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Gavriil Prakenskij ist Auftragskiller. Schwäche oder Gefühle kennt er nicht. Verführung gehört für ihn zum Geschäft. Doch alles ändert sich, als er die scheue Lexi trifft. Er kann fühlen, dass sie für ihn bestimmt ist. In ihrem Inneren ebenso verletzt wie er, teilt sie den Wunsch nach einem Neuanfang. Doch dann wird Lexi von den Schatten ihrer Vergangenheit eingeholt. Kann Gavriil noch einmal auf seine Fähigkeiten zurückgreifen, um die Frau, die er liebt, zu schützen?
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Seitenzahl: 578
DAS BUCH
Lexi ist die jüngste der »Schwestern des Herzens«, jener ungewöhnlichen Frauen mit der besonderen Begabung und der tragischen Vergangenheit, die sich auf einer Farm in Kalifornien ein Refugium geschaffen haben. Nach neun Jahren in der Gefangenschaft einer Sekte, wo der brutale Caine sie immer wieder vergewaltigte, hat sie bei den Schwestern endlich einen Ort gefunden, wo sie zur Ruhe kommt. Aber sie kann das Erlebte nicht vergessen und leidet unter ständig wiederkehrenden Panikattacken. Dann wird der Albtraum wahr: Die Sekte findet sie, und ihr Peiniger fordert sie zurück. Wie aus dem Nichts taucht Gavril Prakenskij auf und rettet sie. Gavril ist anders als alle Männer, die Lexi je begegnet sind. Äußerlich einschüchternd und von der Aura eines eiskalten Killers umgeben, erkennt sie auf Anhieb sein verletztes und verzweifeltes Inneres. Gavril entwickelt eine nie gekannte Zuneigung für Lexi und ist fest davon überzeugt, in ihr seine Seelenverwandte gefunden zu haben. Aber Lexi ist schwer traumatisiert. Zärtlichkeit hat sie nie erlebt, Männer nur als Bedrohung wahrgenommen. Wird sie ihre Angst überwinden und sich auf Gavril einlassen können?
DIE AUTORIN
Christine Feehan wurde in Kalifornien geboren, wo sie heute noch mit ihrem Mann und ihren Kindern lebt. Sie begann bereits als Kind zu schreiben und hat seit 1999 mehr als sechzig erfolgreiche Romane veröffentlicht, die in den USA mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet wurden und alle auf die New-York-Times-Bestsellerliste gekommen sind.
Mehr Informationen über die Autorin und ihre Bücher finden sich im Anschluss an diesen Roman und auf ihrer Website www.christinefeehan.com.
CHRISTINE FEEHAN
Wächterin der Erde
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Heinz Tophinke
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe EARTH BOUND erschien 2015 bei Jove Book,
The Berkley Publishing Group, Penguin Random House Company, New York
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Vollständige deutsche Erstausgabe 09/2016
Copyright © 2015 by Christine Feehan
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Veröffentlicht in Zusammenarbeit mit
The Berkley Publishing Group,
an Imprint of Penguin Publishing Group,
a Division of Penguin Random House LLC
Alle Rechte sind vorbehalten.
Redaktion: Birgit Groll
Umschlaggestaltung: © Nele Schütz Design, München
unter Verwendung von © Shutterstock
(Ed Corny, Solominviktor, Helen Hotson)
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-18817-7V001
www.heyne.de
Für Charlotte, mit Liebe
1.
Der Schmerz war eine seltsame Sache. Er lebte und atmete, existierte in jeder Zelle des Körpers. Er konnte einen lähmen, einem den Atem rauben, Würde und Lebensqualität nehmen. Schmerz konnte das Erste sein, was man fühlte, wenn man aufwachte, und das Letzte, bevor man einschlief. Er war ein heimtückischer Feind. Lautlos. Unsichtbar. Tödlich. Gavril Prakenskij hatte schon vor geraumer Zeit beschlossen, den Schmerz zu seinem Freund zu machen.
Wenn er überleben sollte, sofern das mit dem Schmerz als seinem Gefährten überhaupt möglich war, dann würde er sich damit abfinden – das hatte er ohnehin schon getan. Bis zu diesem Augenblick. Bis der Schmerz kein physischer oder mentaler mehr war, sondern nur noch ein emotionaler. Das war eine vollkommen andere Art von Schmerz – eine, auf die er absolut unvorbereitet war.
Sein Leben bestand aus totaler Disziplin und Kontrolle. Er plante jeden kleinsten Schritt und machte zu seinen Krisenplänen auch noch Ersatzpläne. Es gab nie auch nur einen Moment, auf den er nicht vorbereitet gewesen wäre. Keinen Augenblick, in dem ihn etwas schockiert oder überrascht hätte. Denn nur so blieb er am Leben. Er hatte keine Freunde, und jede neue Bekanntschaft war erst einmal ein Feind. Die wenigen, bei denen er sich erlaubt hatte, auch nur ein Fünkchen Freundschaft zu empfinden, hatten ihn letztlich verraten, und diese schmerzlichen Momente hielt er einfach für wichtige Lektionen, die er gelernt hatte.
An Betrug und Verrat war er gewöhnt. An Blut, Folter, Qual und Tod. Er war es gewöhnt, allein zu sein. Diese Welt verstand er, und deshalb fühlte er sich in ihr am besten. Er war siebenunddreißig Jahre alt und schon sein ganzes Leben lang in dieser Welt. Er kannte mehr Wege, einen Menschen zu töten oder zu foltern, als er aufzählen konnte. Er trug den Tod mit sich wie ein anderer etwa seine Identität. Denn er war der Tod. Wenn er aus dem Schatten trat, und wenn es nur für einen Augenblick war, dann um zu einem todbringenden Schlag auszuholen.
Nur wenige bekamen ihn je zu Gesicht. Er lebte in einer Schattenwelt, durch die er sich bewegte wie ein Phantom, ein nächtlicher Spuk, der Leichen hinterließ. Er war unwirklich, nicht mehr als eine Schimäre, von der man einen kurzen Blick erhaschte. Körperlos. Ohne Substanz. Und nun stand er hier, am frühen Morgen, die Dämmerung schnitt lange, helle Streifen in die samtschwarze Nacht, seine wohlgeordnete Welt zerfiel um ihn herum, und er konnte geradezu spüren, wie die Erde unter ihm bebte.
Seine Handfläche juckte. Nicht nur ein wenig, sondern so heftig, dass er etwas dagegen tun musste. Gavril presste sie fest gegen den Oberschenkel; sein Herz pochte plötzlich wie wild. Manchmal machte das Leben die unerwartetsten Wendungen – und er hätte wissen müssen, dass das vielleicht passieren würde.
Er war an einen Kraftort gelangt. Hier schwang Energie in der Luft und stieg aus der Erde empor, sie war im Wind und in dem Wasser, das er unter der Erde fließen spürte. Dieser Ort, diese Farm, war gefährlich, und er hatte die Warnungen nicht beachtet – hatte nicht erwartet, dass die Gefahr ihm galt und welche Form sie annehmen würde. Aber er war hierhergekommen, und nun würde jemand den Preis dafür bezahlen.
Eine junge Frau kam durch ein Maisfeld auf ihn zu, die hohen Pflanzen überragten sie. Sie wirkte anmutig, ihre Bewegungen waren leicht und fließend, ab und zu blieb sie stehen, um einen Kolben näher zu betrachten.
Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden und davon, wie sich die Pflanzen zu ihr neigten, als sei sie die Sonne und nicht der goldglänzende Ball, der eben seinen Aufstieg in den Himmel begann. Sie trug ausgefranste Jeans, voller Löcher und vom vielen Waschen gebleicht, dazu ein lässig geknöpftes, dunkelblau kariertes Hemd. Er wusste, dass sie es achtlos geknöpft hatte, denn der erste und der letzte Knopf waren offen, und er verspürte den lächerlichen Drang, sie zu schließen – oder ihr das Hemd vollständig aufzumachen.
