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Überschreite die Grenze zwischen Licht und Schatten. Außerhalb der Wüstenstadt Madina offenbart sich Zeemira eine Welt in Trümmern. Gemeinsam mit ihrem Gefährten Jaleel muss sie sich nicht nur vor den zerstörerischen Lichtstürmen in Acht nehmen, sondern auch ihre Herkunft verbergen. Außer den raubtierhaften Masakh trachten noch andere nach dem Leben der Lichtgeborenen. Unerwartete Hilfe findet sie bei einem gefährlichen wie auch schweigsamen Flammentänzer. Der düstere Krieger scheint ein besonderes Interesse an Zeemira zu haben, doch kann sie ihm wirklich vertrauen? Während sie noch mit den Gefahren ihrer neuen Kräfte ringt, zwingt die geheimnisvolle Schattengilde Jaleel zum Handeln. Als daraufhin die Hohepriesterinnen in das Machtgefüge der Welt eingreifen, gerät dessen zerbrechliches Gleichgewicht bedrohlich ins Wanken. Die mitreißende Fortsetzung des magiegeladenen Abenteuers. - komplett überarbeitete Neuauflage -
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Seitenzahl: 427
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GedankenReich Verlag
N. Reichow
Neumarkstraße 31
44359 Dortmund
www.gedankenreich-verlag.de
GEBORENE DER VERDERBNIS
(Die Legende der Lichtgeborenen II)
2. Auflage
Text © E.F. v. Hainwald, 2017
Cover & Umschlaggestaltung: Phantasmal Image
Lektorat: Teja Ciolczyk
Korrektorat: Die Buchstabenflüsterin
Satz & Layout: Phantasmal Image
Innengrafiken © shutterstock, Künstler: Katja Gerasimova, Marzolino
ISBN 978-3-947147-27-4
© GedankenReich Verlag, 2022
Alle Rechte vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte.
Sand. Die Welt schien aus nichts anderem zu bestehen als grellem Sand. Er war überall, so weit das Auge zu blicken vermochte. Im heiß flimmernden Wind krochen die Dünen stetig wie eine alles vertilgende Raupe über das Land.
Zeemira zog sich die Kapuze ihres tiefbraunen Mantels noch weiter ins Gesicht. Immerhin schützte er sie vor den gleißenden Sonnenstrahlen – wenn er schon nicht die wehenden Sandkörner davon abhalten konnte, in jeder Falte ihres weißen Heilerinnengewandes kleine, immerzu wachsende Häufchen zu bilden. Obwohl sie erst ein paar Tage im Sattel ihres Pferdes verbracht hatte, kam es ihr vor, als wären es bereits Wochen. Die gleichförmige Landschaft, die sengende Hitze und die Stille der Wüste nagten an ihr.
Sie blickte unter dem zart bestickten Saum des Stoffes hervor zu ihrem Gefährten, der einen besonderen Platz in ihrem Herzen eingenommen hatte.
Jaleel ritt stumm neben ihr her und hatte sich in seinen schwarzen Mantel gehüllt. Zeemira sah nur sein mittlerweile mit dunklen Bartstoppeln überzogenes Kinn, der Rest seines Gesichtes lag ebenso im Schatten wie ihr eigenes. Man konnte fast vermuten, dass er ein einfacher Wanderer war – so wie es sein Spitzname Jal implizierte – wäre da nicht das Langschwert, dessen schlichter Griff seine Schulter überragte. Der Krieger hatte seine großen Hände nur locker um das Zaumzeug seines Reittieres gelegt und ließ es gemächlich dahin traben. Die beiden Reisenden konnten lediglich erahnen, wohin sie ritten. Es brachte nichts, die Tiere zu hetzen, selbst wenn sie zu einer hitzeresistenten Zucht gehörten.
Zeemira und Jal hatten sich gen Westen gewandt, mit Kurs auf den letzten Ursprung des Lichtsturms. Da er niemals zweimal hintereinander aus derselben Richtung über das Land hinwegfegte, war das zumindest vorerst eine sichere Wahl gewesen. Dieses alles Leben vernichtende Phänomen mit seinen zarten Schleiern aus Licht, hatte die karge Landschaft erschaffen. Es waren nur weit verstreute, brüchige Ruinen von den Städten des Langen Vorher – dem Sabiqaan – übrig geblieben, doch auch diese würden mit der Zeit verschwinden. Nur Madina, die Stadt unter dem Schutzschild des Artefaktes Abadaan Jawhaar, trotzte den Lichtstürmen mitten im Herzen der Wüste.
Wehmütig dachte Zeemira an ihre Heimat, die sie zusammen mit Jal hinter sich gelassen hatte. Sie schaute über ihre Schulter in die Richtung, in der sie Madina vermutete, und seufzte leise. Sie würde niemals dorthin zurückkehren können.
Als sie ihren Blick wieder nach vorn richtete, hatte Jal seinen Kopf gehoben und schaute sie an. Der Sand reflektierte das Sonnenlicht und spiegelte sich in seinen grünen Augen wider. Ein wohliger Schauer lief ihr den Rücken hinab – sie war nicht allein. Für ihn hatte sie ihre Heilfähigkeiten geopfert. Doch nur ein Blick von ihm reichte ihr, um die Schwere der Vergangenheit aufwiegen zu können.
Zeemira lächelte.
Jal zog fragend seine dunklen Augenbrauen nach oben.
»Vermisst du die Stadt bereits?«, fragte er.
»Es ist alles, was ich bisher gekannt habe. Loslassen ist offensichtlich nicht so meine Stärke.« Ihr Lächeln verzog sich.
Der Krieger senkte für einen Moment den Blick.
»Zum Glück – sonst wäre ich jetzt nicht bei dir«, sprach er mit sanfter Stimme.
Zeemira schwieg und blickte zum Horizont, dem sich die Sonne immer weiter näherte.
»Lass uns kurz nach Sonnenuntergang eine kleine Pause machen. Auch wenn wir im Sattel eindösen können, die Tiere benötigen Rast. Wir reiten in der Nacht weiter«, hörte sie Jal sagen, woraufhin sie gedankenverloren nickte.
Sobald der Glutball am Himmel seiner silbernen Schwester Platz gemacht hatte, brach schnell die Nacht über die Wüste herein.
Nach Einbruch der Nacht stiegen sie von ihren Pferden. Zeemira streckte sich und ihre Knochen knackten. Ihr Körper war es nicht gewohnt, so lange zu reiten, und die Sandkörner scheuerten ihre Haut wund. Sie öffnete ihren Mantel, breitete ihn aus und ließ sich darauf nieder.
Der Sand war noch angenehm warm, würde jedoch bald auskühlen und die Luft empfindlich kalt werden. In der Wüste hielt nichts die Wärme des Tages fest. Sie legte sich auf ihren Rücken und ihre kupferroten Haare umrahmten ihr Gesicht wie ein glühender Schein. Tausende Sterne schimmerten am Nachthimmel und Erinnerungen zogen vor ihrem geistigen Auge vorüber. Zeemira dachte erneut an das, was sie zurückgelassen hatte.
Da waren Geel und Jabeehra. Die zwei Geschwister waren erfolgreiche Händler und ihre engsten Freunde, obwohl sie die beiden selten gesehen hatte. Beide befanden sich ständig auf Reisen in den Außenländern – ob sie die Zwei dort irgendwann wiedersehen würde?
Jals Kameraden Eerol und Shaheena würden vermutlich gerade gut gelaunt die Weinfässer einer Taverne leeren. Ihre Unbeschwertheit hatte Zeemira stets zum Lachen gebracht und ihre eigenen Sorgen verblassen lassen. Sie vermisste alle schrecklich und fragte sich, ob es Jal genauso ging.
Zeemira wusste trotz allem nur wenig von ihm. Er hatte sich schon immer von den anderen Soldaten Madinas unterschieden.
Die Krieger der Stadt waren auf schiere Kraft trainiert und mussten dem regelmäßigen Ansturm der wilden Masakh, einer lebendigen Mauer gleich, standhalten, während die Heilerinnen sie am Leben erhielten. Jal hingegen pflegte einen beinahe hinterhältigen Kampfstil – schnell, präzise und tödlich. Dadurch war er gefährlich schlank und athletisch. Er hüllte sich weiterhin in Schweigen, was seine Herkunft betraf. Zeemira wusste nur, dass der blutrot gekleidete Jäger, der ihn verfolgt hatte, irgendwie eine Verbindung zu seiner Vergangenheit darstellte.
