Geborene des Lichts - E.F. v. Hainwald - E-Book

Geborene des Lichts E-Book

E.F. v. Hainwald

0,0

Beschreibung

In unserer Mitte gibt es Auserwählte, die einem Leuchtfeuer gleichen. Eingehüllt in uralte Magie trotzt die Wüstenstadt Madina allen Gefahren. Mächtigen Hohepriesterinnen beugen scheinbar mühelos die Gesetze der Natur. Auch die verträumte Zeemira gehört zur Zunft der Heilerinnen, als jedoch ihre wiederholte Unachtsamkeit mehrere Soldaten das Leben kostet, droht ihr die Verbannung. Um ihr Versagen wiedergutzumachen, tritt sie in den Dienst der Kaserne. Schnell werden dort aus Fremden treue Kameraden und schließlich gute Freunde. Besonders in der Nähe des Kriegers Jaleel scheinen ihre Sorgen weit entfernt. Doch hinter seinem sorglosen Lächeln lauert eine düstere Vergangenheit. Während beide ihr bisheriges Leben in Frage stellen, kommen sie sich näher, als ihnen lieb ist. Dabei haben die Geheimnisse der Mächtigen ihr Schicksal längst besiegelt ... . Der gefühlvolle Auftakt zu der mehrfach preisnominierten Fantasy-Trilogie. - Komplett überarbeitete Neuauflage -

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 314

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



GedankenReich Verlag

N. Reichow

Neumarkstraße 31

44359 Dortmund

www.gedankenreich-verlag.de

GEBORENE DES LICHTS

(Die Legende der Lichtgeborenen I)

2. Auflage

Text © E.F. v. Hainwald, 2017

Cover & Umschlaggestaltung: Phantasmal Image

Lektorat: Teja Ciolczyk

Korrektorat: Die Buchstabenflüsterin

Satz & Layout: Phantasmal Image

Cover: Phantasmal Image

Innengrafiken © shutterstock, Künstler: Katja Gerasimova, Viktorija, Podessto

ISBN 978-3-947147-22-9

© GedankenReich Verlag, 2022

Alle Rechte vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Sie schwebte. Nur wenige Zentimeter trennten ihre ausgestreckten Zehenspitzen von dem feinen Wüstensand – dennoch verharrte sie an genau dieser Stelle.

Hohepriesterin Pheedres zarter Körper streckte sich und ihr weißes Gewand begann sie wie Rauch zu umhüllen. Mit geschlossenen Augen legte sie den Kopf in den Nacken, als wollte sie die Sonne genießen. Dabei umfloss das lange, farblose Haar wie ein glitzernder Schleier ihr schmales Gesicht. Während ihre filigranen Hände eine Schale formten und sie die Arme ausstreckte, öffnete sie langsam ihre Lippen. Ein kaum wahrnehmbares Summen erfüllte die Luft. Es war, als würde die Welt einen kleinen Moment innehalten, aufhorchen und schließlich ihren Wünschen folgend zu tanzen beginnen.

Plötzlich ging ein leichter Luftstoß von ihr aus und sie leuchtete sanft von innen heraus, ähnlich gedämpften Kerzenschein hinter hauchdünnem Seidenstoff. Schimmernde Bänder aus Licht flossen aus ihren Fingern in alle Richtungen und verblassten nach nur wenigen Schritten. Ihre Wirkung blieb jedoch und vermochte es sogar, den Tod selbst fernzuhalten – ihre Macht versagte niemals.

Die ernst dreinblickenden Männer, die sie schützend umringten, trugen detailreich verzierte Rüstungen und große, ausladende Helme. Sie waren die Fähigsten der Kriegerkaste. Es würde nicht lange dauern, bis diese Heilerin das Hauptziel der Gegner darstellte – schließlich hielt sie mit ihren Fähigkeiten nicht nur das Leben der Krieger, sondern auch den Schlüssel zum Sieg in ihren Händen. Diese Kämpfer waren ihre lebendigen Schilde.

Wie erwartet rammte die erste, keilförmige Angriffswelle der furchterregenden Angreifer gezielt in ihre Richtung. Es waren die Masakh – wilde, größtenteils mit Beilen bewaffnete Bestien, die Tieren ähnlicher schienen als Menschen. Zwar durchstießen deren wilde Kriegerschnell die zwei Frontlinien des Heeres, doch das Licht der Hohepriesterin heilte die verletzten Verteidiger augenblicklich. Die gegnerischen Kämpfer ignorierten daher schnell die wieder aufstehenden Soldaten und versuchten weiter in ihre Richtung vorzupreschen, um sie schnellstmöglich aus dem Weg zu räumen.

Doch sie würden Hohepriesterin Pheedre niemals erreichen. Ihre Konzentration war so massiv wie ein Fels.

Jäh schrak Heilerin Zeemira aus ihren Gedanken.

»Verdammt!«, fluchte sie plötzlich. Die Krieger, die zu ihrem Schutz abgestellt waren, drehten sich daraufhin verdutzt zu ihr um. »Mist, Mist, Mist! Ich bin so eine blöde…«

Zähneknirschend presste sie die Augenlider zusammen, rammte ihre Arme seitlich in die Luft, als müsste sie zwei Wände stützen, und versuchte sich zu konzentrieren.

Sie hatte sich so sehr im ehrfurchtgebietenden Anblick von Hohepriesterin Pheedre verloren, dass sie ihre eigene Einheit völlig vergessen hatte – schon wieder!

Sie war selbst eine Heilerin mit weitreichenden Fähigkeiten, brachte es allerdings erneut fertig, ihre eigenen Soldaten mitten im Kampf zu vergessen. Sich in Gedanken weiterhin selbst verfluchend, wandte sie ihr Empfinden den ihr zugewiesenen Kriegern zu.

Sie waren am inneren Rand an der rechten Flanke des Heeres stationiert, eigentlich keine sonderlich gefährliche Stelle. Die Heilerinnen mit ihren Beschützern waren wie immer außer Sichtweite positioniert, weit hinter den Kampfeinheiten. Nur durch die Unterstützung der Hohepriesterinnen konnte Zeemira ihrer Aufgabe trotz des großen Abstands nachkommen.