Ihr dichtes kastanienbraunes Haar war sehr lang, wahrscheinlich ging es bis zum Po, und es war zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengefasst. Das Gesicht war oval und ziemlich hell, doch ihre Augen, die die Maiskolben inspizierten, waren von einem außergewöhnlichen Grün. Selbst im noch blassen Morgenlicht waren diese von langen, dichten Wimpern umrandeten Augen auffallend, faszinierend. Ihre Lippen waren voll und sinnlich, die kleinen Zähne sehr weiß.
Die Arbeitskluft konnte ihre Figur nicht verbergen. Volle Brüste und eine schlanke Taille unterstrichen ihre ausladenden Hüften. Sie war eine Fee, himmlisch und so unwirklich, wie auch er es war. Und sie war so schön, dass es wehtat.
Er kannte sie. Er hatte sie schon immer gekannt. Er hatte gewusst, dass sie irgendwo auf dieser Welt auf ihn wartete, und das Brennen in seiner Hand und der seine Gedanken lähmende Schmerz sagten ihm, dass diese Frau für ihn und nur für ihn bestimmt war. Wie vollkommen unerwartet und unannehmbar war das denn?
Er war in die kleine Stadt Sea Haven an der nordkalifornischen Küste gekommen, um seinen jüngsten Bruder Ilja zu warnen, dass er auf derselben Todesliste stand wie der Rest seiner Familie, und um seine drei anderen Brüder zu sehen, die sich hier niedergelassen hatten. Sieben Brüder – ihre Eltern hatten sie oft »die Orgelpfeifen« genannt –, die bereits im Kindesalter gewaltsam auseinandergerissen worden waren. Man hatte sie gezwungen, die Ermordung ihrer Eltern mit anzusehen, und dann waren sie gefangen gehalten und getrennt worden. Und nun standen sie alle sieben auf einer Todesliste. Gavril hatte das kommen sehen; er hatte sich nur gewünscht, sie hätten mehr Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten.
Er beobachtete, wie die Frau weiter auf ihn zukam. Er war ganz im Schatten verborgen und absolut reglos, sodass er ihre Aufmerksamkeit nicht auf sich ziehen konnte. Sie hatte soeben alle seine Pläne verändert. Seine gesamte Existenz. Als sie aus dem Maisfeld heraustrat und das Licht auf ihr Gesicht fiel, bemerkte er ihre makellose Haut, den geschwungenen Nacken und die hohen Wangenknochen.
Für einen Mann wie ihn sah sie viel zu jung aus. Das hatte nichts mit dem Alter zu tun, aber alles damit, wer und was er war. Noch immer. Seine juckende Handfläche besiegelte ihr Schicksal. Er würde nicht das Einzige auf der Welt wegwerfen, das er sein Eigen nennen konnte. Er konnte ihr nicht viel bieten. Er war hart und herzlos und verdammt zynisch, wenn es um die Welt um ihn herum ging. Er konnte auch skrupellos und unerbittlich sein, und er wusste, er würde es sein, falls jemand versuchen sollte, sich zwischen diese junge Frau und ihn zu stellen.
In diesem Moment, als der Tag anbrach und ihr herrliches, volles Haar in ein flammendes Rot tauchte, kümmerte es ihn nicht einmal, dass er sie gar nicht verdiente. Oder dass er sie ebenso wenig kannte wie sie ihn … Es war ihm egal, dass er viel älter und ein gefährlicher Killer war und mit einer Frau wie ihr nichts zu schaffen hatte, oder dass sein Körper voller Narben war und er aussah wie eine zusammengeflickte Stoffpuppe. All das war ihm absolut gleichgültig.
Sie gehörte zu ihm, diese Frau. Sie war für ihn geschaffen. Sie war die Eine, die er an sich binden konnte. Gavril presste den Daumen in seinen Handteller. Er war ein gebrochener Mann, für immer zerstört. Er war ein Killer, und auch das war unwiderrufbar. Er bekam keine neue Chance – und diese gefühlsmäßige Einsicht, dieser Schmerz, war eine weit schlimmere Bürde als der physische Schmerz, den er zu ertragen hatte.
Sie war die jüngste Frau auf der Farm, auf der seine Brüder lebten. Ihr Name war Lexi. Sie wandte den Kopf abrupt zur Rückseite des Grundstücks um und änderte ebenso plötzlich ihre Richtung.
Sobald er diesen Grund betreten hatte, die große Farm, auf der seine Brüder und die sechs Frauen lebten, hatte er die Kraft dort gespürt und gewusst, dass dieser Ort beschützt war, nicht nur von seinen Brüdern – die alle ebenfalls gefährlich waren –, sondern von den Elementen. Erde. Luft. Wasser. Feuer. Er spürte sogar eine überirdische Kraft.
Hätte er nicht auch seinerseits über Kräfte und Gaben verfügt, so wäre er ihr auf diesem Pfad durch das Laubwerk mit weitaus mehr Vorsicht gefolgt. Doch nichts konnte ihn von seinem eingeschlagenen Kurs abbringen. Er heftete sich vielmehr seiner Beute an die Fersen und bewegte sich einem Gespenst gleich durch den dichten Bewuchs auf ein geheimes Ziel zu.
Gavril spürte, dass sie zu einem für sie bedeutsamen Ort ging und dass sie das niemanden wissen lassen wollte. Immer wieder warf sie kurze, verstohlene Blicke um sich, als befürchtete sie, beobachtet zu werden. Er wusste, dass er ihr Radar nicht auslösen würde. Dazu gab er nicht genügend Energie ab. Eine Technik, die er gelernt hatte, um einer Beute nahe genug zu kommen und dann zu einem tödlichen Schlag auszuholen.
Und er glitt mehr als er ging. Schon als Junge hatte er in seiner Schule gelernt, sich leise fortzubewegen, doch der Schmerz war als Lehrmeister sogar noch besser. Denn wenn er schwer auftrat, jagten Folterqualen durch seinen ganzen Körper. Sie schritt nun schneller voran, auf ein Fahrzeug zu, einen kleinen offenen Kombi, und sie war ziemlich blass geworden.
Irgendetwas stimmte nicht. Er sah sich um nach irgendwelchem Getier, einem Vogel, einem Eichhörnchen, irgendetwas. Der Himmel war verdächtig leer. Es erregte sein Misstrauen, wenn ein Wald am frühen Morgen stumm war. Sogar das stete Gesumme und Gebrumme der Insekten hatte aufgehört. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Er spürte es bei jedem Schritt, den er tat. Und er wusste, dass auch sie es spürte, doch sie wollte es nicht glauben.
Lexi Thompson hastete den kaum als solchen erkennbaren Pfad entlang, der zum rückwärtigen Teil des Farmgeländes führte. Dort hatte sie den kleinen Kombi geparkt. Sie wollte noch einmal einen Blick auf das angrenzende Grundstück werfen, das zum Verkauf stand – nun treuhänderisch. Thomas und Levi hatten ein Kaufangebot abgegeben, und die Eigentümer hatten rasch, ohne lange Verhandlungen, verkauft. Sie war sehr gespannt darauf, welche Möglichkeiten dieses Land bieten würde.
Es ging der Farm wirklich gut. Das neue Gewächshaus brachte im ersten Jahr schon viel mehr Ertrag, als sie erwartet hatte. Die Obstgärten versprachen eine reiche Ernte, und die Früchte waren fantastisch. Ihr Salatfeld hatte zwar ein Hubschrauber ruiniert, der darauf gelandet war, als einige Männer ihre Schwester Airiana gekidnappt hatten, aber trotzdem hatte sie einen Teil der Pflanzen retten können. Und Max hatte es geschafft, Airiana zu retten.
Letztendlich brauchte Lexi einfach mehr Platz – und einen Helfer. Die anderen Frauen arbeiteten alle nicht auf der Farm. Das war anfangs gut gewesen, um die Farm über die Runden zu bringen, doch dieses Jahr waren sie von den roten in die schwarzen Zahlen gekommen, und sie wollte, dass das so blieb. Sie arbeitete hart jeden Tag, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, manchmal sogar noch länger. Sie gab ihr Letztes, und von Zeit zu Zeit war es frustrierende Knochenarbeit. Sie machte alles allein, aber wenn sie sich weiterhin selbst versorgen wollten, dann brauchte sie Hilfe.