Die Erinnerung bereitete ihr eine Gänsehaut. Er hatte Jal getötet und im Sturm ihrer Gefühle waren Zeemiras Fähigkeiten zur vollen Macht erwacht. Sie hatte diese genutzt, um die Angreifer mit geradezu spielerischer Leichtigkeit zu töten. Daraufhin hatte sie das innere Licht – die Quelle ihrer Kraft – verlassen und nur in einer letzten Anstrengung ihrer Fähigkeiten, hatte sie ihn ins Leben zurückholen können.
Jal hatte wohl recht – er lebte, weil sie ihn nicht hatte loslassen wollen.
Nun war sie eine Lichtgeborene ohne Kräfte. Konnte sie vorher ihren eigenen Körper ebenso beeinflussen wie die der Krieger, und dadurch wesentlich stärker und schneller sein als vermutet, so war sie nun eine einfache Frau, ohne jegliches Training für den Kampf.
Zeemira hob den funkelnden Sternen ihre Hand entgegen. Die Luft war kristallklar – es wirkte, als könnte sie den Himmel berühren. Sobald sie ihren Arm ganz ausgestreckt hatte, überkam sie ein überwältigendes Gefühl der Weite. Ihre im Mondlicht bleich schimmernde Haut betrachtend, fragte sich Zeemira, ob jemals wieder heilendes Licht durch sie strömen würde.
Eine gebräunte Hand umfasste sanft ihr Handgelenk und zog es nach oben. Mit ihren Augen folgte sie der Bewegung und beobachteten, wie Jaleel vorsichtig ihre Finger küsste. Sein Bart kitzelte und sie musste unwillkürlich grinsen.
»Ich glaube, selbst in der dunkelsten Nacht leuchtet deine weiße Iris wie der Mond, auch wenn du deine Kräfte nicht mehr einsetzen kannst.« Er schien ihre Gedanken gelesen zu haben.
»Ich bin leicht zu durchschauen, was?«, ihre Stimme war nur ein Flüstern.
»Ich kann nur nicht so einfach wegschauen«, murmelte er und sie fühlte seinen warmen Atem an ihrem Handgelenk.
Er hatte seine Kapuze zurückgeschlagen und Zeemiras Finger spielten mit seinem zerzausten, schwarzen Haar. Sand rieselte auf ihre Lippen, sie prustete und machte ein mürrisches Gesicht.
»Werde ich dich je wieder ohne knirschende Sandkörner zwischen meinen Zähnen küssen können?«, quengelte sie.
»Mhm, ich weiß nicht. Aber du wirst dich daran gewöhnen. Fangen wir gleich mal mit dem Training an.« Jal hob anzüglich die Augenbrauen, beugte sich tiefer zu ihr hinab und seine Lippen streiften zärtlich die ihren.
Farbiges Licht fiel durch die hohen Spitzbogenfenster, umschmeichelte die kunstvollen Ornamente an den Wänden und verlieh ihnen eine fremdartige Lebendigkeit. Ein über die Wände gleitender Schatten entriss sie ihnen sofort wieder, als würden sie dahinwelken.
Maheens Schritte waren lautlos – sie glitt mit unmenschlicher Leichtigkeit durch die Gänge. Ihr langes, weißes Gewand umfloss ihren Körper wie Wasser und die braunen, sauber hochgesteckten Haare offenbarten keine einzelne lose Strähne. Die Hohepriesterin war tief in Gedanken versunken. Ihre Tochter Zeemira war aus dem unsichtbaren Käfig entkommen, den Madina für eine Lichtgeborene bildete. Ihre Kraftlosigkeit schützte sie vor der direkten Wahrnehmung der anderen, allerdings war sie nun hilflos.
Die Situation wäre Maheen beinahe aus den Händen geglitten, als herausgekommen war, dass ihre Tochter sich mit einem Soldaten für mehr eingelassen hatte, als nur ein Schäferstündchen. Der Schatten des Todes hatte bereits an der Schwelle gestanden. Nur die verzweifelte Offenbarung der Hohepriesterin gegenüber ihrer Tochter, hatte ihn abwenden können. Es war Glück im Unglück gewesen, dass sich der Krieger Jaleel gleichermaßen in sie verliebt hatte und sie nun begleitete.
Ein Gefühl von Verärgerung stieg in ihr auf, sie erstickte es jedoch sofort.
Gefühle trübten das Urteilsvermögen – eine der wichtigsten Lektionen für eine Hohepriesterin und diejenige, die Zeemira am häufigsten verletzt hatte. Maheen konnte sich diese Schwäche nicht leisten und musste ihre künftigen Schachzüge noch sorgfältiger planen, als in den vorangegangenen Jahrzehnten. Zeit war für eine Hohepriesterin nur eine Randerscheinung, lebten sie doch aus menschlicher Sicht überaus lang. Dadurch konnten sie viel vorausschauender und mit schier unendlicher Geduld Pläne schmieden.
Maheen hielt inne, trat an eines der Fenster und blickte hinaus. Tief unter der Kathedrale erstreckte sich die Stadt weit in die Wüste hinaus. Die prachtvollen Anwesen der reichen Gesellschaftsschichten befanden sich der Kathedrale am nächsten und reihten sich wie eine Perlenschnur entlang der lebensspendenden Flüsse auf, die unter dem Gebäude entsprangen. Die Behausungen weiter weg wurden schnell schmaler, bis sie schließlich in den trockenen Armenvierteln mündeten. Die Häuser dort waren grobe Verschläge, die man schief übereinander getürmt hatte. Die meisten gipfelten in kleine, krumme Türmchen mit vermutlich herrlicher Aussicht auf enttäuschte Hoffnungen und die todbringenden Dünen der Wüste.
Die Stadt war ein Machtinstrument, das Einfluss auf die gesamte Welt hatte. Nur die wenigsten waren sich dessen gewahr. Maheen würde das zu ihren Gunsten zu nutzen wissen, aber zuerst galt es, den Argwohn der anderen Hohepriesterinnen ihr gegenüber zu zerstreuen – denn es lag der Schluss nahe, dass sie ihrer Tochter geholfen hatte.
Irgendwo jenseits der Wanderdünen war ihre geliebte Zeemira. Sie konnte nur hoffen, dass sie schnell einen sicheren Ort erreichen würde. Dieses kurze Aufflackern von Sorge und mütterlicher Liebe war das Einzige, das sie sich zugestand.
Ein plötzliches Geräusch erregte Maheens Aufmerksamkeit. Sie senkte ihre Lider und horchte auf. Ihre Sinne waren, ebenso wie ihr Körper, ein Spielball ihres Willens und immerzu auf das Äußerste geschärft. Die anderen Lichtgeborenen musste sie als primäres Hindernis für ihre Pläne betrachten, daher konnte sie sich keine Überraschungen leisten.
In der unteren Etage lief jemand, dessen Gangart auffallend hastig war. Er steuerte die Treppe an und eilte herauf. Die Schritte schlugen ihre Richtung ein. Maheen wandte sich zu den Geräuschen und faltete ihre Hände vor ihrem Schoß. Sie wartete.
Nach kurzer Zeit kam ihr ein junger Mann entgegen. Er war hochgewachsen und hatte strohblondes Haar. Seine Kleidung war schlicht, doch von so hervorragendem Schnitt, dass seine Körperformen positiv betont wurden. Filigrane, goldene Ornamentik zierte den Kragen seines violetten Hemdes. Scharfen Schrittes kam er auf sie zu, stoppte vor ihr und verbeugte sich elegant.
»Ehrenwerte Hohepriesterin Maheen. Wie schön, Euch anzutreffen. Ich wurde gesandt, um Euch einzuladen, mit diversen Händlern zu sprechen«, begann er mit fehlerloser Aussprache.
»Händler? Hier in der Kathedrale? Wenn wir etwas mit euresgleichen zu verhandeln haben, senden wir unsere Kontaktpersonen«, antwortete sie knapp.
Außerdem behelligt man damit keine Hohepriesterin, fügte sie gedanklich hinzu.
»Das ist richtig, ehrenwerte Dame. Es handelt sich jedoch um ein spezielles Angebot, das nur den höchsten Autoritäten der Kathedrale gilt. Die Heilerinnen der Verwaltung haben das schnell erkannt und uns daher an Euch verwiesen«, antwortete er.
Maheen zog langsam eine Augenbraue nach oben.
»Es gibt nichts, was der Kathedrale derart wichtig wäre«, entgegnete sie kühl und wollte sich bereits abwenden.
Sie hatte keine Zeit für einen solchen Unsinn.
