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Eine Prinzessin, verfangen in Lügen. Zwei Königshäuser, verwoben durch einen alten Pakt. Drei Gaben, so mächtig wie verdorben. Als die Schwindsucht die Schönste im ganzen Land dahinrafft, ringt sie dem Herzog ein folgenschweres Versprechen ab: Er darf nur eine Frau heiraten, die so ist wie sie. Seine Wahl fällt ausgerechnet auf Prinzessin Nala, die sich kaum etwas Abscheulicheres vorstellen kann. Um der Zwangsehe zu entgehen, fordert sie von ihm ein unmögliches Hochzeitsgeschenk – einen Mantel, der sie in einen Fuchs verwandeln kann. Durch einen Pakt mit den Sídhe kann der wahnsinnige Herrscher ihren Wunsch jedoch erfüllen und sie ist gezwungen, ihr falsches Versprechen zu halten. Kurzerhand nutzt sie das magische Gewand zur Flucht, aber selbst in tierischer Gestalt droht ihr bald ein Leben in Knechtschaft. So gebrochen und in Ketten gelegt bieten ihr die Feen des Waldes unverhofft einen Ausweg. Drei Gewänder, erfüllt von der Magie der Gestirne. Doch diese wankelmütigen Wesen helfen meist nicht aus Gutherzigkeit … Grimms Allerleirauh neu erzählt – alte Märchen auf einzigartige Weise verknüpft!
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Seitenzahl: 309
Copyright © dieser Ausgabe 2024 by
Text: © E.F. v. Hainwald, 2024
Cover/Umschlag: Phantasmal Image
Farbschnittgrafik: © shutterstock
Lektorat/Korrektorat: Teja Ciolczyk
Layout Ebook: Stephan Bellem
Innengrafiken: © shutterstock
Druck: Booksfactory
ISBN 978-3-95991-372-0
Alle Rechte vorbehalten
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Prolog
1. Anbruch der Nacht
2. Manie & Melancholie
3. Das Geschenk der ‚Anderen‘
4. Vogelfrei
5. Weidenzauber
6. Der Preis Der Freiheit
7. Das Herz der Magie
8. Tand und Maskenspiel
9. Stadtluft
10. Tausend Augen
11. Verloren
12. NebelStReif
13. HalbbLut
14. SpielZeug
15. SteRnentAnz
16. die WüRfel sind GefAllen
»AlleRleiRauh«
Danksagung
Hierarchie, Titel & Anrede des Adels
Wörterbuch Gälisch & Italienisch
Über den Autor
Drachenpost
Für alle, die das Körnchen Wahrheit suchen
Es war einmal …
ein gütiger Fürst.
Eines schönen Tages ritt er durch seine Ländereien, um bei seinem Volke nach dem Rechten zu schauen.
Als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, rastete er an einem klaren Waldsee. Brennender Durst drängte ihn an das Ufer, um kühles Wasser zu schöpfen.
Da erblickte er in dessen tiefem Blau eine schöne Dame.Augenblicklich war es um sein Herz geschehen. Um das Wohlwollen der holden Jungfer zu gewinnen, zog er seinen Siegelring vom Finger und warf ihn hinein.
Sein Glanz bezauberte die Schöne, sodass sie emporstieg.
Als ihr goldenes Haar die Sonnenstrahlen einfing, erstrahlte die Welt im Licht des Friedens. Nur ihr Schatten verblieb am schlammigen Grunde und mit ihm aller Gram.
Der Fürst streckte seine Hand aus, die Fremde legte die ihre hinein.
Ein Bund ward geschmiedet. Gemeinsam herrschten sie gütig und weise über das Land.
Bis dass der Tod sie scheidet …
Blässe und gerötete Wangen schmeichelten Eleonores Antlitz. Ihre halb geschlossenen Augen schimmerten fremdweltlich und die allzu schmalen Konturen ihres Gesichtes unterstrichen ihren aristokratischen Stand.
Jeden anderen hätte die Schwindsucht in ihrem brennenden Fieber mit Sicherheit entstellt. Das Schreckgespenst der stetig wachsenden Städte machte keinen Unterschied zwischen Tagelöhnern in dreckigen Gassen und dem Adel in seinen weitläufigen Palazzi.
Doch Eleonore war anders – selbst Gevatter Tod schien der Herzogin seine Ehre erweisen zu wollen.
Malereien an den Wänden ihres Gemaches zeigten üppige Weinberge, durch die sie in warmen Sommertagen zu spazieren pflegte. Möbel aus edlem Gehölz, Leuchter aus schwerem Silber und Teppiche aus dem Fernen Osten umrahmten ein Himmelbett, in dessen Mitte die wahrhaft ›Schönste im ganzen Lande‹ dahinsiechte. Der herrschaftliche Raum konnte lediglich dazu zu dienen, ihrem Sein einen ausreichend passenden Rahmen zu bieten.
Kleine Funken tanzten am Rande des Sichtfeldes von Besuchern durch die Luft – Irrlichter, die sich dem direkten Blick entzogen. Obwohl nur eine Kerze auf dem Nachttisch brannte, schien den Mauern ein zartes Glimmen innezuwohnen, um die Nacht vor den Toren in Schach zu halten.
Der flackernde Schein der Flamme zeichnete jedoch tiefe Furchen in das Gesicht des Herzoges. Anselm saß auf einem kleinen Schemel neben dem riesigen Bett und hielt die filigranen Finger seiner Gemahlin in seinen großen Händen. Ihrer gemeinsamen Tochter war es verboten, diesen Raum zu betreten. Das kleine Mädchen sollte seine Mutter nicht so sehen müssen. Stattdessen standen ein schwarz gekleideter Medicus und ein hoher Priester in golddurchwirkter Robe neben ihm. Der eine sprach von einem heilenden Wunderkraut aus dem Norden, der andere erzählte bereits von den Verheißungen der Nachwelt.
»Genug!«, knurrte Anselm. »Euer Geschwafel ist schon am Tage ermüdend genug.«
»Mein Gemahl.« Ein Hauchen, so zart, dass es keine Feder zu bewegen vermochte. Dennoch verstummten alle Anwesenden augenblicklich.
