Geborene des Schicksals - E.F. v. Hainwald - E-Book

Geborene des Schicksals E-Book

E.F. v. Hainwald

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Beschreibung

Berührt von der Schöpfung, verdorben von Macht, gepeinigt vom Schicksal.   Auf den rauen Inseln der Nördlichen See haben Zeemira und Najim ein scheinbar sicheres Exil gefunden. Der trügerische Frieden wird jedoch zerstört, als sich Besuch aus der magischen Stadt Madina ankündigt und die beiden zwingt, sich zu offenbaren. Während ihrer Abwesenheit haben sich die bisher hochgeschätzten Lichtgeborenen aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und die Welt dem Chaos überlassen. Ohne ihren Schutz wächst der Einfluss der Schattengilde immer weiter und die Masakh überziehen das Land mit blutigen Kriegen. Doch sie alle sind blind für die Gefahr, die tief verborgen lauert. Um ihren Freunden zu helfen, gibt Zeemira schließlich den Verlockungen ihrer Kräfte nach. Die Geheimnisse der Vergangenheit drängen ans Licht – aber die mächtigste aller Hohepriesterinnen ist nicht bereit, sich dem Schicksal zu beugen.   Das atemberaubende Finale der mystischen Fantasy-Reihe. - Komplett überarbeitete Neuauflage -

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GedankenReich Verlag

N. Reichow

Neumarkstraße 31

44359 Dortmund

www.gedankenreich-verlag.de

GEBORENE DES SCHICKSALS

(Die Legende der Lichtgeborenen III)

2. Auflage

Text © E.F. v. Hainwald, 2018

Cover & Umschlaggestaltung: Phantasmal Image

Lektorat/Korrektorat: Teja Ciolczyk

Satz & Layout: Phantasmal Image

Innengrafiken © shutterstock, Katja Gerasimova, Marzolino, Viktorija, Podesto, Vso, Marta Leo, Babich Alexander, ArtMari, Alexandra Romanova

Druck: printed in poland

ISBN 978-3-98792-021-9

© GedankenReich Verlag, 2022

Alle Rechte vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen

Staubig riechende Dunkelheit lag wie ein Seidentuch über diesem Ort. Nur ein einzelner, gigantischer Spitzbogen hielt unzählige Tonnen Fels davon ab, zusammenzustürzen. Der flackernde Schein einer Fackel tanzte auf den Kanten des filigranen Stützwerks. In der Hauptkammer des unterirdischen Tempels herrschte gähnende Leere, doch ein unsichtbarer Sog schien den Betrachter immer tiefer vorwärtsziehen zu wollen.

Jareeb beugte sich hinab und konnte seine Reflexion trotz einer dicken Staubschicht auf dem spiegelglatten Untergrund erkennen. Ihm fiel auf, dass es in dem schwarzen Steinfußboden keinerlei Fugen gab.

Ein anderes Material als die Wände, dennoch aus einem Stück, dachte er stirnrunzelnd. Wie ist das möglich?

Plötzlich trat das Spiegelbild einer anderen Person neben das seine. Schwarzgerüstet, das Gesicht unter einem bunten Tuch verborgen und mit zwei tödlichen Langdolchen bewaffnet. Es war der Söldner, den er angeheuert hatte. Warum er seine Hände mit dreckigen Bandagen verhüllte, war Jareeb ein Rätsel. Narben würden ihn sicher noch gefährlicher wirken lassen – nicht, dass er so etwas nötig gehabt hätte. Seine Bewegungen waren wie die eines Raubtieres auf der Jagd – still und geschmeidig.

»Wo entlang?«, fragte der Krieger knapp mit rauchiger Stimme.

»Wir suchen ein raumhohes Tor aus grünlichem Metall. Weiße Linien durchziehen es und man kann keinen Öffnungsmechanismus erkennen«, antworte er und schob seine Mutmaßungen zur Seite.

Der Krieger nickte stumm und wandte sich dem linken Gang zu. Jareeb folgte ihm nach kurzem Zögern.

»Es dauert ewig, wenn wir alles einzeln absuchen. Ich nehme den Gang da hinten«, mischte sich seine Mitstreiterin ein.

Eine zierliche Frau deutete auf eine Wandöffnung am gegenüberliegenden Ende des Saals. Sie trug ein langes, weißes Gewand. Ein breiter, messingfarbener Reif lag eng um ihre Taille. Ähnlich schmucklose Stücke wanden sich um ihre schmalen Fußknöchel und Oberarme. Ihre schlanken Handgelenke zierten allerdings verwirrend komplex verzierte Armbänder, und manchmal schien es so, als würden sie das Licht des Fackelscheins seltsam falsch reflektieren. Die meisten ihrer kupferfarbenen Haare waren flüchtig zu einem dicken Zopf geflochten. Sie war gänzlich unbewaffnet – sehr zum Missfallen Jareebs, der schon ihre Kleidung als unpraktisch bewertete.