Sie seufzte leise. Das Problem war, dass ihre Schwestern das Landleben zwar liebten und auch immer gerne frisches Obst und Gemüse aßen, aber sie gingen nun einmal lieber ihren eigenen Jobs nach – die jedoch nichts mit Landwirtschaft zu tun hatten. Und sie wusste nicht so recht, wie sie den anderen beibringen sollte, dass sie einfach Unterstützung brauchte.
Lexi biss auf ihrem Daumennagel herum, eine alte Angewohnheit, die aufzugeben sie sich immer wieder vornahm. Als sie es bemerkte, rieb sie mit der flachen Hand über ihre Jeans.
Sie fühlte sich plötzlich unwohl, blieb stehen und sah sich argwöhnisch um. Die Nächte verbrachte sie zumeist in der Hollywoodschaukel auf ihrer Veranda, doch mit der Zeit wurde sie dabei immer ängstlicher. Sie wusste, dass sie paranoid war, vor allem, seit ihre Herzensschwester Airiana und deren Verlobter Max vier schwer traumatisierte Kinder mit nach Hause gebracht hatten.
Die Eltern der vier und eine Schwester von ihnen waren umgebracht und die Kinder von einem Menschenhändlerring verschleppt worden. Wenn Airiana und Max sie nicht gerettet hätten, wären auch sie ermordet worden.
Das Wissen, dass Kinder auf der Farm und sie alle damit ständig erhöhten Risiken ausgesetzt waren, hatte Lexis Paranoia noch beträchtlich gesteigert. Sie bemerkte, dass sie schon wieder an ihrem Daumennagel herumnagte, und seufzte verzweifelt.
Sie hasste es, wegen ihrer Paranoia und Panikattacken die Schwachstelle der Farm zu sein, und versuchte, dies mit hohem Einsatz und guten Erfolgen bei ihrer Arbeit auszugleichen. Aber sie konnte nicht in ihrem Haus und ihrem Bett schlafen. Sie hatte es versucht, doch es hatte einfach nicht geklappt.
Zu ihrer ewigen Schande schlief sie, wenn sie so erschöpft war, dass sie einfach schlafen musste, gewöhnlich in ihrer Hollywoodschaukel oder in dem Schlafsack, der versteckt in einer Ecke der Veranda bereitlag. Manchmal schlief sie sogar auf dem Dach. Sie wusste, dass das dumm war, aber das Haus kam ihr einfach nicht sicher genug vor. Nichts kam ihr sicher vor.
Zum Glück lebte sie allein; niemand wusste also, wie paranoid sie wirklich war. Überall im Haus hatte sie Waffen versteckt, unter den Tisch geklebt und hinter die Kissen von Sitzmöbeln geschoben – so viele, dass sie bereits Angst bekam, wenn sie nur daran dachte, dass die Kinder sie einmal besuchen kommen könnten. Dabei wusste sie nicht einmal, ob sie einem Menschen wirklich Böses antun konnte. Nun – sie hatte genau das getan, aber es hatte sie krank gemacht.
Sie lebte mit Kriegern auf der Farm, aber sie, die am schwersten mit Paranoia zu kämpfen hatte, fühlte sich außerstande, anderen etwas anzutun. Sie schaffte es kaum, eine Schnecke umzubringen, die sich über ihre kostbaren Feldfrüchte hermachte. Sie fühlte sich schwach neben den anderen, das schwache Glied, um das diese sich schützend scharen mussten. Die Lage auf der Farm war angespannt, und es schien, als würden sie Krieger mehr brauchen als Ernährer.
Der Wagen stand noch da, wo sie ihn nach ihrem frühmorgendlichen Rundgang durch die Gärten und Felder abgestellt hatte; der Schlüssel steckte im Zündschloss. Sie schlüpfte hinein und sah sich noch einmal gründlich um. Sie fühlte sich heute einfach noch unwohler als sonst.
Furcht erfasste sie. Sie spürte dieses Gefühl, als sei es ein lebendes Wesen, ein heimtückisches Monster, das sie nicht mehr denken und atmen, nichts mehr tun ließ als still dazusitzen, mit trockenem Mund und rasendem Herzen. Einen Moment lang presste sie sich eine Faust in den Mund – die absolut falsche Reaktion.
Bei einer vollen Panikattacke war sie zu keiner Bewegung fähig. Dann war sie wie gelähmt, nutzlos für ihre Familie. Eine Belastung. Sie trainierte jeden Tag, ging gewissenhaft in ihren Selbstverteidigungskurs. Sie konnte ein Gewehr abfeuern und ein Messer treffsicher werfen – sogar auf bewegliche Ziele. Was war falsch mit ihr, dass sie nicht so sein konnte wie ihre Schwestern?
Sie unterdrückte ein Schluchzen und zwang sich, vernünftig zu denken. Nichts war falsch. Nichts. Das Warnsystem ließ niemanden auf die Farm kommen. Jede ihrer Schwestern des Herzens war an ein Element gebunden, und auch die drei Männer, die bei ihnen wohnten, verfügten über besondere Fähigkeiten. Sollte jemand, der ihnen schaden wollte, sich der Farm nähern, würde die Luft Airiana und Max aufmerksam machen. Die Erde würde ihr, Lexi, Bescheid geben, das Wasser Rikki. Judith mit ihrer Verbindung mit dem Geistigen würde jede Störung sofort registrieren, das Feuer Lissa aufrütteln. Und Blythe wusste einfach Bescheid.
Niemand kann es schaffen, das Kraftfeld der Farm zu durchbrechen, nicht wenn die Männer, Judith und Blythe es verstärken, erinnerte sie sich.
Sie presste mit Gewalt Luft in ihre Lunge, froh darüber, dass ihre Familie solche Momente der Schwäche kaum je mitbekam. Sie war sich sicher gewesen, dass die Männer auf der Farm und all ihr Selbstverteidigungs- und Waffentraining gegen ihre Panikattacken helfen würden, dass diese vielleicht sogar ganz aufhören würden. Doch diese Hoffnung hatte sich nicht bewahrheitet.
»Was hast du bloß?«, murmelte sie vor sich hin und ließ den Wagen an. »Du bist so ein verschrecktes Baby.«
Mit entschlossener Miene fuhr sie zur rückwärtigen Einfahrt, dem Tor zu der Straße, die durch einen Wald zu ihrem Grundstück führte. Sie hatte das Gefühl, als seien die hoch aufragenden Bäume Wächter, die die Bewohner der Farm beschützten. Es war wunderbar, dass sie von drei Seiten von Wald umgeben waren. Ein Teil des Grundstücks war nach wie vor mit Mischwald bestanden, und die mächtigen Bäume dahinter waren unberührt. Lexi fuhr die Straße hinunter bis zur Einfahrt des nächsten Grundstücks. Sie hatte dieses Land haben wollen – schon seit es zum Verkauf ausgeschrieben worden war.
Sie stellte den Motor ab, blieb noch einen Moment lang sitzen und nahm den Anblick dieses wunderbaren, unberührten Ackerbodens in sich auf. Noch nie hatte jemand auf diesem Grund gelebt oder gearbeitet, und oft hatte sie ihre Hände tief in Erde gesteckt und den fruchtbaren Lehm gefühlt, der nur darauf wartete, herrliche Früchte hervorzubringen.
Wenn sie hierherkam, verschwanden normalerweise jegliche Angstgefühle, doch heute war es offenbar anders. Sie konnte noch immer nicht richtig atmen, es kam ihr vor, als sei nicht genügend Luft vorhanden. Ihre Lunge brannte, und der Magen drehte sich ihr um. Sie stieg aus, ging an das Tor des Grundstücks und vergrub die Hände in dem fruchtbaren Erdreich – ein weiterer Trick, der half, wenn sich ihre Gedanken nicht beruhigen wollten.