»Eleonore«, flüsterte Anselm. War seine Stimme eben noch befehlend, so klang sie nun so sanft wie eine Brise. »Mein Augenstern. Wie steht es um dich?«
Ihr Lächeln war beinahe nicht wahrnehmbar, kaum ein Heben ihrer Mundwinkel. Jedoch ließ es Anselms Herz heftiger gegen seine Rippen schlagen.
»Die Götter plappern mir immerzu ins Ohr«, wisperte Eleonore. Sie drehte ihren Kopf zur Seite und öffnete ihre Lider. Mit Augen, schillernd blau wie das Südliche Meer, musterte sie liebevoll Anselms Gesicht. »Ich bitte jede Nacht um Aufschub, doch sie wollen mir keinen mehr gewähren. Mein Geliebter … es ist Zeit für mich zu gehen.«
Anselm schloss seine Hand fester um ihre. Ohne seine Krone fielen ihm die dunkelbraunen Haare über seine ebenso dunklen Augen, die nur allzu deutlich seinen Schmerz zeigten. Unwirsch strich er sie mit der anderen Hand zurück. »Vielleicht können die Medicus noch etwas finden. Außerdem habe ich meine Reiter entsandt. Sie sollen deine Familie um Hilfe ersuchen.«
Seine Worte ließen den Geistlichen empört nach Luft schnappen. »Mylord, ich verstehe euer Leid, aber diese Gottlosen…«
»Und doch sind es ebenjene Gottlosen, die unserem Land seit Jahren zur Blüte verhelfen.« Eleonores Blick wich nicht von Anselms Antlitz, während sie den Priester mit brüchiger Stimme in seine Schranken wies. »Sie werden mir nicht helfen. Ich habe unerlaubt ein glückliches Leben an deiner Seite genossen.« Mit ihrem Daumen strich sie tröstlich über die Finger ihres Mannes.
»Es muss einen Weg geben!«, fuhr Anselm auf, sackte jedoch sofort wieder in sich zusammen, als Eleonore kaum merklich den Kopf schüttelte.
Tief einatmend schloss sie kurz ihre Lider und sammelte alle Kraft, die ihr schwächlicher Leib noch aufbringen konnte.
Dann schlug sie die Augen auf und ihre Aura der Herrschaftlichkeit war so atemberaubend, als würde sie gesund und strahlend wie die Morgensonne auf ihrem Thron sitzen.
»Anselm, mein Geliebter, gewähre mir einen letzten Wunsch«, sprach sie mit klarer Stimme.
»Alles!« Mit einem Keuchen sprang er auf und setze sich zu ihr auf die Bettkante. »Alles, was immer du willst!«
Eleonore öffnete ihre Lippen … und schloss sie wieder. Ihre Augen schienen etwas in Anselms Blick zu suchen. Doch schließlich atmete sie röchelnd tief ein und äußerte ihren Wunsch: »Du musst erneut heiraten.«
Herzog Anselm zog die dunklen Augenbrauen zusammen. Seine Gesichtszüge wurden starr. »Ich weiß. Wir haben nur eine Tochter, keinen Erben. Der Titel …«
»Das ist es nicht«, unterbrach ihn Eleonore und schüttelte leicht ihren Kopf, sodass ihre goldenen Locken leise raschelten. »Es muss eine wie ich sein. Hörst du? Keine andere darf es sein«, sprach sie eindringlich. Kurz hob sie sogar ihren Oberkörper an und wirkte völlig gesund. »Der Pakt muss erneuert werden!«
Anselm zog seine Hände zurück und erhob sich. Grimmig schüttelte er seinen Kopf. »Wie soll ich jemals wieder bei einer Frau weilen können?« Seine Stimme war kratzig und zitterte. »Niemand kann dich ersetzen, niemand darf dich ersetzen.«
Mit einem Ruck setzte sich Eleonore auf. Der Medicus und der Geistliche traten erschrocken zurück. Die Schwindsucht schwächte den Leib, doch Eleonore wischte ihr Gebrechen noch einmal scheinbar mühelos zur Seite. Trotz des weißen Nachthemdes wirkte die Herzogin wie eine Königin.
»Bitte, mein Geliebter …«, bat sie ungleich sanfter.
Sie streckte ihre Hand aus und Anselm ergriff sie eilig, um einen verzweifelten Kuss auf ihre Finger zu pressen.
»Geht.« Ein Wort, ein Befehl.
Hastig verbeugten sich beide Besucher und verließen den Raum. Nachdem die schwere Eichentür geschlossen war, schien plötzlich alle Kraft aus dem Ehepaar zu weichen.
Eleonore sank in die Kissen zurück, ihr Gesicht umrahmt von wallendem Haar. Ihre Züge erschlafften und hinterließen ein blasses Abbild der edlen Dame, der Anselm einst im Wald die ewige Liebe geschworen hatte. Der Fürst sank vor ihrem Bett auf die Knie. Frei von fremden Blicken durfte er endlich nur ein einfacher Mann sein, dessen Herz Stück für Stück zerbrach.
Er schluchzte auf. »Du verlangst Unmögliches von mir.«
»So unmöglich … wie eine Fremde … in deine Welt zu holen?« Ein sanftes Schmunzeln war in Eleonores Stimme zu vernehmen, auch wenn es ihr Antlitz nicht mehr zeigen konnte. Es zeugte von Erinnerungen an bessere Tage. Doch ihr Atem schien sie nun im Stich zu lassen. »Bitte … eine wie ich … muss es sein …«
»Dann lass mich zu Stein erstarren«, presste Anselm gequält hervor. »Anders könnte ich deinem Wunsch niemals entsprechen!«
»Geliebter … ich kann dich … nicht mehr schützen …« Ein Röcheln entwand sich Eleonores Kehle. Sie schnappte immer wieder kurz nach Luft, aber ihre Brust wollte sich nicht mehr heben. »… muss gehen … eine … wie mich …«
»Nein, nein, nein!«, rief Anselm aus, sprang auf die Füße und warf sich auf das Bett.
Seine Hände legten sich auf die Wangen seiner Frau. Hastig redete er auf sie ein, flüsterte zärtliche Liebkosungen, versprach gemeinsame Reisen in exotische Länder. Dabei näherte er sich ihrem Gesicht, sodass seine Nasenspitze fast die ihre berührte.