»Dort drüben ist eine weitere Tür. Wenn wir uns aufteilen, kommen wir viel schneller voran«, fuhr sie fort und schenkte Jareeb ein freundliches Lächeln.

»Ich bin nicht besonders kampferprobt oder so stark wie dein Freund hier. Ich bleibe lieber in seiner Nähe«, entgegnete er trocken.

»Wie du meinst«, erwiderte sie schulterzuckend, drehte sich um und winkte mit der Hand zum Abschied. Über mögliche Gefahren schien sie sich gar keine Gedanken zu machen. »Pass gut auf unseren Auftraggeber auf.«

Jareebs Augen folgten der wippenden Bewegung ihres Zopfes und erneut fragte er sich, warum er sie überhaupt mitgenommen hatte. Der schwarze Krieger war bisher nützlich gewesen. Mit überraschender Stärke hatte er das Geröll vor dem Eingangstor zu diesem unterirdischen Tempel oder Grabmal beiseite geräumt – was auch immer es in den alten Zeiten des Sabiqaan gewesen sein mag.

Die Frau hingegen spazierte lediglich hinterher. Zugegeben: Sie war hübsch anzusehen und entsprach seinem Geschmack für ein warmes Nachtlager, dafür hatte er sie allerdings nicht angeheuert. Doch der Krieger war nicht bereit gewesen, den Auftrag ohne sie durchzuführen.

Was solls, dachte er. Solange ich das Artefakt heil hier herausbekomme, ist es mir recht.

Grabraub und Artefaktjagd waren Jareebs Haupteinnahmequellen – besser gesagt: der Verkauf der Beute. Die Beschaffung dieser Schätze überließ er normalerweise irgendwelchen entbehrlichen Schlägern, doch diesmal war ihm das zu unsicher gewesen. Sein jetziger Kunde war überaus gefährlich.

Jareeb hing an seinem Leben und er hatte eigentlich ablehnen wollen, doch die Belohnung war zu groß gewesen. Heiße Gier hatte seine Vernunft schnell besiegt. Daher bedurfte diese kleine Grabräuberei höchst vertrauenswürdiger Aufsicht – seiner eigenen.

Außerdem war er diesmal bereit, eine Menge Geld für fachkundige – also tödliche – Unterstützung springen zu lassen. Daher hatte er den langen Weg auf das Fatira-Archipel im nördlichen Ozean auf sich genommen. Gerüchte über Söldner, deren Fähigkeiten seit ein paar Jahren auf den Schwarzmärkten für aufgeregtes Flüstern sorgten, hatten ihn dorthin geführt.

Jareeb hatte sie gefunden: einen schwarzgerüsteten Krieger mit übermenschlichen Kräften und eine Hexe, die hinter vorgehaltener Hand Sayidat-Bayda genannt wurde – was so viel wie »die weiße Dame« bedeutete.

Von dem Mann war er schnell überzeugt gewesen, seine Ausstrahlung zeugte von tödlichen Fähigkeiten. Die Frau war jedoch eine Frohnatur mit zarten Fingerchen, die keinerlei Schwielen von geübten Waffengriffen hatten. Ihr Aussehen hatte ihn zwar zunächst schockiert, denn die weiße Iris legte den Schluss nahe, dass sie eine der viel gerühmten Lichtgeborenen aus Madina sein könnte, doch es hatte sich schnell herausgestellt, dass sie nicht einmal einen simplen Kratzer heilen konnte. Außerdem hätten die Gerüchte dieses wesentliche Detail sicher nicht ausgelassen. Sie sollte dem Krieger jedenfalls in nichts nachstehen. Jareeb bezweifelte dies allerdings weiterhin stark.

Vermutlich nur seine anhängliche Gefährtin, überlegte Jareeb, während er den gepanzerten Rücken des Söldners vor sich betrachtete.

Auch die kleineren Räume, die er mit seinem Beschützer betrat, waren bis auf Geröll völlig leer. Damit hatte Jareeb gerechnet. Die Erzählungen über diesen Ort waren zu vielfältig gewesen, was bedeutete, dass andere bereits ihre Habgier gestillt hatten.

