Ein Kunstkabinett - Georges Perec - E-Book

Ein Kunstkabinett E-Book

Georges Perec

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Beschreibung

»Ein Kunstkabinett«, ein Bild des deutsch-amerikanischen Künstlers Heinrich Kürz, zeigt den steinreichen Bierbrauer Hermann Raffke inmitten seiner Gemäldesammlung. Unter diesen Bildern befindet sich, abermals, »Ein Kunstkabinett«, was dazu einlädt, vom Bild ins Bild ins Bild ins Bild zu steigen. Dass es in der unendlichen Wieder­holung Abwandlungen, Brüche und Fehler zu entziffern gibt, weckt im Publikum einen Ehrgeiz, der sich zur Hysterie aufschaukelt. Unweigerlich folgt darauf ein Kunst­skandal.
Fakten und Fiktion, Spiel und Fallstrick, Fälschung und Replik, Biographie und Anekdote, Beglaubigtes und wild Erfundenes finden sich lustvoll ineinander verwoben, und wie stets bei Perec blitzt die höchste Erzählkunst mitten in der vermeintlichen Statik der ­Bildbeschreibung auf.

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Seitenzahl: 82

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Inhaltsverzeichnis

Start

Ein Kunstkabinett

diaphanes

broschur

Georges Perec Ein Kunstkabinett

Geschichte eines Gemäldes

Aus dem Französischen von Eugen Helmlé

diaphanes

Für Antoinette und Michel Binet

»Ich sah hier Gemälde von höchstem Wert, die ich größtenteils bereits in europäischen Privatsammlungen und in Gemäldeausstellungen bewundert hatte. Die verschiedenen Schulen alter Meister waren vertreten durch eine Madonna von Raffael, eine Jungfrau von Leonardo da Vinci, eine Nymphe von Correggio, eine Frauengestalt Tizians, eine Anbetung von Veronese, eine Himmelfahrt von Murillo, ein Bildnis von Holbein, einen Mönch von Velazquez, einen Märtyrer von Ribera, eine Kirchweih von Rubens, zwei flämische Landschaften von Teniers, drei kleine Bilder in der Art von Gerard Dou, von Metsu, von Paul Potter, zwei Gemälde von Gericault und Prud’hon und einige Seestücke von Backhuysen und Vernet. Unter den Werken der modernen Malerei fanden sich Bilder, die mit Namen wie Delacroix, Ingres, Decamps, Troyon, Meissonier, Daubigny und so weiter signiert waren.«

Jules Verne

Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer

Ein Kunstkabinett des deutschstämmigen amerikanischen Ma- lers Heinrich Kürz wurde 1913 in Pittsburgh, Pennsylvania, im Rahmen der kulturellen Darbietungen, die die deutsche Gemeinde der Stadt anlässlich des fünfundzwanzigsten Jahrestags der Regierung Kaiser Wilhelms II. veranstaltete, zum erstenmal in der Öffentlichkeit gezeigt. Unter der dreifachen Schirmherrschaft der Tageszeitung Das Vaterland, der Amerikanischen Kunstgesellschaft und der Deutsch-Amerikanischen Handelskammer gab es mehrere Monate lang ununterbrochen Ballette, Konzerte, Modenschauen, Handels- und Gastronomiewochen, Industriemessen, Sportveranstaltungen, Kunstausstellungen, Theateraufführungen, Opern, Operetten, Ausstattungsrevuen, Konferenzen, große Bälle und Bankette, die den aus allen Himmelsrichtungen des amerikanischen Kontinents herbeigeeilten Freunden und Anhängern Deutschlands die Möglichkeit boten, als erste in den Genuss von Darbietungen zu kommen, von denen eine ambitiöser war als die andere und deren drei Hauptattraktionen ohne jeden Zweifel eine ungekürzte Freilichtaufführung von Faust II (die leider nach siebeneinhalb Stunden vom Regen unterbrochen wurde), die Welturaufführung des Oratoriums Amerika von Manfred B. Gottlieb, für das zweihundertfünfundzwanzig Musiker, elf Solisten und achthundert Chorsänger und -sängerinnen aufgeboten werden mussten, sowie die Pittsburgher Premiere der mit ihren beiden berühmten Erstdarstellern Theo Schuppen und Maritza Schellenbube eigens aus München importierten großartigen Operette Das Gelingen gewesen waren.