Als ihre inneren Fühler die weit entfernten Schutzbefohlenen berührten, durchzog ein stechender Schmerz ihren Bauch. Aufstöhnend ging die Heilerin in die Knie. Es fühlte sich an, als würde ihr jemand die Eingeweide herausreißen. Heiße Tränen schossen Zeemira in die Augen. Der Schmerz konnte nur eines bedeuten: Jemand war gestorben.

Sich durch den Nebel des Leids kämpfend, versuchte sie all ihr inneres Licht zu den verbleibenden Soldaten zu lenken. Es fand jedoch kein Ziel. Sie versuchte es wieder und wieder. Erst beim fünften Versuch erfühlte sie die schwachen Lebenszeichen eines Kriegers. Viele der Kämpfer waren gestorben. Nur eine Hohepriesterin vermochte Verstorbene ins Leben zurückzurufen und auch nur dann, wenn der Zeitpunkt des Todes nicht allzu lange verstrichen war. Aber diese machtvollen Heilerinnen waren natürlich mit den Frontlinien und den Elitekriegern betraut, nicht mit Randeinheiten wie Zeemiras. Niemand würde diese Männer hier retten.

Die Erkenntnis über das gebrochene Vertrauen dieser Menschen, Trauer um die verlorenen Leben, doch vor allem Wut über ihre eigene Unachtsamkeit, stiegen in ihr auf.

Sie schluchzte, ließ die Arme sinken und begann am ganzen Körper zu zittern. Noch immer verbunden mit den Soldaten, fühlte sie in ihrem Herzen die Kälte der Ewigkeit, die sich in den toten Leibern der Gefallenen ausbreitete. Sie drohten Zeemiras eigenes Licht zu löschen. Ihre Gefühle drehten sich in einer Spirale aus Leid und Vorwürfen – und entzogen ihr jegliche Kontrolle über sich selbst.

Dumpfe Schreie drangen zu ihr durch.

»… komm … dir … wach … aufgeben … verdammt …«

Sie nahm es kaum wahr.

Da waren nur Schreie und Dunkelheit.

»Du bist wie dein Vater«, sprach er. »Die gleichen verlogenen Augen. Gut.«

Jaleel wusste nicht, wer sein Vater war oder wie er aussah. Keines der Gildenmitglieder wusste etwas über die eigenen Eltern. Man wurde sofort nach der Geburt von ihnen getrennt. Die Gilde der Tassallul – der Schattenschleicher – war ihre Familie. Wenn man das so nennen mochte.

Sein Vater hätte ihm täglich begegnen können, er hätte es nicht bemerkt. Er würde ihn auch nicht als seinen Sohn erkennen. Blut ist stark – so sagte ein altes Sprichwort.

Eine Lüge.

»Du wirst dich während der Ausbildung in der Kunst der Täuschung gut machen, dessen bin ich mir sicher«, die Stimme des Ausbilders war ruhig und emotionslos. »Aber wir fangen mit den Grundlagen an.«

Er rief ein paar harsche Worte, die Jaleel nicht verstand. Die Tür hinter ihm öffnete sich und gut ein Dutzend Kinder strömte in den kleinen Raum. Sie waren kaum älter als er selbst, aber ihre Gesichter waren steinern, beinahe grausam. Bei den Älteren umspielte jedoch ein leichtes Lächeln die Mundwinkel. Sie stellten sich im Kreis um ihn herum auf und starrten ihn unverhohlen an. Sein Herz schlug immer schneller, doch er zwang sich, keine Reaktion zu zeigen – er wusste bereits, dass ihm das schwere Strafen einbringen konnte. Keines der Kinder sagte etwas, der Ausbilder blickte weiterhin regungslos. Schließlich zeigte er auf Jaleel.

»Los«, sprach er leise.

Es ging alles ganz schnell. Die Kinder schossen wie Blitze auf ihn zu. Er spürte einen dumpfen Schlag im Rücken und stellte überrascht fest, dass er plötzlich mit selbigem auf dem harten Holzboden lag. Es blieb ihm keine Zeit darüber nachzudenken, wie er da hingekommen war, Fäuste und Tritte prasselten wie Hagel auf ihn nieder. Er versuchte seinen Körper mit Armen und Beinen zu schützen, scheiterte jedoch kläglich. Wenn er die Augen öffnete und nach oben blickte, sah er die verzerrten Gesichter der ihn prügelnden Kinder.

War da Wut? Hass? Hämische Freude?

Er schloss sie schnell wieder, denn diese Gesichter waren weit schlimmer als die Schmerzen. Er biss sich auf die Zunge, um ihnen die Genugtuung seiner Schreie zu verwehren.

Als jedoch ein heftiger Tritt seinen Kopf traf, konnte er ein Stöhnen nicht länger unterdrücken. Mit seinen sechs Jahren überhaupt so lange tonlos durchzuhalten, musste den Ausbilder beeindrucken. Als wäre der Damm gebrochen, konnte er sich nun nicht mehr zurückhalten. Jaleel ächzte und schrie schließlich auf. Doch keiner seiner Laute konnte den Sturm aus Schlägen verringern.

Plötzlich zerrte eine Hand in seinen Haaren den Kopf aus dem Schutz seiner Arme. Jaleel brüllte auf und die zwei kleinen Fäuste eines Mädchens mit raspelkurzem, braunem Haar wuchteten direkt in sein Gesicht. Er schmeckte Blut.

Jaleel riss die Augen auf und ruckte hoch. Die Bettdecke rutschte von seinem unbekleideten Oberkörper. Er schaute sich verstört im Zimmer um.

»Nur ein Traum …«, murmelte er nach einem kurzen Augenblick der Besinnung und fuhr sich mit der Hand durch sein schwarzes Haar.

Immer wieder quälende Erinnerungen. Er fragte sich, ob er das alles überhaupt jemals vergessen konnte. Gedankenverloren senkte er den Kopf, die Hand im Nacken verharrend. Diese Träume kamen jede Nacht – zumindest in jeder nüchternen Nacht. Deswegen bemühte er sich stets redlich, diesen Zustand zu vermeiden.

Der Straßenlärm der erwachenden Stadt drang durch die Holzläden der Fenster und das laute Schimpfen einer Frau, die wohl gerade ein paar Kindern die Leviten las, holte ihn in die Realität zurück.