Die Geschichten machten jedoch eines klar: Es gab eine Tür, die bisher weder Gewalt noch Finessen zu öffnen vermocht hatten. Jareeb hatte aus diesem Grund etwas Besonderes erstanden: experimentelle Sprengmittel von den irren Alchimisten aus dem Süden. Gefährlich instabil, doch äußerst mächtig. Damit musste es gelingen!

»Hier«, hörte er plötzlich den Söldner brummen.

Jareeb eilte zu ihm und blickte auf ein riesiges, zweiflügeliges Tor. Es schimmerte grünlich, als wäre es gänzlich von Schimmel bedeckt, und zarte weiße Linien durchzogen das Metall. Von den Beschreibungen her hatte Jareeb vermutet, dass die Zeichnungen wie Aderungen aussehen müssten, doch sie waren exakt senkrecht und waagerecht, wenn auch unregelmäßig verteilt. Der Dieb trat näher heran und legte seine flache Hand auf die glatte Oberfläche. Sie fühlte sich seltsam warm an, nicht sehr stark, dennoch verstörend unpassend.

»Das muss es sein. Bringen wir den Sprengstoff an«, meinte er und ein grimmiges Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.

Mit vorsichtigen Bewegungen legte er mehrere kleine Glasbehälter auf den Boden. In ihnen bewegten sich farbenfrohe, ölige Flüssigkeiten. Einzeln harmlos, doch wenn sie zusammenflossen, explodierten sie in alles versengender Hitze. Die pure Wucht hatte Jareeb bei einer der heimlichen Vorführungen beeindruckt.

»So, das wäre es. Kannst du die Phiolen mit einem gezielten Wurf treffen?«, fragte er den Söldner, nachdem er alles aufgebaut und zufrieden betrachtet hatte.

Der ging bereits stillschweigend in Richtung des Ausgangs.

»Das heißt wohl ja«, murmelte Jareeb und folgte ihm.

Der Krieger suchte den Boden nach einem Wurfobjekt ab. Bei einem Geröllhaufen wurde er fündig und kehrte mit einem faustgroßen Stein in der Hand zurück. Er stellte sich in den Türrahmen, streckte seine linke Hand aus und deutete mit zwei Fingern auf das Tor. Den Kopf schräg legend, blickte er seinen Arm entlang, wie ein Bogenschütze an seinem Pfeil. Währenddessen trat Jareeb in den Nebenraum und hockte sich mit dem Rücken zur Wand.

Plötzlich warf der Krieger den Stein mit einer Bewegung, der man kaum folgen konnte. Danach bewegte er sich blitzschnell und geschmeidig zu Jareeb.

Auf ein leises Klirren folgte nach wenigen Wimpernschlägen ein donnerndes Krachen. Jareeb zuckte zusammen und ein Klingeln dröhnte in seinen Ohren. Eine Wolke aus Staub drückte sich durch die Tür und beißender Gestank stieg ihm in die Nase. Glücklicherweise war das Gewölbe äußerst robust, die alten Baukünste waren hoch entwickelt gewesen. Der Krieger stand auf und trat unbekümmert in den noch immer umherwirbelnden Dreck.

»Nichts«, sagte er nur.

»Wie nichts ... was meinst du?«, fragte Jareeb, während er mit seinem Zeigefinger versuchte, das Klingeln in seinem Ohr zu vertreiben.

»Das Tor ist unbeschädigt«, antwortete der Söldner.

»Was?!« Jareeb sprang auf und rannte ebenfalls in den Raum.

Schmutz und der intensive Geruch von Chemikalien ließen ihn husten. Seine Augen tränten. Er wischte sich mit den Handrücken darüber. Blinzelnd spähte er durch den Rauch, schwenkte seine Fackel und musste feststellen, dass der Kämpfer recht hatte: Unbeeindruckt ragte das Tor vor ihnen auf. Auch die Wand hatte nicht den geringsten Kratzer erlitten.

»Das darf nicht wahr sein!«, keuchte Jareeb auf. »Das war das stärkste Sprengmittel der Alchimisten. Das Ding muss doch aufzubekommen sein!«

Vor seinem geistigen Auge sah er schon seinen vor Wut tobenden Kunden vor sich, der sich bereit machte, ihm die Kehle aufzuschlitzen. Der Dieb rannte zu dem Tor, das ihn mit seiner Unversehrtheit hingebungsvoll zu verhöhnen schien. Er schlug mit der Hand dagegen. Lediglich das Klatschen seiner Haut war darauf zu hören – es weigerte sich sogar, einen Laut von sich zu geben!

»Wir warten«, sprach der Krieger daraufhin und setzte sich in die Mitte des Raumes.

»Warten? Worauf? Dass es sich die Tür anders überlegt?«, spottete Jareeb mit bebender Stimme.

