an den Kugelschwimmer und kletterte an Bord. Mit dem Ladebaum zog sie zwei volle Netze an Bord und verstaute sie im Frachtraum. Erschöpft setzte sie sich hin, um sich auszuruhen und zwei Scheiben Brot mit Erdnussbutter und eine Handvoll Erdnussbutter-Eiskonfekt zu essen, da sie die Kalorien brauchte, bevor sie die letzten beiden Netze einholte.

Das eigentümliche Grauen, das in ihr aufgekommen war, schien sich in ihrer Magengrube festgesetzt zu haben. Sie saß auf der Klappe des Frachtraums und aß ihre Sandwichs, aber die schmeckten wie Pappe. Der Himmel war klar. Kaum Wind. Das Meer selbst war ruhig, und doch fühlte sie sich auf eine vage Art bedroht. Während sie in ihrem Boot saß, verrenkte sie sich mehrfach, um nach Gefahren Ausschau zu halten. Es war albern, dieses Gefühl eines bevorstehenden Verhängnisses, wirklich albern. Es war ein wunderschöner Tag, das Meer war still, und am Himmel waren keine richtigen Wolken zu sehen.

Sie zögerte, bevor sie ihren Taucheranzug wieder anzog. Sie könnte vier weitere Netze mit Seeigeln füllen und sie hochziehen, um insgesamt auf zweitausend Kilos zu kommen, was es ihr ermöglicht hätte, einen ansehnlichen Betrag zu der Farm beizusteuern. Ihre Befürchtungen waren albern. In dieser Meeresregion hatte sie schon immer ein ungutes Gefühl gehabt. Resolut hängte sich Rikki ihren Bleigurt um und hakte ihren Schlauch an ihren Gürtel, bevor sie nach ihrer Sauerstoffflasche griff.

Auf einmal hatte sich die Luft um sie herum schlagartig verändert. Sie war elektrisch aufgeladen, und Rikki spürte einen Druck auf ihrer Brust. Sie hatte ihre Arme immer noch nach der Sauerstoffflasche ausgestreckt, als sie fühlte, wie sich die gewaltige Dünung unter ihr aufbaute. Rikki drehte den Kopf um, und der Atem stockte in ihrer Kehle. Ihr Herz schlug heftig gegen ihre Rippen, als sie die solide Mauer aus Wasser sah, die sich wie ein monströser Tsunami aus dem Meer erhob, eine Welle, die weit über alles hinausging, was sie jemals gesehen hatte.

2.

Die Welle ragte über Rikki auf wie eine massive Wand und hob das Boot hoch, als die Dünung sie erreichte. Sie riss ihre Hände in die Luft, als wollte sie die Mauer abwehren, und sang dem Meer ihr Lied, während sie sich nach vorn in die angeschwollenen Wassermassen stürzte. Sie ging unter, drehte sich mit den Strudeln, sank und wurde von den Gewichten nach unten gezogen. Sie zog an dem Schlauch, der an ihrem Taucheranzug befestigt war, stieß das Mundstück zwischen ihre Lippen und war dankbar dafür, dass sie sich auf den nächsten Tauchgang vorbereitet und obendrein die Voraussicht besessen hatte, dem Boot reichlich Platz zu geben.

Sie sandte ein stummes Gebet nach oben, sie möge nicht in den Abgrund fallen, nicht zu schnell oder zu tief nach unten sinken und auch keine der hundert anderen Katastrophen erleben, zu denen es kommen konnte. Sie überschlug sich immer wieder und purzelte durch die trüben Tiefen. Ihr Herz schlug rasend schnell, doch sie wusste, dass sie ruhig bleiben musste. Ihr Instinkt wollte sie dazu veranlassen, so schnell wie möglich wieder an die Oberfläche zu gelangen, aber das würde bestenfalls bedeuten, dass ihr ein Hubschrauberflug bevorstand und man sie hinterher in eine Dekompressionskammer sperrte, etwas, das für jemanden wie Rikki überhaupt nicht in Frage kam.

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