Unter diesen Riesenproduktionen, für die in den Illustrierten über ganze Seiten hinweg eine aufsehenerregende Werbung gemacht wurde, wäre die Gemäldeausstellung, die von April bis Oktober in den Ausstellungsräumen des Hotels Bavaria stattfand, beinahe unbemerkt geblieben. Die Pittsburgher Zeitungen schrieben viel weniger über die Bilder und die Künstler als über die am Tag der Vernissage anwesenden Persönlichkeiten: Senator Lindemann, Richter Taviello, den Stahlmagnaten Kellog O’Brien, den steinreichen Barry O. Fugger, Besitzer und Direktor der großen Fugger-Warenhäuser, und die dreiundvierzig Mitglieder der deutschen Delegation unter Leitung von Doktor Ulrich Schultze, Erster Staatssekretär des kaiserlichen Kanzleramtes und Sondergesandter Seiner Majestät. Was die Kunstkritiker der deutschsprachigen amerikanischen Zeitungen anging, so begnügten sie sich in der Regel damit, einige Künstlernamen und einige Gemäldetitel aufzuzählen, auf die sie manchmal kurze, für jede Gelegenheit passende Kommentare folgen ließen: In der Abteilung »Stillleben« haben wir Die Teekanne auf dem Tisch von Garten bewundern können, dessen Palette alle Nuancen des Blau meisterhaft beherrscht, ferner eine Obstschale von sehr hohem Niveau, die dem robusten Pinsel des allzufrüh verstorbenen Sigmund Becker zu verdanken ist, sowie Die Werkbank von James Zapfen, dem es anscheinend gelungen ist, seinen etwas schwerfälligen Realismus durch eine geheime Zärtlichkeit zu mäßigen, und so weiter.

In diesem nicht sehr günstigen Rahmen wurde das Werk des Malers Kürz kaum besser behandelt als das der andern, obgleich man heute, mit dem nötigen zeitlichen Abstand, der Meinung sein kann, dass es mit eher schmeichelhaften Beurteilungen bedacht wurde: Anton Zweig beschrieb es im Chicagoer Tagblatt als »ein seltsames, edgar-poesches Werk, über das noch viel Tinte fließen wird«; Walther Bannerträger bedauerte in seiner kurzen Besprechung in der New Yorker Zeitung, dass er dieses »Bildnis von subtilem Symbolismus, dessen höchst metaphysische Inspiration mit größter Sicherheit viele der gemeinhin anerkannten Ideen über das Schöne in der Kunst in Frage stellt, nur nebenbei erwähnen« könne; Christian von Muschelsohn vom Morgenstern in Milwaukee sah darin »eine geheime Verherrlichung der neuen nietzscheschen Werte, die die Totalität der sichtbaren und der unsichtbaren Welt wieder in ihre Rechte einsetzt«; was den Artikel im Vaterland angeht, dessen Autor, Thadeus Doppelgleisner, einer der verantwortlichen Organisatoren der Ausstellung gewesen ist, so war er zwar sehr viel ausführlicher (vielleicht, weil der Besitzer des Bildes, Hermann Raffke von der Brauerei Raffke, die Ausstellung großzügig finanziert und mehrere Werke dafür leihweise zur Verfügung gestellt hatte), beschränkte sich aber bewusst auf den Bereich der Allgemeinheiten und der Anekdoten:

»Unser verdienstvoller Mitbürger Hermann Raffke aus Lübeck ist nicht nur berühmt für die ausgezeichnete Qualität des Biers, das er seit bald fünfzig Jahren in unseren Mauern braut; er ist auch ein aufgeklärter, dynamischer Kunstliebhaber, bestens bekannt in den Galerien und Ateliers auf beiden Seiten des Ozeans. Im Verlaufe seiner zahlreichen Reisen nach Europa hat Hermann Raffke es verstanden, mit eklektischem und sicherem Urteilsvermögen eine ganze Reihe alter und moderner Kunstwerke zusammenzutragen, mit denen sich so manches Museum der Alten Welt gern geschmückt hätte und für die es augenblicklich in unseren noch jungen Landen keine Entsprechung gibt, was die Herren Mellon, Kress, Duveen und wie sie alle heißen auch immer sagen mögen. Hinzu kommt, dass es für Hermann Raffke immer ein Herzensanliegen war, die Entwicklung der amerikanischen Malerei zu fördern, und zahlreich sind jene, die, heute anerkannt – Thomas Harrison, Kitzenjammer, Wyckoff, Betkowsky und viele andere –, in ihren Anfängen von diesem wohlwollenden und diskreten Mäzen unterstützt worden sind. Aber gerade anlässlich dieser Ausstellung hat uns Hermann Raffke den glänzendsten Beweis seiner Liebe zur Malerei, zu unserer Stadt und zu Deutschland dadurch zu liefern gewusst, dass er bei dem noch sehr jungen Maler Heinrich Kürz, von dem wir voller Stolz berichten können, dass er als Sohn schwäbischer Eltern in Pittsburgh geboren wurde, jenes Bildnis bestellte, das ihn in seiner Gemäldesammlung vor seinen Lieblingsbildern sitzend darstellt. Es versteht sich von selbst, dass darunter zahlreiche Bilder sind, die aus unserer schönen Heimat stammen«, und so weiter.