»Ich denke, das solltet Ihr entscheiden, sobald Ihr das Angebot gehört habt. Die Weisheit der Hohepriesterinnen ist schließlich unangefochten«, antwortete er blitzschnell. »Bei ungeplanten Reisen kann es sehr hilfreich sein, die richtigen Dinge dabei zu haben – vor allem, wenn man allein in der Wüste unterwegs ist.«
Sie hielt inne. Ihre weißen Augen musterten das Gesicht des Mannes. Jedes seiner perfekt gesprochenen Worte mutete auswendig gelernt an. Man mochte fast meinen, jeder Satz wäre auf Maheen abgestimmt worden.
Meint er Zeemira, fragte sie sich, dochkeine Veränderung der Gesichtszüge verriet die Gedanken der Hohepriesterin.
Nach reiflicher Überlegung entschied sie sich für eine Regung: Sie seufzte genervt.
»Nun gut. Bevor Ihr die kostbare Zeit der anderen Hohepriesterinnen auch noch verschwendet, schaue ich mir Euer Angebot an. Sollte es jedoch völliger Unsinn sein, werdet Ihr für Eure Unverfrorenheit niemals wieder ein gutes Geschäft in dieser Stadt machen«, erwiderte sie und hob missbilligend das Kinn.
»Ich verstehe, hohe Dame. Ich bin mir jedoch sicher, dass es von beidseitigem Gewinn sein dürfte.« Seine Antwort war so aalglatt wie die vorherigen.
Maheen musste zugeben, dass sie ein wenig beeindruckt war.
Sie folgte dem blonden Händler durch den Gang und die Treppe hinunter in das untere Stockwerk. Sie traten hinaus in den prächtigen Garten der Kathedrale, mit seinen verglasten Zierbögen inmitten von duftenden Blumenbeeten. Er wählte einen der zahlreichen verschlungenen Wege und sie liefen schweigend durch ein Meer aus Farben. Schmetterlinge und Bienen flogen geschäftig umher und labten sich am Nektar der Blüten.
In einem mit Rosen überrankten Pavillon wartete eine ihr unbekannte Frau. Sie hatte langes, glattes Haar von dunkler Farbe. Ihr cremefarbenes Kleid mit dem integrierten Korsett war ideal auf ihre üppigen Körperformen abgestimmt. Als sie die Schritte der beiden vernahm, drehte sie sich um und lächelte. Um ihren Hals hing eine goldene Kette mit einem Anhänger, der im Sonnenlicht türkis funkelte. An ihren Ohren hingen dazu passende Schmuckstücke.
Maheen kam zu dem Schluss, dass diese beiden nicht zu jenen schmierigen Händlern gehörten, die man sonst auf den Märkten der Stadt vorfand und ihren billigen Tand für echte Artefakte des Sabiqaans ausgaben.
»Guten Tag, ehrenwerte Dame«, grüßte die Frau und senkte ihr Kinn.
Der junge Mann, welcher Maheen hierher geführt hatte, trat neben sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Dies ist meine Schwester Jabeehra, mein Name ist Geel. Wir denken, eine Zusammenarbeit könnte sehr fruchtbar sein.« Sein Lächeln war makellos.
Zeemira schaute sich immer wieder um und suchte mit ihren Augen den fernen Horizont ab.
Jal spürte ihre wachsende Unruhe, hatte jedoch selbst Mühe, seine eigene unter Kontrolle zu halten. Es war bereits zu lange ruhig über der Wüste, ein Lichtsturm sollte bald aufziehen – und die Heilerin hatte bisher keine Möglichkeit verlauten lassen, wie sie dem entkommen könnten.
Zeit, die Trümpfe auszuspielen, dachte er nervös. Ihre Mutter wird uns nicht blind ins Verderben reiten lassen.
Das hoffte er jedenfalls.
»Sag mal … hat dir die Hohepriesterin – ich meine: deine Mutter – verraten, wie wir einen Lichtsturm hier draußen überstehen können?«, fragte er dann doch direkter, als er eigentlich vorgehabt hatte.
Zeemira hielt ihr Pferd an und starrte auf den sandigen Boden. Das war kein gutes Zeichen.
»Nun … sie hat mir etwas mitgegeben und gesagt, das würde mir helfen«, antwortete sie langsam.
»Dann raus damit, ich denke, wir haben nicht mehr viel Zeit«, entgegnete er drängend und lotste sein Reittier nahe an ihres heran.
Zeemira kramte unter ihrem Mantel und holte ein Knäuel aus bunten Tüchern hervor. Vorsichtig entfernte sie den Stoff. Ein Stück Metall kam zum Vorschein – der Griff eines Dolches. Sie zog ihn heraus und hielt ihm den Gegenstand hin. Jal nahm ihn und untersuchte ihn kritisch.
Die Waffe schien aus purem Silber zu bestehen, war aber durchzogen von seltsamen, rötlich schimmernden Aderungen. In der Mitte des Griffes prangte ein großer, durchsichtiger Kristall. Er war nicht veredelt und rauchig, schön anzusehen, aber von keiner guten Qualität. Die Klinge selbst war ebenso unspektakulär.
»Und wie soll der uns helfen?«, fragte er zögerlich und runzelte seine Stirn.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung!«, ächzte Zeemira plötzlich und legte frustriert ihren Kopf in den Nacken.
Jal stand der Mund offen.
»Das kann nicht dein Ernst sein!«, keuchte er.
»Doch, ist es.« Die Heilerin rieb sich die Augen. »Meine Mutter sagte nur, es würde mich in Sicherheit geleiten. Das war's.«
Jal starrte sie mit großen Augen an, seufzte schließlich und plötzlich grinste er breit.
»Was ist los?« Sie war offensichtlich verwirrt. »Bist du nun übergeschnappt?«
»Nein. Ich habe nur eben gemerkt, dass mich deine Mutter mehr mag als dich. Jawohl.« Er kicherte wie ein kleines Schlitzohr.
»Ganz offensichtlich bist du irre geworden. Brauchst du einen Schluck Wasser?« Sie schürzte die Lippen und funkelte ihn mit ihren hellen Augen verärgert an.
Jal grinste nur weiter und kramte ebenfalls unter seinem Mantel. Er zog eine Schriftrolle hervor und rollte sie auf.
»Tadaaa!«, rief er und macht mit der anderen Hand eine theatralische Geste.
»Was soll das sein?« Die Heilerin beugte sich vor und kniff die Augen zusammen, um besser erkennen zu können, was auf dem vergilbten Papier stand. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Eine Karte?«, hauchte sie, woraufhin der Krieger nickte. »Meine Mutter hat dir eine Karte gegeben und mir einen nutzlosen Dolch?«
»Ich sagte doch: Mich liebt sie offensichtlich. Bei meinem Charme ist das wohl auch verständlich.« Er schniefte betont.
»Tja«, nun gluckste auch Zeemira, »so erkläre mir bitte, wo wir lang müssen, du perfekter Schwiegersohn.«
Jal drehte die Karte um und studierte sie. Sein Lächeln gefror und verschwand langsam gänzlich. Er konnte kein Wort auf der Karte entziffern. Offensichtlich war das Sechseck mit dem stilisierten Spitzbogen in der Mitte, die Stadt Madina. Drumherum waren seltsame Symbole in der Wüste verteilt. Manche Stellen kannte er, dort waren Oasen oder Ruinen zu finden. Es gab jedoch Zeichen und Wörter an verschiedenen Stellen, die er nicht im Ansatz deuten konnte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wohin sie reiten sollten.
»Nun?«, spottete Zeemira mit honigsüßer Stimme. »Nur zu, mein charmanter, bezaubernder Krieger.«
Jal grunzte nur. Hatte Maheen sie nun doch beide verraten? Es käme der Kathedrale sehr gelegen, würden sie hier verschwinden. Zwei Leichen in der Wüste würde niemand finden und keine unangenehmen Fragen aufwerfen – man wäre Zeemira losgeworden, keiner würde sich daran stören.
»Gib mal her, ein paar Worte der alten Sprache haben wir in der Kathedrale gelernt«, sagte sie nun ernst.
Beide wussten, dass ihnen der nächste Lichtsturm, ohne eine Zuflucht, das Fleisch von den Knochen reißen würde – wortwörtlich. Jal reichte ihr das Papier.
»Mhmmm.« Zeemira strich mit einem Zeigefinger die Karte entlang. »Dieses Wort hier bedeutet Energielinie und dieses Maximum.«
Sie murmelte weiter vor sich hin.