Sobald die Erde ihre Finger umschloss, spürte sie in sich den Frieden, den sie so verzweifelt brauchte. Sie kniete neben dem Tor, drückte ihre Hände in den Boden und spürte eine Verbindung mit der Erde, die ihr Herz höher schlagen ließ. Sie spürte das Wogen und Fließen des unter dem Erdreich strömenden Wassers, den Herzschlag der Erde, ja sogar den Saft, der in den Bäumen aufstieg. Diese Verbindung war stark – tief –, und sie wusste, dass sie immer ihr rettendes Element sein würde.
Der Boden um ihre Hände bebte leicht, und aufgrund eines plötzlichen Entsetzens, das in ihr aufstieg, öffnete sie die Augen. Ihr Herz setzte einen Moment lang aus, und ihr Mund wurde schlagartig trocken, als sie die Stiefelabdrücke in der weichen Erde sah. Schlimmer noch – am Tor entdeckte sie ein Symbol. Eines, das sie schon Hunderte Male gesehen hatte. Es war ins Holz eingebrannt, eine Weizengarbe, von einer Schnur zusammengehalten. Dasselbe Symbol, das auch in ihren linken Oberschenkel eingebrannt war.
Sie konnte gerade noch die in ihr aufsteigende Galle unterdrücken. Sie würde nicht aufgeben, nicht jetzt, wo es um alles ging, wofür sie gekämpft hatte. Levi, Rikkis Mann, hatte ihr gesagt, sie solle die Farm nicht verlassen – es sei noch nicht sicher genug. Ihre Schwester Airiana wurde von einem Verrückten verfolgt, weshalb die Farm praktisch abgeriegelt war. Ihre vereinten Gaben schützten die Farm als solche, nicht aber sie als Personen, wenn sie diese verließen.
»Du hast wohl gedacht, ich würde dich nicht finden, Alexia?«
Lexi erstarrte, ihr Atem versagte, sie schloss kurz die Augen. Sie kannte diese Stimme – würde sie nie mehr aus dem Kopf bekommen. Manchmal nachts, wenn sie sich hellwach in ihrer Hollywoodschaukel wiegte, hörte sie seine Stimme – diese verhasste, entsetzliche, selbstgerechte Stimme, die ihr befahl niederzuknien, um Vergebung zu betteln und Unsagbares zu tun, um ihre Sünden zu sühnen. Und dann hatte er sie trotzdem oft halb tot geprügelt und dabei gefordert, sie solle ihm dafür danken, dass er sie vor ihrem verderbten, widerwärtigen Körper rettete.
Die Hände noch immer in der Erde vergraben, hob sie langsam den Blick und versuchte, sich zu fassen. Sie hatte sich auf diesen Augenblick vorbereitet, doch jetzt, wo er hier war, reichte allein schon diese Stimme aus, um ihren Körper erstarren zu lassen. Ihr Verstand weigerte sich, über das Grauen hinaus zu denken.
»Da du schon auf den Knien bist, könntest du auch gleich um Vergebung bitten.«
Aus Angst, zu ihm aufzublicken, kniff sie die Augen zusammen, doch sie wusste, sie musste es tun. Ihr Hirn formulierte tausend Pläne und verwarf sie wieder. Duncan Caine. Er gab ihr immer ein Gefühl völliger Ohnmacht. Am schlimmsten waren seine Bestrafungen. Er bestrafte die »Sünder« in der Sekte, die Reverend RJ begründet hatte. Der Reverend und Caine waren Cousins und aus ein und demselben verdorbenen Holz geschnitzt.
Lexi schluckte schwer und versuchte verzweifelt, ihm nicht die Befriedigung zu verschaffen, sich über seine polierten Stiefel zu erbrechen. Sie würde nicht zu ihm zurückgehen. Sie hatte der Polizei gesagt, dass sie nach Caine suchen sollten, dass er noch am Leben war, doch man hatte ihr versichert, er sei bei einer Schießerei ums Leben gekommen – während einer Razzia auf der Farm, bei der mehrere Mitglieder der Sekte festgenommen worden waren.
Dieser Mann war mitten in der Nacht durch ihr Schlafzimmerfenster eingestiegen, obwohl ihre Eltern gleich nebenan schliefen. Er hatte ein Messer an die Kehle ihrer kleinen Schwester gesetzt und gedroht, das Kind zu töten, wenn sie nicht mit ihm ginge. Sie hatte ihm gehorcht und war froh, dass sie sich nicht gewehrt hatte. Caines Männer hatten ihr Zuhause umstellt, bereit, ihre Eltern, ihre älteren Brüder und ihre kleine Schwester zu ermorden. Sie war stillschweigend mit ihm gegangen, um ihrer Familie willen.
Damals, mit acht Jahren, hatte sich ihr Leben für immer verändert. Man hatte sie geschlagen, vergewaltigt und halb verhungern lassen; sie wurde gezwungen, Caine zu »heiraten« und seine »Gemahlin« zu werden. Es war die Farm gewesen, die sie schließlich rettete. Er hatte sie gezwungen, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zu arbeiten, und sie war über jede Sekunde froh gewesen, in der sie die Hände in die Erde stecken und zum Gedeihen der Pflanzen hatte beitragen können. So konnte sie ihr Dasein vergessen und sich einbilden, ein normales Mädchen auf einer Farm zu sein – ohne endlose Nächte voller Höllenqualen.
Bald schon stellten Caine und die anderen Mitglieder der Sekte fest, dass es ihnen und der ganzen Farm gut ging, wenn sie dort arbeitete. Dennoch hörten die Prügel und die Grausamkeiten nicht auf; vielmehr wollte Caine sie völlig unter seine Knute zwingen. Er hob ein Erdloch aus und warf sie, nachdem er sie halb besinnungslos geschlagen hatte, hinein. Das »Problem« bei dieser Bestrafung war, wie er feststellte, dass ihre Wunden rasch verheilten und es ihr nichts auszumachen schien, in der Erde vergraben zu sein; also trieb er einen Metallkasten auf, und wenn er besonders betrunken und bösartig war, zwängte er sie dort hinein.
»Hast du wirklich geglaubt, irgendjemand könnte mich von dir fernhalten? Dein Verrat hat Gottes Zorn auf dich gezogen; du musst bestraft werden. Ich habe dich gesucht, du betrügerische, verräterische, schamlose Jezabel. Gott hat mich gesandt, um dich zu retten.«
Er packte sie an ihrem Pferdeschwanz und riss ihren Kopf hoch, sodass sie gezwungen war, ihm ins Gesicht zu sehen. Ein wilder Bart verbarg sein schmales Kinn, und seine Augen funkelten wie die eines Wahnsinnigen. Er war der Dämon all ihrer Albträume gewesen. Er war der Teufel, das leibhaftige Böse.
Er beugte sich so nah zu ihr, dass sie seinen schlechten Mundgeruch abbekam. »Ich habe sie alle umgebracht, einen nach dem anderen. Hab ihnen gesagt, du willst sie tot haben, damit du mit mir zusammen sein kannst. Ich wusste, dass ich da meinen Fehler gemacht habe. Du hast nicht zu deinem Ehemann gehalten, wie du es hättest tun sollen, weil die Sünden deines früheren Lebens so groß waren, dass du sie nicht überwinden konntest, solange diese Sünder noch lebten. Ich musste dir den Weg zeigen. Ich musste dich bestrafen.«
Er schlug ihr so fest ins Gesicht, dass sie nach hinten kippte und ihr Tränen in die Augen schossen. Nur sein Festhalten an ihrem Pferdeschwanz verhinderte, dass sie hintenüber fiel. Mit der Faust und der offenen Hand drosch er auf sie ein.
Nach dem ersten Schlag spürte Lexi kaum noch Angst. Sie schaffte es, um sich zu treten, so wie sie es wieder und wieder im Training mit ihren Schwägern geübt hatte. Mit dem Stiefelabsatz traf sie ihn voll an einem Knie und einem Schenkel, und er krachte fluchend an das Tor. Sie rollte sich zur Seite, verwundert darüber, dass das tatsächlich funktionierte.