Der Söldner schüttelte nur den Kopf, lehnte sich zurück und stützte seinen Körper mit den Ellbogen ab. Er machte es sich offensichtlich bequem.

»Sprich!«, forderte Jareeb ihn auf, erhielt jedoch weiterhin keine Antwort.

Die Schultern des Kriegers zuckten jedoch nun ein wenig – er schien leise zu lachen. Jareeb wurde rot vor Wut.

»Ich bezahle dich nicht fürs Rumliegen!«, brüllte er. »Kümmere dich gefälligst um die Tür oder lass dir was einfallen! Ich kann nicht glauben, dass eure Fähigkeiten so in den Himmel gepriesen werden. Ihr seid unfähig – vor allem die rothaarige Straßendirne!«

Der Krieger richtete sich daraufhin mit einem Ruck auf und verengte seine schwarzen Augen zu Schlitzen. Sein Blick schnitt geradezu die Luft entzwei. Er strahlte plötzlich Gefahr aus – offensichtlich nahm er ihm diese Worte übel.

Ich bin hier leichte Beute, dachte Jareeb panisch.

Noch bevor er den Mund öffnen konnte, um sich zu entschuldigen, trat die Söldnerin in den Raum.

»Was treibt ihr denn hier?«, fragte sie gut gelaunt. »Den Knall hat man in allen Gängen gehört.« Sie schlenderte zu ihrem Gefährten und schaute ihn fragend an.

Jareeb blinzelte verwundert, als er sah, was sie mit sich brachte: Hinter ihr waren zerfledderte, alte Bücher. Genauer gesagt, glitten sie ganz brav und lautlos durch die Luft, wie hörige Entchen hinter ihrem Muttertier.

»Was zum ...«, flüsterte er.

»Was soll das?«, fragte der Krieger, die Augenbrauen hochziehend.

»Das habe ich doch eben auch gefragt«, entgegnete sie mit einem unschuldigen Blick.

Er schwieg einen Augenblick, legte den Kopf schräg und präzisierte dann wortkarg: »Die Bücher.«

»Ach, das meinst du«, entgegnete sie und wies mit einer Hand auf das Schwebegut hinter sich. »Ich habe sie in einem der Räume gefunden. Die meisten sind in den alten Sprachen verfasst, aber vielleicht ist etwas Interessantes dabei.«

»Wie ... lässt du sie ... schweben?«, stotterte Jareeb leise.

»Kümmerst du dich um die Tür?«, fragte der Söldner, vollkommen unbeeindruckt, und nickte in die entsprechende Richtung.

»Hat eure lärmende Maßnahme sie nicht aufbekommen?«, fragte sie überrascht und wandte den Kopf zu dem widerspenstigen Tor.

Wie kann sie die Bücher schweben lassen?, fragte sich Jareeb und vergaß vor lauter Verwunderung, wütend darüber zu sein, dass er völlig ignoriert wurde. Von einer solchen Magie habe ich noch nie gehört.

»Sieht stabil aus. Scheint, als wäre sie mit den Energien vom Sabiqaan durchzogen. Ich spüre es in den Händen«, überlegte sie laut und tippte sich ein paarmal mit dem Zeigefinger gegen die Wange. »Das sollte kein Problem sein.«

»Kein ... Problem?«, krächzte Jareeb ungläubig.

Die weiß gekleidete Frau hob ihren Unterarm und zeigte mit dem Finger zur Decke. Mit einer geradezu beiläufigen Bewegung drehte sie die Hand um und winkte zu sich heran. Die wenigen Haarsträhnen, die nicht von ihrem Zopf gebändigt wurden, wehten plötzlich in einem seltsam ätherischen Wind.

Ein ohrenbetäubendes Donnern ließ Jareeb herumwirbeln. Die Torflügel neigten sich langsam nach vorn, bis sie schließlich lautstark vor ihm auf den Boden krachten. Mit offenem Mund starrte er sie an. Die beiden metallischen Platten waren schlichtweg aus der Wand gerissen worden. Riesige Löcher klafften dort, wo bis eben noch Scharniere gewesen waren.

»Falsch«, hörte er den Söldner hinter sich sagen.

»Sie ist offen, oder nicht?«, murrte die Frau.

»Du sollst dich konzentrieren«, ermahnte er sie geduldig.

Sie seufzte und ließ den Kopf ein wenig hängen.

»Du bist nicht bei der Sache«, sprach er weiter und verschränkte die Arme vor der gepanzerten Brust.

