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Dass das Autobiographische als Schlüssel zu Perecs gesamtem Werk zu lesen ist, zeigt dieser Band. Er umfasst zehn autobiographische Versatzstücke aus den Jahren 1959 bis 1981 – von den Umständen der eigenen Geburt (»Ich bin geboren«) über eine Skizze zur Gedächtnisarbeit oder eine Vorfassung seines Ellis-Island-Projekts bis hin zur Aufzählung »einiger Dinge, die ich wirklich noch machen müsste, bevor ich sterbe«. Sie sind Teil eines unvollendeten Komplexes, von dem Perec nur »W oder die Kindheitserinnerung« abgeschlossen hat und in dem er gänzlich neue autobiographische Strategien erproben wollte: im besessenen Sammeln von Mikroerinnerungen, im Verschlüsseln von Gedächtnismomenten, die verborgen bleiben sollen – oder als ein Fallschirmspringer, der sich kopfüber in die Erkundung der eigenen Identität stürzt.
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Seitenzahl: 86
Georges Perec Geboren 1936
Inhalt
Ich bin geboren
Orte einer Flucht
Der Sprung mit dem Fallschirm
Kléber Chrome
Brief an Maurice Nadeau
Die Gnocchis des Herbstes oder: Antworten auf einige Fragen die mich betreffen
Der Traum und der Text
Gedächtnisarbeit
Ellis Island. Beschreibung eines Projekts
1969 hat Georges Perec dem Herausgeber der »Lettres Nouvelles«, Maurice Nadeau, in einem ausfiihrlichen Brief den Plan zu einem umfangreichen autobiographischen Komplex vorgestellt, der insgesamt vier Bücher umfassen sollte. Von diesen vier Büchern ist am Ende nur »W« erschienen, verwandelt in »W oder die Kindheitserinnerung«. »Der Baum« und »Orte, an denen ich geschlafen habe« sind unvollendet geblieben.Orte, dem ein Programm zugrunde lag, das sich über zwölf Jahre hätte erstrecken sollen, ist auf halbem Wege nach sechs Jahren aufgegeben worden.
Die hier versammelten Texte erhellen diese Arbeit der Erinnerung und des Vergessens, die Suche nach Identität, die Annäherung an eine neue autobiographische Strategie.
Sie unterscheiden sich stark voneinander: Entwurf, Novelle, mündlicher Bericht, Notizen für eine Kritik, Brief, der ein Programm enthält, Selbstbildnis, Zeitungsartikel, Interview, Inhaltsangabe eines Buches, Rundfunktext.
Sie folgen der Zeit eines Lebens von der Geburt bis zum Tode.
Sie zeigen (in der Praxis oder in der Theorie), wie Georges Perec die Autobiographie plante: versteckt, vielfältig, gebrochen und zugleich unaufhörlich um das Unsagbare sich drehend.
Philippe Lejeune
Ich bin geboren
7.9.70
Carros
Ich bin geboren am 7.3.36. Wie viele Male habe ich diesen Satz geschrieben? Zehnmal, hundertmal, noch öfter? Ich weiß es nicht. Ich weiß, dass ich ziemlich früh begonnen habe, lange bevor der Plan einer Autobiographie Gestalt angenommen hat. Ich habe ihn zum Stoff eines schlechten Romans mit dem Titel Maskiert geh ich durchs Leben und einer ebenso unbedeutenden Erzählung (die übrigens nichts anderes war als dieser schlecht überarbeitete Roman) mit dem Titel Gradus ad Parnassum gemacht.
Zunächst einmal stellt man fest, dass ein solcher Satz vollständig ist, ein Ganzes bildet. Es ist schwer, sich einen Text vorzustellen, der so beginnen würde:
Ich bin geboren.
Hingegen kann man sofort nach dem genau angegebenen Datum aufhören.
Ich bin geboren am 7. März 1936. Schlusspunkt. Genau das tue ich seit mehreren Monaten. Es ist auch das, was ich, seit 34 einhalb Jahren, heute tue!
In der Regel schreibt man weiter. Es ist ein schöner Anfang, der nach näheren Angaben verlangt, nach Auskünften, vielen Auskünften, einer ganzen Geschichte.
Ich bin geboren am 25. Dezember 0000. Mein Vater war, so heißt es, Zimmermann. Kurze Zeit nach meiner Geburt waren die Heiden gar nicht mehr nett, und wir mussten nach Ägypten fliehen. So erfuhr ich, dass ich Jude war, und diese dramatischen Umstände sind der Grund für meinen festen Entschluss, es nicht zu bleiben. Die Fortsetzung kennen Sie …
Diese fast völlige Unmöglichkeit weiterzuschreiben, sobald man einmal »Ich bin geboren am 7.3.36« aufs Papier gebracht hat, war, daran muss ich heute wieder denken, die eigentliche Substanz der weiter oben erwähnten Bücher: in Maskiert geh ich durchs Leben erzählte der Ich-Erzähler mindestens dreimal hintereinander sein Leben, wobei die 3 Erzählungen zwar gleichermaßen falsch (»eine schriftliche Beichte ist immer verlogen«, ich bildete mich damals an Svevo), aber auf eine vielleicht bedeutsame Weise doch verschieden waren.