Jaleel schüttelte den Kopf und warf die Decke zur Seite. Er schwang sich aus dem Bett, ging zum Fenster und öffnete es weit. Frische Morgenluft strömte in das Zimmer. In Kürze würde sie sich in die stickige Hitze des Tages verwandeln. Er stützte sich auf den Rahmen, von dem daraufhin knisternd spröde Farbe abbröckelte, beugte sich vor und atmete tief ein.

»Na aber hallo – wartest du schon auf mich?«, rief eine ihm vage bekannte Stimme fröhlich von der Straße hoch.

Er blickte in ihre Richtung und sah eine Frau mit langen schwarzen Locken, die ihre Hände in die Hüfte stemmend zu ihm hochgrinste.

Jaleel runzelte die Stirn und überlegte. Woher zum Teufel kannte er sie? Dann fiel es ihm ein: Letzte Woche hatte sie mit anderen Musikern in der Taverne am großen Marktplatz gespielt. Nach ein paar Bechern Wein hatte sie ihn mit auf ihr Zimmer genommen. Aber was machte sie hier?

Erneut schaute er zu ihr und bemerkte, wie ihr kecker Blick immer wieder an ihm auf und ab wanderte. Er zog die Augenbrauen fragend nach oben, einen Moment später dämmerte es ihm. Jaleel stand nur mit seinem kupfernen Anhänger um den Hals am Fenster. Nicht nur die grinsende Frau, auch die ganze Straße konnte ihn so sehen und da das Fenster seine Unterwäsche verdeckte, schien es, als wäre er splitterfasernackt.

»Was machst du denn hier?«, rief er schmunzelnd und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen zurück. Sollten sie eben gaffen, Jal war nicht gerade für seine Befangenheit bekannt.

Nebenher grübelte er, wie ihr Name gewesen war – hatte er ihn überhaupt erfahren? Wenn es etwas gab, das seine Träume noch besser zum Verstummen brachte als Alkohol, dann eine Frau als wärmende Bettgefährtin – während er betrunken war. Der Name war ihm da nicht so wichtig.

»Eigentlich bin ich unterwegs zum Markt, aber dann rückte mir etwas Interessanteres ins Blickfeld.« Sie lachte gutgelaunt. Offensichtlich teilte sie den lockeren Charakterzug mit ihm.

Jaleel schaute hinauf zum wolkenlosen Himmel. Der Stand der Sonne war bereits unerwartet weit fortgeschritten.

»Mhm, keine Zeit!«, rief er, nachdem er kurz abgewogen hatte, ob es sich lohnen würde, noch einmal ins Bett zu kriechen – diesmal zu zweit. »Du wirst mit den bunten Marktverkäufern vorliebnehmen müssen. Mein Weg führt mich zur Kaserne.«

Den Kommandanten verärgert man lieber nicht zu sehr, fügte er in Gedanken hinzu.

Das kam ihm auch recht gelegen. Sobald eine Frau mitbekam, dass er ihren Namen vergessen hatte, konnte es unangenehm werden. Ein wenig Vergesslichkeit war vielleicht nicht direkt unhöflich, man sollte jedoch trotzdem zu einem gewissen Maße zuvorkommend sein.

»Schade, aber ich weiß ja, wo du wohnst«, säuselte sie und lief mit den Hüften schwingend die Straße entlang.

Dabei verpasste sie es jedoch nicht, dem immer noch am Fenster stehenden Jaleel einen verführerischen Blick aus ihren dunklen Augen zuzuwerfen.

Der wandte sich vom Fenster ab und blickte in sein Zimmer, das einfach aber gemütlich eingerichtet war: ein breites Bett, ein schmaler Tisch, auf dem sich das Geschirr vom Abendessen der letzten Tage stapelte, und ein großer hölzerner Schrank. Seine Rüstung war nach der letzten Schlacht zur Überarbeitung in seinem mittlerweile zweiten Heim untergebracht – der Kaserne.

Jaleel überlegte kurz, was er sich anziehen sollte. Es war sowieso erneut Training angesagt, wozu Löcher in guter Kleidung riskieren? In eine zerschlissene, braune Lederhose schlüpfend, überlegte er, wo er sich ein schnelles Frühstück holen konnte. Er hielt kurz inne und dachte daran, dass es in der Gilde morgens niemals Essen gegeben hatte – das hatte angeblich abhärten sollen.

Wieder ein Pluspunkt für ein Kriegerleben, stellte er gedanklich fest, schnappte sich ein Schnürhemd und schlenderte zur Türe hinaus, während er es sich über den Kopf zog.

Der Weg zum Konzil der Heiler führte Zeemira an den riesigen Springbrunnen des Kathedralen-Vorhofes vorbei. Das im Überfluss sprudelnde Wasser war so klar wie Kristall. Zarte Regenbögen schwebten zwischen den fliegenden Wassertropfen, die im Sonnenlicht glitzerten wie ein Diamantenregen.

Sie strich gedankenverloren mit den Fingerspitzen über die spiegelglatte Steinfläche eines der ovalen Becken. Einmal mehr fragte sie sich, auf welche Art es die Menschen vom Sabiqaan – dem langen Vorher – geschafft hatten, diesen harten Stein so meisterhaft zu bearbeiten. Die skelettartige gewundene Struktur der Kathedrale war schwindelerregend hoch und feingliedrig. Man konnte unmöglich mit den Mitteln der jetzigen Zeit etwas Ähnliches fertigen.

Zeemira hielt inne und blickte verträumt den Wasserläufen nach, die sich wie silberne Bänder den Berg hinab Richtung Stadt schlängelten. Das Wasser der Kathedrale war wertvoll, vermochte es doch die Stadt Madina am Leben zu erhalten, so wie ihr inneres Licht die Soldaten in der Schlacht am Leben erhielt.

Sie seufzte laut bei diesem Gedanken.

Wieder war sie unkonzentriert gewesen, doch diesmal trugen die Soldaten nicht einfach ein paar mehr Narben aus der Schlacht mit nach Hause – sie würden niemals zurückkehren. Durch ihre Unzuverlässigkeit waren sie gestorben.

Damit nicht genug: Der Tod der Männer hatte sie so mitgenommen, dass sie nicht mehr in der Lage gewesen war, die verbliebenen Krieger zu heilen. Hätten die zu ihrer Sicherheit abgestellten Soldaten sie nicht beschützt und weggetragen, wäre sie vermutlich selbst gefallen, denn die Masakh hatten ihre Chance sofort gewittert und sich auf die Position ihrer Einheit konzentriert.