Doch Eleonores Atemzug streichelte nicht mehr seine Lippen. Blaue Augen, stumpf wie Basalt, schauten ihn an.
Anselm war wie erstarrt.
Die Welt schien stillzustehen.
Das Glimmen im Raum erlosch – ganz sanft, wie ein landender Schmetterling auf einer Rose. Die Nacht kroch in das Zimmer, überzog die Mauern und fand ihren Weg in das Herz des Fürsten.
Die Welt der kurzlebigen Menschen würde nie wieder dieselbe sein.
Aufgeregt eilte Nala durch die Arkadengänge des Schlosses. Nur grob raffte sie mit ihren Händen das zartblaue Kleid, sodass dessen goldbestickter Saum raschelnd über den Sandsteinboden glitt. Bedienstete traten hastig zur Seite, um ihr Durchlass zu gewähren. Die Prinzessin lächelte ihnen dankbar zu und ihr Strahlen erweichte augenblicklich deren reservierte Mienen.
Heute Abend war es endlich so weit! Sobald die große Uhr der Schlosskapelle Mitternacht schlug, würde sie in die Gesellschaft des Adels eingeführt werden. Ihr Herz machte einen Sprung, als sie daran dachte. Schon seit einigen Jahren lauschte sie heimlich in versteckten Nischen den Gesprächen der hohen Damen und Herren. Vor dem Spiegel hatte sie dann deren edle Gesten und bedeutungsschwangere Blicke nachgeahmt.
Als Nala um die Ecke gebogen und außer Sicht war, rannte sie regelrecht die Treppe hinauf. Zum Glück gab der schwere, rote Teppich auf den Stufen ihren Füßen besseren Halt, sonst wäre die Prinzessin in ihrem Überschwang womöglich gestolpert und gänzlich ungraziös auf die Nase gefallen.
Schließlich stand sie vor einer großen Doppeltür aus dunkler Eiche. Kurz musterte sie die schweren, gusseisernen Beschläge, um sich zu beruhigen. Diesen Raum hatte sie lange nicht mehr betreten dürfen. Doch ihr achtzehnter Geburtstag hatte selbst das erstarrte Herz ihres Vaters erweichen können.
Nach einem tiefen Atemzug presste sie kräftig mit ihren Handflächen gegen die beiden Türflügel. Lautlos öffnete sich das Portal. Gleißendes Tageslicht blendete Nala, sodass sie die Hand vor ihr Gesicht heben musste.
»Da seid Ihr ja!«, rief Ornella. Ihre Zofe hatte sie bereits erwartet. »Ich dachte schon, ich müsste hier den ganzen Nachmittag verbringen.« Trotz des Tadels klang ihre Stimme warm und freundlich.
»Der Unterricht war heute recht zäh«, entgegnete Nala und senkte ihre Hand, nachdem sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. »Und du kennst Signora Maida. Die alte Dattel hört nicht auf, bis alles perfekt ist.«
Ornella kicherte, fing sich jedoch gleich wieder, und setzte eine ernste Miene auf. »Habt Ihr schon wieder fremdländische Wörter von den Botschaftern aufgeschnappt und in Schimpfwörter verwandelt? Das ist kein Betragen für eine Prinzessin.«
»Noch darf ich plappern, was ich will«, hielt Nala neckisch zwinkernd dagegen. »Doch morgen – ja, schon morgen werde ich eine vollendete Adelige sein!« Sie breitete ihre Arme aus und wirbelte herum. Ihr Kleid bildete einen Moment lang einen vollendeten Kreis, während der Saum um ihre Waden tanzte.
»Fangt lieber früher als später damit an.« Ornella winkte Nala zu sich. »Kommt, wir kümmern uns um Eure Haare.«
Die Prinzessin setzte sich auf einen bequemen Schemel und blickte erwartungsvoll auf. Sie wusste nicht, was die alte Dame vorhatte. Allerdings hatte ihr Vater unmissverständlich klargemacht, dass sie nur das Zimmer ihrer Mutter betreten durfte, wenn sie den Weisungen der Angestellten Folge leistete.
Vielleicht, weil es das letzte Mal sein würde.
Nach dem Tod von Herzogin Eleonore musste irgendjemand dafür sorgen, dass der Familiensitz instandgehalten wurde. Da Nala damals gerade einmal sieben Jahre alt gewesen war, fiel diese Aufgabe bisher Signora Maida zu. Nun bald sollte Nala als Tochter den Hausstand mit seinen umfangreichen organisatorischen Anforderungen führen.
Ihre Zofe arbeitete einen klebrigen Sud in Nalas Haare ein. Die leicht gelbliche Flüssigkeit roch nach Zitrone und Schnaps. Gebildet, wie die Prinzessin war, wusste sie sofort, wozu er gut war: Ihre Haare wurden aufgehellt. Ihre Vermutung bestätigte sich, als Ornella sie anwies, sich vor eines der raumhohen Fenster zu setzen, damit die pralle Sommersonne den Prozess unterstützte. Abschließend rollte die Zofe Nalas Haare auf kleine Holzstäbchen, die sie dann auf ihrem Kopf feststeckte, sodass er einem Stachelschwein glich.
»Das sollte halten«, murmelte die kleine Frau schnaufend. »Ihr habt aber auch dichtes Haar! Ganz wie Eure Mutter.«
»Werde ich das nun jede Woche über mich ergehen lassen müssen?« Nala seufzte und unterdrückte den Drang, sich die juckende Kopfhaut zu kratzen.
»Nicht unbedingt.« Ornella schob ihre Lippen nach links und rechts. Dann grinste sie breit. »Aber vermutlich wird es den Jünglingen gut gefallen, genauso wie das hier.« Sie zückte ein schmales Stück Kohle.
Die Prinzessin lächelte schüchtern. Bei dem Fest heute Nacht würden alle Familien mit Rang und Namen anwesend sein. Selbstverständlich mitsamt ihren Söhnen, um die liebreizende Tochter von Herzog Anselm kennenzulernen. Jeder fragte sich, ob Nala ihrer Mutter auch nur annähernd das Wasser reichen konnte.
Diese Bürde wog schwer.
Nala mochte sich so, wie sie war. Aber ihr Haar hatte einen dunklen, aschfarbenen Ton, nicht ganz die honiggoldene Pracht der verstorbenen Herzogin. Ihre Augen waren von einem Graublau, ähnlich einem heranziehenden Gewitter. Der Körper war nicht hochgewachsen und filigran, sondern weiblicher in den Rundungen.