Die Frage, um die es hier geht, heißt weder »warum weiterschreiben« noch »warum gelang es mir nicht weiterzuschreiben?« (im dritten Teil des Ganzen werde ich auf diese Fragen antworten müssen), sondern »wie soll ich weiterschreiben?«
Tatsache ist, dass ich wieder an meinem Ausgangspunkt bin. Ich bin geboren am 7.3.36. Meinetwegen. Ich stecke mir eine Zigarette an, ich mache einen Gang um das Schwimmbad, ohne dass ich die Absicht habe zu schwimmen, ich blättere in Büchern herum auf der Suche nach einem beispielhaften Anfang (ich bin geboren am …): ich bin auf Too strong for fantasy gestoßen, eine Autobiographie von Marcia Davenport, von der ich nur noch weiß, dass darin von Musik und der Tschechoslowakei die Rede ist; es gibt Fotos und ein Stichwörterverzeichnis. Ich werde es aufmerksamer lesen. Auch im Tagebuch der Anne Frank geblättert (hier ist nicht viel für mich herauszuholen), in den beiden Artikeln von Elmar Luchterhand über das soziale Verhalten in den Lagern (als Sonderdrucke vom Labor erbeten). Oder ich lege mir eine Patience, klimpere auf dem halb abmontierten Klavier (das heißt direkt auf den Saiten) herum, werfe einen Blick auf eine schon alte Nummer der Zeitung France-Soir, rasiere mich, gieße mir etwas Bier ein usw. (an einem Fingernagel knabbern, sich die Zehennägel ausreißen, hin- und hergehen). Oder aber, natürlich das subtilste (?) aller Gegenargumente: auf nun bereits 3 Seiten dieses Notizbuchs schreiben, dass ich nicht weiterschreibe …
Entweder gibt es eine Forsetzung oder es gibt keine … Entweder gibt es eine erzählbare Fortsetzung oder es gibt keine.
Verlegen wir uns auf die Gemeinplätze: Was? Wer? Wann? Wo? Wie? Warum?
Was? Ich bin geboren.
Wer? Ich.
Wann? Am 7. März 1936.
Genauer? Ich weiß die Stunde nicht; ich müsste (muss) in einem Auszug des Personenstandsregisters nachsehen. Sagen wir um neun Uhr abends. Ich muss eines Tages auch in die Bibliothèque Nationale gehen, um mir einige Zeitungen von diesem Tag auszuleihen und nachzusehen, was sich ereignet hat. Ich habe lange geglaubt, Hitler sei am 7. März 1936 in Polen einmarschiert. Entweder irre ich mich im Datum, oder ich irre mich im Land. Vielleicht war es 39 (ich glaube es nicht), oder aber es war die Tschechoslowakei (plausibel?) oder Österreich. Das Sudetenland, der Anschluss, oder Danzig oder das Saargebiet, ich kenne diese Geschichte nur sehr schlecht, die für mich immerhin lebenswichtig gewesen ist. Auf jeden Fall war Hitler bereits an der Macht, und es gab bereits Konzentrationslager.
Wo? In Paris. Nicht im 20. Arrondissement, wie ich lange geglaubt habe, sondern im 19. Wahrscheinlich in einer Entbindungsanstalt: der Name der Straße ist mir wieder entfallen (ich könnte ihn gleichfalls in einem Auszug des Personenstandsregisters finden).
Wie? Warum?
Warum? Das ist eine gute Frage, wie Lucy Van Pelt sagen würde.
Die besten Autoren teilen fast unmittelbar nach der Ankündigung ihrer Ankunft auf der Welt einige Einzelheiten über ihre Eltern mit.
Mein Vater hieß Icek Judko, das heißt Isaac Joseph oder Isidore, wenn man unbedingt will. Seine Schwester, seine Nichte erinnern sich an ihn unter dem Namen Isie. Ich hingegen habe ihn immer hartnäckig André genannt.
Sept. 70
Carros
Heute habe ich vor allem mit verschiedenen Farben gespielt: Tuschen und Ölfarben, Gouachen und Spachteln.
Es ist 16 Uhr, ich kann vielleicht versuchen zu arbeiten: meine Absicht ist klar (wenn man so will), meine Verlegenheit geheuchelt: Mechanismen des Schreibens, rhetorische Kniffe, keine Scham hält mich zurück (jedenfalls wäre dies nicht das Hauptargument. Was also? Ich weiche vielleicht vor dem Ausmaß der Arbeit zurück: noch einmal das Garnknäuel bis zum Ende abwickeln, mich, ich weiß nicht wie viele Wochen, Monate oder Jahre lang (zwölf Jahre, wenn ich die für die Niederschrift der Orte auferlegte Regel beachte) in die geschlossene Welt meiner bis zur Sättigung oder bis zum Ekel wiedergekäuten Erinnerungen einschließen.