»Die Worte Strömung und Linse stehen immer zusammen. Interessant ist, dass dies genau an allen sechs verlängerten Ecklinien des Schutzschildes von Madina steht. Hier und hier, siehst du?« Sie hielt die Karte zu Jal gewandt neben ihr Gesicht und zeigte auf die entsprechenden Stellen.
»Und wie soll uns das weiterhelfen?« Er brummte mürrisch.
»Das weiß ich auch nicht so genau, aber es sind die einzigen Stellen, die mit absoluter geometrischer Genauigkeit und Symmetrie eingezeichnet sind – die anderen Symbole sind lose verteilt. Es muss also bedeutend sein, denn als ich in der Bibliothek nachgeforscht habe, um meine Fähigkeiten wieder zu erlangen, habe ich bemerkt, dass den Menschen vom Sabiqaan so etwas sehr wichtig war. Es sind also vermutlich Orte, die geschützt sein könnten.« Sie nickte bestätigend und schien sich recht sicher zu sein.
Jal atmete laut aus. Das war der einzige Hinweis, den sie hatten. Trotzdem war er argwöhnisch und ein säuerlicher Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Hohepriesterin Maheen war gerissen. Dadurch, dass die Karte in der alten Sprache verfasst war, konnte er ohne Zeemira nichts damit anfangen – er war also auf sie angewiesen.
So viel zum Vertrauen. Ihre Mutter wollte ganz sichergehen, dass ich bei ihr bleibe und sie beschütze, erkannte er. Aber wenn ich ehrlich bin, hätte ich es vermutlich genauso gehandhabt.
Letztendlich zuckte er mit den Schultern.
»Dann lass uns einen solchen Ort suchen. Wir sind genau nach Westen geritten. Es kann nicht mehr so weit entfernt sein«, beschloss er.
»Dann los!« Zeemira rollte die Karte wieder zusammen und gab sie Jal zurück.
Nachdem sie sich am Sonnenstand orientiert hatten, schlugen sie die entsprechende Richtung ein und hielten Ausschau nach seltsamen Strukturen. Lange ritten die beiden dahin, ohne etwas zu finden. Schließlich stand die Sonne schon tief am Himmel und Jal verlor die Geduld.
»Hier ist nichts! Nur noch mehr Dünen. Wenn es hier mal etwas gab, haben die Lichtstürme es längst dem Erdboden gleichgemacht«, stieß er entnervt hervor.
»Ob wir uns bei der Entfernung verschätzt haben? Vielleicht stimmt auch die Richtung nicht ganz«, gab Zeemira zu bedenken.
»Man kann meilenweit sehen, nichts behindert unsere Sicht. Wir hätten etwas bemerkt, auch wenn wir vom Weg abgekommen wären. Und so stark können wir nicht abgewichen sein.« Jal knirschte mit den Zähnen.
»Lass uns noch mal auf die Karte schauen – wir haben vielleicht etwas übersehen und …«, sie stockte.
»Was ist los?« Jal hob seine Augenbrauen.
»Ich … fühle mich seltsam«, meinte Zeemira nach einigen Momenten.
»Was meinst du? Bist du durstig?«, fragte er entnervt.
»Unsinn, ich kann ja wohl Durst von einem anderen Gefühl unterscheiden.« Sie drehte sich im Sattel um und erstarrte.
Jal folgte ihrem Blick und keuchte auf. Am Horizont hinter ihnen schimmerten dünne leuchtende Bänder – ein Lichtsturm näherte sich. Er hatte Madina sicher schon vor einiger Zeit eingehüllt und die Stadt hinter sich gelassen.
»Verdammt! Wir haben absolut keine Ahnung, wo wir Schutz finden können. Deine Mutter hat uns in den Tod geschickt!«, seine Stimme überschlug sich.
Im Kampf dem Tod gegenüberzutreten war die eine Sache, da hatte er noch ein klein wenig Macht über sein Schicksal. Doch das hier war eine ganz andere Geschichte.
»Los!«, rief er und gab seinem Pferd die Sporen.
Zeemira tat es ihm gleich, sie jagten dahin und der Gegenwind riss beiden die Kapuzen von den Köpfen. Plötzlich rief sie ihm etwas zu. Er konnte es kaum hören und drosselte die Geschwindigkeit seines Pferdes ein wenig, sodass sie zu ihm aufschließen konnte.
»Was?«, schrie er.
»Der Dolch!«, rief sie zurück.
»Was ist mit dem verdammten Ding?« Sie hatten seiner Meinung nach keine Zeit zu verlieren.
»Er vibriert!« Sie zog hart an dem Zaumzeug ihres Reittieres, um es anzuhalten.
»Bist du verrückt? Wir dürfen nicht stehen bleiben! Vielleicht finden wir doch noch etwas!«, schrie er aufgebracht.
Selbst wenn nicht, ist es immer noch besser, in Bewegung zu bleiben, als auf den sicheren Tod zu warten, dachte er weiter.
Zeemira packte hastig den Dolch ihrer Mutter aus. Er vibrierte so stark, dass er ihr fast aus der Hand sprang.
»Er zieht meine Hand in Richtung des Sturmes«, erklärte sie, legte ihn auf ihre flache Hand und er drehte seine Klinge gen Osten – nach Madina.
»Ob er uns etwas zeigen will?«, mutmaßte sie. Für ihre derzeitige Situation und die Gefahr, die damit einherging, blieb sie erstaunlich ruhig.
»Vielleicht regiert er auch nur auf den Sturm oder das Artefakt. Wir wissen nichts!«, schnappte er aufgeregt.
»Vielleicht …« Sie riss ihr Pferd herum.
»Was tust du? Hast du nun völlig den Verstand verloren?«, zischte er.
»Wir können vor einem Sturm nicht davonlaufen und es gibt nichts in Sichtweite, das wir erreichen könnten«, ihre Stimme war nur ein Piepsen. Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben, obwohl sie kalkuliert dachte. »Aber wir haben keine Wahl. Wir müssen den Worten meiner Mutter vertrauen. Sterben würden wir in jedem Fall.«
Zeemira drückte ihre Fersen fest in die Seiten ihres Pferdes und ritt dem Sturm entgegen. Jal fluchte laut, lenkte jedoch auch sein Pferd um und ritt ihr nach. Am Himmel rauschten die dunklen Wolken mit beängstigender Geschwindigkeit auf die beiden zu. Zwischen ihnen formten die Lichtbänder strahlende Schleier, die immer länger in Richtung Boden wuchsen. Die Geräusche der Pferde und des Windes wurden dumpfer und er fühlte, wie sein Schwert zu summen begann. Seine Zähne brannten leicht. Er kannte dieses Gefühl – der Lichtsturm war sehr nahe. Nun zögerte er doch und bremste sein Reittier. Es scheute und wollte sich umdrehen, flüchten vor dem strahlenden Tod am Himmel. Zeemira schoss noch dahin, aber plötzlich bäumte sich auch ihr Tier auf und warf sie rückwärts ab.
»Zeemira!«, rief er und sprang von seinem Pferd.
Die Heilerin landete weich im Sand, rappelte sich jedoch sofort auf und zog erneut den Dolch hervor. Sie schnappte danach, als er ihr fast von der Hand sprang, und hastete keuchend weiter.
»Du bist wahnsinnig, komm zurück!«, brüllte er aus voller Kehle. Er konnte kaum seine eigenen Worte hören – der Sturm hatte sie fast erreicht.
Jal stieß sich vom Boden ab und rannte Zeemira hinterher. Ihr Mantel flatterte, das weiße Heilerinnengewand blitzte hervor und ihre roten Haare wehten hinter ihr her wie Flammen.
Nein, nein, nein!
Seine Gedanken überschlugen sich.
Plötzlich bremste Zeemira abrupt ab. Die Zeit schien auf einmal sehr zäh zu vergehen. Sie drehte sich langsam zu Jal um und er sah ihre kupfernen Haarsträhnen vor ihren vor Angst weit aufgerissenen Augen fliegen. Er schrie ihr entgegen, doch kein Ton verließ seine heisere Kehle. Der Stoff ihres Kleides wiegte sich sanft in der Luft und auf ihrer flachen Hand blendete ihn kurz ein silbernes Glitzern. Der Dolch drehte sich wie ein Kreisel um sich selbst.
Jal streckte ihr seinen Arm entgegen.
Zeemira tat es ihm gleich und ließ dabei den Dolch fallen, der daraufhin wie eine Feder zu Boden glitt. Ihre schmale Hand griff nach ihm und er sah zwischen seinen ausgestreckten Fingern hindurch wie funkelnde Tränen die Lider ihrer wunderschönen Augen zum Schimmern brachten.