Niemals würde sie ihrer Mutter mit ihrem Äußeren den Titel ›Schönste im ganzen Land‹ streitig machen können.
Und das wollte sie auch gar nicht.
Nala interessierte sich mehr für das, was ihre Mutter sonst noch ausgemacht hatte. Wie die Fähigkeit, zu jedem Zeitpunkt die Situation mit nur wenigen, klugen Worten zu beherrschen. Eleonore war geradezu ein wandelndes Lexikon gewesen. Der Adel hatte regelmäßig ihren Rat gesucht. Gemeinsam mit ihrem Gemahl hatte sie diese Provinz in ein goldenes Zeitalter geführt. Der Titel ›Schönste‹ war nicht nur auf ihr Aussehen zurückzuführen.
Das Poltern, als die Doppeltür zu Eleonores Gemach kräftig aufgestoßen wurde, riss Nala aus ihren Gedanken. Eine reife Frau mit einem hochaufragenden Kopfputz aus feinem, weißem Leinen trippelte ihr entgegen. Trotz des eiligen, seltsamen Ganges wirkten ihre Bewegungen in dem dunkelgrünen Gewand elegant. Sie blieb vor Nala stehen, senkte kurz ihr Kinn und blickte erwartungsvoll.
Ach ja, richtig! Die Etikette, erinnerte sich die Prinzessin.
»Signora Maida.« Nala nickte ihrer Lehrerin und dem Haushaltsvorstand zu – als Ranghöhere lag das erste Wort bei ihr. Ihrer Zofe war das in privater Zweisamkeit nicht wichtig, Maida hingegen bewertete das sehr streng.
»Eure Hoheit«, grüßte die alte Dame. »Wie ich sehe, geht es voran. Bevor die Kohle aufgetragen wird, solltet Ihr Euer Haar auswaschen lassen und Euer Kleid anziehen. Wir möchten darauf keine Flecken!«
»Ihr habt natürlich recht. Ornella, wärt Ihr so freundlich?« Nala erhob sich geschmeidig, griff formvollendet mit zwei Fingern nach dem Stoff ihres weiten Kleides und folgte ihrer Zofe in den angrenzenden Waschraum.
»Irgendwann wird der Stock in ihrem Allerwertesten an ihren Magen stoßen«, flüsterte Nala.
Ornella vollbrachte die Kunst, gleichzeitig belustigt wie empört zu kichern.
»Die gebogenen Decken dieser Gewölbe leiten den Schall vorzüglich weiter«, hörte sie die Signora im Nebenraum sagen. »Diese Lektion hattet ihr bereits vor langer Zeit in den Architektur-Stunden.«
Nala lief tiefrot an. Trotz des kalten Wassers, das Ornella über ihren Kopf schüttete, glühte ihr Gesicht vor Scham. Maida hatte offenbar jedes Wort verstanden. Diese überging die Beleidigung jedoch und redete einfach weiter.
»Es gibt ein paar Dinge, die Ihr heute Nacht beachten solltet. Der Adel weiß ganz genau, dass nicht Eure Mutter, die Herzogin, Eure Ausbildung beaufsichtigt hat. Deswegen wird man Euch als unkultiviert, plump und tollpatschig bewerten.«
Möglicherweise überging sie Nalas freche Worte doch nicht.
Andererseits hatte die Signora recht. Obwohl die Prinzessin hervorragend am Seidenspinnrad und in Mathematik war sowie Manieren pflegte, die jeglichen Tadels entbehrten, würde dieser Umstand hinderlich werden. Ihr Vater hatte damals vor Trauer jedwedes Interesse an ihr verloren. Dadurch hatte kaum jemand die einsame Adelstochter zu Gesicht bekommen – sie war ein Niemand. Frustriert biss sie die Zähne zusammen, während Ornella ihre Haare mit eiskaltem Wasser sauber schrubbte.
»Das mag sein, aber ich bin gut ausgebildet worden«, erwiderte Nala trotzig.
Kurz herrschte Stille, doch dann vernahm sie ein Seufzen aus dem Nebenraum.
»Ihr wart eine hervorragende Schülerin. So gut, dass so manch kindischer Streich ignoriert werden konnte«, gab die alte Dame zu und entlockte Nala mit diesen wertschätzenden Worten ein Lächeln. »Dennoch wird es nicht einfach sein. Lasst mich, unter uns Frauen, deutlicher werden. Herzog Anselm hat keinen männlichen Erben und nicht wieder geheiratet, um dieses Problem zu lösen. Der im Fieberwahn gesprochene Wunsch seiner Gemahlin hält ihn in schweren Ketten. Als seine Tochter seid Ihr lediglich ein verschacherbares Machtinstrument ohne eigene Zukunft, sollte er sich weiterhin gegen eine Heirat sträuben.«
Nala schluckte schwer. Noch nie hatte ihre Lehrerin die Situation derart offen benannt, trotz der Lektionen über die Gesetze und Machtverhältnisse des Landes.
Sie wünschte sich sehr, dass ihr Vater endlich wieder Glück finden würde. Die Erinnerungen an sein Lachen waren so alt, dass es sich die Prinzessin kaum noch vorzustellen vermochte. Gleichzeitig blitzte aber auch die egoistische Überlegung, dass sie diese Last von ihren Schultern gern abgeben würde, durch ihren Geist. Trotzdem konnte sie ihrer Rolle nicht entkommen.
Der Gedanke daran schnürte ihr die Kehle zu. Bisher hatte sie erwartungsvoll in ihre Zukunft geblickt, ihr Weg würde jedoch sicher nicht so einfach werden, wie sie es sich ausgemalt hatte.
Nachdem Ornella Nalas Haare mit einem weichen Handtuch abgetrocknet hatte, traten die beiden wieder in das Schlafgemach. Maida wandte sich zu ihnen um und wich zur Seite. Nalas Augen wurden groß, als sie auf das Himmelbett blickte. Eilig schritt sie heran.
