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1957: Georges Perec ist einundzwanzig. Er ist eingeschrieben im Fach Geschichte, doch in die Vorlesungen geht er nicht mehr. Er will schreiben, doch er kommt kaum dazu. Im Sommer 1955 hat er sich an einem ersten Buch versucht, dessen Text bis heute verschollen ist, im Sommer 1956 eine Psychoanalyse begonnen. Im Sommer 1957 fährt er nach Jugoslawien, wo er in wenigen Wochen seinen zweiten größeren Text schreibt. Zurück in Paris, redigiert er in aller Eile das Manuskript, diktiert es einer Schulfreundin, schickt es an Verlage, die es aber allesamt ablehnen, sodass er es einem Belgrader Malerfreund überlässt.
In dem schließlich wiedergefundenen und hier erstmals auf Deutsch publizierten Text begegnen wir einer Literatur zwischen jugendlichem Drang, ausgeprägtem Erzähltalent und reifendem Stilwillen: Ein amouröses Dreieck und weltgeschichtliche Katastrophe konvergieren in einer Erzählung, hinter der sich bereits die zentralen Motive von Perecs späterem Werk abzeichnen.
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Seitenzahl: 166
Das Attentat von Sarajevo
Georges PerecDas Attentat von SarajevoAus dem Französischen übersetzt von Jürgen Ritte
diaphanes
Dort, wo Sieg ist, in aller Bescheidenheit mit der Niederlage überraschen, und vice versa.
René de Obaldia, Flucht nach Waterloo
ja sam danas veliki drugi, a biću sutra veliki prvi, možda, za Milu.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
wenn ich heute vor Ihnen das Wort ergreife, so tue ich dies, um mich gegen gewisse fälschliche und abwegige Interpretationen zu verwehren, die das Attentat betreffen, das am 28. Juni 1914 in Sarajevo auf den Erzherzog und Kronprinzen Franz Ferdinand verübt worden ist. Die österreichischen und kroatischen Richter nämlich wollten im Verlauf des Prozesses, der auf das Attentat folgte, keine andere Lesart zulassen als die eines politischen Verbrechens unter Einfluss der großserbischen Propaganda, und dies trotz der unermüdlichen Erklärungen Čabrinovićs, Princips, Grabez’, Čubrilovićs, Ilićs, Popovićs, mit anderen Worten: der Hauptverantwortlichen des Attentats, die sich beharrlich geweigert haben, als ordinäre fanatisierte und gewissenlose Terroristen angesehen zu werden und sich vielmehr zu dem bewusst aufgenommenen und unbedingt berechtigten Kampf im Namen der sakrosankten1 Prinzipien des revolutionären Nationalismus und des freien Selbstbestimmungsrechts der Völker bekannten.
Ich bin Branko zum ersten Mal an einem Novemberabend in Paris begegnet. Das war, glaube ich, im Dôme oder auch im Select, in einer dieser Kneipen jedenfalls am Montparnasse, die bei Ausländern aus mir unerfindlichen Gründen so beliebt sind. Ich trieb mich dort in Gesellschaft einiger Jugoslawen herum, die ich mehr oder weniger gut kannte, und wir tranken Rotwein und redeten über alles Mögliche, um die Zeit totzuschlagen, bis es spät genug war, ins Bett zu gehen. Ich weiß übrigens nicht mehr so genau, aus welchem Anlass ich da war, aber ehe ich jetzt anfange, mich mit solchen Überlegungen zu verzetteln, kann ich auch gleich mit meiner frühesten Kindheit beginnen (was absolut lächerlich wäre). Kurzum, ich hörte einem Arzt zu, der sich auf Fortbildung in Frankreich befand und mir etwas über den Kampf gegen die Tuberkulose in Mazedonien erzählte. Nach einer halben Stunde brach mein Mediziner auf. Ich wandte mich daraufhin dem Rest der Gruppe zu, horchte nach einer interessanten Unterhaltung, an der ich mich hätte beteiligen können. Aber abgesehen von einer stürmischen Debatte auf Serbisch war da nur ein Mädchen, das einem Ingenieur, der nichts begriff, etwas von den Sehenswürdigkeiten des Calvados vorschwärmte. Mit einem Wort, da war nichts, was mich hätte begeistern können. In diesem Moment aber bemerkte ich einen Mann, der ein wenig abseits saß und mir, glaube ich, ein paar Minuten zuvor vorgestellt worden war, als ich noch dem Arzt zuhörte; ich hatte nur kurz aufgeblickt und vage einen guten Abend gewünscht. Er schien sich zu langweilen. Ich stand auf und setzte mich zu ihm an seinen Tisch. Wir blieben den ganzen Rest des Abends zusammen. Er war Lehrer und war nach Frankreich gekommen, um eine Doktorarbeit zu schreiben. Wir sprachen über unglaublich viele Dinge, zunächst noch auf eine recht nonchalante Art, dann, in dem Maße, in dem wir die Gemeinsamkeit unserer Ansichten feststellten, immer hitziger. Diese Unterhaltung, die ich aus reiner Höflichkeit begonnen hatte, war zu meiner Überraschung schnell so mitreißend geworden, dass wir uns von den anderen nach und nach vollständig absonderten, um sie ungestört fortführen zu können. Gegen ein Uhr allerdings meinte ich, dass es für mich Zeit sei, nach Hause zu gehen. Ich ließ mir seine Adresse geben und versprach, ihn bald zu besuchen.