Dann rammte sie beide Fäuste so tief es ging in die Erde und richtete die Energie direkt auf den Mann, der ihr Leben in eine leibhaftige Hölle verwandelt hatte. Legte alle Furcht und allen Zorn, all ihre Hilflosigkeit und Verzweiflung, die er sie hatte spüren lassen, in diesen Angriff. Allen Schmerz. Den Kummer über den Verlust ihrer Familie. All dies floss ein in den schrecklichen, auf ihn gerichteten Schlag.
Die Erde zitterte unter ihren Fäusten, die Erschütterung breitete sich in Wellen unter dem Boden aus, direkt auf ihr Ziel zu. Caine rappelte sich auf die Füße, er zog sich am Zaunpfosten hoch.
»Du Miststück! Das wirst du mir büßen!« Er versuchte, einen Schritt zu machen, zuckte aber zusammen, als sein Knie unter ihm nachgab.
Ein Spalt tat sich im Boden auf, bewegte sich schlängelnd auf Caine zu und wurde dabei breiter. Lexis Augen weiteten sich vor Entsetzen, sie zog rasch die Fäuste aus der Erde, doch es war zu spät. Die Spalte wurde zu einer Kluft, die sich direkt unter Caine und dem Tor öffnete und in die beide einsanken. Sie war nicht allzu tief, aber sie schloss sich fest um Caines Beine und presste sie zusammen, sodass er in der Falle saß. Er brüllte wie am Spieß.
Lexi stolperte entsetzt nach hinten. Von der anderen Seite des Zauns kamen zwei Männer herangehastet, sprangen darüber, der eine kam seinem Boss zu Hilfe, der andere, mit einem riesigen Messer in der Faust, hielt auf sie zu. Sie erkannte die beiden. Caine hatte sie damals, als sie bei der Sekte gewesen war, dazu ausgebildet, Mitglieder zu bestrafen, die gegen die Regeln verstießen.
Peter Rogers versuchte verzweifelt, Caine freizubuddeln, Darrin Jorgenson stürzte sich mit dem Messer auf sie.
»Mach sie fertig. Töte dieses Miststück!«, brüllte Caine immer wieder. Tränen liefen ihm über die Wangen. Sein Oberkörper zappelte hilflos über dem Boden, das Gesicht war plötzlich voller Erde.
Sie versuchte, ihre Gedanken in Bewegung zu setzen, sich zu erinnern, was Levi gesagt hatte, das sie tun solle, doch sie konnte nicht denken, sich nicht bewegen. Sie stand da und erwartete den Todesstoß, froh, dass sie es wenigstens geschafft hatte, nicht mit Caine gehen zu müssen.
Nichts war zu hören. Absolut nichts. Später, als sie darüber nachdachte, hatte sie das Gefühl, als hätte die Erde tief durchgeatmet. Die Zeit verlangsamte sich. Sie verfolgte jeden von Darrins Schritten wie in Zeitlupe. Sie konnte tatsächlich seine einzelnen Atemzüge ausmachen und auch die Anzeichen fanatischen Hasses in seiner Miene.
Sie wandte den Blick nicht von ihm ab, beobachtete, wie er näher und näher kam, erwartete ihn, erleichtert, dass es jetzt vorbei war.
Da tat sich ein Loch mitten in Darrins Stirn auf, ein hellroter Krater, der ihn nach hinten stieß, ein Schlag so hart, dass sein Kopf zurückgerissen wurde, sein Körper durch die Luft flog und dann auf der Erde zusammensackte.
Lexi starrte fassungslos auf die Leiche. Ein starker Arm legte sich um ihre Taille, zog sie rückwärts und schob sie hinter einen Mann, den sie nie zuvor gesehen hatte. Er war groß, mit sehr breiten Schultern, einer starken Brust und zottigen Haaren. Zuerst dachte sie, es sei Levi, Rikkis Mann, aber er bewegte sich anders, und er war … stärker. Muskulöser.
Er bewegte sich mit großen Schritten auf Caine und Rogers zu, aber so, als würde er über den Boden schweben, anstatt zu gehen. Mit dem langen, flatternden Mantel wirkten seine Bewegungen geschmeidig und fließend wie die eines Kinohelden. Während er auf die beiden Männer zuging, hob er seine Hand und drückte nur einmal ab. Peter Rogers fiel zu Boden wie ein Stein. Lexi presste sich eine Faust in den Mund, um nicht loszuschreien.
Gavril ging neben Caine in die Hocke, zog dessen Kopf an den Haaren hoch und schaute ihm ins Gesicht. Der starrte hasserfüllt zurück. Seine Beine waren eingequetscht, doch Lexi hatte noch verhindern können, dass die Erdspalte ihn tötete. Er blickte an Gavril vorbei zu ihr und spuckte auf die Erde.
»Du Hure! Du bist tot! Ich werde dich langsam umbringen. Dein Teufel wird dich nicht retten. Niemand kann dich retten. Dein Name steht mit Blut geschrieben im Buch des Todes!«
»Spar dir das für deine Gemeindemitglieder in der Hölle.« Gavril sagte es leise, damit Lexi es nicht hören konnte. Er ließ Caines Kopf absichtlich abrupter los als nötig, sodass dessen Gesicht im Dreck landete. »Ich komme ohne sie nochmal wieder«, fuhr er an Caines Ohr geneigt fort, »und ich kenne mehr Sachen, die dich deinen Tod herbeisehnen lassen werden, als du dir vorstellen kannst. Also, bleib für mich am Leben, ja?«
Er stand auf und wandte sich Lexi zu. Sie war kreidebleich, ihre Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. »Alles in Ordnung? Irgendwelche Knochen gebrochen?«
Sie war noch immer nicht in der Lage, sich zu bewegen, nicht einmal, als er vor sie trat, seine Waffe ins Halfter zurücksteckte und dann mit beiden Händen ihren Körper nach Verletzungen abtastete. Sie zitterte heftig und konnte nicht richtig atmen. Sie wagte es nicht, ihn anzusehen aus Furcht, weinen zu müssen. Und wenn sie Caine oder die beiden Toten anblickte, würde sie sich bestimmt übergeben müssen.
»Lexi, sprich mit mir. Schau mich an. Schau mir in die Augen.« Seine Finger strichen sanft über einen blauen Fleck auf ihrer Wange. Mit dem Daumen entfernte er ein kleines Blutgerinnsel aus ihrem Mundwinkel.
Seine Stimme hatte etwas Bestimmendes, Unwiderstehliches – ganz anders als die von Caine. Ein samtweicher, faszinierender, besorgter Ton. Als sei ihr Wohlbefinden das Wichtigste im Leben dieses Mannes. Lexi zwang sich, zu ihm aufzublicken, über seine breite Schulter, wo sich das dünne, schwarze Hemd, das er unter dem offenen Mantel trug, straff über deutlich hervortretende Muskeln spannte. Ihr Blick wanderte weiter aufwärts, über ein markantes, stoppelbärtiges Kinn und eine gerade Nase bis zu einem Augenpaar, das so schwarzblau war wie die Mitternacht. Wunderschöne Augen. Augen, die sie ganz sicher schon einmal gesehen hatte. Ihr Atem stockte.
Sie ließ sich im Blick seiner dunkelblauen Augen versinken, ihrer einzigen Zuflucht. Die Welt um sie herum wich zurück, bis sie nur mehr aus diesem Mann und dem Blick seiner hinreißenden Augen bestand, der ihr Sicherheit suggerierte.
»Weißt du, wer ich bin?« Seine Stimme war unendlich behutsam, ohne eine Spur von Ungeduld oder Bedrohung, aber voller Besorgnis.
Sie schüttelte stumm den Kopf. Ihre Stimme versagte. Ihre Hände zitterten, sie verschränkte die Finger ineinander in dem Versuch, das Zittern unter Kontrolle zu bringen. Sie hatte ganz offensichtlich einen Schock. Gewalt war ihr ein Gräuel, auch wenn sie sich eindeutig nur verteidigt hatte. Sie konnte die Körper der Toten einfach nicht ansehen, und auch Caine nicht, der noch lebte und noch immer eine Bedrohung war.
