Hüterin der Seele - - Christine Feehan - E-Book

Hüterin der Seele - E-Book

Christine Feehan

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Beschreibung

Mystisch, gefühlvoll, sinnlich: Sea Haven – Schwestern des Herzens

Seit Jahren wartet Judith, die Künstlerin unter den »Schwestern im Herzen«, auf den Mann, dem sie sich durch geheimnisvolle Bande verbunden weiß. Als Stefan Prakenskij nach Sea Haven kommt, fühlt sie ein Feuer in sich wie nie zuvor. Stefan ist gefährlich und leidenschaftlich, aber da taucht ein weiterer Fremder auf, den Judith nicht abweisen kann. Nur einer der beiden Männer wird den Kampf um ihre Liebe überleben.

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Seitenzahl: 778

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DAS BUCH

Stefan Prakenskij ist ein gefährlicher Geheimagent, er versteht es aber auch, eine Frau zu verführen. Deshalb wird er in den kalifornischen Küstenort Sea Haven geschickt und auf die Malerin Judith angesetzt, die in das Visier eines brutalen Waffen- und Drogenhändlers geraten ist. Dieser Jean-Claude La Roux sucht bei ihr einen unersetzbaren Microchip, für den auch Stefans Regierung über Leichen geht – und er ist besessen von ihr und ihrer Schönheit. Stefan selbst erkennt in Judith sehr schnell seine große Liebe, für die er sein bisheriges unstetes und riskantes Leben aufgeben will.

Judith verliebt sich auch in Stefan, aber je mehr er ihr von seiner Vergangenheit offenbart, desto schwerer fällt es ihr, ihm zu vertrauen. Deshalb bittet sie ihn, ein Kaleidoskop anzufertigen, um einen Blick in seine Seele zu werfen. Stefan stellt sich dieser Prüfung, doch dann fällt Judith in die Hände des undurchschaubaren La Roux, der schon vor Jahren in Paris eine große Faszination auf sie ausgeübt hat. Wird sie dieses Mal ihre übersinnlichen Gaben nutzen und sich vor dem gewalttätigen Verbrecher schützen können?

DIE AUTORIN

Christine Feehan wurde in Kalifornien geboren, wo sie heute noch mit ihrem Mann und ihren Kindern lebt. Sie begann bereits als Kind zu schreiben und hat seit 1999 mehr als fünfzig erfolgreiche Romane veröffentlicht, die in den USA mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet wurden und alle auf die New-York-Times-Bestsellerliste gekommen sind.

Mehr Informationen über die Autorin und ihre Bücher finden sich im Anschluss an diesen Roman und auf ihrer Website www.christinefeehan.com.

CHRISTINE FEEHAN

Hüterin der Seele

Roman

Aus dem Amerikanischen von Uschi Gnade

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe SPIRIT BOUND erschien bei A Jove Book, The Berkley Publishing Group, Penguin Group, New York

Vollständige deutsche Erstausgabe 10/2012

Copyright © 2012 by Christine Feehan

Copyright © 2012 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag,

München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: © Nele Schütz Design

unter Verwendung von Shutterstock

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-08036-5

www.heyne.de

Für Judith Paul und Thomas Durden

in Liebe

1.

Stefan Prakenskij lief in der kleinen Zelle auf und ab. Er wusste genau, wie viele Schritte er machen konnte, bevor er hochsprang, um die Stäbe zu packen und Klimmzüge zu machen – noch ein Dutzend, ehe er ans andere Ende der Zelle tigerte und sich für die Liegestütze auf den Boden legte. Es war ganz ausgeschlossen, sich an den Geruch des Gefängnisses, an den Schleim auf den Wänden oder daran zu gewöhnen, dass die Duschen nicht funktionierten und dass man ständig auf der Hut sein musste, wenn man am Leben bleiben wollte, aber all das machte ihm nichts aus. Er hatte viel Schlimmeres durchgemacht.

Er war ein geduldiger Mann, aber seit er entschieden hatte, es sei sinnlos, noch länger in dieser Zelle zu bleiben, da seine Mission restlos gescheitert war, wollte er raus. Es war Zeitvergeudung, wenn er noch länger hierblieb, aber trotzdem hatte sein Betreuer vor einem Monat nicht eingewilligt, ihn abzuziehen. Es wurde von Tag zu Tag gefährlicher und aufreibender und er fokussierte sich zunehmend auf das einzig Anständige im Gefängnis.

Stefan fluchte tonlos, als er die neueste Fotografie der Frau, von der sein Zellengenosse besessen war, von der Wand nahm. Sie stand an einem Strand und hinter ihr war die stürmische Brandung zu sehen; offensichtlich war es ein windiger Tag, aber es gab keinen Orientierungspunkt, der es Stefan ermöglicht hätte, den Ort zu bestimmen. Mit ihrem langen schwarzen Haar, das im Wind wehte, war die Frau zweifellos schön. Sie trug Jeans und ein T-Shirt und es gelang ihr trotzdem, elegant und gleichzeitig sexy zu wirken. Wenn er ein Mann gewesen wäre, der Interesse an Beziehungen gehabt hätte, wäre es ihm zweifellos verständlich gewesen, warum sein Zellengenosse derart auf sie fixiert war. Der Idiot war absolut von ihr besessen. Hunderte von Fotografien von dieser einen Frau, aufgenommen über einen Zeitraum von Jahren, waren überall an die Wände geheftet.

Es schien keine Rolle zu spielen, wie intelligent ein Mann war oder womit er sich seinen Lebensunterhalt verdiente – es sah so aus, als brächte am Ende oft eine Frau selbst den größten Verbrecher zu Fall. Und diese eine Frau stellte keine Ausnahme dar. Stefan hatte vor, sie zu benutzen, um das internationale Imperium von Jean-Claude La Roux zu stürzen, falls es sich als erforderlich erweisen sollte.

Er blickte auf das Bild in seiner Hand hinunter. Sie wirkte versonnen – nein, traurig. Was hatte zu diesem Gesichtsausdruck geführt? Eine Frau wie sie hatte doch bestimmt kein Interesse an einem Mann wie Jean-Claude. Ein schmaler Streifen einladender Haut blitzte verlockend zwischen ihrem T-Shirt und ihrer Jeans auf. Sein Daumen glitt über diesen schmalen Streifen, als könnte er fühlen, wie warm und zart sie sich tatsächlich anfühlte.

Jean-Claude war zweifellos ein Mann von unermesslichem Reichtum. Stefan vermutete, eine Frau könnte auch sein gutes Aussehen attraktiv finden, vorausgesetzt, man mochte triefenden Charme. Dahinter verbargen sich unzählige Sünden, aber möglicherweise fanden Frauen auch diesen Hauch von Gefahr erregend. Frauen konnten sich ebenso leicht von den falschen Dingen betören lassen wie Männer von Schönheit.

»Was zum Teufel tust du da?« Jean-Claude La Roux riss seinem Zellengenossen die kleine Fotografie aus den Händen und sah Stefan finster an, ein Versuch, jemanden einzuschüchtern, der mit keinem Mittel einzuschüchtern war. »Du hast keine Ahnung, wer ich bin.«

Stefan zeigte ihm vorsätzlich die Zähne und spuckte dann auf den Zellenboden. »Dieser Spruch hat sich abgenutzt, Rolex.« Er ließ grenzenlose Verachtung in seinen Tonfall einfließen, als er den Mann mit dem verhassten Namen ansprach, den er ihm gegeben hatte.