Es vergingen ungefähr zwei Wochen, bevor ich eine Möglichkeit fand, ihn wiederzusehen. Zu dieser Zeit nämlich hatte ich gerade einen Auftrag bekommen, der, wenn schon nicht interessant, so doch gut bezahlt war und fast alle meine Nachmittage und Abende in Beschlag nahm. Das Ende dieser Arbeit bedeutete für mich eine wahre Erleichterung, und ich beschloss, es in aller Würde zu feiern. Als ich gegen Mitternacht, ich weiß nicht mehr warum, am Montparnasse vorbeikam, stieß ich dort auf Branko, der gerade aus dem Select kam und schlafen gehen wollte. Wir verbrachten den Rest der Nacht zusammen, das heißt, er vergrößerte die Bande an Jungs und Mädels, die ich mal hier, mal da während der ersten Hälfte des Abends angeheuert hatte. Er war weniger betrunken als ich: Als ich am nächsten Tag meine Tasche durchwühlte, fand ich eine Nachricht, die er mir hinterlassen hatte und die besagte, dass ich ihn egal an welchem Tag vor neun Uhr in seinem Hotel besuchen könne.
Zwei Tage später stellte ich meinen Wecker auf acht Uhr. Für mich ist das recht früh am Morgen; ich stehe selten so früh auf, und für mich bedeutet das eine Anstrengung, zu der ich mich nicht so leicht überreden lasse. Das sage ich nur, weil… Warum eigentlich sieht es jetzt so aus, als wolle ich zeigen, dass ich ihn »unbedingt« sehen wollte?
Kurz, ich traf gegen Viertel vor neun bei ihm ein. Er war tatsächlich in seinem Zimmer. Ein Hotelzimmer wie jedes andere, von zweifelhafter Sauberkeit und nur mit einem Werbeplakat dekoriert (Fly by BEA). An den Wänden hingen Fotos, die er dort mit Nadeln befestigt hatte. Ich trat näher heran, um sie besser zu sehen. Auf einem sah man ihn mit einem fünfjährigen Kind auf dem Arm. Die anderen zeigten eine äußerst schöne, stolze und irgendwie scheue Frau. Sie erinnerte mich, ich weiß nicht warum, an diese Marie-Dingsbums, in die ich im Jahr zuvor so verliebt gewesen war (stimmt das? In Wahrheit weiß ich sehr wohl, dass Mila ihr in keiner Weise ähnlich sah, aber heute scheint mir ganz einfach, dass ihnen irgendetwas gemeinsam war. Doch die eine habe ich vergessen, und die andere war so weit von ihr entfernt…).
– Ist das deine Frau?, fragte ich.
– Nein, das ist Mila, meine Geliebte. Sie kommt in ein paar Tagen nach Paris.
Er erzählte mir lange von ihr.