Nachdem sie sich davon erholt hatte, war das Konzil einberufen worden, um über die weiteren Konsequenzen zu entscheiden. Man mochte meinen, Zeemira hätte sich mittlerweile daran gewöhnt, denn sie wurde ständig vorgeladen, weil sie ihren Pflichten wenig erfolgreich nachkam – beschönigt ausgedrückt. Doch es war jedes Mal schrecklich für sie, vor die strengen Hohepriesterinnen zu treten.

Daher ließ sie sich übergebührlich viel Zeit. Sie schlenderte langsam an den Brunnen vorbei und schritt durch den riesigen Bogen des Haupttores, das mit stilisierten Blüten und Ranken aus farbigem Glas verziert war.

Zeemira senkte den Kopf und bog in einen weniger bevölkerten Seitengang – ein kleiner, willkommener Umweg. Sie war nicht erpicht darauf, anderen Heilern zu begegnen, oder gar mit ihnen zu sprechen. Natürlich konnte sie die lange Haarpracht, die ihr Gesicht bei gesenktem Kopf verdeckte, nicht wirklich unscheinbarer machen. Ihr welliges, kupferrotes Haar war unübersehbar und ungewöhnlich. Zwischen all den blond- und braunhaarigen Menschen war sie so dezent wie eine kahl geschorene Katze. Sie hatte mehrmals versucht es zu färben, aber das Kupfer schimmerte immer durch die Pflanzenfarben hindurch, sodass es nur noch unangenehmer gewesen war, darauf angesprochen zu werden. Letztendlich hatte sie sich entschieden, es einfach offen zu tragen – eine Flucht nach vorn.

»Na, auf dem Weg zur üblichen Schelte, Pirri?«, rief ihr jemand mit schriller Stimme hinterher, gefolgt von einem hohen Kichern.

Zeemira blieb stehen, atmete tief ein und drehte sich in Richtung der Rufe. Zwischen den Säulen der Spitzbogenarkaden standen zwei Heilerinnen mit ihren bodenlangen, weißen Gewändern. Sie kannte die beiden nicht, doch jeder kannte Zeemira.

»Ich habe gehört, dass du diesmal mehrere Tote zu verantworten hast. Nicht, dass dein Versagen überraschend gewesen wäre – was will man auch von einem Kind eines umhervagabundierenden Nomaden erwarten – selbst wenn die Mutter eine Hohepriesterin ist?« Verachtung troff ätzend von ihrer Stimme. »Versuch es doch mal als Hure, Pirri.«

»Mein Name ist Zeemira. Und im Gegensatz zu dir verteidige ich unsere Stadt in der Schlacht und sitze nicht nur meinen Allerwertesten in der Kathedrale breit. Wer nichts tut, kann auch keine Fehler machen, nicht wahr?«, entgegnete sie kühl und schaute den beiden direkt in die Augen.

Pirri bedeutete in der alten Sprache flammendes Haar und wurde schnell ihr allseits bekannter Spitz- und Schimpfname. Er brandmarkte sie mit ihrer beschämenden Herkunft.

Bloß nicht aufregen, mahnte sie sich und atmete tief durch. Ganz ruhig bleiben, Wut spielt ihnen nur in die Hände.

Sie wollte sich eben abwenden, als die andere Frau mit leiser Stimme zischte: »Ich hoffe, nächstes Mal lassen dich die Soldaten in der Wüste zurück, damit deine weißen Augen in der Sonne vertrocknen.«

Zeemira hielt inne und ballte die Hände zu Fäusten.

Ihre strahlend helle Augenfarbe hatte sie von ihrer Mutter. In ihr floss neben dem Blut eines Badawi – eines Nomaden – auch das einer lichtgeborenen Hohepriesterin. Waren die Haare das Kennzeichen ihres Vaters, so zeugten die Augen von ihrer Mutter, und zudem von einer großen Macht, die ihr innewohnen musste. Lichtgeborene waren von Natur aus mächtige Heilerinnen. Es lag ihnen im Blut. Andere konnten das Handwerk gewiss erlernen, aber vermochten viel weniger auszurichten. Das schürte natürlich Missgunst.

Zeemira kochte innerlich, doch wenn sie sich jetzt noch auf einen Streit einließ, würde das Konzil nur viel härter urteilen. Daher wandte sie sich ab und versuchte weitere Worte der beiden zu überhören. Es machte sowieso keinen Sinn, mit ihnen zu diskutieren. Als sie außer Sichtweite war, beschleunigte sie ihre Schritte.

Vielleicht war es doch nicht so gut, Zeit zu schinden, dachte sie entnervt. Zumindest inmitten dieser tratschenden Hühner.

Sie trat aus dem schmalen Gang hinaus, in den großzügig angelegten Park hinter der Kathedrale. Die irrgartenähnlich angelegten Blumenbeete auf den quadratischen Terrassen strahlten in satten Farben und ein süßlicher Geruch hing in der Luft.

Tief den schweren Duft einatmend, hielt Zeemira kurz inne und versuchte sich zu beruhigen. Ihr Blick wanderte über das Blumenmeer, aus dem ab und an einzelne, komplett verglaste Spitzbögen herausragten. Hatte die Sonne den richtigen Stand, warfen sie schillerndes Licht auf die Pflanzen, sodass sie zu tanzen schienen. Zeemira hatte gelesen, in den Zeiten vom Vorher hatten die Menschen überall solche Fenster in ihren Wänden. Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf und fragte sich, was solch ein unsinniger Luxus bringen sollte. Glas war zu zerbrechlich, um vor sandigen Unwettern zu schützen. Außerdem ließ es keinerlei Luft in die Räumlichkeiten strömen, wenn die gnadenlosen Strahlen der Mittagssonne die Häuser regelrecht in Backöfen verwandelten.

Sie riss sich von dem Anblick los, der wieder einmal viel zu leicht ihre Aufmerksamkeit ablenkte, und lief an den Gärten vorbei zu einem Seitentor, um erneut in das Gebäude zu treten. Sie schritt eine schmale, schneckenförmige Wendeltreppe hinauf und betrat hinter zwei schenkelknochenartig geformten Säulen den Hauptgang zum Konzil. Nach links und rechts blickend sah sie weit entfernt, wie sich andere Heilerinnen unterhielten.