Ein Mann wie Jean-Claude, Boss eines immensen kriminellen Imperiums, verabscheute es mit Sicherheit, von einem gewöhnlichen Verbrecher verspottet zu werden. Das war eine Beleidigung, die der Mann nicht hinnehmen konnte. In den zwei Monaten, in denen Stefan ihn beschattet und versucht hatte, Informationen zusammenzutragen, hatte er sein Leben bei mehreren Gelegenheiten verteidigen müssen, und das sagte einiges über die Autorität aus, die La Roux sogar hier im Gefängnis besaß. Jean-Claude hasste Stefan und ein Wort von ihm hatte genügt, um etliche Häftlinge zu dem Versuch anzustiften, ihm Stefan vom Hals zu schaffen, weil sie sich bei ihm einschmeicheln wollten.

Es bestand kein Zweifel daran, dass La Roux im Gefängnis dieselbe Macht besaß wie draußen. Oberflächlich betrachtet schien es eine gute Idee zu sein, ihn für seine internationalen Verbrechen in Frankreich zu verurteilen. Das französische Gefängniswesen galt keineswegs als eines, das Gefangene verhätschelte, aber sogar mit Schimmel an den Wänden und schleimigem Wasser, das von der Decke tropfte, gelang es Jean-Claude, Reichtum und Macht auszustrahlen. Alle anderen Gefangenen gingen ihm aus dem Weg, bis Stefan aufgetaucht war. Er verhöhnte La Roux bei jeder Gelegenheit, und nicht einer der Männer, die dafür bezahlt wurden, Stefan eine Lektion zu erteilen oder ihn umzubringen, hatte es geschafft.

Für Stefan bestand kein Zweifel daran, dass ihm eine Stunde allein mit Jean-Claude genügen würde, wenn es ihm freistand, ihn auf seine eigene Weise zu verhören, um an sämtliche Informationen zu kommen, die die Regierung brauchte. Aber hier, in diesem französischen Gefängnis, wo sie Tag und Nacht unter der Beobachtung von Wärtern standen und die Regierung sich ihres Gefangenen allzu deutlich bewusst war, hatte er keine Chance, das, was er brauchte, aus dem Mann herauszuholen. Somit blieb nur noch eine Möglichkeit. Jean-Claude La Roux musste entkommen. Er seufzte. Genau das hatte er seinem Betreuer im Lauf der letzten zwei Monate viele Male gesagt.

Stefan beschrieb mit einer ausholenden Geste die zahllosen Fotografien an den Wänden. »Du hast ja ‘ne Menge Bilder, Rolex, aber nicht einen einzigen Brief. Ich glaube, deine Frau treibt sich mit einem anderen Mann an diesem Strand herum und lacht sich kaputt.«

Jean-Claude brachte das Foto wieder an der Wand an, wobei seine Hand über das Glanzpapier glitt. Stefan bemerkte mit einer gewissen Genugtuung, dass die Finger des Gangsterbosses zitterten, als er das Gesicht der Frau berührte.

»Siehst du etwa auf einem dieser Fotos einen Mann?« Jean-Claude musterte ihn mit offenkundiger Verachtung.

Stefan wusste, dass er selber nicht gerade einen grandiosen Anblick bot. Er war groß und hatte kräftige, breite Schultern, einen stark muskulösen Brustkorb und Arme mit einem prallen Bizeps. Er wirkte weder wohlerzogen noch reich oder charmant. Er sah aus wie ein Rohling, nicht besonders gescheit, mit längerem Haar und reichlich verdreckt. Ein Narbengeflecht überzog seine Haut und seine Hände waren schwielig, die Knöchel vom Gebrauch gerötet. Er hatte ein eckiges Kinn und blaugrüne Augen, die anderen Menschen mitten in die Seele blickten und sie für schuldig befanden. Stefan strahlte durch reine Körperkraft rohe Gewalt aus, und Männer wie Jean-Claude taten jemanden wie ihn automatisch als einen reinen Muskelprotz ab – sie warfen nie einen Blick hinter die Fassade, um zu sehen, ob sich hinter der Maske eines Rohlings Intelligenz verbarg.

In Gedanken benutzte er so oft wie möglich seinen wahren Namen, Stefan Prakenskij, da er so oft Decknamen trug, dass er befürchtete, eines Tages zu vergessen, wer er war. Und vielleicht hatte er seine Identität bereits verloren, schon vor langer Zeit. Was war er? Wer war er? Und wen interessierte das überhaupt? Es gab keine schöne Frau in seinem Leben, die an einem Strand stand, traurig aussah und sich nach ihm verzehrte – und es würde auch nie eine geben. Er war erfolgreich in seinem Job, weil er sich weigerte, Frauen wie die, von der Jean-Claude besessen war, in sein Bewusstsein vordringen zu lassen.

Er warf erneut einen Blick auf die Bilder, mit denen die fleckige Wand überzogen war. Es waren Hunderte. Jean-Claude ließ die Frau schon seit langer Zeit überwachen. Im Lauf der Jahre, die der Mann im Gefängnis verbracht hatte, hatte sie sich kaum verändert, aber es stimmte, dass auf keinem der Fotos von ihr jemals ein Mann zu sehen war. Stefan fluchte tonlos und wandte sich von den Bildern ab.

Diese Frau wäre jedem unter die Haut gegangen, wenn man sie nur lange genug anstarrte. Also wirklich, was hätte man in einer winzigen Gefängniszelle auch anderes tun können, als ihre Lippen und Augen und all dieses lange, schimmernde Haar zu betrachten? Jean-Claude war regelrecht süchtig nach ihr, und Stefan hatte diese Schwäche augenblicklich erkannt und sie gegen den Mann eingesetzt, um ihn reif für die Flucht zu machen. Er sah keine anderen Männer auf den Fotografien, aber wer hätte den Gedanken ertragen, dass ein anderer Mann all diese zarte Haut berührte?

»Eines muss ich dir lassen, Rolex, sie ist eine Schönheit. Wo zum Teufel ist dir eine solche Frau begegnet?« Es war an der Zeit, die Taktik zu ändern.

Zum ersten Mal ließ Stefan bewusst eine Spur von Bewunderung in seine Stimme einfließen. Sein Verdacht bestätigte sich: Jean-Claude konnte dem Drang nicht widerstehen, über die Frau in seinem Leben zu reden oder auf das erste Anzeichen dafür zu reagieren, dass ein Mann wie Stefan, der nur offenkundige Kraft zu bewundern schien, den Gangsterboss zumindest für seine Fähigkeit respektierte, eine wunderschöne Frau anzulocken.

»Sie war Kunststudentin und hat in Paris studiert«, sagte Jean-Claude. »Sie stand draußen vor dem Louvre, ihr langes Haar wehte um ihr Gesicht herum, sie ist stehen geblieben, um es sich aus dem Gesicht zu streichen, und in dem Moment …« Er ließ seinen Satz unbeendet in der Luft hängen.

Stefan brauchte den Rest nicht zu hören. Wahrscheinlich hatte es dem Gangsterboss ebenso den Atem verschlagen wie ihm, als er sie zum ersten Mal auf einer Fotografie gesehen hatte. Sie hätte ohne weiteres ein Model auf dem Titelblatt einer Illustrierten sein können – aber da war noch mehr. Sie hatte etwas Undefinierbares an sich, eine Eigenschaft, die er nicht exakt bestimmen konnte. Sie strahlte etwas Unschuldiges und Sinnliches zugleich aus und wirkte mysteriös, weltentrückt und unerreichbar. Das löste bei einem Mann den Wunsch aus, die Arme auszustrecken und sie zu packen, sie an sich zu ziehen und sie für sich allein zu behalten.