Jals Fingerspitzen waren den ihren ganz nah, ihre Lippen formten lautlos und unendlich langsam ein Wort – seinen Namen.
Dann wurde alles weiß.
Der Himmel war ein wogendes Meer aus strahlenden Schleiern. Die Stadt Madina schien in zarter Seide zu baden und der bläulich schimmernde Schutzschild des Abadaan Jawhaar erzeugte die Illusion, an den zarten Bändern des Sturmes würden Abertausende Tautropfen glitzern. Die Wellen aus Licht ließen sämtliche Schatten fast gänzlich verschwinden, sodass die Welt beinahe wie ein Gemälde wirkte. Kein Lüftchen war zu spüren und die unheimliche Stille, die mit dem Sturm einherging, zeugte von der Abwesenheit jeglichen Lebens.
Schönheit täuscht häufig über große Gefahr hinweg, dachte Maheen, als sie aus dem hohen Fenster auf die Stadt hinabblickte, deren Gebäude sich eng in diesem geschützten Raum zusammenkauerten.
Ihre Augenbrauen zuckten kurz – sie hatte Kopfschmerzen. Der Sturm mit seinen seltsamen Auswirkungen ging selbst im Schutz des Artefaktes nicht an ihren feinen Sinnen vorbei. Die Hohepriesterin konnte sein Tosen spüren – es war, als würde immerfort eine Gabel in ihrem Schädel rühren.
Maheen war überreizt und innerhalb eines Blinzelns wies sie ihre Nervenzellen an, die Wahrnehmungen zu reduzieren. Nach wenigen Momenten verebbten die Schmerzen zu einem sanften Wummern hinter der Stirn. Zum Glück würde es den anderen Hohepriesterinnen genauso ergehen, sie konnte sich in Gegenwart der anderen, ohne ihre künstlich geschärften Sinne, keinen unaufmerksamen Moment leisten.
Vor allem nicht beim Konzil, denn dort waren sie alle anwesend, inklusive dem nutzlosen Hohepriester Sameer – dem einzigen Mann in diesem machtvollen Kreis. Die Natur hatte ihm durch sein Geschlecht von vorneherein die Macht einer Lichtgeborenen versagt. Er war ein normaler Mensch, der jedoch aufgrund dieser Umstände eine oft interessante und ergänzende Meinung bei Beschlüssen hatte.
Also gut, gab Maheen in Gedanken zu, er ist also nur beinahe nutzlos.
Die Hohepriesterin wandte sich vom Fenster ab und schritt den Gang entlang. Nachdem sie den weitläufigen Raum des Artefaktes betreten hatte, spürte sie in ihren Knochen dessen kaum wahrnehmbares Summen. Der mächtige Schutz des von drei goldenen Ringen umgebenen Kristalls beeinträchtigte seine lebensspendende Funktion glücklicherweise nicht. Ohne das Artefakt gäbe es inmitten dieser Einöde kein Wasser – wie auch immer es das Hinaufpumpen und Reinigen des kühlen Nasses aus den Tiefen der Erde bewerkstelligte. Aaminah, eine der anderen Hohepriesterinnen, befasste sich eingehend mit diesem Sachverhalt. Maheen hatte jedoch kein wirkliches Interesse daran.
Andere Dinge beschäftigten sie – vordergründig die Handelsbeziehungen in die Außenwelt, vor allem jenseits der Wüste. Im Geheimen allerdings die verschiedenen Überlieferungen vom Sabiqaan – vor allem jene der Körpermanipulation. Die hoch entwickelten Menschen der Vorzeit hatten es verstanden, die Gesetze der Natur derart zu beugen, dass sie gottgleich schienen. Und Maheen dachte nicht daran, irgendwelche Erkenntnisse, die sie gewann, mit den anderen zu teilen. Man wusste schließlich nie, wann man einen Vorteil gebrauchen konnte.
Mit diesen Gedanken schritt sie zu der gewölbten Tür am Rand des Raumes. Ein zarter Fingertipp von ihr genügte, um die riesigen Türblätter lautlos aufschwingen zu lassen. Dieser Umstand versetzte sie, trotz ihres langen Lebens, immer wieder in Ehrfurcht vor den Erbauern der Kathedrale. Selbst wenn Maheen ihre Sinne auf das Höchste schärfte, konnte sie nichts hören. Schon allein diese Tür war reine Perfektion – vom Rest des Gebäudes ganz zu schweigen.
Zeit, sich zu konzentrieren, ermahnte sie sich, während sie langsam den Raum betrat.
Das farblose Licht, das von den Glasbildnissen in der riesigen Deckenkuppel ausging, war wohltuender Balsam für Maheens Augen. Niemals war es zu hell oder zu dunkel, es schonte ihren magisch verbesserten Sehsinn.
»Wir sind nun also vollzählig. Ihr seid ein wenig spät«, begrüßte Hohepriester Sameer sie mit kratziger Stimme und hob seine schlanke, faltige Hand.
Er war älter als Maheen – um mindestens einhundert Jahre – weil Hohepriesterin Pheedre ihn in regelmäßigen Abständen mit ihrer Macht am Leben erhielt. Wie genau sie das anstellte, war ihr persönliches Geheimnis. Jede der Hohepriesterinnen schien mindestens eines zu haben.
»Ich habe mir Gedanken über den letzten Lichtsturm und den damit verbundenen Handelsplänen gemacht«, erwiderte Maheen, reihte sich in den Kreis ein und legte ihre Hände vor ihrem Körper zusammen.
»Kommt es zu Engpässen in der Versorgung?«, fragte Pheedre barsch.
Die zierliche Hohepriesterin mit den weißen Haaren schien schlechte Laune zu haben – wie immer.
»Wenn ich es wegen einer solch kleinen Widrigkeit zu Engpässen kommen lassen würde, wäre ich sicher nicht die Verantwortliche für diesen Bereich«, antwortete Maheen ruhig.
»Richtig. Allerdings muss man sich fragen, ob Ihr diesen Posten auch weiterhin vertrauenswürdig ausführen könnt«, entgegnete die andere Priesterin leise und schaute ihr genau in die Augen.
»Was soll das heißen, meine Liebe? Wollt Ihr diese Aufgabe übernehmen?«, Maheens Stimme war sanft, während sie Pheedres forschende Präsenz in ihrem Geist fühlte und diese mit Leichtigkeit ablenkte – so einfach ließ sie sich nicht überrumpeln.
»Nun, wir stellen uns so einige Fragen seit Zeemiras Verschwinden – Eurer Tochter«, mischte sich Aaminah ein. Die dunkelhäutige Lichtgeborene sprach freundlich, aber bestimmt.
»Wie konnte sie verschwinden? Trotz ihrer verlorenen Heilkräfte sollten wir sie innerhalb der Stadtmauern spüren können«, warf die üppige Lateefah ein und warf ihr langes, blondes Haar über ihre Schulter.
»So schlecht gelaunt heute? So kenne ich Euch gar nicht. Hat Euch Pheedre etwa angesteckt?« Maheen lächelte emotionslos.
»Um ehrlich zu sein, ist sie heute unausstehlich.« Lateefah lachte leichthin. Pheedre erdolchte sie daraufhin mit Blicken. »Aber das ist nicht der Hauptgrund. Tatsächlich bereiten mir die Geschehnisse um Eure Tochter ernsthafte Sorgen. Bitte beantwortet die Frage.«
So einfach gestrickt sie auch wirkt, hinter dieser Fassade ist sie genauso gefährlich wie die anderen, erinnerte sich Maheen.
Denn kaum hatte diese ihre Worte ausgesprochen, spürte sie auch schon, wie sie neben Pheedres Geist, auch der ihre berührte.
»Ich habe dafür nur eine Erklärung …«, begann Maheen und stockte dann kurz.
Sie hätte es beinahe nicht bemerkt: Aaminah hatte ebenfalls subtil ihre magische Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Die Wucht Pheedres und die Plumpheit Lateefahs hatten sie beinahe blind dafür gemacht.
Vorsicht, ermahnte sie sich.
»Und welche wäre das?«, fragte Pheedre gereizt.
»Zeemira hat offenbar meinen alten Dolch. Als ich einige Bücher zurück in die Bibliothek gebracht habe, muss sie ihn aus meinem Zimmer entwendet haben. Wie Ihr wisst, reagiert er auf Lichtstürme. Scheinbar verschleiern seine Energien die meiner Tochter«, erklärte sie.