Vor ihr breitete sich ein blutrotes Kleid aus. Goldene Stickereien, besetzt mit Perlen, bedeckten es beinahe vollständig. An der Taille gab es seitliche Schnürungen und der Schnitt der Brustpartie und Ärmel war schräg gerafft – eine eigentümliche Mode, die bei Hofe niemand trug. Es war eindeutig ein Kleid ihrer Mutter. Ehrfürchtig strich Nala mit ihren Fingerkuppen über die gestickten Ornamente, die wie verschlungene Schriftzeichen wirkten.
»Nun denn, Ornella, kleide die Prinzessin an«, befahl die Signora.
Die Prozedur war erstaunlich schnell beendet, wenn man es mit den üblichen Kleidungsstücken der Aristokraten verglich. Nala blickte prüfend an ihrem Körper hinab. Die Säume lagen eng an Hals und Handgelenken an. Im Gegensatz zu den unzähligen Stoffschichten der derzeitigen Mode, sorgten dieser Schnitt und die Schnürungen für einen körperbetonenden und gleichzeitig verhüllenden Effekt.
Plötzlich wurde ihr etwas Schweres um den Hals gelegt. Nala drehte den Kopf zu dem hohen Spiegel neben dem Fenster. Ein üppiges Rubincollier glühte im Tageslicht auf ihrer Brust. Erschrocken hielt sie den Atem an. Als Ornella einen großen Siegelring an ihre rechte Hand steckte und Signora Maida persönlich einen goldenen Stirnreif mit drei runden Rubinen auf Nalas Kopf setzte, traten Tränen in ihre Augenwinkel. Eilig blinzelte sie diese weg.
»Zu dem Kleid eurer Mutter gehört selbstverständlich auch ihr Schmuck«, flüsterte Maida ehrfürchtig.
Nala trat näher zu dem Spiegel, wiegte leicht ihre Hüften und neigte ihr Kinn.
Die Stickereien und Rubine schimmerten im Sonnenlicht und umgaben sie wie eine fremdweltliche Aura. Für einen kurzen Moment hatte sie das Gefühl, ihre Mutter würde hinter ihr stehen und ihr wohlwollend die Hände auf die Schultern legen. Erinnerungen drangen an die Oberfläche. Viel Konkretes war nach all den Jahren nicht geblieben, doch es blieb eine Ahnung an Eleonores Sanftmut und Würde. Wärme und Geborgenheit fluteten ihr Herz. Die Prinzessin fasste inbrünstig den Entschluss, ihre Mutter heute stolz zu machen.
Ornella hatte ihrer Frisur den letzten Schliff gegeben, die Kohle verrichtete um die Augen ihren schmeichelnden Dienst und jede Bewegung von Nala glänzte anmutig, wie von Zauberhand geleitet.
Signora Maida nickte mit einem anerkennenden Glitzern in den Augen. »Ich bin sehr zufrieden.«
Wer hätte gedacht, dass die Falten um ihre Augen neben Strenge auch ein Lächeln zeigen konnten?
* * *
Der Wind trug die lebhafte Musik des Orchesters aus dem Schloss hinab zur Stadt. Lachen hallte von den Arkaden wider und vermischte sich mit dem Tuscheln der Gäste. Der Schein Hunderter, goldener Leuchter ließ das sprudelnde Wasser der Springbrunnen glitzern wie ein Sternenregen und schmeichelte den Gestalten, die sich zwischen den schlanken Schatten der Zypressen tummelten. Die kunstvoll bestickten Kleider der Damen wirbelten beim Tanz umher, während die Ballonhosen und weiten Hutkrempen der Herren bei jedem Schwung amüsant wippten.
Hinter den hell erleuchteten Fenstern des Schlosses eilten geschäftig Schatten umher, um die adeligen Gäste mit Speis und Trank zu versorgen – oder ihnen für private Momente Zimmer vorzubereiten. So manche Münze wechselte dabei seinen Besitzer, damit nichts davon an die Öffentlichkeit drang. Vermutlich würde trotzdem die Gerüchteküche brodeln – sehr zur Freude der hohen Gesellschaft.
Doch je näher sich der Zeiger zur zwölften Stunde neigte, desto unruhiger wurde die Stimmung. Alle warteten auf Prinzessin Nala, die beim Gongschlag endlich ihren achtzehnten Geburtstag feierte. Würde sie der unvergessenen Eleonore gleichen oder sich der Lächerlichkeit preisgeben?
Einerlei – unterhaltsam war es allemal!
Schließlich begann die Turmuhr der Kapelle zu schlagen. Das Orchester verstummte und mit ihm schlagartig auch die Gäste – normalerweise war es wesentlich schwieriger, Aristokraten zum Schweigen zu bringen. Alle hielten den Atem an, als sich das große Portal am Ende der geschwungenen Haupttreppe leicht öffnete.
Enttäuschtes Ausatmen folgte, weil lediglich der Hofmarschall in prunkvoller Schmuckrüstung heraustrat. In seiner Rechten hielt er eine Fahnenstange, an deren Ende golden das Familienwappen thronte – sieben schräge, goldene Streifen. Auf der obersten Stufe blieb er stehen und blickte langsam über den großen Festplatz. Als der letzte Glockenschlag ertönte, stieß er damit kraftvoll auf den Sandstein.
»Ihre Gnaden, Prinzessin Nala Aleidis Contarini, Tochter von Herzog Anselm und Herzogin Eleonore«, verkündete er mit lauter Stimme.
Diesmal schwangen beide Flügel des Tores auf. Aus dem Licht des Inneren trat jemand heraus. Doch erst nachdem der Hofmarschall zur Seite getreten war und formvollendet das Knie gebeugt hatte, konnten die geladenen Gäste endlich den Höhepunkt des Abends in Augenschein nehmen.
Im ersten Moment war Nala von der Situation schlicht überwältigt. Der ganze Hofstaat starrte sie neugierig an. Gold, Silber und Edelsteine schimmerten an ihren Leibern. Eine lange Tafel voll Köstlichkeiten rahmte die linke Seite des Schlossgartens, während auf der rechten die Musiker ihre Bühne hatten. Maler standen mit ihren Leinwänden nahe der Treppe und schwangen eilig ihre Pinsel, um ihren Auftritt für die Nachwelt festzuhalten. Erst jetzt erinnerte sich die Prinzessin daran, dass sie schon die erste ihrer Aufgaben versäumt hatte: zu lächeln.