Diese, wenn man so sagen darf, erste Begegnung war entscheidend. Ich wollte sie bereits kennenlernen. Ich wollte sie schon lieben. Ich wusste nichts von ihr, nicht einmal ihren Familiennamen, aber sie war schon eine Art Versprechen. Was soll man übrigens von dieser dunklen Vorahnung sagen, die, lange bevor ich sie wirklich gesehen hatte, sie zu meiner Bestimmung machte? War es Liebe auf den ersten Blick? Ich wünschte, es wäre so.War es Vorsatz? Aber dieses Wort zieht ein anderes nach sich, das ich nicht aussprechen möchte. Und doch zeichneten sich schon die wesentlichen Koordinaten ab, deren Gefangener ich bald sein sollte und die mich bis zu…, die mich sehr weit führten.2
Branko war hässlich. Genauer gesagt sah er exakt so aus wie Popeye der Seemann, insbesondere wenn er nachdachte, denn dann zog er eine Schnute, die aufs Unschönste sein nach oben vorspringendes Kinn betonte. Man konnte sich nicht mit ihm sehen lassen: Er sprach auf offener Straße und ruderte dabei mit den Armen herum, setzte sich in die Kneipen und rief die Kellner mit »Mein Herr« an, bedachte die Frauen in der Nähe mit einem breiten Lächeln. Sein Französisch war ganz annehmbar, aber durchsetzt mit winzigen Fehlern, die nach einer Viertelstunde absolut unerträglich wurden. Gewiss, er war sehr intelligent. Störend war nur, dass er sich für genial hielt. Ich weiß nicht mehr, in welchem Zusammenhang er mir eines Tages erklärte, er sei kaum schlechter als Hegel und dass man das schon bald bemerken werde. Sein geheimer Ehrgeiz bestand darin, davon bin ich einigermaßen überzeugt, Jesus Christus zu sein. Das war sein Lieblingsheld, die anderen waren Franz von Assisi und Pierre Besuchow. Er werde, wie er mir eines Tages versicherte, in die Geschichte eingehen als Theoretiker und Verkünder eines »franziskanischen« Sozialismus, dem einzigen Weg, die polizeistaatliche und bürokratische Abdrift der kommunistischen Systeme zu verhindern, dem einzigen Weg mithin, den wahren Kommunismus zu verwirklichen. Er entwarf großartige Pläne mit mir, lud mich für ein ganzes Jahr nach Jugoslawien ein, wo ich ihm bei der Übersetzung seines Werkes ins Französische helfen sollte, damit es in Paris erscheinen könne, falls man ihm in Belgrad Schwierigkeiten mache.
Denke ich heute an ihn zurück, dann natürlich mit eher gemischten Gefühlen. Und ich bin nicht wenig überrascht, wenn ich feststelle, dass ich ihm eine Zeitlang sehr freundschaftlich verbunden war, dass er eine Zeitlang eine gewisse Bedeutung für mich hatte. Aber ich erinnere mich nur sehr schlecht an diese Phase, ganz so, als wollte ich sie tief vergraben, ausradieren, als ob sie nunmehr eine Gefahr für mich bedeute, als ob sie ein wenig Licht auf das werfen könnte, was dann passierte. Kann das sein? Nein, alles, was geschehen ist, kam daher, dass ich mich in Mila verliebt hatte. Und warum habe ich mich…
Heute, heute bin ich davon überzeugt, dass es Fragen gibt, die ich mir besser niemals stellen sollte. Wenn ich nicht Gefahr laufen will, darauf antworten zu müssen.
Dies alles nur, um ganz einfach zu sagen, dass Branko mich sehr bald schon nicht mehr interessierte; exakt von dem Moment an, da ich die Fotos von Mila sah. Oder noch genauer gesagt: Ich wusste von diesem Moment an, dass ich meine Haltung ihm gegenüber nur noch auf eine aggressive Art würde bestimmen können. Ich müsste dem Warum dieser Aggressivität weiter nachgehen. Aber ich fürchte, mich dabei in ein paar Paradoxien zu verstricken, aus denen ich mich nur unter großen Schwierigkeiten wieder herauswinden könnte. Und überhaupt, das alles ist heute nicht mehr ganz leicht… Ich wiederhole es noch einmal, ich will mich nur erinnern: ich gehe von einer bestimmten Menge an Fakten aus, einer bestimmten Menge an Eindrücken, und ich versuche, diese zu ordnen und rational zu reihen. Mehr will ich nicht.