»Sehr gut, niemand in der Nähe«, murmelte sie erleichtert und huschte in den breiten Gang.

Sie erreichte den Raum des Abadaan Jawhaar, ohne nochmals angesprochen zu werden. Das riesige, kristallene Artefakt schwebte frei in der Mitte des Raumes und tauchte ihn in ein sanftes, bläuliches Licht. Drei mit unlesbaren Schriftsymbolen bedeckte, goldene Ringe rotierten langsam um dessen Mitte. Mehrere Heilerinnen standen auf einem wackeligen Holzgerüst und kratzten mit Kristallstiften an ihnen herum. Sie versuchten die sich aufzehrenden Symbole zu restaurieren, damit das Artefakt seine Macht aufrecht erhalten konnte. Das war ein schwieriges Unterfangen, da niemand die uralte Schrift entziffern konnte. Die Priesterinnen wussten, wie man das Konstrukt in Gang hielt, aber nicht, was genau sie da eigentlich taten.

Es musste funktionsfähig bleiben, denn das Konstrukt aus der Zeit des Sabiqaan war es, das die gesamte Stadt vor den heftigen Lichtstürmen beschützte. Ohne den Schutz vor dessen leuchtenden Schleiern, die das Fleisch von den Knochen rissen und selbst das härteste Material sofort zu Staub zerfallen ließen, würden die Kathedrale und die darunter sprudelnden Wasserquellen innerhalb kürzester Zeit hinweggefegt werden.

Zeemira fühlte ein unangenehmes Kribbeln in der Magengegend. Jemand Mächtiges war hier. Sie drehte sich um und erblickte Hohepriesterin Pheedre, die lautlos in den Raum schritt. Ihr weißes Haar hatte sie zusammengebunden, nur ein paar einzelne Strähnen fielen in ihr schmales Gesicht. Sie trug dieselbe Kleidung wie in der letzten Schlacht. Nicht ein Staubfleck entstellte den makellos weißen Stoff. Kaum zu glauben, dass diese zierliche kleine Frau den Großteil des Heeres am Leben erhalten hatte.

Und ich habe es nicht einmal geschafft, sieben Krieger zu bewahren, gestand sich Zeemira verbittert ein.

Pheedre schaute sie nur kurz mit ihren weißen Augen an, zeigte jedoch keine Regung und wandte sich dann leichtfüßig der großen Doppeltür zu, die zum Konzil führte. Zeemira schluckte hart und folgte ihr – jetzt gab es keine Chance mehr, es noch weiter hinauszuzögern.

Die Hohepriesterin hob elegant ihre Hand und die große, gewölbte Tür schwang lautlos auf. Ohne sich umzusehen, schritt sie hindurch und Zeemira lief ihr langsam hinterher.

Der große Raum war jedes Mal atemberaubend. Seine Decke war eine einzige, massive Spitzbogenkuppel aus Stein, die mit herrlichen transparenten Glasreliefs ausgestaltet war. Die Bilder zeigten Szenen der Menschen vom Sabiqaan. Was viele der bizarren Formen genau darstellten, wusste keiner so genau, denn die Kathedrale war unbeschreiblich alt. Es gab keine Fenster in diesem Raum, aber die Glasszenarien schienen das Kerzenlicht der Leuchter einzufangen und völlig farblos, aber um ein Vielfaches verstärkt, zurückzuwerfen. Es tauchte den runden Raum in ein gleichmäßiges, beinahe irreales Licht.

Zwei der anderen Hohepriesterinnen warteten bereits. Die dunkelhäutige Aaminah hob grüßend die Hand und lächelte. Die üppige Lateefah schaute ernst, aber gutmütig, aus ihren hellen Augen zu Zeemira. Diese beiden waren die sanfteren Mitglieder des Konzils – ganz ihren Namen entsprechend: Frau der Harmonie und die Gutherzige.

Zwei der Schreckgespenster fehlen allerdings noch, stellte Zeemira fest und gönnte sich kurz einen Moment der Erleichterung.

Pheedre begrüßte die beiden und sie tauschten ein paar höfliche Floskeln aus. Einen Moment später öffnete sich erneut die große Tür und Zeemira biss die Zähne zusammen. Ihre Mutter, Hohepriesterin Maheen, kam mit einem scharfen Soldatenschritt auf sie zu.

Das braune Haar hatte sie streng hochgesteckt. Es verlieh ihren steinernen Zügen noch mehr Härte. Das Alter zog nahezu spurlos an ihr vorüber, die wenigen Falten um ihre stechenden Augen herum, deren weiße Iris im Licht schimmerte, waren kaum zu sehen.

Die mit dem Mond Verwandte machte ihrem Namen alle Ehre.

Der alte Hohepriester Sameer – was so viel wie Geschichtenerzähler bedeutete – war der einzige Mann in der Runde und der volle Gegensatz zur energischen Maheen. Er schlurfte langsam und mit nach vorn hängenden Schultern heran. Es wirkte, als lastete sein detailreich besticktes Gewand bleiern auf seinem Körper.

Männer konnten keine Heilkräfte freisetzen. Doch sie betrachteten Dinge aus anderen Blickwinkeln als Frauen, daher war die Meinung eines Mannes wichtig, um im Konzil Entscheidungsfindungen harmonisch zu gestalten.

Quälend gemächlich reihte er sich endlich in den Kreis der Priesterinnen ein. Er schnaufte und schwitzte, als hätte er gerade allein ein Feld in der brütenden Mittagshitze bestellt. Alle fünf Mitglieder des Konzils richteten schweigend ihren Blick auf Zeemira, der sich dabei unwillkürlich das Herz zusammenzog. Sie hatte das Gefühl, seziert zu werden und vermied es, vor allem ihrer Mutter ins Gesicht zu sehen.

Ausgerechnet diese öffnete ihren Mund zuerst: »Du hast dich dieses Mal wirklich selbst übertroffen.«

Zeemira zuckte zusammen, die Worte waren wie Peitschenhiebe. Eine Pause folgte. Quälend langsam verstrichen die Momente, in denen sie nur das Rauschen ihres Blutes in den Ohren hörte. Aaminah seufzte und schloss die dunklen Lider ihrer sanften Augen. Sie schwieg.