Wie von selbst wanderte ihr Blick zu ihm.
»Hast du den Namen Gavril schon mal gehört? Oder Prakenskij?«
Gavril umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen und sprach absichtlich mit einem leicht russischen Akzent. »Schau zu mir, mein Engel, nirgendwo anders hin. Nur zu mir.«
Er bemerkte, dass sie große Augen bekam. Sie nickte, ihr Schockzustand ließ langsam nach. »Ich bin hier, und ich kümmere mich um diese Sache. Schau sie nicht an. Schau ihn nicht an. Ich muss wissen, ob du verletzt bist.«
Sie schluckte schwer, ihr Atem ging noch immer flach und mühsam, die Augen flackerten leicht, aber sie entzog sich ihm nicht, und ihr auf ihn gerichteter Blick wurde steter.
»Nein. Keine Knochenbrüche. Er versteht es sehr gut, eine Frau so zu verprügeln, dass sie am nächsten Tag wieder arbeiten kann.«
»Du kennst diesen Mann?«
»Ich bin der Ehemann dieser Hure!«, kreischte Caine. »Sie ist ein schamloses Weib, eine Jezabel! Schau dir an, was sie mir angetan hat. Sie hat sich mit dem Teufel eingelassen. Sie ist eine Hexe, sie betet Satan an, sie hält ihn zwischen ihren Beinen als Geisel!«
Lexi wurde kreidebleich. Es sah aus, als würde sie gleich ohnmächtig werden. Gavril hielt ihren Kopf fest, damit sie nicht zu dem Mann schauen konnte, der behauptete, ihr Ehemann zu sein. »Schau ihn nicht an. Er ist ein Nichts. Er kann dir nichts tun, nie mehr«, sagte Gavril mit seiner unendlich behutsamen Stimme. »Du musst dich jetzt mal für einen Moment in deinen Wagen setzen. Ich komme dann gleich zu dir. Kannst du laufen?«
Sie nickte, und Gavril drehte sie um, weg von Caine und den Obszönitäten, die er noch immer zwischen Schreien und Geheul von sich gab, wobei er ständig in der Erde buddelte, die ihn gefangen hielt. Gavril wartete, bis Lexi in ihrem Wagen saß, und kauerte sich dann noch einmal neben Caine nieder. Er packte ihn heftig an den Haaren und zog seinen Kopf hoch.
»Wir beide werden uns sehr bald unterhalten, aber nicht jetzt. Und behaupte nie wieder, du seist ihr Ehemann.« Mit seiner freien Hand stopfte er Caine brutal Erde in Mund und Nase. »Ich habe keine Seife dabei, also muss das herhalten.«
Gavril sorgte dafür, dass Caine voll mitbekam, wie leichthändig er ihm die Luft abschnitt, ehe er seinen Kopf wieder auf die Erde plumpsen ließ. Dann hielt er sich zwischen Lexi und Caine, damit sie nicht sehen konnte, was er mit ihm gemacht hatte und wie dieser nun Dreck spuckte und ihn sich aus seiner Nase pulte. Bei ihrem Kombi angekommen, lehnte er sich an den Wagen.
»Er ist nicht mein Ehemann. Sie sagten mir, die Ehe sei nicht legal. Ich war ja erst acht Jahre alt, und er hat mich gekidnappt. Er ist nicht mein Ehemann«, wiederholte sie mit Tränen in den Augen.
»Das ist mir bewusst«, erwiderte Gavril und wischte mit den Fingerspitzen die Tränen ab, die über ihre Wangen rollten. »Ich möchte, dass du nie mehr an ihn denkst. Er ist vollkommen unbedeutend. Ein Wurm. Weniger noch als das.«
»Er wird nie aufhören, hinter mir her zu sein. Niemals. Ich muss sofort den Sheriff anrufen und ihm sagen, was ich getan habe«, sagte Lexi. »Sie werden mich von hier wegbringen, und ich weiß nicht, was ich dann tun werde. Ich kann nicht noch einmal ganz von vorn anfangen. Ich will einfach nicht …« Sie verstummte, Tränen liefen über ihr Gesicht.
»Es ist nicht nötig, den Sheriff zu rufen«, erwiderte er sanft. »Ich möchte, dass du zulässt, dass ich mich um die Sache kümmere. Du fährst nach Hause zurück und gibst Levi, Thomas und Max Bescheid. Sag ihnen, was passiert ist, aber sieh zu, dass niemand mithört. Ich weiß, dass Max Kinder hat. Wir wollen sie nicht erschrecken nach all dem, was sie durchgemacht haben.«
»Sie werden mich rausschmeißen«, flüsterte sie noch einmal und hielt sich schützend eine Hand vor die Kehle.
»Wer? Niemand kann dich rausschmeißen«, beruhigte Gavril sie und versuchte gleichzeitig, sie zu verstehen.
»Ich bin in einem Zeugenschutzprogramm. Ich muss nur eine Nummer anrufen, und dann holen sie mich ab. Sie halten mich von allen Leuten fern, und ich werde meine Schwestern oder die Farm nie mehr wiedersehen.« Ihr Gesicht war tränenüberströmt. »Er hat Anhänger, die nach mir suchen werden. Sie töten ganze Familien. Sie haben auch meine umgebracht.«
Gavril spürte, wie alles in ihm still wurde. Es fiel ihm schwer, nicht zu dem Mann zurückzublicken, der ein Kind gekidnappt, dann seine Familie ermordet und es schließlich gezwungen hatte, seine »Ehefrau« zu werden. »Schau mich an, Lexi. Jetzt gleich. Denk an nichts anderes. Schau mich einfach nur an.«
Ihr Blick aus tränennassen Augen traf den seinen. Er lächelte ihr zu, es war mehr ein Zähnezeigen als ein echtes Lächeln, weil er diesen Hurensohn am liebsten auf der Stelle umgebracht hätte. Er bemerkte, wie sie mit einem tiefen Schaudern ausatmete.
»Wir nehmen das in die Hand. Du wirst diese Männer nie mehr zu Gesicht bekommen. Wir finden heraus, wie sie dich aufgespürt haben, und stellen sicher, dass das nie wieder passiert. Die Farm ist sicher. Sie könnten nicht auf die Farm kommen, ohne dass irgendjemand von euch es mitkriegt.«
Sie schaute stirnrunzelnd zurück zur Farm. »Aber du hast es geschafft, nicht wahr?«, fragte sie, plötzlich begreifend. »Du bist mir gefolgt.«
»Ich gehöre auf die Farm«, erklärte Gavril so behutsam er konnte. Caine plärrte wieder seine Obszönitäten; er lernte einfach nicht dazu. »Das bereits bestehende Warnsystem hat mich erkannt – es hat erkannt, dass ich hierher gehöre.« Er wiederholte es, denn er wollte, dass sie das bald als Tatsache akzeptierte.
Sie nickte langsam. »Danke, dass du mir das Leben gerettet hast. Die hätten mich umgebracht.«
»Tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe. Ich bin nicht mehr ganz so schnell wie früher.« Sein Körper schmerzte, protestierte gegen jeden Schritt, gegen jede Bewegung, die er jetzt unternahm.
Lexis Stirn legte sich noch tiefer in Falten; sie beugte sich zu ihm und strich über sein Kinn. »Du bist verletzt.«
Er wurde innerlich still. Niemand sah je seinen physischen Schmerz. Er ließ nicht zu, dass er in seiner Miene, seinem Körper oder seinen Augen sichtbar wurde. Nur jemand, der in ihn hineinzusehen vermochte, in sein Inneres, konnte Schmerz bei ihm wahrnehmen. Es bestand kein Zweifel, dass diese Frau die seine war. Er ergriff ihre Hand und drückte sie. »Warte in deinem Haus auf mich. Ich komme zu dir. Schick meine Brüder zu mir, und denke nicht mehr an das hier. Ruf niemanden an, und sprich mit niemandem darüber, bis ich bei dir bin.«
»Aber meine Schwestern … Wir haben eine Verabredung, uns gegenseitig alles zu erzählen.«
»Wir geben deinen Schwestern Bescheid«, erwiderte Gavril. »Aber ich werde dabei sein. Vergiss nicht, dass ich es war, der das alles hier angerichtet hat, nicht du.«
»Caine muss ins Krankenhaus«, meinte Lexi. »Und dann weiß die Polizei mit Sicherheit Bescheid.« Sie blickte auf ihre Hand, die er noch immer umfasst hielt.