Es dürfte das dritte oder vierte Mal gewesen sein, dass ich ihn sah. Ich war sehr früh in seinem Hotel eingetroffen, nutzte die Zeit zwischen zwei Terminen, die ich in diesem Stadtteil hatte. Ich fand ihn im Bett liegend vor. Er stand rasch auf und schüttelte mir mit seinem üblichen Überschwang die Hand. Während er sich rasierte, setzte ich mich aufs Bett und blätterte in einigen Zeitschriften. Wir tauschten uns über ein paar Banalitäten aus. Mir wurde immer klarer, dass Branko mich in keiner Weise amüsierte und dass ich in Wahrheit nur gekommen war, um herauszufinden, ob Mila schon eingetroffen sei. Ich warf einen Blick auf die Fotos. Ich hätte ihn gerne direkt auf Mila angesprochen, aber aus einem mir unerklärlichen Grund (oder fürchtete ich schon, dass er erfuhr, dass ich mich für Mila interessierte?) hielt ich es für besser, dass er zuerst auf sie zu sprechen komme. So, wie ich ihn kannte, wusste ich ohnehin, dass ich nicht lange darauf würde warten müssen.
Branko hatte sich unterdessen angekleidet. Er band seine Krawatte und überprüfte im Spiegel, ob er anständig rasiert war (Gott, was waren das für hässliche Krawatten, und alle verknittert, weil er stets – und nie an derselben Stelle – lächerlich kleine Knoten band, und dreckig waren sie auch noch, mir läuft’s heute noch kalt den Rücken herunter!). Dann wandte er sich mit einem breiten Grinsen zu mir um und fragte mich, was ich am Vormittag zu tun hätte. Ich antwortete, dass ich bis zum Mittag frei sei. Er schlug mir vor, ihn zu Mila zu begleiten, die vor zwei Tagen angekommen und im Rive Gauche Hôtel abgestiegen sei. Ich willigte ein.
Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass wir zuerst einen Kaffee im Biarritz getrunken haben, wo Branko mir lang und breit seine Reformprojekte für die politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Neuorganisation Jugoslawiens auseinandersetzte. Möglicherweise waren seine Vorstellungen sehr interessant, aber Ort und Zeit eigneten sich nur schlecht für eine Diskussion über die positiven Auswirkungen des Franziskanismus auf den Marxismus-Leninismus, sodass ich keinerlei Anstrengungen unternahm, um zu begreifen was er da erzählte. Außerdem dachte ich an Mila. In allen Ehren? Ich glaube nicht: Die Fotos gingen mir nicht aus dem Kopf. Ich war wild darauf, sie kennenzulernen, ich begehrte sie schon, als ob die Tatsache, dass sie in Paris war, schon dafür ausreichte, Branko zum Trotz Ansprüche auf sie zu erheben. Aber dieses Begehren war noch zu unbestimmt, um eine Hoffnung zu sein, und es machte mich zutiefst nervös. Ich wollte meiner Träumerei einen festen Grund verschaffen. Oder sie verdrängen.
Kurz, wir verließen schließlich doch noch das Biarritz. Branko machte noch einmal Halt an der Buchhandlung L’Unité, wo er ein paar Neuerwerbungen tätigte. Es verging eine weitere Viertelstunde. Dann zogen wir Richtung Hotel.
Inzwischen fällt es mir nicht ganz leicht, mich an das zu erinnern, was ich empfand, als ich, wenige Minuten, nachdem ich die Buchhandlung verlassen hatte, vor Mila stand. Man verstehe mich richtig, ich habe sie seither so gründlich kennengelernt, so oft betrachtet. Es erscheint mir geradezu kurios, dass sie einmal eine Fremde gewesen sein muss, der ich zum ersten Mal begegnete.
Doch glaube ich wohl, dass ich, zumindest in den ersten Sekunden nach Betreten ihres Zimmers, wie vom Donner gerührt gewesen sein muss. Sie wies keinerlei Ähnlichkeit mit den Fotos auf; ich war auf irgendein phantastisches Tier gefasst, auf eine Frau von wilder, harter, vielleicht verklemmter Schönheit, etwa wie diese Marie-ich-weiß-nicht-mehr, mit der ich, leider, einmal Umgang gehabt hatte. Und ich stand vor einer einfachen, außerordentlich einfachen Frau, die nur Ruhe und Sanftmut war. Heute frage ich mich, ob es nicht das war, was mir zuerst an ihr gefallen hat, diese Lauterkeit, diese Zärtlichkeit in Gesicht und Körper, diese ruhige Haltung, die sich so sonderbar neben Branko ausnahm, der nur gestikulieren konnte und permanent reden musste.