»Wenn ich es nicht besser wüsste, müsste ich annehmen, du tust das mit voller Absicht. Du weißt schon, zu versagen.« Kühle Worte der Hohepriesterin Pheedre, beinahe flüsterleise.

»Ich … Nein, ich …«, stammelte Zeemira unbeholfen.

»Du bist nicht hierher bestellt worden, um dich zu rechtfertigen. Du bist hier, um unser Urteil zu hören«, fuhr die weißhaarige Heilerin fort.

»Ja, ehrenwerte Hohepriesterin«, presste Zeemira hervor.

Pheedre war die mächtigste Lichtgeborene unter ihnen – aber jeder kannte sie nur mit diesem distanzierten, reservierten Ton.

Wie kann jemand, der so viel Licht in sich trägt, so kaltherzig sein, fragte sich Zeemira.

Dann ergriff Lateefah das Wort.

»Es ist leider so, dass du heute mehrere Leben zu verantworten hast. Ich bin mir sicher, du selbst leidest ebenso darunter, diese tapferen Krieger verloren zu haben, wie deren Freunde und Familien. Da du dich auch noch hast mitreißen lassen, kostete es weitere Leben. Wir bemühen uns alle redlich, dir bei der Ausformung deiner Fähigkeiten zu helfen, aber es scheint, als wären wir nicht sonderlich erfolgreich. Das ist bedauerlich, da du als Lichtgeborene gesegnet bist.«

Sie war stets eine Fürsprecherin Zeemiras gewesen, sie musste jedoch in dieser Angelegenheit objektiv bleiben, das war ihr klar.

Das Schlimmste daran war: Sie hatte recht.

»Der Zustand ist nicht mehr akzeptabel. Deine Taten kosten nicht nur Leben, sondern auch Vertrauen. Und ohne Vertrauen zwischen den Soldaten und uns, werden das Heer und unsere Verteidigung auseinanderbrechen. Das ist nicht nur beschämend, sondern schlichtweg lebensbedrohlich. Alles davon!«, sprach ihre Mutter.

Alles? Ja, vermutlich ist es das für sie. Schließlich erinnert sie mein Dasein immerzu an ihre eigene Schande, dachte Zeemira niedergeschlagen.

»Wir müssen dem einen Riegel vorschieben – und zwar endgültig«, sagte sie fest.

Einer nach dem anderen nickte zustimmend.

Der Soldat fiel hart auf den Boden. Ihm blieb keine Zeit, sich aufzurappeln, denn Jaleel war schon über ihm und hielt ihm die Spitze seines Langschwertes unter das Kinn.

»Verdammt Jal, das ist ein Übungskampf. Ich glaube, ich habe mir den Arm verstaucht«, keuchte der Kämpfer über Jaleels Klinge hinweg.

Niemand kannte seinen vollen Namen, der in der alten Sprache glorreiche Würde bedeutete. Er hatte keine Ahnung, was sich seine Eltern bei der Namenswahl gedacht hatten. Es war eher ein schlechter Scherz, ein Kind der Tassallul so zu nennen, denn würdevoll war kein Augenblick seines Lebens. Daher hatte er nach seiner Flucht nur noch die erste Silbe seines Namens benutzt: Jal – der Wandernde.

»Jetzt jammere nicht rum, in der Schlacht nimmt auch niemand Rücksicht. Kämpf eben besser«, erwiderte er rau und nahm sein Schwert vom Kinn seines Gegners.

Ihn zu überwältigen war leicht gewesen. Viele der hiesigen Krieger waren so bedacht darauf, ihre Stärke zu trainieren, dass sie bis hin zur Unbeweglichkeit mit Muskeln bepackt waren. Wozu einem Schwert ausweichen, wenn eine Heilerin die Wunde wieder schließen konnte? Jals Körper hingegen war gefährlich schlank und durchtrainiert. Als Assassine der Schattengilde musste man geschmeidig und wendig sein, um kein wahrnehmbares Ziel zu bieten. Es gab dort höchstens Kräuterkundige und somit konnte jede Wunde den Tod bedeuten.

Er ließ den Arm sinken und schaute sich um. Keiner der anderen Soldaten machte Anstalten näherzutreten, um einen Übungskampf zu beginnen.

Auch gut – dann blieb Jal mehr Zeit für die angenehmeren Dinge des Kriegerdaseins: den Sold abzuholen und ihn schnellstmöglich in Alkohol und Frauen zu investieren. Nach einer Schlacht war er besonders üppig. Ob das motivieren oder über die Tatsache hinwegtäuschen sollte, dass nie alle Kämpfer zurückkehrten, war ihm einerlei.

Jal warf das klobige Übungsschwert auf den Stapel zu den anderen, lockerte die Riemen seiner schwarzen Lederrüstung und schlenderte in das Haupthaus. Sein Ziel war die Auszahlungsstelle im ersten Stockwerk.

Ihm begegneten eine Menge Soldaten, die sich lachend darüber unterhielten, was sie mit dem Geld anstellen wollten. Der Umstand, dass sie gerade dem Tod entronnen waren, der vielleicht schon morgen ihre Seelen holte, schien sie nicht weiter zu bekümmern. So war das eben als Krieger in Madina – jeder Tag konnte dein letzter sein – also genoss man ihn in vollen Zügen.

Nicht die schlechteste Lebensart, urteilte Jal, während er seinen prall gefüllten Beutel entgegennahm.

Wenigstens die Zeit zwischen den Kämpfen konnte man genießen. In der Gilde hatte es keinerlei Momente der Sorglosigkeit gegeben. Niemand der Soldaten hier fragte ihn nach seiner Vergangenheit – ein weiterer Pluspunkt. Jeder war gleich und ausschließlich die Leistung in den Schlachten zählte. Schließlich stand nur das Heer, bestehend aus den Soldaten und den mächtigen Heilerinnen der großen Kathedrale, zwischen den Masakh und der Stadt Madina. Warum diese tierartigen Wesen immer wieder die Stadt einzunehmen versuchten, war weiterhin ungeklärt. Allgemein wusste man über vieles an diesem abgeschiedenen Ort zu wenig, es schien jedoch die wenigsten zu kümmern. Keiner konnte sagen, ob ihr Volk wirklich Masakh hieß. Das Wort bedeutete schlicht Monster.