Seine Gefährtin schloss die Augen und nickte traurig. Die unsichtbaren Fäden, welche die Bücher hinter ihr in der Luft gehalten hatten, schienen auf einmal zu reißen. Achtlos klatschten sie auf den Fußboden.

Dann wandte sie sich zur Tür, atmete tief durch und öffnete ihre Augen. Sie streckte erneut ihre Hand aus und formte damit eine Schale, als würde sie ein Rinnsal aus Wasser auffangen wollen. Während sie ihre Finger schloss, erhoben sich die schweren Torflügel vom Boden. Auf ihren Fingerzeig hin fügten sie sich erneut in den riesigen Türrahmen, sackten in die Löcher der Wand ein und schlossen sich. Dann hob sie auch die andere Hand, legte die Handflächen wie zum Gebet zusammen und bewegte sie ganz langsam auseinander. Quietschend öffnete sich das Tor. Schließlich stand es einladend offen.

»Gut so?«, fragte sie, woraufhin der Krieger aufstand und ihr die bandagierte Hand auf die Schulter legte.

Den Atem laut ausstoßend, senkte sie ihre Arme und entließ das Tor aus ihrer Kraft. Beide Torflügel kippten quietschend nach vorne und hingen danach schief in den Angeln.

»Nächstes Mal gleich so«, meinte er, nickte jedoch anerkennend, und wandte sich dann Jareeb zu. »Geht hinein.«

Der Artefakthändler erwachte aus seiner Starre und räusperte sich.

Ich habe sie unterschätzt, dachte er. Das war überaus ...nützlich.

»Bitte begleitet mich. Meinen Informationen nach soll es darin keine Fallen geben, aber man kann nie sicher sein«, sprach er und versuchte seiner Stimme einen abgeklärten Klang zu geben.

»Wenn es Euch beruhigt«, antwortete die Frau schulterzuckend und wollte ihm folgen, doch der Krieger festigte seinen Griff an ihrer Schulter und hielt sie zurück.

»Wieso«, sagte er monoton.

»Mhm?« Jareeb wusste nicht, was er meinte.

»Wieso habt ihr Informationen über einen Ort, der hinter einem Tor liegt, das bisher niemals geöffnet wurde«, fragte der Söldner lauernd und fixierte ihn mit seinen Augen.

Jareeb stockte.

Sein Kunde hatte ihm eine Menge Informationen zu diesem Auftrag gegeben, aber er hatte nie darüber nachgedacht, woher er das wissen konnte, wenn diese Tür stets verschlossen geblieben war.

Ich schätze, ich werde mehr Geld für mein Schweigen verlangen müssen, dachte er und lächelte verschmitzt.

»Lasst das meine Sorge sein. Gut, dann gehe ich allein. Wartet hier«, antwortete er und wandte sich ab.

Der Dieb trat zu dem Tor, hob die Fackel und beäugte kritisch die schiefhängenden Flügel. Offenbar hatten sie sich verkeilt und blieben vorerst an Ort und Stelle. Also ging er weiter und betrat den Raum dahinter. Nach dem ganzen Aufwand hatte er eine großartige Halle erwartet, verziert und mit allerlei mythischem Pomp versehen – doch was ihn erwartete, war eher enttäuschend: Das Zimmerchen war gerade einmal so breit wie sein Zugang und völlig schmucklos. Die Wände waren glatt und kahl, der Raum eng und leer, bis auf ein schmales Podest in seiner Mitte. Darauf befand sich ein kleines Kästchen.

Jareeb trat heran und tippte es vorsichtig mit einem Finger an. Nichts geschah. Keine Falle wurde ausgelöst. Die Informationen schienen zu stimmen. Er beugte sich vor und nahm es näher in Augenschein. Das Flackern des Feuerscheins huschte über die Kanten des Kästchens. Es war aus dem gleichen Material wie die Tür: metallisch, grünlich schimmernd und durchzogen mit weißen Linien. Er fuhr es mit den Fingerkuppen ab und fand einen Spalt.

Man hatte ihm verboten, hineinzublicken, allerdings war ihm das herzlich egal. Mehr Informationen bedeuteten schließlich mehr Verhandlungsargumente. Mit den Fingernägeln fuhr er in den Zwischenraum. Das Kästchen öffnete sich ganz mühelos. Er nahm den Deckel ab und schaute hinein.

Darin befand sich ein Kristall, der in einer Art Netz aus silbrigen Drähten hing – groß wie ein Hühnerei, tropfenförmig und kunstvoll facettiert geschliffen. Wenn Jareeb den Kopf ein wenig neigte, gab es überraschenderweise Winkel, in denen der Stein beinahe unsichtbar war. Seine Reinheit war atemberaubend. Das Licht der Fackel brach sich unzählige Male in ihm, wurde gebündelt und warf winzige Lichtpunkte an die Wände. Es wirkte, als würde er inmitten des nächtlichen Sternenhimmels stehen.