Das erste, was mich verwunderte, war, dass sie Branko nicht zu lieben schien. Nicht ein Mal bedachte sie ihn mit jenen Zärtlichkeiten, die sie ihm gewiss erwiesen hätte, wenn sie in ihn verliebt gewesen wäre: den Arm um ihn legen, sich an seine Schulter lehnen… Wenn sie zusammen waren, hielten sie sich fast nie die Hände, und allen Versuchen Brankos begegnete sie mit einer Art passivem und, meiner Treu, recht effizientem Widerstand. Das zweite war, dass sie sehr unglücklich schien. Das dritte, dass sie stets in meinen Gedanken zu lesen schien…
Während des ersten Monats ihres Aufenthalts sahen wir uns nur fünf oder sechs Mal. Ich hatte nur wenig freie Zeit. Sie empfing mich mit großem Vergnügen, akzeptierte meine Einladungen, lächelte mich unablässig an, betrachtete mich oft. Wir unternahmen lange Spaziergänge die Seine entlang oder am Palais-Royal. Wir gingen ins Theater. Nach und nach erfuhr ich Einzelheiten aus ihrem Leben. Bei jeder neuen Begegnung kannten wir uns etwas besser. Und doch schaffte ich es nie, mir eine einigermaßen zusammenhängende Meinung über sie zu bilden. Ich vermochte sie nicht zu beschreiben, konnte nicht sagen, ob sie schön oder hässlich war, klug oder blöde, oberflächlich oder tiefgründig. Ein- oder zweimal hielt ich sie für überdreht. Oder aber sie stellte so sonderbare Überlegungen an, dass ich mich fragte, ob sie sich nicht an der Grenze zum Flittchen bewegte. Aber vielleicht hatte ich nicht richtig verstanden? Branko hatte mich erstaunen können, aber ich hatte ihn schnell durchschaut. Sie indes nicht. Sie entglitt mir zwischen den Fingern, entzog sich immer der Definition, mit der ich sie einzukreisen suchte. Vielleicht war dies auch teilweise der Grund, warum ich mich in sie verliebte.
Teilweise. Ich hätte sie niemals beachtet, ich glaube sogar, dass ich sie niemals begehrt hätte, wenn Branko ein anderer gewesen wäre. Aber ich muss gestehen, dass mir die Vorstellung, dieses Muster an Ruhe und Zärtlichkeit, diesen Engel der Stille in den Armen jenes überspannten und dazu auch noch hässlichen Größenwahnsinnigen zu wissen, sehr rasch zu einer wirklichen Qual wurde.
Natürlich, das sage ich heute. Heute, nachdem ich Jugoslawien wieder verlassen habe, nachdem ich dieses Abenteuer bis zur Neige ausgekostet habe. Wie hat alles angefangen? Wie habe ich mich in Mila verliebt? Was ich sage, sage ich heute, in Kenntnis der Dinge. Ich erinnere mich an ein paar Fakten. Spricht das hinreichend für meine Parteilichkeit? Ich erinnere mich daran, dass Branko mein Freund war, dass es also eine Zeit gab, in der ich in ihm etwas anderes sah als einen überspannten Größenwahnsinnigen. Eine Zeit, in der Mila eine Fremde war, die auf ihren Fotos einem Mädchen ähnelte, das ich einmal sehr geliebt hatte. Aber was soll’s. Selbst wenn ich lüge, selbst wenn ich nicht sicher bin, dass die Dinge sich so abgespielt haben. Was bedeutet das schon, dieses Gewebe aus Tatsachen, dieses Gewebe aus Daten, diese in einem Notizheft vermerkten Treffen, diese Briefe, diese Erinnerungen an ein Lächeln, an Blicke, an Worte. Gewiss, ich habe alles ausgewählt, alles gefiltert, alles gedeutet. Ich lüge. Ich will nichts beweisen, aber ich will leben. Wird man mir glauben, wenn ich sage, dass ich es meiner Heuchelei verdanke, wenn ich heute noch am Leben bin? Ich verberge alles, was Anlass zu einer anderen Deutung geben könnte. Denn mir scheint zuweilen, dass die Gründe, die mich bewegt haben, weniger meine Liebe zu Mila betreffen als… Ich gerate auf ein Terrain, wo das kleinste Wort zu einer Gefahr wird.