Nala schloss kurz die Augen und atmete tief ein.
Sieh her, Mutter! Hier bin ich, dachte sie.
Dann schlug sie die Augen auf, hob elegant ihre Hand zum Gruße und schenkte den Gästen ein Lächeln, das all ihre Vorfreude auf diesen wunderbaren Tag in sich trug.
Das brachte Bewegung in die Gesellschaft. Einige der Höflinge klatschten, manche der Damen vollführten einen Knicks, die Herren senkten ihr Kinn. Als das Orchester eine ruhige Melodie zu spielen begann, schritt die Prinzessin langsam die Treppe hinab. Je näher sie dem Erdboden kam, desto überraschter blickten die Gäste sie an.
Das tiefrote Kleid ihrer Mutter schien Nala beinahe schwerelos hinabgleiten zu lassen. Die Rubine um ihren Hals glühten geradezu und umrahmten mitsamt dem Diadem ihr bezauberndes Antlitz. Die schwarze Kohle hellte ihre Augen optisch auf, sodass sie der satten Farbe des Sommerhimmels glichen. Die vorher eng aufgezwirbelten Haare formten wallende Locken und der streng riechende Sud von Zofe Ornella hatte diese Pracht scheinbar in gesponnenes Gold verwandelt. Eine Aura der Herrschaftlichkeit schien von Nala auszugehen.
Nachdem sie die letzte Stufe bewältigt hatte, jubelten die Menschen. Sofort traten die ersten Gäste heran, um der Prinzessin ihre Aufwartung zu machen. Nala widmete jedem Einzelnen von ihnen ihre volle Aufmerksamkeit, so wie es ihre Mutter stets getan hatte. Der Adel fühlte sich wahrgenommen, respektiert und war wie verzaubert von Eleonores wunderschönen Tochter.
Zwischen all den bunt gekleideten Adeligen stand einsam ein einzelner Mann. Jedwedes Gespräch hatte er sofort abgeblockt und dadurch einen Kreis der Stille um sich gezogen. Sein griesgrämiges Gesicht hatte jeden noch so blauäugigen Höfling sofort die Flucht ergreifen lassen. Dabei waren sie eigentlich allesamt dazu gezwungen, zumindest aus Höflichkeit mit ihm zu sprechen. Herzog Anselm machte sich längst nichts mehr aus dieser Etikette und ignorierte den Frevel völlig.
Doch als er seine Tochter auf der Treppe gesehen hatte, war der Schatten, der über seinem Antlitz gelegen hatte, wie ein altes Laken hinfort gezogen worden. Seine Augen strahlten und zeigten in den Winkeln sogar ein leichtes Glitzern. Seine sonst grimmig zusammengepressten Lippen standen offen und seit zehn Jahren schien das erste Mal wieder frische Luft bei einem Atemzug in seinen Brustkorb zu dringen.
Nachdem sich die Menschentraube um Nala etwas gelichtet und die Aristokraten in die Winkel des Gartens zurückzogen hatten, um ausgiebig über die Prinzessin zu tratschen, suchten immer mehr der Jünglinge nach ihrer Aufmerksamkeit. Schon nach kurzer Zeit schoben Mütter ihre Söhne hastig nach vorne, auf dass sie der jungen Frau ihre Vorzüge aufzeigten – schließlich war sie eine großartige Partie, der Schlüssel zum Erbe des Hauses Contarini.
Nala reagierte taktvoll und aufgeschlossen, ganz so, wie es Signora Maida sie gelehrt hatte. Schon bald versuchten die jungen Männer, einander auszubooten, der Kreis zog sich enger.
Plötzlich wurden sie unwirsch auseinandergeschoben. Zunächst wollten die Jünglinge aufbegehren, doch sie wurden allesamt so blass wie Kreide in der Mittagssonne, als sie erkannten, wessen Hände ihre Schultern gepackt hatten.
Herzog Anselms Gesicht war verzerrt vor Zorn, während er sie wortlos von seiner Tochter wegzog. Aber nachdem er ihre Hand ergriffen hatte, wurde sein Blick sofort weich. Unendliche Liebe stand in seinen Augen geschrieben. Die dunklen Schatten darum waren verschwunden und die sonst zusammengezogenen, dunklen Brauen hoben sich.
Nala blinzelte, als sie das Brennen von Tränen in ihren Augen spürte. Nach zehn langen Jahren schien ihr Vater sie endlich wieder anzuschauen. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte er stets an ihr vorbeigeblickt und nur die nötigsten Worte mit ihr gewechselt. Konnte es sein, dass ihr achtzehnter Geburtstag das größte Geschenk für sie bereithielt: die Liebe ihres Vaters?
Seltsamerweise sprach Anselm nicht ein Wort. Er schaute Nala einfach nur an und blinzelte nicht einmal. Mit jedem Moment, der verstrich, fühlte sie sich unwohler. Der Glanz in den Augen ihres Vaters veränderte sich – kaum merklich, doch für sie nur allzu deutlich. Sie kannte die Momente, in denen er in einer eigenen, fremden Welt zu sein schien. In diesen Augenblicken mutete es an, als würde sich diese mit der Wirklichkeit vermischen.
Plötzlich hob er die Hand. Erneut legte sich Stille über das Fest. Seine Hand schloss sich so fest um Nalas, dass es schmerzte. Doch sie ließ es sich nicht anmerken, so hatte sie es gelernt. Der Herzog trat vor und zog sie grob mit sich. Dann senkte er den Arm und öffnete seine Lippen:
»Dieser Tag ist etwas ganz Besonderes«, begann er. »Meine Tochter ist endlich erwachsen und Teil der adeligen Gesellschaft. Habt Dank für die Freundlichkeit, mit der ihr sie aufgenommen habt.« Ein Lächeln huschte über seine Lippen.
Die Gäste schauten sich irritiert an. Seit Jahren hatte man den Herzog nicht so erlebt. Eigentlich sollte das ein Grund zur Freude sein, die Stimmung war jedoch so angespannt, dass man kaum zu atmen wagte.
»Ich möchte verkünden, dass ich erneut heiraten werde«, fuhr er fort.
Augenblicklich tuschelten die Gäste aufgeregt mit-einander. Wer mochte es sein? Jemand, der schon die ganze Zeit unter ihnen weilte? Wieso hatte man vorher keinerlei Gerüchte vernommen?