»Ich schätze, er ist den ganzen Aufwand wert«, murmelte Jareeb, während er sich erstaunt umblickte, das Kästchen wieder schloss und anhob.

Wieder wurde keinerlei Falle ausgelöst …

Man war sich wohl des Tores sehr sicher, dachte er hinausschlendernd. Wer hätte schon mit dieser seltsamen weißen Frau gerechnet?

»Zurück!«, hörte er diese plötzlich rufen.

»Was zum ...«, murmelte er und blickte auf.

Mehrere Masakh stürmten in den Raum. Der Anblick der entstellten Kreaturen ließ Jareeb aufkeuchen. Vermutlich hatte die geräuschvolle Explosion sie angelockt. Dieser Ort lag zwar sehr abgelegen, doch es wäre möglich, dass er in einem ihrer Jagdreviere lag.

Der Krieger hatte bereits seine Dolche gezückt. Geschmeidig bewegte er sich durch ihre Reihen, wirbelte um seine eigene Achse und ließ die Klingen mit tödlicher Präzision ihre Ziele finden. Wenn seine Gegner nicht durch einen Kehlschnitt sofort den Tod fanden, fügte er ihnen lange, heftig blutende Schnittwunden an Oberkörper und Gliedmaßen zu, sodass sie kaum noch kampffähig waren. Doch mehr Masakh strömten in den Raum und umzingelten ihn. Seine Gefährtin tat nichts, sondern beobachtete lediglich mit etwas Sicherheitsabstand das Geschehen.

»Warum hilfst du ihm nicht?«, fuhr Jareeb die Söldnerin an.

»Er kommt schon klar«, antwortete sie nur, ungerührt lächelnd.

Diese Unverfrorenheit ließ erneut Wut in Jareeb aufwallen. Er biss die Zähne zusammen und sog scharf die Luft ein. Der Grabräuber rannte zu ihr und wollte eben losbrüllen, als sich die Taktik der Gegner schlagartig änderte.

Einige der zurückgesetzten Angreifer hatten klobige Armbrüste und Wurfspeere in den Pranken. Sie richteten sie auf den Söldner, der weiterhin wie ein Schatten zwischen den zahlreichen Hieben der Nahkämpfer hindurch glitt. Auf ein unverständliches Gegrunze hin schossen sie auf ihn.

»Vorsicht!«, rief Jareeb und rannte durch das Tor.

Doch der Krieger kämpfte unbeirrt weiter, während Bolzen und Speere auf ihn regneten. Keiner traf. Erneut wurden die Waffen angelegt und geschossen. Wieder traf keine Einzige.

Jareeb runzelte verwirrt die Stirn. Plötzlich bemerkte er, dass auch die zahllosen Hiebe mit den klobigen Äxten und riesigen Zweihandschwertern niemals ihr Ziel fanden. Stets verfehlten sie um Haaresbreite den schwarzgerüsteten Krieger, selbst wenn dieser nicht auswich.

Das geht nicht mit rechten Dingen zu, dachte er, seine Beute so fest umklammernd, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Niemand kann so viel Glück haben.

Nach und nach streckte der Krieger sie nieder und widmete sich dann erst den Fernkämpfern, die nun langsam zurückwichen, als sie bemerkten, dass ihre Übermacht nicht ausreichte. Einer schaute mit blutunterlaufenen, wilden Augen zu Jareeb, grunzte unverständliches Zeug und deutete mit der Klaue in seine Richtung. Sofort rannten sämtliche Angreifer auf ihn zu.

»Scheiße«, kreischte er mit hohem Stimmchen, wirbelte herum und stockte dann.

Die Söldnerin stand lässig neben ihm. Sie hielt ihre rechte Hand vor der Brust, zwei Finger waren erhoben und die anderen formten mit dem Daumen einen Kreis. Ihr Blick war konzentriert auf das Kampfgeschehen gerichtet.

Nun verstand er endlich.

Ihre Magie sorgt dafür, dass keine der Waffen trifft, erkannte er. So subtil, dass die Angreifer es nicht bemerkt haben.

Doch nun schienen es auch die Masakh begriffen zu haben und wandten sich der größeren Bedrohung zu: der weiß gekleideten Frau, die unglücklicherweise genau neben ihm stand! Eine Flucht war für Jareeb unmöglich.