Das war eine Halbwahrheit, die es ihr ermöglichte, den forschenden Einflüssen ein Schnippchen zu schlagen. Bei den gelogenen Teilen veränderte Maheen ihre Körperprozesse, damit sie die Lüge nicht offenbarte – bei den wahren Stellen tat sie nichts. Auf diese Weise konnte sie der geballten Kraft der drei Hohepriesterinnen unbemerkt ausweichen. Zum Glück war Maheen eine Meisterin der Leibesbeeinflussung und den anderen in diesem Gebiet überlegen – nur wussten sie nichts davon, das war ihr Geheimnis.
Lieber unterschätzt, als überschätzt, dachte sie und setzte eine ernste, unschuldige Miene auf.
»Das wäre durchaus möglich …«, begann Sameer.
»Ihr seid euch sicher, dass Ihr nichts damit zu tun habt? Ihr könntet ihr den Dolch gegeben haben, oder selbst ihre Gegenwart verschleiern«, setzte Pheedre unbeirrt nach.
»Beleidigt mich nicht. Ich bin eine Hohepriesterin und kein emotional geleitetes Wrack wie meine Tochter. Scheinbar seid Ihr selbst gerade etwas zu sehr im Herzen statt im Kopf«, schoss Maheen zurück.
Zeit, etwas entrüstet zu sein, entschied sie mit Kalkül. Zu aalglatt, das wäre nur auffällig.
Daher schürte sie ein wenig ihren eigenen Blutdruck und beschleunigte die Herzfrequenz.
»Wie könnt ihr es wagen …«, begann die andere Hohepriesterin mit gefährlich leiser Stimme.
»Was regt Ihr euch so auf, ehrenwerte Pheedre? Zeemira muss noch innerhalb des Schutzschildes sein. Sie könnte unmöglich so schnell unbemerkt Proviant und ein Pferd besorgt haben – unsere Stadtwachen haben niemanden bemerkt. Selbst wenn, der Sturm da draußen hätte sie bereits aus dem Weg geräumt. Lasst uns die Stadt weiter unauffällig von Soldaten durchsuchen«, meinte Lateefah schulterzuckend.
»Wir werden der Sache auf den Grund gehen – zu gegebener Zeit. Wir sollten uns nun um die Händler kümmern, damit der Sturm nicht tatsächlich einen Engpass verursacht«, sprach Aaminah diplomatisch.
Alle Anwesenden nickten.
Maheen entging jedoch nicht, dass keine von ihnen den magischen Einfluss auf sie beendete. Das würde vermutlich so weitergehen, bis das Vertrauen zu ihr wieder hergestellt war – und das würde dauern. Da Lichtgeborene so langlebig waren, konnten sie es sich leisten, sehr nachtragend zu sein.
»Madina steht im Zentrum vieler Routen, da wir die höchsten Preise für lebensnotwendige Güter zahlen«, begann Maheen schließlich. »Außerdem wollen die reichen Händler keine Gelegenheit verpassen, sich bei der Kathedrale einzuschmeicheln, um Vorteile in den gefährlichen Außenlanden zu erhalten. Sie werden die Verluste durch den Sturm wie gewohnt verschmerzen. Diejenigen, die derzeit in der Stadt sind, können sie nicht verlassen und verkaufen daher ihre Restbestände, um die Zeit sinnvoll zu nutzen. Ich würde ihnen erneut diverse Heildienstleistungen anbieten, um ihnen unser Wohlsinnen deutlich zu machen.«
Maheens Erklärungen waren nicht wirklich notwendig, denn das war das übliche Verfahren. Es verschaffte ihrer Verteidigung jedoch eine kleine Verschnaufpause.
»Außerdem habe ich vor ein paar Tagen ein gutes Angebot von zwei Händlern unterbreitet bekommen, das den Einfluss der Stadt im Handelsgeflecht um einiges vergrößern könnte. Ich habe mich vorerst betont gelangweilt gegeben, damit ich die Konditionen wesentlich verbessern kann«, fuhr sie dann fort.
Beim letzten Teil musste sie erneut eine Lüge verschleiern, denn das Angebot von Zeemiras Freunden hatte sie bereits heimlich angenommen.
»Das klingt vielversprechend. Fahrt damit fort und berichtet uns, sobald es Konkretes gibt. Die Details besprechen wir, wenn es soweit ist. Wie sind die Fortschritte bei den Ausbildungen der anderen Heilerinnen, Aaminah?« Pheedre ging zur Tagesordnung über.
»Es geht schleppend voran«, antwortete die dunkelhäutige Priesterin. »Sie sind nicht so talentiert wie erhofft, für grundlegende Heilungen innerhalb der Stadt jedoch ausreichend.«
»Wie steht es mit den Lichtgeborenen?«, erkundigte sich Sameer.
»Eine von ihnen könnte hellseherische Fähigkeiten besitzen – zwar körperbezogen und bisher nur wenige Sekunden im Voraus – aber das könnte man vielleicht ausweiten. Wir arbeiten daran. Die anderen sind derzeit relativ gewöhnlich. Herausragende Heilfertigkeiten im Vergleich zu normalen Heilerinnen und damit in der Schlacht einsetzbar, aber nicht für tragende Aufgaben in der Stadt oder gar in den Außenlanden geeignet«, berichtete sie.
»Sollte es sich hinsichtlich der Hellsichtigkeit lohnen, sie mit dem Artefakt zu bearbeiten, gebt mir Bescheid«, sagte Pheedre bestimmend.
»Das werde ich, ehrenwerte Pheedre.« Aaminah nickte.
Die Besprechungen über Handelsrouten, Militär, politische Schachzüge und Sozialgefüge der Stadt, wurden routiniert geführt. Die Kathedrale hatte Einfluss auf jegliches Geschehen innerhalb Madinas. In der Außenwelt war er ebenfalls von tragender Rolle, da der geschickte Einsatz einer Lichtgeborenen in wichtigen Situationen entscheidend sein konnte – das wussten auch die Menschen dort.
Maheen ließ sich trotz weiterer versteckter Anschuldigungen Pheedres, bezüglich des Verschwindens ihrer Tochter, nicht aus der Ruhe bringen und schlussendlich wurde die Versammlung beendet.
Alle gingen wieder ihren Tagesaufgaben nach.
Maheen betrat die Pfade des Gartens, um sich kurz von dem mentalen Kampf gegen die zweifelnden Hohepriesterinnen zu erholen. Die von Blumendüften süßliche Luft kitzelte ihre Nase. Kleine bunte Steine knirschten unter ihren Sohlen und ihr weites Gewand raschelte – donnergleiche Geräusche in ihren geschärften Ohren. Ein sanftes Lüftchen versuchte ein paar Strähnen aus ihren sorgsam hochgesteckten Haaren zu lösen, und die Sonne wärmte ihr Gesicht.
Hier hatte sie Geels und Jabeehras Vorschlag angenommen. Es war nur ein vorsichtiges Gespräch gewesen – unkonkret und verschleiert. Man konnte kaum sicher sein, dass nicht eine, mit verbesserten Sinnen ausgestattete, Lichtgeborene von einem der hohen Spitzbogenfenster aus gelauscht hatte.
Die beiden Geschwister waren jahrelang Zeemiras engste Vertraute gewesen. Sie hielten immer zu ihr und waren weiterhin darauf bedacht, sie zu unterstützen. Obwohl sie Händler waren, schien vor allem Geel äußerst intelligent. Maheen war von seiner Wortgewandtheit und Vorsicht beeindruckt gewesen. Die beiden wussten mehr, als sie preisgaben – so wie sie selbst.
Sie hatten sich darauf geeinigt, dass die Geschwister außerhalb von Madina Maheens Augen und Ohren sein würden. Im Gegenzug informierte die Priesterin die beiden über die Geschehnisse in der Kathedrale – vor allem bezüglich des Vorgehens gegen ihre Tochter. Um das zu verbergen, würden sie einen Handelsvertrag eingehen. Da es zu auffällig wäre, wenn sich eine Hohepriesterin persönlich darum kümmerte, musste auch das Abkommen sehr ungewöhnlich sein. Maheen hatte sich schon ein paar Gedanken darüber gemacht und überlegte nun, wie sie die beiden am besten kontaktieren könnte. Es wäre seltsam, wenn sie in die Stadt gehen würde. Hohepriesterinnen verließen die Kathedrale nur für eine Schlacht.
Das Flattern eines Vogels erhaschte ihre Aufmerksamkeit. Sie wandte den Kopf in Richtung des Geräusches und sah ihn auf einem Ast eines kleinen Apfelbäumchens landen. Das dünne Holz bog sich gefährlich unter dem gut genährten Tier. Offensichtlich beherrschte es die Kunst des Krümelerbettelns in Perfektion.