»Ich werde ehelichen, ganz so, wie es sich meine Gemahlin auf ihrem Totenbett wünschte.« Anselms Blick richtete sich erneut auf Nala.
Ihr wurde schlagartig schlecht.
»Eine Dame, so wie sie.«
Nala schwindelte und ihre Knie zitterten.
»Wer sonst, außer ihrer Tochter, könnte diese Rolle erfüllen?«
Irgendwo fiel ein Teller zu Boden und zerbrach in tausend Scherben. Niemand wagte es, zu antworten.
Nala taumelte. Nur der harte Griff ihres Vaters hielt sie aufrecht. Ihr Atem ging flach und schnell, ihr Herz raste wie ein Wasserrad bei Tauwetter. Während ihre Gefühle zwischen Verzweiflung und Wut wechselten wie die Gezeiten, blieb ihr Verstand völlig klar.
Niemals hatte Anselm Nala auch nur einen Moment wie eine Tochter geliebt. Sie war nur ein Schatten Eleonores. Ihre blond gebleichten Locken, ihre aufgehellten Augen, das Kleid, das ihr eine fremdweltliche Eleganz verlieh, die Rubine ihrer Mutter – nur eine fremde Haut, die man über sie gestülpt hatte. Mit einem Mal ekelte sich Nala vor sich selbst. Sie wollte ihren ganzen Körper mit Bürsten schrubben, bis die Haut ganz heruntergepellt war.
Ihr Traum als Dame des Hofes hatte sich bereits in einen Albtraum verwandelt, als sich der Schatten der Vergangenheit mit Eleonores Tod über ihr Leben gelegt hatte. Dieser Moment riss lediglich ihre schönen Illusionen hinfort, in die sie sich mit kindlicher Naivität geflüchtet hatte.
»Das Vermögen der Familie Contarini bleibt, wo es ist. Sicher wird es auch bald einen Erben für Titel und Ländereien geben. Dabei kann ich den Wunsch Eleonores gänzlich erfüllen«, wisperte Anselm schnell und kaum verständlich. »Ist das nicht herrlich?« Mehr ein Keuchen als Sprechen.
Doch er redete nicht mit Nala oder den Gästen. Der Herzog sprach mit den Geistern seines Selbst, rechtfertigte seine Handlung vor einem Gericht, das nur ihm etwas bedeutete.
»Das kann nicht Euer Ernst sein!«, rief plötzlich eine alte Gräfin, die sich unentwegt Luft mit einem riesigen Fächer zuwedelte. »Das ist ja … widerlich!«
Nun gab es auch für die anderen kein Halten mehr.
»Seid ihr der geistigen Umnachtung anheimgefallen? Die eigene Tochter!«, brüllte ein junger Mann.
»Das ist Frevel!«, mischte sich nun auch ein frommer Adeliger ein.
Anselm ignorierte sie alle. Er wandte erneut den Kopf zu Nala und lächelte grotesk.
Er ist wahnsinnig geworden, realisierte sie. Als er mich in den Kleidern seiner längst verstorbenen Frau gesehen hat, muss sein Geist endgültig zerbrochen sein!
Was konnte sie nur tun? Signora Maida hatte mit ihrer Aussage zu Nalas Rolle vollkommen recht gehabt. Sie hatte nicht den Stand, ihm zu widersprechen. Wenn er sich nicht dem Urteil des Hofes beugte, weshalb sollte er es dann vor ihr?
Bleib ruhig, mahnte sich Nala. Was hätte Mutter getan?
Eleonore, die Frau, die mit ihren Worten jedwede Situation zu beherrschen vermocht hatte. List und Weisheit hatten es ihr ermöglicht, die Menschen zu lenken und es dabei noch wie einen Gefallen aussehen zu lassen.
Da kam Nala eine Idee.
»Mein Herzog«, sprach sie mit verräterisch kratziger Stimme. Kurz räusperte sie sich.
Tatsächlich blinzelte Anselm und schien zuzuhören.
»Ich würde mit Freuden Eure Frau werden, wenn Ihr mir einen Wunsch erfüllt – schließlich bin ich eine ehrenvolle Dame vom Geschlechte Eleonores.« Sie atmete tief ein und holte dann zum Schlag aus. »Eine Halb-Sídhe.«
Schlagartig verstummten die Rufe der Gäste.
Jeder wusste, dass Eleonore eine Sídhe gewesen war – ein Wesen aus der magischen Anderwelt. Ihre Verbindung mit dem Herzog hatte nicht nur endlich Frieden zwischen dem langlebigen Volk und den Menschen gebracht. Handelsbeziehungen hatten das Haus Contarini reich und mächtig werden lassen. Es war Nalas gutes Recht, als derart Hochgeborene, Forderungen zu stellen. Ablehnung kam ihrem Vater gegenüber nicht infrage, diese Finte jedoch schon.
»Was soll es sein?«, fragte Anselm selbstsicher. »Ich bin ein Herzog, was soll es zwischen Himmel und Erde geben, das ich dir nicht erfüllen kann? Aber sei auf der Hut!« Er packte fest ihren Unterarm und funkelte sie grimmig an. »Ich lasse mich nicht betrügen!«
Nala schluckte schwer, räusperte sich und hob dann ihre Stimme zur Antwort an. Es blieb keine Zeit, ihren Wunsch genau zu planen. »Ich wünsche mir von Euch einen Mantel, der mich ganz und gar in einen … Fuchs zu verwandeln vermag.« Als Anselm die Lippen öffnete, um ihr zu widersprechen, sprach sie eilig weiter. »Als Herzog, Ehemann Eleonores und Freund der Sídhe sollte das herausfordernd, aber möglich sein. Meine Mutter hat sich auch nicht mit einem herbeigelaufenen Junker zufriedengegeben.«
Zugegeben, diese Worte waren dreist. Ausgesprochen vor dem Hofstaat hatten sie allerdings wesentlich mehr Gewicht. Um dem Herzog keine Zeit für Überlegungen zu lassen, setzte sie dem noch etwas hinzu.
»Ich erwarte Euer Geschenk bis zum nächsten Vollmond. Schließlich habe ich nicht vor, als alte Jungfer zu enden«, schob sie hinterher und rang sich sogar ein spöttisches Lächeln für die Fassade ab.