Oh ja, diese Frau übte ganz entschieden eine starke Wirkung auf Männer aus, und erst recht auf einen, der ohne Gefährtin in einer Zelle eingesperrt war. Stefan brachte bei seiner Arbeit unendliche Geduld auf, aber das hier würde ein Reinfall werden, ganz im Ernst. Jean-Claude würde sich schnurstracks zu dieser Frau und zu dem Microchip begeben, den er der russischen Regierung gestohlen hatte – einem Microchip, der auf dem Schwarzmarkt ein Vermögen wert war. Dieser Chip enthielt Informationen, die das russische Abwehrsystem um fünfzig Jahre zurückwerfen würden, wenn er jemandem in die Hände fiel.

»Kann sie denn halbwegs malen?«, fragte Stefan.

Jean-Claude nickte. »Sie ist richtig gut. Aber das gilt für alles, was sie tut.«

Stefan blieb stumm und wartete ab. Er wusste, dass Jean-Claude über sie reden wollte.

»Sie hat sich jetzt schon einen Namen in der Kunstszene gemacht. Ihre Kaleidoskope haben internationale Preise gewonnen. Ihre Gemälde werden für ein Vermögen verkauft und sie restauriert alte Kunstwerke für private Sammler. Die Gemälde werden unter schwerer Bewachung in Flugzeugen zu ihr transportiert.«

Es klang so, als sei Jean-Claude stolz auf sie. Restauratoren, die gleichzeitig als Konservatoren arbeiteten, waren selten. Sie waren für die Wiederherstellung und langfristige Erhaltung von Gemälden verantwortlich, die jahrhundertealt waren. Das war eine schwierige Arbeit und es handelte sich bei dieser Berufsgruppe um eine recht kleine Gemeinschaft. Zudem bezweifelte er auch, dass es viele preisgekrönte Kaleidoskopkünstlerinnen gab. Diese Informationen würden sehr hilfreich sein, um die Identität dieser Frau herauszufinden. Stefan hatte bereits etliche Fotos an seine Leute geschickt, damit sie mit den Nachforschungen beginnen konnten, wer die geheimnisvolle Frau tatsächlich war.

»Es imponiert mir schon, dass eine solche Frau bereit ist, auf dich zu warten.«

Jean-Claude sagte nichts dazu, sondern blickte in das stille, versonnene Gesicht auf dem Foto. Stefan wusste, dass die Worte an ihm nagen würden, die Vorstellung, dass sie vielleicht nicht auf ihn wartete. La Roux hatte eine bessere Zelle als die meisten Gefängnisinsassen. Er war nicht wie die Mehrheit selbstmordgefährdet und deprimiert durch die Umstände, und allein schon das sagte Stefan, dass die Wärter Dinge für ihn reinschmuggelten und überhaupt ihr Bestes taten, um sich gemeinsam mit den Gefangenen bei ihm einzuschmeicheln. Es hatte nicht lange gedauert, bis sich herumgesprochen hatte, was passierte, wenn ein Wärter Jean-Claudes Unwillen wachrief: Dann verübte einer seiner Männer einen Vergeltungsschlag gegen die Familie des Wärters.

Stefan hatte genug Zeit an diesem widerwärtigen Ort verbracht. Mehr war aus dem Gangsterboss nicht rauszuholen. Er hatte seiner Regierung gesagt, sie solle dem Mann einen Ausbruch ermöglichen und ihn sich entweder schnappen, sowie er rauskam, oder sich von ihm zu dem Microchip führen lassen. So oder so war es besser, als in der beengten Zelle zu versauern und eine Frau anzustarren, deren Namen er nicht einmal kannte. Er würde heute Nacht verschwinden, bevor er eine Frau anstarrte, die ihn keines zweiten Blickes gewürdigt hätte, und noch den Verstand verlor.

»Es geht mir verdammt gegen den Strich, etwas Nettes zu dir zu sagen, Rolex, aber sie hat das Gesicht eines Engels. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass irgendeine Frau hält, was dieses Gesicht verspricht.« Er musste dafür sorgen, dass der Mann weitersprach. Selbst nach zwei Monaten kannte er noch nicht einmal ihren Namen, weil Jean-Claude so wortkarg war.

Jean-Claude warf einen Blick auf ihn und sah dann wieder das Foto an. Zum ersten Mal, seit Stefan in seine Zelle gestoßen worden war, lächelte er. »Natürlich kannst du dir das nicht vorstellen. Sie spricht sieben Sprachen. Sieben.« Jean-Claudes abfällig verzogene Lippen sagten Stefan, dass der Mann sicher war, sein Zellengenosse könnte niemals mehr als eine einzige Sprache lernen.

Stefan sprach fließend Französisch, mit einem perfekten Akzent, und seine Rolle als Geheimagent – John Bastille – erweckte tatsächlich nicht den Eindruck eines gebildeten Mannes, der sich mit anderen Dingen als mit der Verfolgung krimineller Ziele auskannte. In Wahrheit konnte Stefan es jedoch Sprache für Sprache mit der Traumfrau aufnehmen, was hieß, dass sie gebildet und umso verlockender war. Es überraschte ihn ein bisschen, dass Jean-Claude intelligente Frauen mochte.

»Bestimmt ist sie eine von der Sorte, die Widerworte gibt«, hob Stefan seiner Rolle getreu hervor. Ein Muskelprotz wie er würde nicht wollen, dass ihm ein kleines Frauchen widersprach. Es sagte etwas aus, dass sich Jean-Claude eine kluge Frau wünschte.

»Sie hält mit ihrer Meinung nicht zurück«, stimmte Jean-Claude ihm zu. Die Andeutung eines Lächelns schlich sich in seine Augen, ganz so, als erinnerte er sich an einen Moment, den er besonders amüsant fand. »Du würdest das nicht verstehen.«

Stefan unterdrückte die zahllosen groben Bemerkungen, die zu seiner Rolle gepasst hätten, denn er wusste, dass es ein sofortiges Ende des Gesprächs nach sich gezogen hätte, wenn er sie ausstieß. Jean-Claude hatte in den zwei Monaten, seit sie eine Zelle miteinander teilten, nicht mehr als drei oder vier Sätze gesagt. Stattdessen richtete er den Blick auf den Fußboden, als sei er in traurige Gedanken versunken.

»Ich hatte mal eine Frau. Eine lohnenswerte – keine Prostituierte. Ich hätte ein bisschen netter zu ihr sein sollen, dann wäre sie vielleicht geblieben.« Er bedachte Jean-Claude mit einem kurzen neidischen Grinsen. »So wie die hat sie aber nicht ausgesehen. Wie heißt sie?«

Nicht ein einziges Mal in all den Monaten hatte Jean-Claude namentlich von der Frau gesprochen oder gesagt, wo sie lebte. Wenn es um den Engel an der Wand ging, war er sehr verschlossen. Es störte Stefan, dass er insgeheim unter diesem Namen an sie dachte. Engel. Mysteriös. Unbegreiflich. Für den gewöhnlichen Mann außerhalb jeder Reichweite. Außer Reichweite für einen Mann, der vollständig in den Schatten lebte. Einen Mann ohne eine wirkliche Identität.

»Judith.« In Jean-Claudes Stimme drückte sich eine deutliche Warnung aus, der Identität der Frau nicht weiter nachzugehen.