Ich hatte mich in den Jahren zuvor zu viel mit mir selbst beschäftigt. Zu der Zeit, da ich Mila kennenlernte, war Branko mir eine Notwendigkeit. Was folgte, ist ein unerbittliches Räderwerk…
In den Monaten Januar und Februar war ich ungeheuer stark belastet. Meine Arbeit ließ mir kaum Zeit zum Atemholen. Branko habe ich nur ein einziges Mal gesehen. Ich begegnete ihm zufällig im Palais-Royal, er kam gerade aus der Nationalbibliothek, ich war auf dem Weg nach Hause. Wir gingen zusammen ein Glas trinken. Er wirkte sehr müde, sprach wenig (was bei ihm das Zeichen einer nahezu vollkommenen Erschöpfung ist). Ich fragte nach Neuigkeiten von Mila. Er antwortete mir, dass sie in Genf sei, ohne weiter darauf einzugehen, was sie dort tat. Mir kam unmittelbar nicht in den Sinn, mich darüber zu wundern. Ich verabschiedete mich rasch von Branko. Er ging jeden Tag in die Bibliothek, wo ich ihm mithin, wann immer ich die Gelegenheit dazu hatte, einen Besuch abstatten konnte.
Erst einige Zeit später wunderte ich mich über diese Reise in die Schweiz. Mila war in Paris, um an der Kunstakademie ein Vertiefungsstudium zu verfolgen, und das in Absprache mit ihrer Belgrader Fakultät. Es war also verwunderlich, dass sie das Studium mitten im Jahr unterbrach, um eine Reise zu machen. Genf war nicht gerade reich an antiker und mittelalterlicher Architektur, und ich sah wirklich nicht, was sie dort zu suchen hatte. Ich erfuhr die Gründe dieser Reise sehr viel später. Im Augenblick bedauerte ich ganz einfach nur ihre Abwesenheit. Sie kam gegen Mitte März zurück. Von diesem Zeitpunkt an und bis zu ihrer Abreise Ende Mai sah ich sie beinahe täglich. Ich verbrachte die meisten meiner Abende bei ihr, Branko leider auch. Wir hörten Musik. Manchmal redeten wir. Über dies und das. Über ihre Berufe, über das, was ich gerade tat, die Leute, die sie kannten, unsere gemeinsamen Freunde, die Maler, die ich zwei Jahre zuvor in Paris kennen gelernt hatte. Ich glaube, ich kannte sie zu diesem Zeitpunkt schon gut. Ich wusste, wie sie aufgewachsen war, wer ihre Familie war, wie sie durch den Krieg gekommen war, wie sie lebte. Ich lernte auch Branko besser kennen. Aber das interessierte mich weniger.
Nichts war schockierender als das Paar, das sie abgaben. Sie hatten absolut nichts gemein (ich übertreibe ein wenig, sie sprachen dieselbe Sprache). Sie war so schön, wie er hässlich war, so sanft wie er heftig, so ruhig wie er aufbrausend, so bescheiden, wie er rasend war.
Zumindest glaubte ich das. Sehr viel später erst sollte ich Mila in ihrem wirklichen Licht kennenlernen: leidenschaftlich, stolz…
Branko eröffnete mir eines Tages, dass sie beschlossen hätten, sich zu trennen. Sobald sie Paris verlassen würde, sollte er nicht mehr versuchen, sie wiederzusehen. Er würde bei seiner Frau in Sarajevo bleiben. Sie würde in Belgrad leben. An jenem Tag erklärte er mir auch, dass sie vor allem deswegen eingewilligt hatte, nach Paris zu gehen, weil sie vor ihm fliehen wollte, er aber alle Hebel in Bewegung gesetzt habe, um zur selben Zeit entsandt zu werden. Sie war wütend, als sie erfuhr, dass auch er ein Stipendium erhalten hatte. Durch diese Offenbarung trat mir fast alles an Milas Verhalten klar vor Augen. Ich war Branko böse. Ich jedenfalls musste Mila begegnen, denn Sreten hatte ihr in Belgrad einen Brief für mich mitgegeben.