»Lass das meine Sorge sein. Du sorgst dafür, dass meine Brüder hierherkommen, und wartest auf mich.«
»Gavril, sie werden alle zu meinem Haus kommen. Sie wissen Bescheid. Wir wissen es immer, wenn eine von uns in Schwierigkeiten steckt.«
Er nickte. »Das ist okay. Aber lass nicht zu, dass eine den Sheriff ruft.« Sein Blick ruhte fest auf ihr. »Tust du das für mich?«
Lexi erwiderte seinen Blick. »Das ist das Mindeste, was ich tun kann, nachdem du mir das Leben gerettet hast.« Sie wollte an ihm vorbei zu Caine schauen, doch Gavril verstellte ihr den Blick.
»Tu das nicht. Gib ihm nicht diese Befriedigung. Er bedeutet dir nichts. Schau einfach nur mich an, und fahr dann los.« Sein Griff um ihre Finger wurde fester. »Sieh ihn nicht an. Sieh nur mich.«
Lexi nickte mit zusammengepressten Lippen. Er ließ sie widerstrebend los und schaute ihr nach, als sie davonfuhr. Dann wandte er sich zu Caine um, und mit einem Mal war von dem freundlichen, herzlichen Menschen nichts mehr erkennbar. Der, der nun auf Caine zuschritt, war eisig kalt, innerlich wie äußerlich.
2.
Sie sind wirklich schon lange weg«, sagte Lexi und blickte in die Runde, die sich auf ihrer Veranda versammelt hatte. Diese fünf Frauen waren ihre Familie geworden. Sie waren nicht verwandtschaftlich miteinander verbunden, aber auf jede erdenkliche andere Art zu Schwestern geworden.
»Glaubt ihr, es ist ihnen etwas zugestoßen?« Sie biss stirnrunzelnd auf ihrem Daumennagel herum und schaute dann zum hinteren Teil des Farmgeländes. »Ich hätte nicht wie ein Feigling wegrennen sollen. Immerhin habe ich das Ganze angerichtet.«
»Du bist kein Feigling, Lexi«, beruhigte Rikki Hammond sie. »Hör auf, dir solche Sorgen um sie zu machen. Ich wüsste es, wenn Levi etwas passiert wäre.«
Rikki war mit Lev Prakenskij verheiratet, den sie nun Levi Hammond nannten; sie war autistisch und mit dem Wasser verbunden, einem Element von großer Kraft. Sie liebte das Meer und fuhr mit ihrem eigenen Boot hinaus, um mit Levi als ihrem Gehilfen nach Seeigeln zu tauchen, die sie dann verkaufte und die Farm so mit Bargeld versorgte.
Jetzt beugte sie sich zu Lexi und hauchte einen Kuss auf ihre Wange, eine seltene Geste der Zuneigung bei ihr. »Ich mache uns einen Tee. Es kommt einem länger vor, als es wirklich ist.«
Airiana nickte. »Ich wüsste es auch«, pflichtete sie Rikki bei. »Ich meine, wenn mit Max etwas wäre.«
»Wo sind die Kinder?«, fragte Lexi, der plötzlich bewusst wurde, dass die vier von den beiden adoptierten Kinder allein waren, wenn Max weg und Airiana bei ihr war.
»Ich hielt es für das Beste, sie im Haus zu lassen. Lucia und Benito wissen, was zu tun ist, und sie passen auf Siena und Nicia auf. Sie wissen, dass etwas nicht stimmt, deshalb muss ich auf Benito ein Auge werfen. Er spioniert ganz gern.«
Darüber mussten sie alle lachen. Benito nahm den Schutz seiner Schwestern sehr ernst und war zu Max’ Schatten geworden, seit der sie vor einem Menschenhändlerring gerettet hatte. Er ging wie Max und hatte bereits begonnen, dessen Eigenheiten anzunehmen, obwohl er noch keine zwei Wochen auf der Farm lebte.
»Airiana, wenn du zurückmusst, ist das schon in Ordnung«, versicherte Lexi ihr. »Ich möchte nicht, dass sie Angst haben. Es ist nicht gut für sie, nach dem Verlust ihrer Eltern und allem, was sie sonst noch durchmachen mussten, allein zu sein.«
»Lexi«, erinnerte Airiana sie sanft, »sie sind in ihrem neuen Zuhause. Sie kennen alle unsere Sicherheitsmaßnahmen, und sie wissen, dass wir bei dir sind. Sie sind gut aufgehoben. Die ganze Farm ist ihr Zuhause. Ich muss jetzt bei euch sein.«
Airiana war mit der Luft verbunden und Max offenbar ebenso. Das machte die beiden zu einem sehr starken Paar.
Lexi blinzelte die Tränen zurück. »Das freut mich. Ich hätte die Erde Caine verschlucken lassen sollen.« Die Worte brachen so unerwartet aus ihr heraus, dass sie sich erschreckt eine Hand auf den Mund legte. »Tut mir leid. Das habe ich nicht so gemeint.« Aber sie meinte es genau so und wusste das auch. Was sie so entsetzte, war, dass Caine, solange er am Leben war, sie irgendwann holen würde. Er würde nie aufgeben. Nichts würde ihn aufhalten.
Bei dem Gedanken, jemals wieder mit ihm allein zu sein, drehte sich ihr der Magen um. Sie griff nach ihrem Pferdeschwanz, an dem er sie so heftig gezogen hatte. »Airiana, du hast mich mal gefragt, weshalb ich mir nie die Haare schneide. Ich habe sie nach meiner Flucht wachsen lassen, weil Caine sie mir mehrmals als Strafe abgeschnitten hat, um mich zu demütigen. Einmal hat er mir sogar den Schädel rasiert. Ich habe mir gelobt, wenn mir jemals die Flucht gelänge, dann würde ich meine Haare lang tragen.«
Den anderen Frauen stockte der Atem. Lexi wollte ihr Mitleid nicht sehen – sie wäre sonst kollabiert, und das hätte niemandem geholfen. Und sie verstand nicht, warum sie unaufhörlich an Gavril dachte und sich schuldig fühlte, weil sie ihn damit allein gelassen hatte, mit ihrem Schlamassel fertigzuwerden.
Sie wandte sich von ihren Schwestern ab und schlang die Arme fest um ihren Körper. Die Erinnerungen gingen ihr zu nahe; am liebsten hätte sie sich übergeben, wie ein Embryo zusammengekrümmt und verborgen. Ihr Schutzpanzer, den sie sich hart erarbeitet hatte, war verschwunden; sie fühlte sich wie ein hilfloses Kind.
»Natürlich wünschst du dir, die Erde hätte Caine verschluckt«, meinte Lissa Piner. »Wer würde sich das nicht wünschen? Dieser Mann war … ist …« Sie unterbrach sich; verärgert über ihren Fehler blickte sie zu den anderen Frauen auf Lexis ausladender Veranda. Lissa war mit dem Element Feuer verbunden, und manchmal brach ihr leidenschaftliches Wesen durch, so wie jetzt, wo sie ihre jüngste Schwester schützen wollte.
Lissa hegte keinerlei Zweifel, dass der Mann, der Lexi der Sicherheit ihres Zuhauses entrissen und ihr ein Leben voller Vergewaltigung und Terror bei Nacht und harter Arbeit bei Tag aufgezwungen hatte, es nicht schaffen würde, in irgendein Krankenhaus zu kommen.