Jal ging zum Rüstmeister, um seine Sachen abzugeben. Er hatte hervorragende Arbeit bei der Überarbeitung geleistet, aber ein paar Stellen rieben unangenehm und Ablenkung im Kampf mochte er gar nicht. Der alte Mann nahm die Rüstung entgegen und hörte sich mürrisch dreinblickend Jals Änderungswünsche an.

Staubig machte sich der Krieger dann auf den Weg zur Taverne. Es war Nachmittag, die perfekte Uhrzeit für einen oder mehrere Humpen schweren Weins. Er klopfte sich vor der Eingangstür etwas den Staub von der Kleidung und zerwühlte mehrfach sein dunkles Haar, um den feinen Sand loszuwerden. Daraufhin umgab ihn eine dünne, dreckige Wolke und er musste husten.

Heute würde er vermutlich nicht allzu anziehend auf Frauen wirken – zumindest nicht auf die nüchternen. Wie auch immer, die Rundungen eines Weinballons hatten wenigstens keinen Namen, den er sich merken musste.

Jal trat in die Taverne. Muffige Luft und der Lärm von bereits angetrunkenen Soldaten beim Kartenspiel schlugen ihm entgegen.

»Eerol spielt mit gezinkten Karten!«, rief Jal den Soldaten ernst dreinblickend zu und deutete mit einem Nicken in die Richtung des wahrhaft riesigen Mannes, der an der Stirnseite der Holztafel saß.

»Den Teufel tu' ich! Du lebst ja noch, du ausgekochter Hurensohn!«, dröhnte ihm die tiefe Stimme Eerols entgegen.

Ein belustigtes Blitzen war in seinen braunen Augen unter den buschigen Brauen zu sehen. Er lachte lauthals durch seinen geradezu wildwüchsigen Vollbart und winkte Jal an den Tisch.

»Los, komm her Jal – es ist Zeit, deinen Sold an mich zu verlieren!«, rief er mit hörbar guter Laune.

Der grinste breit, hob zweifelnd die Augenbrauen und setzte sich mit an den Tisch. Es dauerte keine zwei Lidschläge, da stand auch schon der erste, bis zum Rand gefüllte, Krug vor ihm. Der Wein floss in Strömen und nach einer Weile wusste keiner mehr so richtig, ob er nun öfter gewonnen oder verloren hatte.

Später am Abend lehnte Jal an der Theke, die Taverne drehte sich angenehm und er wusste aus Erfahrung, dass laufen gerade eine verdammt schlechte Idee wäre.

Aber das mit dem Soldatenleben – das schien ihm mittlerweile eine sehr gute Idee zu sein. Das hatte eigentlich nur eine Zwischenstation sein sollen, nachdem er den Tassallul den Rücken gekehrt hatte.

Die Kopfgeldjäger waren monatelang hinter ihm her gewesen und er hatte sich auf niemanden verlassen können. Ein falsches Wort zu einer vertrauenerweckenden Person hatte ihn bereits mehrfach beinahe den Kopf gekostet. Den Kriegern war das alles gleich – und seit er sich in die Kaste eingefügt hatte, war kein Assassine mehr aufgetaucht. Es war wohl zu gefährlich, wenn das Opfer ständig von kampferprobten Männern umringt war.

Vielleicht sollte ich so den Rest meines Lebens verbringen, sinnierte er trunken. Madina ist relativ sicher, im Gegensatz zum Rest der Welt. Ab und an ein paar Kämpfe ausfechten und sonst die Seele baumeln lassen – warum nicht?

Diese Perspektive erschien Jal immer verlockender – wieso war das noch mal nur vorübergehend? Es wollte ihm nicht mehr einfallen. Zudem wurden die Ausblicke, die sich ihm gerade an der Theke boten, immer besser.

Der verlockende Hüftschwung gehörte einer blonden Frau mit dunklem Teint. Ihre Kleidung war farbenfroh und körperbetont, sie schien nicht aus der Stadt zu sein. Vielleicht eine fahrende Händlerin aus dem Westen? Sie bestellte mit leisen Worten etwas beim Wirt und schlenderte zu einem Tisch in der Ecke. Dort saßen bereits drei andere Männer mit Kleidung im selben Stil. Einer war um einiges älter.

Vermutlich ihr Vater, versuchte Jal einzuschätzen.

»Die anderen beiden sind sicher nur ihre Brüder …«, brummelte Jal sich selbst ermutigend, schüttete den restlichen Wein in seine Kehle und drückte sich beschwingt mit beiden Händen von der Theke ab.

Irgendwie schaffte er es geradeaus zu laufen und dabei halbwegs nüchtern zu wirken. Alles eine Frage der Übung – und die hatte er ja ausreichend.

»Heyjo – ihr scheint neu hier zu sein, wie gefällt euch unsere Stadt im Schutze der Kathedrale?« Jal setzte ein strahlendes Lächeln auf und nickte dem Ältesten der Runde freundlich zu.

Wer den Vater überzeugt, hat schließlich die halbe Tochter, dachte er voller Tatendrang.

»Sie scheint angenehm zu sein – bis auf die Schürzenjäger überall«, antwortete stattdessen die Frau und wandte sich demonstrativ ihrem Weinkrug zu.

Jals Lächeln gefror ein wenig.

Alles klar, also eine Herausforderung.

»Das liegt nur daran, dass besonders attraktive Schürzen eben begehrt sind.« Er grinste und hoffte, dass er nicht trunken lallte.

Sie musterte ihn über ihren Krug hinweg, zog skeptisch eine Augenbraue hoch und stellte ihren Wein ab. Mit gerunzelter Stirn stützte sie das Kinn auf ihre Hand.

»Das ist kein Kunststück – ich frage mich jedoch, warum die meisten der Jäger hier so dreckig sind wie Straßenhunde«, entgegnete sie schnippisch.

Jal fiel bei diesen Worten ein, wie er nach dem Training aussehen musste. Doch der Alkohol hielt glücklicherweise seine Verlegenheit im Zaum.

Der Ältere hielt sich galant heraus und kratzte sich schmunzelnd am stoppeligen Kinn. Die anderen beiden rührten ihr Getränk nicht an und musterten Jal alarmiert.

Definitiv ihre Brüder.

Liebhaber wären schon längst auf ihn losgegangen. Diese beiden wollten nüchtern bleiben, um die Ehre ihrer Schwester im Notfall verteidigen zu können. Für einen Jal auf Brautschau gab es also keinen Grund, das Weite zu suchen.