Orte einer Flucht
Der Briefmarkenmarkt in den Gartenanlagen der Champs-Élysées fand nur donnerstags und sonntags statt. Er wusste es zwar, aber er hatte sich gesagt, dass er vielleicht jemandem begegnen würde, einem umherschlendernden alten Herrn, der in sein Notizbuch schauen, vor der dunkelbraunen Blériot-Briefmarke, vor der Nike von Samothrake stehenbleiben, die Serie der Mariannen oder den zinnoberroten, mit dem Lothringer Kreuz überdruckten Pétain würdigen würde. Aber da war niemand, nicht einmal ein Spaziergänger. Nur grün gestrichene Metallstühle, die in einer Reihe nebeneinander zwischen den Bäumen standen. Es war noch nicht einmal neun Uhr früh. Die Luft war mild. Ein städtischer Sprengwagen fuhr über die Avenue Gabriel. Die Champs-Élysées schienen menschenleer. Auf der anderen Seite der Gartenanlage, zwischen den kleinen Schaukeln und dem Marionettentheater, luden Arbeiter von einem großen gelben Lastwagen mit Anhänger die Holzpferde eines Karussells ab, dessen Gerüst bereits aufgebaut war.
Er setzte sich auf eine Bank und öffnete seinen Ranzen. Er holte sein kleines Briefmarkenheft hervor, in dem er die Marken aufbewahrte, die er doppelt hatte. Schon lange hatte er in die kleine, in den Einband eingelassene Tasche die schönsten Exponate seiner richtigen Sammlung aus dem schönen, eingebundenen Album geschoben, das seine Tante im Schlafzimmerschrank neben ihrem Schmuck unter Verschluss hielt, und das sie ihn nur widerwillig betrachten ließ.
Er betrachtete aufmerksam seine Briefmarken, eine nach der andern, bewertete sie, versuchte abzuschätzen, was man ihm dafür geben würde.
Später klappte er das Heft wieder zu und steckte es in die Innentasche seiner Jacke.
Er holte sein Aufgabenheft hervor. Am heutigen Mittwoch hatte er eine Französischstunde und eine Lateinstunde mit Monsieur Bourguignon, eine Geschichtsstunde mit Monsieur Poirier, eine Englischstunde mit Monsieur Normand; am Nachmittag eine Zeichenstunde mit Monsieur Joly, eine Physikstunde mit Monsieur Léonard.
Er hatte seine Englischaufgaben nicht gemacht und auch die schriftlichen Fragen nicht vorbereitet.
Es war neun Uhr; er würde lediglich zu spät kommen. Alles war wiedergutzumachen.
Es war schon oft vorgekommen, dass er in der ersten Stunde gefehlt hatte. Um halb neun schloss der Hausmeister das Schülertor. Er hatte nie den Mut, durch das große Tor der Avenue du Parc-des-Princes zu gehen.
Trunken vor Freiheit spazierte er zur Porte de Saint-Cloud, zur Avenue de Versailles. Er ging ins Kaufhaus Prisunic, machte in allen Abteilungen halt, blieb vor den Hämmern stehen, vor den Töpfen, vor der Seife. Manchmal bot sich ihm die Gelegenheit, einen Nagel zu stehlen, eine Schraube, ein Eisen für die Schuhspitze, einen Lichtschalter.
Er kam für die Unterrichtsstunde um halb zehn zurück. Seine Abwesenheit wurde ins Klassenbuch eingetragen und brachte ihm am Donnerstagmorgen, dem schulfreien Tag, zwei Stunden Nachsitzen ein. Aber sein Zuspätkommen war ein Alibi: ein Fehler, der für seinen Onkel tausendmal leichter zu entschuldigen war als Disziplinlosigkeit.
Er schlug seine Bücher auf und blätterte darin herum. Er las seine Hefte durch und seine alten Hausaufgaben. Er machte das Federmäppchen aus grünem Leder auf, das seine beiden Kusinen bereits benutzt hatten. Es enthielt ein altes, zerkautes Lineal, drei Farbbleistifte ohne Minen, einen schwarzen Bleistift, einen zerbrochenen, mit Hansaplast geflickten Füller, einen Winkelmesser aus Plexiglas, ein abgenutztes Radiergummi, einen Zirkel.
Er zeichnete einige Kreise auf die gelbe Holzbank. Dann steckte er den Zirkel wieder in das Federmäppchen, und das Federmäppchen, die Bücher, die Hefte in den Ranzen.
Später näherte er sich den Hecken, die das Marionettentheater umgaben, versicherte sich, dass niemand zu ihm hinschaute, bog die Zweige auseinander und ließ den Ranzen fallen.
Dann entfernte er sich mit schnellen Schritten.