Sehr passend, entschied Maheen und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen das Kinn.
Für eine Hohepriesterin war Zeit kaum von Bedeutung: Die Wahrnehmung dieser konnte sie beliebig verändern, denn sie wurde nur von der Tatsache bestimmt, wie viele Eindrücke das Gehirn gleichzeitig verarbeiten konnte. Maheen kostete es lediglich ein Blinzeln, um diesen Umstand auf ihre Bedürfnisse anzupassen. Der Vogel drehte langsam den Kopf, die Blumen wiegten sich beinahe unmerklich langsam, nicht eine Bewegung der Lichtschleier jenseits des Schutzschildes entging nun ihrer Aufmerksamkeit.
Als sie den Blick des Tieres erhaschte, schoss ihr inneres Licht wie ein Pfeil auf es zu. Das über die Jahrhunderte aufgenommene Wissen über Anatomie flog durch ihren Kopf und nach wenigen Momenten verformte sie es wie Wachs.
Der Kehlkopf veränderte und verdrehte sich, bis er einem Menschen ähnlich war. Der Vogel begann in Zeitlupe den Schnabel vor Schmerz zu öffnen, also betäubte Maheen seine Nerven – im Schockzustand oder tot war er schließlich nicht zu gebrauchen. Danach verbog sie die Instinkte des Tieres so lange, bis es gezwungen war, bei einem gewissen Reiz bestimmte Worte zu sagen. Auf diesen Reiz programmierte sie die Gesichter der beiden Händler. Noch ein paar kleine Korrekturen, damit der Vogel die Worte der beiden Händler aufnehmen und wiedergeben konnte – fertig war ihr Werkzeug.
Gewissensbisse, ein Lebewesen derart zu verwenden, hatte Maheen schon vor langer Zeit abgelegt – mit der Macht kam auch die Routine. Die Prozedur dauerte nur wenige Wimpernschläge und der Vogel flog wie befohlen in die Stadt.
Maheen wandte sich wieder zur Kathedrale. Erst als ihr auffiel, dass das Gebäude beim Laufen nur quälend langsam näher rückte, normalisierte sie ihre Wahrnehmung wieder.
Man gewöhnt sich so schrecklich schnell an Übermenschlichkeit, dachte sie und gönnte sich ein leises Seufzen.
Ein Summen vibrierte in Jaleels Ohren. Das Geräusch schien jedoch nicht von außen in sie einzudringen, sondern von innen. Seine Zähne kribbelten und er biss sie zusammen, bis es knirschte.
Ich bin in einem Lichtsturm, wie kann ich lebendig sein, fragte er sich erstaunt.
In seinen Armen spürte er ein zitterndes Bündel aus Wärme. Als er es wagte, seine Augen zu öffnen, sah er Zeemira vor sich knien. Zum Glück war sie ebenfalls unverletzt. Sie presste ihre zuckenden Augenlider zusammen und hatte beide Hände zu Fäusten geballt, bereit, die volle Wucht des Sturmes abzubekommen.
»Hey, Augen auf. Wir leben – aber ich habe keinen blassen Schimmer, warum«, flüsterte er ihr zu und rüttelte sie sanft. Seine Stimme klang seltsam blechern.
»Bist du sicher?«, wisperte sie und behielt die Augen weiterhin fest verschlossen.
»Was soll denn diese Frage?«, raunte er schmunzelnd.
»Im Gegensatz zu dir bin ich vorher noch nie gestorben. Ich weiß nicht, wie es ist«, erwiderte Zeemira.
Jal überlegte kurz, ob sie ihn ausgerechnet in einer solchen Situation aufziehen wollte, aber ihr angespannter Körper an seiner Brust verriet ihm, dass sie es ernst meinte – todernst.
»Glaube mir, du würdest es definitiv wissen.« Er seufzte. »Na los, schau mich an.«
Zeemira öffnete langsam ihre Augen. Ihre weiße Iris war lebhaft wie eh und je. Ein wohliger Schauer lief über seinen Rücken. Er räusperte sich verlegen und hob den Kopf.
»Bei den Ahnen vom Sabiqaan …«, stieß er plötzlich aus.
Er war noch nie besonders gläubig gewesen, aber das war ein Moment, in dem er es sich noch mal überlegte, denn dieser Anblick schien nur Göttern vorbehalten zu sein.
Um sie herum tobte der Sturm mit unerbittlicher Härte, doch sie blieben davon völlig unberührt. Das Paar saß in einer linsenförmigen schmalen Blase, in der – bis auf die merkwürdigen Einwirkungen auf die Sinne – die tödlichen Schleier aus Licht keinerlei Auswirkungen hatten. Am Rand verblassten sie und wehten durch ihre Körper hindurch, ohne Schaden anzurichten.
Zeemira streckte ihre Hand aus und griff nach einem der vorbeiziehenden Lichter.
»Wunderschön …«, hauchte sie ehrfürchtig. »Das ist unglaublich – eigentlich völlig unmöglich. Wir sind hier inmitten eines Lichtsturmes. Du hast die Auswirkungen seiner Kraft an Soldaten gesehen, die ihm nur nahe waren, und wir können ihn sogar berühren!«
Sie rappelte sich auf, blickte sich um und suchte vorsichtig den Sandboden ab.
»Was suchst du? Pass auf, dass du dich nicht zu weit entfernst. Wir wissen nicht, wie weit der Schutz anhält und …«, er stockte kurz. »Eines unserer Pferde hat es auch geschafft!«
Der Krieger klatschte freudig in die Hände und schritt zu dem verängstigten Tier. Es tippelte schnaubend hin und her, traute sich jedoch nicht wirklich vom Fleck. Jal tätschelte dessen Nüstern und redete beruhigend auf es ein.
So viel Glück auf einmal ist beinahe unglaubwürdig, dachte er skeptisch.
Zeemira kniete sich unterdessen in den Sand und wühlte darin. Jal ging neugierig zu ihr. Sie schaufelte weiter und zog plötzlich erschrocken die Hände zurück.
In dem kleinen Loch rotierte der Dolch ihrer Mutter wie ein Kreisel und grub sich tiefer in den Boden. Durch seine Geschwindigkeit hätte ihr mit Leichtigkeit die Finger abhacken können. Jal zog sein Langschwert und schlug mit der flachen Seite der Klinge auf den Dolch. Das kleine Messer stoppte und er hob es auf.
»Oha!«, entfuhr es ihm, als sich der Dolch seinen Fingern entwinden wollte. »Ganz schön kräftig! Was auch immer ihn antreibt, genau hier muss es sein.«
»Aber hier ist nichts! Es sei denn …«, murmelte Zeemira und begann, tiefer zu graben.
Jal setzte sich währenddessen hin, ließ sich nach hinten fallen und legte seine Hände hinter den Kopf. Während er den wogenden Himmel über sich betrachtete, dachte er darüber nach, wie viele solcher Orte es wohl in der Wüste um Madina gab.
War es möglich, dass die Masakh davon wussten und sich deswegen in Gefahr begaben, um Soldaten in einen Sturm zu locken? Vor allem konnte er sich kaum vorstellen, dass diese geschützten Gebiete den Tassallul – der Schattengilde – unbekannt waren. Das bedeutete, sie hatten vermutlich mehr Einfluss in Madina, als er gedacht hatte. Er war in der Stadt also nie wirklich sicher gewesen – vielleicht war das nicht der schlechteste Zeitpunkt, ihr den Rücken zuzukehren.
Auf einmal hörte er Zeemira aufschreien. Mit einem Satz war er auf den Füßen, hatte sein Schwert in der Hand und stand in gebückter Kampfhaltung da.
»Ich habe es gefunden!«, rief die Heilerin aus.
Jal entspannte sich grummelnd, lief zu ihr hinüber und steckte die Klinge wieder zurück.
»Was hast du gefunden?«, fragte er, während er neben sie trat.
»Den Grund für diesen Schutz – zumindest glaube ich das.« Sie deutete mit einer Hand auf ihr aufgescharrtes, nun recht tiefes Loch.
Er konnte einen in Metall gefassten, grauen Kristall mit einem großen Riss erkennen. Ein Teil war abgeplatzt. Der Stein saß auf einem dünnen gewundenen Stab, der senkrecht nach oben ragte. Entlang einer Strebe verliefen seltsame Symbole, die blau leuchteten.