»Zugegeben, ich hätte vermutlich nach dem Kampftraining ein Bad nehmen sollen. Aber ich habe ja nicht ahnen können, dass in dieser Spelunke eine Schönheit wie du auftauchen würde. Glaub mir, gewaschen mach ich etwas mehr her.« Jal lehnte sich bei diesen Worten ein wenig zurück und breitete einladend die Arme aus.

»Du gibst also offen zu, dass du ein Schürzenjäger bist und gerade versuchst, mir halbtrunken den Hof zu machen?«, die Stimme der Frau klang frostig.

»Ich gebe offen zu, dass ich ein Soldat bin, der eine schöne Frau erkennt, diese zu schätzen weiß und sich nicht scheut, ihr das mitzuteilen. Ich kann es auch … anderweitig zeigen.« Ein anzügliches Feuer schlich sich in seinen Blick.

»Das reicht jetzt«, sagte der Kerl rechts von ihr und erhob sich ruckartig von seinem Stuhl.

»Ist es verboten, einer schönen Frau Komplimente zu machen?«, fragte Jal trocken, ohne sich von der Stelle zu rühren.

»Hör auf, dich ihr so aufzudrängen und uns zu ignorieren, als wären wir nicht vorhanden«, brummte er und stellte sich genau vor Jal.

Er war einen Kopf größer als er, schaute ihm direkt in die Augen und straffte kampfeslustig die Schultern. Der Krieger wich nicht zurück, sondern grinste breit.

»Ich habe nur Interesse an schönen Frauen, nicht an ihren schönen Brüdern.« Er lachte und legte beide Hände in seinen Nacken. »Tut mir leid, Kleiner. Aber ich könnte in der Kaserne ein gutes Wort für dich einlegen, da ist sicher ein strammer Soldat für dich dabei.« Er zwinkerte ihm verschmitzt zu.

Jal schaute mit gesenktem Kinn nach oben. Seine Lippen zeigten ein charmantes, verständnisvolles Lächeln für den so schändlich ignorierten Mann. Er vernahm ein leises Kichern vom Tisch und ein Prusten von dem anderen Bruder. Der Kerl vor ihm lief puterrot an und hob die Hände, um ihn zu packen.

»Hey, hey! Jetzt mal langsam.« Die Schönheit hinter ihm lachte nun ebenfalls. »Setz dich wieder hin. Er macht nicht den Eindruck, als würde er mich wie eine Bestie an den Haaren packen und hinter sich her in seine Höhle schleifen wollen.«

»Aber … der Kerl ist total aufdringlich und…«, stotterte ihr Bruder.

»Genug jetzt Bijaan, ich bin schon ein großes Mädchen. Und jetzt setz dich«, entgegnete sie, auf seinen Stuhl deutend.

Der Kerl zögerte, wandte sich schließlich brummend von Jal ab und setzte sich wieder an den Tisch.

»Den Namen deines aufbrausenden Bruders kenne ich nun, der Heldenhafte passt zu ihm. Wie ist deiner? Mich nennt man Jal«, sagte er versöhnlich und zog einen Stuhl heran.

»Ich bin Seerah. Mein Vater, meine Brüder und ich sind in Madina, um unsere Stoffe zu verkaufen.« Sie nippte erneut an ihrem Wein.

Der Name klang vielversprechend – die Freudebringende. Jal nahm sich vor, ihn sich diesmal besser zu merken.

Die Gruppe trank zusammen und er erzählte das Wenige, was er über die Stadt wusste; in einer Art, bei der man dachte, er hätte schon sein ganzes Leben hier verbracht. Ein paar Ausschmückungen hier, etwas Übertreibung bezüglich seines Soldatendaseins dort und der Alkohol tat bei Seerah sein Übriges, damit sie Jal nach einer Weile beeindruckt mit ihren Augen musterte. Ihre Familie saß stumm daneben und schaute argwöhnisch. Offensichtlich gab die Tochter den Ton an.

»Lass uns noch etwas Wein holen«, schlug Jal vor und deutete mit dem Daumen über seine Schulter zur Theke.

Sie nickte und als er aufstand, drehte es ihm ordentlich im Kopf. Noch einen Wein würde er vermutlich nicht überstehen.

Was soll's – man muss eben Opfer bringen, beschloss er mutig.

»Mhm, also wenn du nach deinem Training mal etwas Wasser gesehen hättest, könntest du sogar attraktiv wirken«, meinte Seerah und gab nebenher dem Wirt zu verstehen, dass noch zwei Humpen Wein gewünscht wurden.

Hey, sie steht trotzdem mit mir an der Theke und wir unterhalten uns seit Sonnenuntergang. Offensichtlich findet sie mich nicht so übel, dachte Jal zuversichtlich und entschied sich für die Offensive, ehe der Wein seinen letzten Rest Verstand und Wortgewandtheit hinfort spülte.

»Wir nehmen den Wein mit auf ein Zimmer. Dort hätte ich außerdem gern einen Zuber mit heißem Wasser«, wies er den Wirt an und schob ihm ein paar Münzen zu.

Seerah schaute ihn verblüfft an. Dann wechselte ihr Ausdruck zu belustigt.

»Ich pflege alle meine Behauptungen auch zu beweisen«, sagte er und legte den Kopf schräg.

»Ah ja, alle?« Sie grinste und hatte wohl die Anspielung auf seine Worte nach dem Schürzenjägervorwurf verstanden.

»Schön, selbstbewusst und ein gutes Gedächtnis …«, murmelte Jal und rieb sich grinsend das Kinn.

Er rutschte ein Stück an sie heran. Sie rümpfte die Nase.

»Okay – definitiv erst das Bad.« Seerah legte ihm die Finger auf die Lippen und schob seinen Kopf weg.

»Wer könnte einer so schönen Frau einen Wunsch abschlagen?« Jal zwinkerte ihr zu, packte seinen Wein und legte seine Hand an ihre Taille.

Im Augenwinkel sah er, wie sich Bijaan langsam vom Stuhl erhob. Seerah nahm ihren Wein, prostete diesem zu und steuerte mit Jal auf die Treppe zu. Ihr Bruder runzelte verärgert die Stirn, machte aber keine Anstalten, die beiden aufzuhalten.

Definitiv unter der Fuchtel seiner Schwester