Triumph wogte in Stefan auf. Jean-Claude langweilte sich in der Zelle. Und er wollte über die Frau reden. Er musste über sie reden, er brauchte es. Stefan wollte, dass er sich nach ihr verzehrte, damit er die Gelegenheit zur Flucht ergriff, wenn sie sich ihm bot. Natürlich würde nicht Stefan ihm die Möglichkeit bieten, sondern einer der Wärter. Es würde nicht allzu schwierig sein, das einzufädeln. Wenn einem Jean-Claude La Roux einen Gefallen schuldig war, dann war das, als hätte man das große Los gezogen. Andererseits bekam man von Jean-Claude nichts umsonst. Worauf hatte er es abgesehen?

»Ein hübscher Name. Sie sieht exotisch aus, aber der Name ist amerikanisch, oder nicht?« Tatsächlich war der Name hebräischen Ursprungs, aber Stefan hatte große Zweifel daran, dass sich der Gangsterboss dieser Tatsache bewusst war oder sich auch nur dafür interessierte. Es war ein reiner Versuchsballon, ein kalkuliertes Vortasten.

Jean-Claude beäugte ihn misstrauisch. »Was zum Teufel ändert das schon?«

Stefan ließ sich aufwallende Wut ansehen, obwohl er in Wirklichkeit triumphierte. Er hatte einen Treffer erzielt. Die geheimnisvolle Frau könnte also durchaus aus den Vereinigten Staaten und nicht aus Japan sein, wie er anfangs angenommen hatte. »Nicht das Geringste. Ich wollte mich nur mit dir unterhalten. Ist mir doch scheißegal.« Er wandte dem Gangsterboss den Rücken zu – ein kalkuliertes Risiko. Wenn er Gleichgültigkeit an den Tag legte, würde Jean-Claude vielleicht weiterreden, andernfalls ganz bestimmt nicht. Wenn er fand, Stefan zeigte zu großes Interesse, würde der Mann kein Wort mehr sagen.

Als er sich von La Roux abwandte, stand er einer anderen Wand voller Fotos gegenüber. Von allen Seiten war er von dieser mysteriösen Frau umgeben. Sie sah eindeutig so aus, als sei sie japanischer Abstammung, aber nicht nur – sie schien groß zu sein und ihr Hautton wirkte heller. Möglicherweise war ein Elternteil Amerikaner. Die Küste auf dem Foto könnte sich also in den Vereinigten Staaten befinden. Diese Möglichkeit hatte er bisher nicht in Betracht gezogen.

Auf einem der Bilder, die ihm am besten gefielen, lief Judith – jetzt hatte er ihren Namen – barfuß durch den Sand. Ein kräftiger Wind wehte und ihr langes Haar, das so seidig wirkte, strömte hinter ihr her. Er konnte kleine Fußabdrücke im nassen Sand sehen. Sie wirkte so allein. So traurig. Als wartete sie auf jemanden. Jean-Claude? Bei diesem Gedanken drehte sich sein Magen um.

»Bist du mit ihr verheiratet?« Er sah Jean-Claude nicht an, als er diese Frage stellte, da ihn der Tonfall mehr interessierte als die Antwort und er so ein besseres Gespür dafür hatte.

»Verlobt«, antwortete Jean-Claude nach einer langen Pause.

»Weiß sie das?«, fragte er verschlagen. Stefan hatte auf keiner der Fotografien einen Ring an ihrem Finger gesehen, obwohl er danach gesucht hatte.

Jean-Claude zuckte die Achseln. »Was sie denkt, spielt keine große Rolle. Sie ist meine Verlobte, und wenn der Zeitpunkt gekommen ist, wird sie auf die eine oder andere Weise mit mir zusammen sein.« Er hob eines seiner vielen Bücher auf und hielt es Stefan hin. »Hast du von diesem Mist schon mal gehört?«

Stefan unterdrückte den kleinen Wonneschauer, der ihn überlief, als ihm klar wurde, dass die Frau nicht ganz so sehr von Jean-Claude eingenommen war wie der Mann von ihr. Er nahm das Buch in die Hand, es war eines, das er sich bereits mehrfach angesehen hatte. Er heuchelte Unwissenheit. »Aura? Was soll das sein? Nie davon gehört.«

»Kannst du an diesen Blödsinn glauben? Siehst du Farben um menschliche Körper herum? Das ist dieser New-Age-Quatsch und sonst gar nichts.« Jean-Claude war von einer solchen Wut erfüllt, von einer solchen Bitterkeit, einem unterdrückten Jähzorn, der Stefan erstmals Grund zu einer Spur von Sorge um Judith gab.

»Deine Frau glaubt an dieses Zeug?«, fragte Stefan und ließ vage Verwunderung in seine Stimme einfließen.

»Und wie sie das tut. Sie nimmt es sehr ernst. Ich habe alles darüber gelesen, aber ich bin noch keinem einzigen Menschen außer ihr begegnet, der daran glaubt oder Farben sehen kann, die menschliche Körper umgeben.«

»Dann ist sie also ein bisschen verrückt.« Stefan grinste lüstern. »Meinst du nicht, ihr Körper entschädigt dich gewissermaßen für all das? Stopf ihr den Mund, und du hast keine Probleme.« Sein Magen schnürte sich zusammen. Seine Eingeweide schmerzten tatsächlich.

Jean-Claude warf ihm einen wütenden Blick zu. Er riss Stefan das Buch aus der Hand und warf es gegen die Zellenwand. »Ich weiß selbst nicht, wie ich erwarten konnte, jemand wie du würde das verstehen.«

Stefan wollte es nicht verstehen. Er wollte nur aus dieser stinkenden Zelle raus, fort von dem Mann, dessen Seele verdorben war. Es gab kein Erbarmen in dieser Welt. Keine zarte Haut. Keine dunklen Augen, in denen sich ein Mann verlieren konnte. Er war noch nicht einmal wirklich vorhanden, nicht mehr als ein dunkler Schatten, der sich an Orte schlich, die andere ihr Zuhause nannten, und Blut und Chaos zurückließ, wenn er sich wieder hinausschlich. Er wusste nicht, was ein Zuhause war und es interessierte ihn auch gar nicht mehr. Er hatte seine Menschlichkeit vor langer Zeit an Orten wie diesem verloren, von korrupten Männern umgeben, die mit menschlichem Fleisch handelten und für Geld Verheerungen anrichteten.

Er war schon zu lange im Geschäft, um sich für eine Frau zu interessieren.»Weißt du, Bastille«, setzte Jean-Claude an.

Stefan war sofort auf der Hut. Zum ersten Mal klang die Stimme seines Zellengenossen verändert. Jetzt würden sie darauf zu sprechen kommen, warum sich der Gangsterboss dazu herabgelassen hatte, mit ihm über die Frau seiner Träume zu reden. Jean-Claude hatte bisher hartnäckig geschwiegen und es war ganz einfach nicht seine Art, ein freundliches Gespräch zu führen, ganz gleich, wie sehr er darauf brennen mochte, mit jemandem über Judith und die Fotografien zu reden. Er hatte nur deshalb etwas preisgegeben, weil er etwas dafür haben wollte.

Stefan drehte sich um, lehnte sich mit einer Hüfte lässig an die Pritsche und zog eine Augenbraue hoch.

»Warum hast du mich nicht getötet? Du wusstest, dass ich die Prügel und die Angriffe auf dich angeordnet habe.«

Stefan achtete sorgsam darauf, sich nicht das Geringste ansehen zu lassen. Er zuckte die Achseln. »Damit war kein Geld zu machen. Ich will hier raus. Ich bin hergekommen, um etwas zu erledigen, und sowie ich meinen Auftrag erfüllt habe, komme ich hier raus.«

Jean-Claudes Augenbrauen schossen in die Höhe. »Einen Auftrag?«, wiederholte er.