»Mhm, die sehen so aus wie auf dem Artefakt in der Kathedrale …«, murmelte Zeemira, während sie die Zeichen mit einer Fingerspitze berührte.
Plötzlich schmetterte sie eine unsichtbare Kraft zurück und sie landete ächzend einige Meter entfernt im Sand.
Jal stieß einen heftigen Fluch aus und rannte zu ihr.
»Mir geht es gut«, keuchte Zeemira.
»Klar – total gut, beinahe frisch erwacht«, entgegnete Jal, kniete sich vor ihr nieder und nahm ihre Hand, um sie auf Verletzungen zu untersuchen.
»Ein Stoß ging durch meinen Körper. Meine Knochen fühlten sich so an, als würden sie vibrieren«, sprach sie gedankenverloren – offenbar hatte es wirklich nicht sonderlich wehgetan.
»Was denkst du, ist dieses Ding? So etwas wie das Abadaan Jawhaar der Stadt?« Jal warf dem Kristall einen kurzen Blick über seine Schulter zu. Seine dunklen Augenbrauen zuckten nachdenklich.
»Nicht direkt.« Zeemira schüttelte den Kopf. »Auf jeden Fall ist es viel schwächer – vermutlich auch, weil es beschädigt ist.«
»Schwächer? Dann will ich nicht wissen, wie weit du fliegst, wenn du das Artefakt der Stadt berührst«, schnaufte der Krieger verblüfft.
»Es ist anders – man kann es gefahrlos berühren«, korrigierte sie ihn.
»Mich würde mal interessieren, ob die Kathedrale davon weiß – oder die Händler. Noch viel schlimmer wäre der Gedanke, dass es die Masakh wissen.« Jaleel kratzte sich an seinem Hinterkopf.
»Meine Mutter weiß es mit Sicherheit – erinnere dich an die Karte«, erwiderte Zeemira, während sie auf seinen langen Mantel tippte, in dem das wertvolle Stück Papier verstaut war.
»Stimmt. Laut der Karte muss es mehrere geben. Aber wie soll man sie ohne Karte, den Dolch oder bei Gefahr erkennen können? Sie liegen in der Wüste begraben«, gab er zu bedenken.
»Meine Mutter ist eine meisterhafte Strategin, daher ist sie auch die Beauftragte der Kathedrale für Handelsangelegenheiten. Ich denke, sie verkauft den bevorzugten Händlern dieses Wissen zu einem hohen Preis. Vermutlich wissen auch die anderen Hohepriesterinnen davon – wenn ich es schwach und ohne Kräfte spüren kann, dann vermögen es solch hochrangige Lichtgeborene mit Sicherheit auch auf weitere Strecken«, erklärte sie.
»Das ist ja sehr beruhigend. Das bedeutet also, sie werden uns mit Sicherheit jemanden hinterherschicken, sobald sie bemerken, dass du die Stadt verlassen hast.« Er seufzte entnervt und ließ sich neben ihr auf den Hintern plumpsen.
»Ja, das denke ich auch. Es kommt darauf an, wie lange meine Mutter ihre Wahrnehmungen dämpfen kann, ohne bemerkt zu werden. Vorerst wird uns der Sturm beschützen.« Sie lachte auf.
»Wer hätte das gedacht?« Er grinste zurück.
Der Sturm hielt den halben Tag an. Nachdem er abgeklungen war, hatten sich beide auf das verbliebene Pferd gesetzt und waren weiter in die Richtung geritten, die sie seit Madina eingeschlagen hatten. Zeemira saß vor Jaleel, der die Zügel des Tieres hielt. Sie kamen nur langsam voran, weil das Pferd dadurch schneller erschöpfte.
»Das Wasser wird langsam knapp«, stellte Zeemira fest, nachdem sie einen warmen Schluck aus dem Schlauch genommen hatte. »Und mein Hintern ist wund – der bringt mich noch um!«
»Du bist eben ein verwöhntes Gör«, entgegnete Jaleel amüsiert und kniff ihr mit zwei Fingern in die Seite. »Die Landschaft verändert sich bereits, wir haben es bald geschafft.«
Aus dem Sand schauten ab und an Felsen hervor. Normalerweise zertrümmerten die Stürme alles zu Staub. Das bedeutete, sie hatten hier weniger Wirkung. Am Horizont konnte Zeemira hohe Schatten ausmachen – ein Gebirge.
»Sind die Lichtstürme hier schwächer?«, fragte sie Jaleel.
Er überlegte kurz.
»Nicht direkt, die Berge lenken sie ab. Wir haben bald den Rand der Wüste erreicht. Unser Proviant sollte reichen, wenn wir ihn uns gut einteilen. Das Pferd wird dort ausreichend Nahrung finden«, erklärte der Krieger selbstsicher.
Sie dachte über seine Worte nach, während ihr Reittier im Sand schwerfällig weiter auf das Gebirge zuschlurfte – Jal hatte, im Gegensatz zu ihr, schon viel von der Welt gesehen. Es war bekannt, dass die seltsamen Schleier auf Metall besonders stark wirkten. Das Artefakt und der Mechanismus in der Wüste waren Kristalle. Es wäre also möglich, dass sich in den Felsen des Gebirges riesige Metall- oder Kristallvorkommen befanden. Vielleicht gab es aber auch ein unterirdisches Überbleibsel vom Sabiqaan, das noch funktionierte.
»Oh, das sieht nach Ärger aus …« Jals Worte rissen sie aus den Gedanken.
»Wieso, was ist los?«, fragte Zeemira verwirrt.
»Schau nach unten, dort sind Fußspuren. Nur leider nicht von Menschen oder Pferden.« Er deutete mit einem Nicken zum Boden.
Im weichen Sand der geschützten Gebirgsausläufer konnte man sie gut erkennen. Es waren große Abdrücke von breiten Fußballen und Hufen – nur leider von keinem vierbeinigen Wesen. Da der Wind sie noch nicht verwischt hatte, mussten sie frisch sein. Bilder der großen, furchteinflößenden Masakh schossen ihr durch den Kopf und sie bekam eine Gänsehaut.
»Was machen wir jetzt?«, flüsterte sie ängstlich.
»Wir reiten weiter.« Jal zuckte mit den Schultern.
»Sehr innovativ«, motzte Zeemira und ließ den Kopf hängen.
»Was bleibt uns anderes übrig? Hier in der Ebene sind wir leicht auszumachen und einfache Beute. Wir müssen uns verstecken und uns irgendwie durch das Gebirge schleichen. Es war klar, dass wir außerhalb der Wüste auf Masakh treffen würden«, entgegnete Jal gelassen.
»Die Sache gefällt mir nicht«, murmelte Zeemira.
»Muss sie nicht – aber was für eine andere Möglichkeit haben wir?« Jal rückte an sie heran.
Seine Nähe beruhigte sie ein wenig. Er war ein Krieger und wusste, was er tat – in der Schlacht hatte er viele Masakh besiegt, und das ganz ohne die Hilfe einer Lichtgeborenen.
Die Spuren führten in das Gebirge. Für Zeemira machte es keinen Sinn, ihnen zu folgen. Sie wollten den Gegnern schließlich entgehen. Doch Jal erklärte ihr, dass es besser war, zu wissen, wo sich ein Feind befand, statt blind umher zu tappen.
Nachdem das Gelände hügeliger wurde, der Sand weniger und die Felsen massiver, war es schwieriger, den Abdrücken zu folgen. Nach kurzer Zeit erspähten sie jedoch eine Rauchsäule – ein Feuer. Dort musste sich die Gruppe der Masakh befinden.
»Bist du lebensmüde?«, brummte Zeemira gereizt über ihre Schulter, als sie bemerkte, dass ihr Gefährte keine Anstalten machte, einen anderen Weg einzuschlagen.
»Na klar – du weißt doch, ich sterbe gern und oft«, antwortete er grinsend.
Sie antwortete mit einem rückwärtigen Ellenbogen-Stoß in seinen festen Bauch. Er zuckte zusammen, doch sein Lächeln blieb.
»Vielleicht können wir ausmachen, wohin sie ziehen und ob noch Weitere unterwegs sind. Informationen sind wichtig«, erklärte er ihr.
»Mir ist nicht wohl dabei. Ich hätte gern so viel Platz wie möglich zwischen ihnen und uns«, erwiderte Zeemira unsicher.
»Keine Sorge«, seine Stimme klang so unbeschwert wie immer und er zwinkerte ihr zu. »Ich beschütze dich.«
Mit mulmigem Gefühl starrte sie auf die Rauchsäule. Zugegeben, sie war etwas neugierig – Zeemira kannte die Masakh