Allerdings vernachlässigten sie dadurch fatal ihre Deckung, sodass der Krieger von hinten mühelos einen nach dem anderen niederstreckte. Trotz allem hatte einer Jareeb beinahe erreicht. Laut brüllend stampfte er auf ihn zu und brabbelte dabei irgendetwas mit seltsamen Lauten, widerwärtiger Speichel flog von seinem Maul durch die Luft. Doch statt dem Dieb ohne Umschweife den Kopf abzureißen, stieß der Masakh Jareeb einfach zur Seite, hob seine Axt und wollte sie auf die Frau niederfahren lassen.

Ein dunkles Huschen schob sich vor sie und die Axt kam zum Stillstand. Ihr Gefährte hatte die Wucht des Hiebes lässig mit nur einer Hand aufgehalten. Dann antwortete er dem Monster in derselben abgehackten, animalischen Sprache und rammte ihm einen Dolch in die Kehle. Blut schoss hervor und benetzte seine Rüstung. Erbärmlich gurgelnd wankte der Angreifer zurück, sackte auf die Knie und kippte schließlich sterbend vornüber.

»Danke, Najim.« Die Frau atmete erleichtert auf.

»Du hättest ihn einfach töten können«, meinte ihr Gefährte, drehte sich zu ihr um und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Du weißt, dass ich niemanden einfach so töten werde«, erwiderte sie und blickte ihm fest in die Augen.

Er antwortete ihr zunächst nicht, sondern sah sie nur stumm an. Schließlich seufzte er laut, schloss die Augen und kratzte sich am Hinterkopf.

»Die Heilerin in dir wird niemals ganz der Kriegerin weichen«, flüsterte er mit rauer Stimme. »Nicht wahr, Zeemira?«

Unzählige Facetten schimmerten an den makellosen Ornamenten der Wände und hauchten ihnen ein eigentümliches Leben ein. Abadaan Jawhaar – das Artefakt der Kathedrale Madinas –war das Symbol einer glorreichen Epoche. Es war das Vermächtnis der Ahnen vom Sabiqaan – dem Langen Vorher – einer Zeit, in der sich die Menschen gleichwertig neben den Göttern eingereiht hatten.

Die weißhaarige Hohepriesterin blickte gedankenversunken auf das Relikt und erinnerte sich vage an diese fernen Zeiten. Die Bilder vor ihrem geistigen Auge waren blass und farblos, beinahe so, als würde sie durch den Rauch eines erloschenen Feuers schauen. Eine Lichtgeborene mochte aus menschlicher Sicht beinahe eine Ewigkeit leben, doch auch sie konnte Erinnerungen nicht für immer festhalten, auch wenn ihre Körper trotz fortschreitenden Alters eine eigentümliche Jugendlichkeit behielten.

Hohepriesterin Pheedre wandelte nun schon viele Jahrhunderte auf dieser Welt. Ihr Wissen war beständig gewachsen und damit auch ihre Macht über die kleinsten Teile der Schöpfung. Sie konnte mit ihren Gedanken diese Puzzlesteine nach Belieben anordnen, solange sie sich an gewisse Regeln hielt, die in ihrem physischen Körper unsichtbar eingebrannt worden waren. Diese Regeln waren zwar streng, sie zu beugen, war jedoch die hohe Kunst einer ranghohen Lichtgeborenen.

Doch selbst dieses Wissen konnte ihr nur begrenzt Einsicht in das Artefakt vor ihr geben. Noch immer verstand sie nicht gänzlich, wofür man es geschaffen hatte. Die offensichtlichsten Wirkungen waren der Schutz vor den Lichtstürmen und das Freilegen von Wasser, um die Stadt Madina inmitten der Wüste am Leben zu erhalten. Das war Pheedre allerdings immer zu banal vorgekommen. Sie hatte durch intensive Studien und Experimente herausgefunden, dass man mit ihm auch künstliche Lichtstürme erzeugen konnte. Das machte es zwar zu einer mächtigen Waffe, trug jedoch angesichts der Unkontrollierbarkeit des Phänomens keinesfalls die Handschrift der Ahnen vom Sabiqaan. Da musste noch mehr sein.

Letztendlich weiß ich weiterhin fast nichts, dachte Pheedre und verzog ein wenig ihre Lippen, als hätte sie auf etwas Saures gebissen. Wenn mir Maheen mit ihren Fähigkeiten zur Seite gestanden hätte, wäre das vermutlich anders.