»Immer mit der Ruhe, Rolex, du bist nicht die Zielscheibe.« Stefan zwinkerte ihm zu. »Ich kann nicht behaupten, es sei mir nicht ein- oder zweimal durch den Kopf gegangen, aber dafür kriege ich keine Provision.«

»Aber du brächtest mich um, wenn dich jemand dafür bezahlen würde.«

»Wir sind nicht direkt Freunde.« Diesmal war die Belustigung aus seiner Stimme herauszuhören.

»Ich habe dich unterschätzt«, gab Jean-Claude zu.

Stefan stellte mit Genugtuung fest, dass dem Gangsterboss gerade klar wurde, wie nah er dem Tod gewesen war. All diese Nächte, in denen Stefan wie eine tödliche Viper keine zwei Meter von ihm gelauert hatte. »Das tun alle.« Auch jetzt legte Stefan keine Böswilligkeit an den Tag.

Jean-Claude musterte das vernarbte Gesicht. »Einen Mann wie dich könnte ich gebrauchen.«

»Ich bleibe nicht. Morgen bin ich draußen.« Stefan war größte Zuversicht anzuhören.

»Wie willst du das anstellen?«

Stefan zuckte ein weiteres Mal die Achseln und hüllte sich in geheimnisvolles Schweigen.

»Du hast einen Fluchtweg?«

Oh ja, La Roux war das Interesse anzuhören. Er wollte raus. Wenn er erst einmal draußen war, würde er das Geld haben, sich eine neue Identität und ein neues Gesicht zu kaufen. Stefan tat das ständig.

Stefan wandte sich von dem Mann ab, sank auf seine Pritsche und erklärte das Gespräch stumm für beendet. Wenn sie zum Abendessen gingen, würde ein Mann tot in seiner Zelle aufgefunden werden. Wenn das Gefängnis geschlossen wurde, würde John Bastille abwesend sein und Jean-Claude La Roux würde wissen, dass es einen Weg gab, der hinausführte. Wenn er in etwa zwei Wochen von einem Wärter angesprochen würde, der ihm Hilfe bei der Flucht anbot, würde er die Gelegenheit beim Schopf ergreifen.

Der Gefangene, der bereits tot in seiner Zelle lag, war ein russischer Verräter, der wegen Waffenhandel einsaß, sich aber viel mehr als nur das hatte zuschulden kommen lassen. Er arbeitete für Jean-Claude und war dafür verantwortlich, dem Gangsterboss den Aufenthaltsort eines ihrer Spitzeningenieure verraten zu haben, Theodotus Solovjov, der das derzeitige Abwehrsystem entworfen hatte. Der Angriff auf Solovjov hatte bei Stefans Bruder Gavril zu bleibenden Verletzungen geführt und sein Leben in Gefahr gebracht.

Gavril, zweifellos einer der Spitzenagenten der Regierung, war Solovjov als Leibwächter zugewiesen worden. Trotz der zahlenmäßigen Übermacht und der waffentechnischen Überlegenheit der Angreifer und obwohl er durch sieben Messerstiche verwundet worden war, war es Gavril gelungen, Solovjovs Entführung zu verhindern und die Entführer zu vertreiben, aber der Microchip, den Solovjov in seine Jacke eingenäht hatte, war entwendet worden. Niemand außer Solovjov und seiner Ehefrau hatte gewusst, dass sich der Microchip dort befunden hatte. Solovjovs eigene Ehefrau hatte Verrat an ihm begangen und Gavrils Auftrag war als gescheitert angesehen worden.

Einem Mann wie Gavril Prakenskij verzieh man keinen Misserfolg und man hatte ihn auch nicht mit Anstand in den Ruhestand geschickt. Man hatte ihn schlicht und einfach ausgeschieden. Gavril war die Flucht aus dem Krankenhaus gelungen und er war spurlos verschwunden. Er würde nie wieder in Sicherheit sein, nicht als Träger des Namens Prakenskij. Der einzige Prakenskij, der sich wirklich in Sicherheit wiegen konnte, war ihr jüngster Bruder Ilja, der zum Interpolagenten ausgebildet worden war. Er hatte kurze Zeit für das geheime Attentatkommando gearbeitet und seine Dienste waren hin und wieder angefordert worden, aber er war nicht so wie seine älteren Brüder zu einem Leben in den Schatten verdammt worden.

Stefan hatte Gavril bei der Flucht geholfen. Er hatte ihn durch die abgedunkelten Straßen zu einem bereitstehenden Fahrzeug getragen und ihn in diesem Wagen aus Russland herausgeschmuggelt. Sie waren nur mit knapper Not entkommen, und ohne einen Arzt wäre Gavril gestorben, aber jetzt war er fort und benutzte eine andere Identität. Stefan bezweifelte, dass es ihm jemals vergönnt sein würde, seinen Bruder wiederzusehen. Als er von Gavril erfahren hatte, dass niemand außer Theodotus Solovjov und seiner Frau Elena von dem Microchip gewusst hatte, der in die Jacke eingenäht war, stand für beide ohne jeden Zweifel fest, dass Elena diejenige gewesen sein musste, die ihr Land verraten und verkauft hatte.

Sowie Gavril außer Gefahr war, hatte Stefan die Fährte des Geldes aufgenommen und nicht nur Elenas Schuld beweisen können, sondern er war auch auf ihre Verbindung zu Jean-Claude La Roux gestoßen. Elena starb, nachdem sie den Namen ihres Liebhabers preisgegeben hatte. Und ihr Liebhaber hatte den Rest des Killerkommandos verpfiffen, ehe er gestorben war. Stefan hatte sich die Beteiligten einen nach dem anderen vorgenommen und Jagd auf die Männer gemacht, die die Karriere seines Bruders zerstört und sein Leben in Gefahr gebracht hatten; und er hatte sie alle getötet, mit Ausnahme des einen, der in dem französischen Gefängnis saß. Diese letzte Kleinigkeit war am früheren Abend erledigt worden.

Stefan legte sich hin und schenkte Jean-Claudes verwirrtem Blick keinerlei Beachtung. Der Mann wollte mehr Informationen haben und bereute wahrscheinlich jetzt schon, dass er den Ton angegeben und das Verhältnis zwischen ihnen, das ohnehin auf wackligen Füßen stand, in eine bestimmte Richtung gelenkt hatte. Es lag eine gewaltige Genugtuung in dem Wissen, dass Jean-Claude noch viel mehr bereuen würde – nicht zuletzt, dass er für das Ende von Gavrils Karriere verantwortlich gewesen war.

Vier Tage später ließ sich Stefan Zeit unter der heißen Dusche und war dankbar für ein anständiges Zimmer, das saubere Bad und das bequeme Bett. Er schlang sich ein Handtuch um die Hüften und trat auf die kühlen Fliesen hinaus. Nachdem er seine Waffe auf dem Waschbeckenrand abgelegt hatte, trocknete er sein Haar und starrte das Bild in dem beschlagenen Spiegel an. John Bastille gab es nicht mehr und Stefan Prakenskij war zurückgekehrt. Er sah keine Spur besser aus als Bastille, selbst nach einer gründlichen Reinigung nicht. Sein Körper war in Form, jeder Muskel einsatzbereit, seine Taille konisch, seine Hüften schmal und seine gesamte Muskulatur gestählt. Er war vollständig durchtrainiert und wie eine Maschine auf jede Möglichkeit eingerichtet. Er kannte tausend Methoden, einen Menschen zu töten. Er konnte jede Frau verführen, bis sie nicht nur ihre Kleidung, sondern auch jedes Anstandsgefühl ablegte und ihre Geheimnisse preisgab, und genau das hatte er so oft getan, dass er nicht mehr mitzählen konnte. Selbst bei starkem Wind konnte er problemlos ein Ziel aus einer Meile Entfernung treffen. Ebenso einfach war es für ihn, seinem Opfer im Vorübergehen eine Spritze so zu verpassen, dass es nicht mehr als einen lästigen Insektenstich wahrnahm. Das war sein Leben und er hatte keine Ahnung, was er anderes hätte tun können.