Nur wenige Tage nach der Vernissage und trotz der eher pessimistischen Prognosen der Veranstalter begann die Ausstellung zu einem nicht nachlassenden Erfolg zu werden, dessen Ursache unzweifelhaft das Bild Heinrich Kürz’ war. Diese glänzende Bestätigung des Werkes – und damit der ganzen Ausstellung – kam sicherlich auf dem Umweg über eine wer weiß woher gekommene Mundpropaganda zustande, deren Folgen genau abzuschätzen immer schwierig ist. Vielleicht ist es aber möglich, eine erste Erklärung für eine solche Begeisterung in der langen, im Katalog anonym veröffentlichten Beschreibung zu finden:

»Das Bild stellt einen großen, rechteckigen Raum ohne sichtbare Türen und Fenster dar, dessen drei sich dem Betrachter darbietende Wände ganz mit Gemälden bedeckt sind.

Links im Vordergrund, neben einem kleinen runden Tisch mit einer Spitzendecke, auf dem eine Karaffe aus geschliffenem Kristall und ein Stielglas stehen, sitzt ein Mann in einem dunkelgrünen Ledersessel, vom Betrachter aus gesehen im verlorenen Profil. Es ist ein alter Mann mit üppigem weißem Haar und einer schmalen Nase, auf der eine Nickelbrille sitzt. Die Züge seines Gesichts, seine mit roten Äderchen durchzogenen Ba-cken, sein dichter, weit über die Oberlippe hängender Schnurrbart, sein knochiges und energisches Kinn sind eher zu erraten, als dass man sie wirklich sieht. Er trägt einen grauen Morgenrock, dessen Schalkragen mit einer dünnen roten Litze verziert ist. Ein dicker roter Hund mit glattem Fell, teilweise von der Sessellehne und dem Tischchen verdeckt, liegt, offensichtlich schlafend, zu seinen Füßen.

Mehr als hundert Gemälde sind auf diesem einen Bild versammelt, und alle sind sie mit einer solchen Genauigkeit und einer solchen Akkuratesse wiedergegeben, dass es uns ohne weiteres möglich wäre, jedes einzelne präzise zu beschreiben. Allein die Aufzählung der Titel und der Maler wäre nicht nur langwierig, sondern würde auch den Rahmen dieser kurzen Darstellung bei weitem sprengen. Es möge daher der Hinweis genügen, dass alle Gattungen und alle Schulen der europäischen Kunst und der jungen amerikanischen Malerei aufs wunderbarste vertreten sind, die religiösen Themen ebenso wie die Genreszenen, die Bildnisse gleichermaßen wie die Stillleben, die Landschaften, die Seestücke und so weiter. Überlassen wir den Besuchern das Vergnügen, den Longhi oder den Delacroix, den Della Notte oder den Vernet, den Holbein oder den Mattei sowie andere, der größten europäischen Museen würdige Meisterwerke, die der Sammler Raffke, von bedeutenden Experten intelligent beraten, während seiner Reise aufgespürt hat, zu entdecken, wiederzuerkennen, zu identifizieren.

Wir möchten jedoch, ohne näher auf die Einzelheiten einzugehen, die Aufmerksamkeit des Besuchers auf drei Gemälde lenken, die, wie uns scheint, Zeugnis ablegen sowohl von der glücklichen Hand, die Raffke bei der Wahl seiner Kunstwerke bewiesen hat, als auch von dem Talent, mit dem Heinrich Kürz es verstanden hat, sie uns zu zeigen.

Das erste, an der linken Wand über dem Kopf des Sammlers, ist eine Mariä Heimsuchung, die wir persönlich gern einem Paris Bordone, einem Lorenzo Lotto oder einem Sebastiano del Piombo zuschreiben möchten: in der Mitte eines kleinen Platzes, der von hohen Säulen umstanden ist, zwischen denen reich bestickte Stoffdekorationen gespannt sind, kniet die Jungfrau Maria in einem dunkelgrünen Kleid, das ein roter Schleier weitgehend bedeckt, vor der heiligen Elisabeth, die ihr, alt und leicht schwankend, von zwei Dienerinnen gestützt, entgegengekommen ist. Rechts im Vordergrund befinden sich drei ganz in Schwarz gekleidete Greise; zwei stehen einander gegenüber; der erste hält ein halb aufgerolltes Blatt Pergament vor sich, auf das mit dünnem blauem Strich der Plan einer befestigten Stadt gezeichnet ist, worauf der zweite mit einem knochigen Finger zeigt; der dritte sitzt mit gekreuzten Beinen auf einem Schemel aus vergoldetem Holz, auf dem ein grünes Kissen liegt; er dreht seinen Gefährten fast vollständig den Rücken zu und scheint den Hintergrund der Szene zu betrachten – einen großen, freien Platz, auf dem das Gefolge Marias wartet: eine mit Ledervorhängen geschlossene Sänfte, getragen von zwei Schimmeln, die von zwei mit rot-grauen Livreen bekleideten Pagen am Zügel gehalten werden, sowie ein Ritter in Rüstung, dessen Lanze mit einem langen, goldenen Spruchband geschmückt ist. Am Horizont sieht man eine Landschaft von Hügeln und Wäldchen und dazu, in der Ferne, die nebelverhangenen Türme einer Stadt.