»Das halte ich für angemessen«, plapperte die Dame von eben dazwischen.
Raunend fand dieser Vorschlag unter allen Zustimmung – wohlwissend, dass der Herzog die ohnehin unmögliche Forderung niemals innerhalb der noch verbleibenden dreizehn Tage erfüllen konnte.
»Einverstanden.« Herzog Anselm ließ Nalas Arm los. »Bis dahin wirst du natürlich mit keinem anderen Mann verkehren.« Dann strich er über seine Kleidung, nickte Nala zu und stieg die Treppe zu dem Schlossportal hinauf.
Nala blieb mit versteinerter Miene zurück. Die aufgeregten Gespräche der Aristokraten hüllten sie in eine Nebelwand, die sie nicht zu durchdringen vermochte. Ihr Puls pochte heftig in den Schläfen und ihre Finger fühlten sich so kalt wie starres Eisen an.
Er wird dich in seinem Wahnsinn vor den Traualtar schleifen, flüsterte ein hämisches Stimmchen in ihrem Kopf.
Die Prinzessin erschauderte.
* * *
Herzog Anselms Geist war abwesend. Es gab keinen Pfad, trotzdem schritt er zielsicher voran. Die Stiefel versanken nicht im Morast, der Mantel verfing sich nicht im Unterholz. Sein Körper bewegte sich, als würde er von unsichtbaren Fäden gezogen. Hier gab es nichts – keine Siedlung, keine Handelsstraße, nicht einmal mürrische Einsiedler, die in der Einsamkeit des Waldes das ewige Heil suchten.
Die Tiere schienen Anselm als einen der ihren wahrzunehmen, denn ihre naturgegebene Scheu war gänzlich verschwunden. Ein stolzer Hirsch stand kaum einen Steinwurf von ihm entfernt im hohen Gras und beobachtete ihn aufmerksam aus schwarzen Augen. Ein Specht hämmerte unbekümmert in den Stamm einer Erle und wich nicht zurück, während der Herzog ihn passierte.
Als die Bäume immer dichter beieinanderstanden und ihre Silhouetten knorriger wurden, hielt Anselm kurz inne und blinzelte ein paar Mal, bis sich sein Blick geklärte hatte. Nostalgie und Wehmut rührten sein Herz. Das Glück hatte vor vielen Jahren genau hier Einzug in sein Leben gehalten, und an diesem Ort würde er es erneut ergreifen.
Der Herzog trat aus dem Dickicht an das Ufer eines Sees. Die Baumkronen formten darüber eine Kuppel, die sich mit den Gotteshäusern des neuen Glaubens messen konnte. Doch diese hier brauchte kein buntes Glas, um Licht auf magische Weise zu brechen. Die Blätter glitzerten wie Silber im Sonnenlicht und ließen vereinzelte Strahlen wie Himmelsklingen die Oberfläche des Sees zerschneiden. Das Wasser war so klar wie ein Diamant und dabei so tiefblau wie ein Saphir. Still lag es da und formte einen perfekten Spiegel seiner Umwelt.
Wahrlich ein Thronsaal der Natur.
Anselm kniete sich in das Gras, stützte seine Hände am Ufer ab und beugte sich vornüber. Sein Spiegelbild schaute ihm entgegen und zeigte ihm die schroffe Wahrheit:
Seine Haut hing schlaff auf seinen Knochen, dunkle Ringe rahmten braune Augen, die im Wahn fiebrig schimmerten. Über ihm wirkten die starken Äste der Bäume wie die Gitter eines Kerkers.
»Tha mi gad ghairm«, wisperte er leise. Die Muttersprache seiner verstorbenen Frau war ihm immer fremd geblieben, doch in diesem Moment glitt sie so mühelos über seine Zunge, als wäre sie seine eigene. »Sgàthan anns an sgàthan.« Eine sanfte Brise schob die wirren, dunklen Haarsträhnen aus seiner Stirn, die diesmal nicht von einem goldenen Reif zusammengehalten wurden. Plötzlich kam es ihm so vor, als würde ihm seine Eleonore die Worte ins Ohr hauchen, während er sie aussprach. »Tha d’ fhuil gad ghairm.«
Der Wind brachte die Oberfläche des Waldsees in Bewegung. Wellen strichen über sein Spiegelbild und im nächsten Moment blickte ihm die Vergangenheit entgegen – ein Anselm mit straffer Haut, keckem Schmunzeln auf den vollen Lippen und unbeugsamer Freude in den Augen.
»Beannachdan«, grüßte sein jüngeres Ich mit samtener Stimme. »Lang ist es her, dass wir von Euch gehört haben, Menschenbruder. Unsere Tochter weilt nicht mehr in diesen Gefilden, was könntet Ihr mit uns besprechen wollen?«
Der Herzog leckte sich über seine Lippen und rang mit den Worten. Natürlich hatte er gehofft, dass ihm das Volk seiner Eleonore antworten würde, aber nun, da es so weit war, wusste er nicht so recht, wie er sie um Hilfe ersuchen sollte. Die Sídhe gaben nichts auf das Gejammer kurzlebiger Menschen – aber sie ehrten ihre Toten.
»Seid gegrüßt, hoher Sídhe«, begann er mit kratziger Stimme und räusperte sich. »Es erfüllt mich mit Freude, dass Ihr Euch noch an mich erinnert. Eleonore weilt in unser aller Herzen.«
Das Lächeln seines Ebenbildes blieb, doch die Augen wurden kalt.
Anselm verspürte den Drang, das Lächeln des Spiegelbildes zu erwidern, kämpfte es jedoch nieder und sprach mit ernster Miene weiter. »Ich möchte Euch, als Euer Schwiegerbruder, um Hilfe bitten.«
Der junge Herzog im Wasser zog eine Augenbraue nach oben, musterte stumm und ausgiebig den ausgezehrten Menschen am Ufer.
»Um der alten Zeiten willen hören wir Euch an. Sprecht.« Die Betonung des Wortes machte deutlich, was sie von ebendiesen Zeiten hielten. Alt hatte für Sídhe eine ganz andere Bedeutung als für einen Menschen. Eleonores Tod war für sie vermutlich gerade erst gestern gewesen.