Jetzt nahm er seine Waffe und ging in das kleine Zimmer, sein Zuhause für diese Nacht. Die Tür hatte er präpariert – er war kein vertrauensvoller Mann und würde auch nie einer sein. Die Fenster lagen auf der Flussseite, seine letzte Zuflucht, falls er angegriffen werden sollte und es keinen anderen Ausweg gab. Er hatte einen Fluchtweg über das Dach und einen weiteren durch das Hotel vorbereitet. Er hatte vier Strategien zum Ausstieg geplant und sein Zimmer war ein Waffenarsenal. Trotzdem fühlte er sich niemals sicher.

Er verspürte eine innere Unruhe, die vorher nicht da gewesen war. Vielleicht war es an der Zeit auszusteigen. Er hatte zu viel Menschlichkeit verloren. Seine Sinne stumpften ab, aber vielleicht waren sie auch schon die ganze Zeit über taub gewesen und es war ihm nur nicht aufgefallen. Oder es hatte ihm nichts ausgemacht.

Trotz aller Entschlossenheit nicht hinzusehen ertappte er sich dabei, dass er vor der Kommode stand, auf der das Foto, das er von der Wand geklaut hatte, genau da lag, wo er es hingelegt hatte, sein liebstes Bild von Judith am Strand. Er hatte es dort hingeschleudert und sich einzureden versucht, er würde es seinem Betreuer übergeben, damit es ihnen beim Aufspüren ihrer Identität behilflich war. Ein kleiner Fehler wie dieser konnte alles verpatzen und dann wären die gesamten zwei Monate, die er mit einem Monster in einer dreckigen Zelle gehaust hatte, umsonst gewesen. Was hatte er sich bloß dabei gedacht? Er machte keine Fehler.

Er nahm die Fotografie in die Hand und blickte in dieses versonnene Gesicht. Sein Daumen glitt über den Streifen zarter Haut, der zwischen ihrer Jeans und ihrem T-Shirt entblößt war, wie er es schon in der Zelle getan hatte. Was hatte sie bloß an sich, das ihm derart zusetzte? Sie war ein Fehler, und obwohl er das wusste, hatte er das Foto mitgenommen. Es lag nicht an ihrem umwerfenden Aussehen – natürlich fand er sie wunderschön; aber er fühlte sich unerklärlich zu etwas in ihrem Innern hingezogen, das in diesem Bild durchschimmerte.

Er zwang sich, das Foto wieder auf die Kommode zu werfen. Er würde sie niemals sehen und nie erfahren, was aus ihr geworden war, aber wenn er Fehler machte und wenn er bedauerte, wer er war, dann war es höchste Zeit, seine Strategie zum Ausstieg in die Tat umzusetzen. Jeder Mann in seiner Branche hatte eine Ausstiegsstrategie parat, denn schließlich wussten sie alle zu viel über das geheime Projekt, das sie überhaupt erst zu dem gemacht hatte, was sie waren.

Er kleidete sich sorgfältig an und schlüpfte ebenso selbstverständlich in seine Waffengurte wie in den Anzug, der eine lässige Eleganz besaß, wenn seine breiten Schultern ihn ausfüllten. An seinem Gesicht hatten sich subtile Veränderungen vollzogen. Seine Augenfarbe war jetzt leuchtend blau und ein paar von den Narben waren verschwunden. Er hatte sich das dunkelblonde Haar zu einer viel ordentlicheren Frisur gestutzt und war glattrasiert. Er trug seine Armbanduhr, ein ebenso elegantes Stück wie sein Anzug, ohne protzig zu wirken. Er sah aus wie ein wohlhabender Geschäftsmann, aber einer von der Sorte, die sich bis nach oben vorgekämpft hatte. Einen Moment lang stand er dort und ließ seine Finger über das Gesicht der Frau gleiten. Während er sich für seine eigene Dummheit verfluchte, ließ er seine Hand frustriert auf die Fotografie klatschen.

»Du wirst dich wegen einer Frau umbringen lassen«, sagte er laut vor sich hin.

Wie auf ein Stichwort surrte sein Pager. Verblüfft öffnete er seinen Computer und meldete sich an. Sofort erschien ein Text auf dem Bildschirm. Die Frau war aufgrund der Hinweise, die er ihnen gegeben hatte, identifiziert worden. Judith Henderson, eine aufstrebende Künstlerin. Sie hatte sich als spezialisierte Restauratorin, die beschädigte Kunstwerke wiederherstellte, einen Namen gemacht. Private Sammler kamen zu ihr und vertrauten ihr Gemälde an, die Millionen wert waren. Neben ihrer Arbeit als Restauratorin war sie aber auch selbst eine gefeierte Künstlerin, die sowohl mit ihren Kaleidoskopen, die internationale Preise gewannen, für Aufsehen sorgte, als auch als Malerin, deren Originale beträchtliche Summen erzielten. Sie lebte in einer kleinen Ortschaft namens Sea Haven an der nordkalifornischen Küste.

Alles in ihm kam zum Verstummen. Sea Haven. Wie oft würde dieser kleine Ort denn noch mit seiner Familie in Berührung kommen? Ilja, sein jüngster Bruder, hatte sich dort niedergelassen. Ein anderer jüngerer Bruder, Lev, war dort verschwunden und für tot erklärt worden, nachdem er mit einer Yacht im Meer untergegangen war. Er glaubte allerdings nicht, dass Lev so leicht umzubringen war. War das eine Art Falle – eine Falle für ihn? Oder vielleicht für Lev? War es möglich, dass er für den Versuch benutzt wurde, seinen Bruder zu finden? Ein Mann wie Lev mit all seinen Fähigkeiten starb nicht so leicht. Er geriet nicht in Panik, nicht einmal unter den schlimmsten Umständen.

Petr Ivanov, ein Mann ohne jegliche menschliche Gefühle, war geschickt worden, um Lev zu finden und ihn zu eliminieren, falls er doch noch am Leben sein sollte. Er war mit der Meldung zurückgekehrt, Lev sei tatsächlich beim Untergang der Yacht gestorben. Die Leiche war nie gefunden worden, aber die Ermittlung war gründlich gewesen. Wenn Ivanov nicht wirklich von Levs Tod überzeugt gewesen wäre, hätte er seinen Ruf nicht mit diesem Bericht aufs Spiel gesetzt. Angeblich hatten alle die Suche nach seinem Bruder eingestellt. Hieß das, sie glaubten tatsächlich, dass Lev tot war? Oder legten sie Stefan rein, damit er sie zu seinem Bruder führte?

Er reagierte nicht auf die Neuigkeiten, die Zeile für Zeile auf seinem Bildschirm erschienen. Wie Lev neigte auch er nicht zur Panik. Er wartete schweigend. In vollkommener Ruhe. Eine neue Nachricht erschien auf dem Computerbildschirm und sein Herz machte einen Sprung, ehe es sich wieder beruhigte.