Hastig wechselte sie ihre Taktik. »Wie ist denn Gavril so? Es wundert mich, dass er seinen wirklichen Namen so offen benützt, fast so, als wolle er Uri Sorbacov oder dessen Vater herausfordern, ihn zu verfolgen.«
Leicht verwirrt bemühte sich Lexi zu verstehen, was die anderen sagten. Sie wusste, sie wollten sie ablenken, und versuchte, sich daran zu erinnern, wer Uri Sorbacov war. Er war der Sohn des Mannes, der die Eltern der Prakenskij-Brüder ermordet, alle sieben Jungen entführt und voneinander getrennt und sie dann gewaltsam zu Geheimagenten und Killern hatte ausbilden lassen. Er war es auch, der die Mordanschläge auf die meisten der Brüder befohlen und auch versucht hatte, Airiana zu entführen. Eine ganze Litanei von Sünden ging auf sein Konto, doch er war in Russland, unerreichbar für Vergeltungsmaßnahmen.
»Stehen sie nicht alle auf einer Todesliste?«, fragte Lexi, plötzlich besorgt darüber, dass Gavril seinen wirklichen Namen benutzte. Wieder begann sie, auf ihren Daumennagel zu beißen – und nahm ihn dann wütend aus dem Mund.
»Ilja nicht«, antwortete Blythe Daniels. »Er ist der jüngste der Prakenskijs, und irgendwie bringt er es anscheinend fertig, ohne eine Bedrohung leben zu können.«
Lexi empfand Blythes Stimme als unglaublich tröstlich. Diese Frau konnte einfach jede schlimme Situation besänftigen. Sie war nicht mit einem Element verbunden, verfügte jedoch über unglaubliche Gaben und war inmitten eines Sturms immer der ruhende Pol. Blythe hatte sie alle zusammengebracht und die Farm gefunden, als sie zum Verkauf stand. Schon allein dafür war Lexi ihr auf ewig dankbar.
Judith Vincent legte die Füße auf das breite Geländer der Veranda. »Erzähl uns von Gavril. Wenn Thomas oder Levi von ihm sprechen, klingen sie immer irgendwie reserviert.«
Judith war mit Stefan Prakenskij verheiratet; sie war mit dem Geistigen verbunden und konnte alle anderen Elemente verstärken. Stefan hatte den Namen Thomas Vincent angenommen, und die beiden waren nie weit voneinander entfernt.
Airiana nickte. »Fast, als ob sie ihn verehren würden – oder vielleicht auch fürchten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Max, Levi oder Thomas vor irgendjemandem Angst hätten, aber über ihn reden sie definitiv anders.«
Lexi blickte finster in die Runde. »Zu mir war er nett und zuvorkommend. Er hatte keine Wahl, als er diese beiden Männer erschoss. Sie wollten mich umbringen. Ich bin sicher, dass er sie nicht töten wollte, aber hätte er es nicht getan, dann wäre ich jetzt tot. Und er war verletzt. Das habe ich gesehen.«
»Verletzt?«, fragte Judith. »Das hast du uns gar nicht gesagt. Ein Schuss? Eine Stichwunde? Hätten wir Thomas sagen sollen, dass er ihn in ein Krankenhaus bringt?«
Lexi schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er ist schon verletzt hier angekommen.«
»Stimmt«, pflichtete Airiana ihr bei. »Gavril wurde so an die sieben Mal mit einem Messer verwundet, als er meinen Vater bewachte, Theodotus Solovjov. Er wäre fast gestorben.«
Judith setzte sich gerader hin. »Thomas hat mir von ihm erzählt. Er sollte sterben. Es stand wirklich schlimm um ihn. Und Sorbacov hat ihn auf eine Todesliste gesetzt, weil er eben nicht starb und weil er Sorbacov zufolge für sie nutzlos war. Aber das ist lange her; eigentlich sollten seine Verletzungen längst verheilt sein.«
»Er arbeitete all die Jahre für die Regierung, und sie haben ihn einfach fallenlassen, wie die anderen Prakenskijs auch. Das ist wirklich schlimm.« Lexis Sympathien waren ganz auf der Seite Gavrils gewesen, schon seit sie seinen Schmerz gespürt hatte.
»Wenn er seinen eigenen Namen benützt und weiß, dass Sorbacov ihn auf eine Todesliste gesetzt hat«, erklärte Blythe, »dann ist er gekommen, um sich von seinen Brüdern zu verabschieden. Und er plant, sie von Thomas, Levi und Max wegzulocken.«
Rikki erschien in der Eingangstür mit einem Teeservice auf einem Tablett. Die Frauen blickten ihr erfreut entgegen. Sie hatten sich in einer Gruppentherapie kennengelernt, die für jede von ihnen die letzte Rettung gewesen war; eine Gruppe speziell für Frauen, die Angehörige durch Mord verloren hatten und glaubten, irgendwie am Tod dieser Menschen schuld zu sein. Sie waren sich nahegekommen und hatten erkannt, dass sie zusammen weit stärker waren als jede für sich.
»Danke«, murmelte Lexi und goss etwas Milch in ihre Tasse. Die Stirn noch immer in Falten, wandte sie sich dann wieder ihren Schwestern zu. »Vielleicht hat er mir seinen Namen nur genannt, um mich zu beruhigen.«
»Was auch immer der Grund ist, Liebes«, meinte Judith, »wir sind jedenfalls froh, dass er dir das Leben gerettet hat.« Sie stellte ihre Teetasse auf das Geländer und schaute in die Ferne. »Wir müssen den Männern besser zuhören. Wir verdrehen bloß immer die Augen, wenn sie uns sagen, wohin wir gehen können und wie wir dorthin kommen sollen, aber wir haben alle zu viele Feinde, um so zu tun, als wären wir immer sicher.«
Lexi seufzte. »Am besten ich sage euch gleich die Wahrheit. Ich bin in einem Zeugenschutzprogramm. Das, was ich euch über die Sekte und die Entführung und Ermordung meiner gesamten Familie erzählt habe, das ist alles wahr, aber ich habe gegen einige wichtige Mitglieder der Sekte ausgesagt. Einige von ihnen konnten fliehen, so auch Caine – das ist der Mann, der mich zwang, seine Frau zu werden. Mein richtiger Name ist Alexia Wilson, nicht Lexi Thompson.«
»So was habe ich mir schon gedacht«, meinte Blythe. »Es war in sämtlichen Nachrichten, als es passierte.«
»Du warst nicht seine Frau!«, fauchte Lissa. »Du warst ein kleines Mädchen, das er schlug und vergewaltigte. Da war keine Hochzeit, kein Eheversprechen. Er war auch kein Gottesmann. Wenn jemand eine Zeremonie veranstaltet, um ein achtjähriges Mädchen mit einem erwachsenen Mann zu vereinen, dann ist das ganz sicher kein geweihter Priester!«
Lexi zog den Kopf ein. »Ich weiß. Das haben sie mir gesagt. Der Punkt ist, Caine hat mich gefunden, und damit wissen wahrscheinlich auch andere Mitglieder der Sekte, wo ich bin. Es war einfach nur Glück, dass Gavril kam. Ich habe meine Familie damals ungefähr drei Stunden lang gesehen, dann brachte mich die Bundespolizei vor dem Prozess in eine sichere Unterkunft. Während ich dort war, drangen diese Leute in mein Zuhause ein, ermordeten meine Eltern, während sie schliefen, meine beiden Brüder und meine kleine Schwester. Wir haben hier Kinder.« Ihr Blick traf jenen von Airiana. »Deine Kinder. Sie haben schon viel zu viel mitgemacht.«
»Nein.« Blythe klang entschieden. »Du gehst nicht weg.«
Airiana ergriff Lexis Hand. »Ich musste mich auch fragen, ob ich hierher zurückkommen soll. Ich arbeite jetzt für die Regierung, und alle sind hinter meiner Arbeit her. Sorbacov wollte mich nach Russland entführen lassen. Ich habe Evan Shackler-Gratsos am Hals, der nur darauf wartet, mich zu kidnappen, und wenn Max nicht wäre, dann wäre ich bereits jetzt bei einem von denen.«
ENDE DER LESEPROBE