Er sollte nach Sea Haven gehen und eine Beziehung mit Judith Henderson beginnen. Dokumente mit detaillierten Anweisungen für den Auftrag würden folgen. Er fühlte, dass er innerlich erstarrte. Ursprünglich hatte er Jean-Claude verhören sollen, sobald sie ihm den Ausbruch aus dem Gefängnis ermöglicht hätten. Er würde die erforderlichen Informationen mühelos aus La Roux herausholen und das wussten seine Betreuer. Auch wenn er noch so gern nach Sea Haven reisen wollte, um etwas über seinen Bruder herauszufinden, würde er sich damit auf ein Minenfeld begeben.

Er wartete einen weiteren Herzschlag, ehe er seine Antwort zurücksandte. Das verstehe ich nicht. Ich soll Jean-Claude verhören.

Die anonymen Befehle liefen weiterhin über den Bildschirm. Der Plan war abgeändert worden. Falls etwas schiefging, wenn La Roux aus dem Gefängnis floh, wollten sie sichergehen, dass sie ihn an sich bringen konnten, falls er sich nach Sea Haven begeben würde. Stefan musste einige Zeit vor ihm dort ankommen und unter seiner angenommenen Identität einen möglichst engen Kontakt zu Judith Henderson herstellen. Falls es sich als notwendig erweisen sollte, würde er, sollte der Gangsterboss dort auftauchen, sowohl Jean-Claude als auch die Frau verhören, sowie er sie beide in Gewahrsam genommen hatte.

Stefans Magen hob sich und ihm wurde schlecht. Er schmeckte tatsächlich Galle im Mund. Mit jedem Mittel Informationen aus La Roux herauszuholen, das war eine Angelegenheit, aber aus der Frau ebenfalls? Er öffnete die Augen, um den Text ein zweites Mal anzusehen, und hoffte, wenn er es sich inständig genug wünschte, würden sich die Befehle wie durch Zauberhand verändern. Er musste verdammt müde sein, wenn er eine so starke körperliche Reaktion auf den Befehl hatte.

Einen Moment lang schloss er die Augen wieder und schüttelte den Kopf. Hinter diesem Auftrag steckte ganz entschieden etwas anderes als das, was man ihm sagte. Es war eine unsinnige Vorstellung, Agenten würden Jean-Claude den Ausbruch aus dem Gefängnis ermöglichen und ihn dann verlieren. Er wurde nicht etwa nach Sea Haven geschickt, weil sie glaubten, sie würden den Gangsterboss verlieren, sondern als Köder, um seinen Bruder Lev aus der Versenkung hervorzulocken. Sie hatten Petr Ivanovs Bericht über den Tod seines Bruders doch nicht geglaubt. Die Befehle dienten einem zweifachen Zweck. Er sollte herausfinden, wo Lev sich aufhielt, und falls La Roux den anderen Agenten tatsächlich entkam, würde er an Ort und Stelle sein, um die benötigte Information aus ihm herauszuholen und ihn dann zu töten.

Er schluckte seinen ungeheuren Widerwillen gegen die Befehle hinunter und tippte seine Zustimmung. Wenige Momente später empfing er einen Download. Das Dokument enthielt alles, was sie über Judith Henderson zusammengetragen hatten. Er meldete sich ab und goss sich eine Tasse Kaffee ein, ließ sich auf einen Sessel sinken und rieb sich die Schläfen. In der letzten Zeit bekam er häufig stechende Kopfschmerzen, ein weiteres Anzeichen dafür, dass er kurz vor dem Zusammenbruch stand. Er konnte sich aber keinen Zusammenbruch leisten, nicht dann, wenn sie ihn nach Sea Haven schickten.

Einerseits wollte er hingehen, und gerade deshalb überlief ihn ein Schauer der Sorge. Er wollte Petr Ivanov nicht zu Lev führen, und wenn Lev in Sea Haven war, würde er Stefan finden, selbst dann, wenn seine Tarnung hieb- und stichfest war. Er fluchte in drei Sprachen und trank einen Schluck von seinem Kaffee. Judith. Der Teufel sollte die Frau holen. Sie war ihm in dieser Gefängniszelle unter die Haut gegangen. Er hatte nicht für möglich gehalten, dass jemand das schaffen würde, ganz zu schweigen von einer Frau, der er nie begegnet war.

Er öffnete das Dokument und las, was sie über ihr Leben wussten. Japanische Mutter, amerikanischer Vater. Beide bei einem Autounfall gestorben. Die Größe hatte sie von ihrem Vater. Diese wunderbaren langen Beine. Er zwang sich, seine Gedanken wieder den Fakten zuzuwenden und sie sich einzuprägen. Sie hatte einen Bruder, älter, der sie nach dem Tod ihrer Eltern großgezogen hatte.

Paul Henderson, mittlerweile verschieden, hingerichtet mit einem einzigen Schuss in die Stirn, aber nicht, bevor man ihn gefoltert hatte. Er war nach Paris gereist und mit seiner Schwester von dort fortgegangen. Sie verschwanden beide und Paul tauchte in Griechenland wieder auf. Dort wurde er getötet. Judith erschien, nachdem Jean-Claude inhaftiert worden war, und brachte die Leiche ihres Bruders nach Hause, in die Staaten. Was hatte das zu bedeuten?

Hatte Jean-Claude Judith gesucht? Er überlegte hin und her. Es passte. Es war möglich, dass sie mit Hilfe ihres Bruders vor dem Mann fortgelaufen war. Sie war intelligent und Männer wie La Roux konnten sich keine intelligenten Frauen leisten. Sie kamen dahinter, was los war. Sowie sie erkannt hatte, dass La Roux schmutzige Geschäfte machte, war es Judith vielleicht nicht möglich gewesen, damit zu leben. Andererseits könnte sie ihm aber auch etwas Wertvolles abgenommen haben.

Dieser Gedanke gefiel Stefan gar nicht, aber beide Szenarien könnten sowohl den Tod ihres Bruders als auch Jean-Claudes andauerndes Interesse an ihr erklären. Ebenso den Umstand, dass sie untergetaucht war, bis Jean-Claude inhaftiert worden war. Judiths Wiederauftauchen wies darauf hin, dass sie wahrhaftig nicht wusste, wie gefährlich La Roux in Wirklichkeit war oder wie weit seine beträchtliche Macht sogar von seiner Gefängniszelle aus reichte und wie gekonnt er sie einsetzte.

Stefan ging das Dossier durch, das er als Download erhalten hatte. Das Dokument enthielt auch etliche Fotos von Judiths Gemälden, sowohl von denen, die sie gemalt hatte, ehe sie Paris verließ, als auch von denen, die sie hinterher gemalt hatte. Sowie sein Blick auf das erste Gemälde fiel, fühlte er einen heftigen Hieb in seine Magengrube. Ihre Dynamik und ihre Leidenschaft, die darin zum Ausdruck kamen, verschlugen ihm buchstäblich den Atem. Er konnte seinen Blick nicht von der Serie losreißen und betrachtete jedes Gemälde eingehend. Sie waren faszinierend und wunderschön, tief, dreidimensionale Farben, eine erstaunliche Linienführung, voller Leidenschaft und Glut. Voll von ihrer Dynamik und Leidenschaft.

»Da bist du«, flüsterte er. »Ich sehe dich.«

Sie hielt nichts zurück, und sie hauchte ihren Werken ein solches Leben ein, dass jedes Seestück, jeder Baum, jede Wolke und jeder Busch in Bewegung waren und sangen oder schluchzten. In ihrer Hand war Farbe ein Musikinstrument, das von einem Virtuosen gehandhabt wurde. Ihr Mut war einfach umwerfend. Sie verstand Farben und ihre Bedeutung. Sie zog ihre Pinselstriche wie Liebkosungen, kühn und schüchtern, sinnlich und unschuldig. Sie war eine Verführerin mit ihren Farben, ein Traum, der in Reichweite und doch unerreichbar war.

Stefan fuhr mit beiden Händen durch sein Haar. Alle Welt konnte sie sehen. In diesen Gemälden hatte sie ihre Seele entblößt. Sie war weiß Gott atemberaubend. Er fühlte, wie sich sein Körper regte, ein unvorstellbarer Schock für ihn. Er hatte sich immer unter Kontrolle, körperlich und seelisch. Er war von seiner Kindheit an ausgebildet worden. Sein Körper erwachte auf seinen Befehl hin zum Leben und war dann, wenn er es brauchte, einsatzbereit. Was zum Teufel richtete diese Frau mit ihren Gemälden und den Fotos, auf denen sie zu sehen war, bei ihm an?

In den Gemälden steckte mehr von der wirklichen Frau als in der geheimnisvollen Fotografie, die er dem Gangsterboss gestohlen hatte. Sie hatte sich in sich selbst zurückgezogen, hielt sich abseits von der Welt, distanziert und unnahbar, aber hier konnte er in jedem Pinselstrich ihr Feuer und ihre Leidenschaft sehen.

Stefan zwang sich weiterzulesen. Ihre Zeit mit Jean-Claude war gut dokumentiert. Die Gerüchte über La Roux waren allmählich aufgekommen und es gab ein paar Fotos von einer jüngeren Judith, die lächelnd zu Jean-Claude aufblickte und auf all den Überwachungsfotos ihr Glück wie eine zweite Haut trug. Seine Reaktion darauf, sie zusammen mit dem Gangsterboss zu sehen, war atavistisch, sogar animalisch, und kam tief aus seinem Inneren. Er wollte den Mann mit seinen bloßen Händen umbringen. Er öffnete und schloss seine Finger, verlangsamte bewusst seine Atmung und verschloss sich gegen jede Empfindung.

Stefan musterte Jean-Claudes Gesichtsausdruck. Der Arm um Judiths schmale Taille war besitzergreifend, ebenso sein Gesichtsausdruck, aber das war noch nicht alles. Falls ein Mann wie La Roux zu Liebe fähig war, dann war es das. Was auch immer es war, vielleicht Besessenheit – und Stefan begann dieses Wort zu verstehen –, jedenfalls sagte der Ausdruck auf Jean-Claudes Gesicht, als er auf die lachende Judith hinunterblickte, einfach alles. Er würde jeden Preis bezahlen, um sie zu behalten. Falls der Mann den anderen Agenten entwischen konnte, würde er mit absoluter Sicherheit nach Sea Haven gehen, um dort zu holen, was er als sein Eigentum ansah – und dazu zählte Judith.

Stefan las das Dokument sorgfältig und prägte sich das Gelesene ein, ehe er sich die wenigen Fotografien von Judiths Werken nach ihrer Flucht von La Roux ansah. Jedes einzelne Gemälde war gut, daran bestand kein Zweifel, aber ihre späteren Arbeiten unterschieden sich sehr von den früheren. In ihren Ausführungen war sie sehr maßvoll und zurückhaltend und zeigte die ungeheure Schönheit dessen, was sie darstellte. Makellose Farbgebung, eine kühne, mutige Pinselführung, aber die Gemälde selbst waren in seinen Augen flach. Sie waren immer noch wunderschön, aber sie – Judith, die Essenz der Frau – war nicht mehr vorhanden. All ihre Leidenschaft und Glut waren beherrscht, verschwunden, ersetzt durch eine Maske, die gut, sogar brillant, aber nicht echt war.

»Jetzt ist es zu spät, um dich zu bedecken. Ich sehe dich«, flüsterte er wieder. »Ich komme dich holen.«

Er presste seine Finger direkt über seine Augen und drückte dort, wo die Kopfschmerzen einsetzten, fest zu. Das konnte ihm alles gestohlen bleiben. Er wollte kein anderes Leben. Er träumte nicht von einem anderen Leben. Er spielte mit dem Blatt, das an ihn ausgegeben worden war, wie der Automat, zu dem er mühsam geworden war, weil er sich selbst dazu erzogen hatte. Er fühlte nichts. Er wollte auch gar nichts fühlen. Er dachte nicht mehr an seine Eltern und daran, wie eines Nachts seiner Mutter und seinem Vater Waffen an den Kopf gehalten und abgedrückt worden waren. Innerhalb von vier Wänden gab es keine Sicherheit. Für ihn würde es nirgendwo Sicherheit geben – niemals. Und jeder, der mit ihm zu tun hatte, würde in Gefahr sein. Jeder, den er liebte, würde ihm genommen werden. Besser gar nicht erst das Risiko eingehen, also nie etwas empfinden.

Er wiederholte das Mantra und sprach es mit leiser Stimme aus. Er hörte seine Schritte auf dem Teppich, ehe er seine eigenen Absichten kannte. Er ging zu der Kommode und nahm die Fotografie von Judith Henderson wieder in die Hand, denn die Kraft, die ihn anzog, war zu stark, um ihr zu widerstehen. Eine Frau, die sieben Sprachen beherrschte. Intelligent. Schön. Eine Künstlerin. Er wusste nicht einmal, wie das wäre – die Freiheit zum Malen zu besitzen, die Freiheit, das eigene Herz und die eigene Seele auf eine Leinwand zu verströmen.

Er beherrschte viele Sprachen. Er war intelligent. Und er kannte sich mit Malerei aus. Sogar bestens. All das war notwendig für seinen Beruf, für die Aufgabe, eine Haut abzuwerfen und sich eine andere zuzulegen. Seine Schläfen pochten und er ließ sich wieder auf den Sessel sinken, mit dem Foto in der Hand. Was hatte sie bloß an sich? War es dieser verlorene, einsame Gesichtsausdruck? Der Wind in ihrem Haar? Die Sonne, die auf das Wasser schien? Seine Phantasie, die so lange Zeit unterdrückt worden war, entzündete sich trotz seines Verlangens, sie zu unterdrücken. Sie wartete darauf, dass jemand kam und diese Leidenschaft und Glut freisetzte. Sie wartete auf den richtigen Mann, um sie ihm zu geben.

Wie zum Teufel kam er auf solche Gedanken?

2.

Dunkle Purpurtöne, durchsetzt mit wogenden schwarzen Linien, zogen über die hohe Kobaltdecke und weinten kristalline Tränen. Wenn der Raum von so viel Kummer erfüllt war, wurden Stein und Holz von der Intensität der Gefühle nahezu gesprengt. Der Kummer war ein eigenständiges atmendes Lebewesen.

Rasende Wut war in diesen Wänden in Bewegung und atmete ein und aus, sodass die breiten roten und orangen Schlitze, klaffende Wunden, ständig wogten, sich wölbten und sich ausbeulten und dann wieder zurückgepresst wurden; ein tiefes Einatmen, ein wiederholtes Luftschnappen, um die gewaltige Wut zu beherrschen, das Verlangen nach Vergeltung, nach Rache. Rasende Wut lebte und atmete neben dem Kummer.

Durch die offenen gläsernen Schiebetüren, die auf die Terrasse und den Hinterhof führten, wo hohe Gräser den Blick auf das Studio von draußen vollständig versperrten, wehte eine Brise und neckte die flackernden Flammen an der Spitze jeder der dunklen Kerzen, deren Schein die Gemälde beleuchtete. Die tanzenden Lichter brachen sich in scharfen Glasscherben, die in die finsteren, zornigen Gemälde eingebettet waren. Kühne rote japanische Schriftzeichen schluchzten einen einzigen Namen – Paul Henderson.

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