Langsam ausatmend schloss sie kurz ihre Lider. Diese Hohepriesterin war so ganz anders als Aaminah und Lateefah gewesen. Die beiden waren Pheedre immer ergeben gewesen, schließlich hatte sie die Frauen zu dem gemacht, was sie nun waren. Maheen jedoch war nicht nur hochtalentiert, sondern auch mit eigensinnigem Scharfsinn ausgestattet gewesen, wodurch sie schnell selbst in den Rang einer Hohepriesterin aufgestiegen war. Dass ausgerechnet sie sich wegen etwas so Vergänglichem wie Gefühlen gegen die Kathedrale gewandt hatte, traf Pheedre mehr, als sie vermutet hatte. Außerdem hatte sie sogar im direkten Kampf bewiesen, dass Pheedres Macht nicht so unantastbar war, wie sie angenommen hatte.

Ein weiteres Rätsel.

Wie, Maheen? Wie hast du dem beschleunigten Zerfall deines Körpers so lange widerstehen können?, fragte sich Pheedre nicht zum ersten Mal.

Aber dieses Geheimnis hatte die andere Hohepriesterin mit in ihr Grab genommen – und das auf spektakuläre Art und Weise. Ihr selbst gewählter, öffentlicher Tod, bei dem sie ihre weißen Augen konserviert hatte, war ein schwerer Schlag gegen die bisherigen Machtkonstellationen gewesen. Es hatte sich unverkennbar um ihre Leiche gehandelt. Ein so mächtiges Wesen wie eine Hohepriesterin konnte nicht einfach sterben, ohne dass Lichtgeborene involviert waren. Offener Zwist zwischen den mächtigen Heilerinnen war neu und versetzte alle in Aufruhr. Manche vermuteten in ihrer Aufregung sogar lächerlicherweise eine Macht, die noch über den Priesterinnen stand. Dadurch schienen die Lichtgeborenen plötzlich … menschlicher.

Und Menschen machten Fehler.

Kommandant Haidaar hatte die Gelegenheit sofort ergriffen. Umgehend hatte er die Kathedrale öffentlich zur Rede gestellt. Ihr war keine Zeit geblieben, die Umstände anders zu gestalten. Da Pheedre schlecht zugeben konnte, dass sie Maheen persönlich angegriffen hatte und ihre Tochter sogar aus ihren Fängen entkommen war, musste sie sich ohne nachvollziehbare Erklärungen zurückziehen, um weiteren unbequemen Fragen zu entfliehen.

Die Gerüchte hatten sich wie ein Lauffeuer in den westlichen Landen herumgesprochen. Lichtgeborene wurden danach misstrauisch beobachtet und indirekt aus Politik, Handel und anderen Machtkonstellationen ausgeschlossen, indem man sie schlicht ignorierte. Pheedre hatte kurz erwogen, Haidaar aus dem Weg zu räumen, aber das hätte den Argwohn nur noch mehr geschürt. Davon abgesehen, rechnete der schlaue Kommandant sicher mit so etwas und hatte entsprechende Maßnahmen ergriffen. Vermutlich waren ihm von Maheen sogar Strategien in die Hände gelegt worden. Das konnte Pheedre nicht riskieren. Maheen war ihr tatsächlich voraus gewesen.

Es gibt andere Mittel und Wege, die Menschen wieder auf den richtigen Pfad zu führen, dachte sie milde lächelnd und öffnete ihre Augen.

Elegant umrundete sie das blauleuchtende Artefakt, lauschte dem kaum wahrnehmbaren Rotationsgeräuschen seiner drei goldenen Ringe und blickte aus den hohen Spitzbogenfenstern. Der Himmel über der Wüste war wolkenleer – das war er immer, wenn ihn kein Lichtsturm in ein Meer aus schimmernder Seide verwandelte. Die bunten Dächer Madinas unterhalb der Kathedrale glitzerten in der Hitze des Tages und die Menschen auf den Straßen gingen ihren alltäglichen Geschäften nach – die Umwälzungen der Außenwelt erreichten diese Stadt nur träge.

Drei Jahre waren nun seit Maheens Tod vergangen. In dieser Zeit hatten sich fast alle Lichtgeborenen in die Kathedrale zurückgezogen und mischten sich nicht mehr in die Belange der Menschen ein. Zuerst war es seltsam ruhig geblieben, doch schon bald waren all jene, die sich aus Respekt vor den Lichtgeborenen verborgen gehalten hatten, aus ihren dreckigen Löchern gekrochen.

Die Schattengilde war wagemutiger geworden und beeinflusste nun offensiver Handel und Politik. Die monströsen, raubtierhaften Masakh eroberten große Landstriche und breiteten sich immer weiter aus. Die Menschen begannen sich nach und nach daran zu erinnern, dass die Lichtgeborenen für Frieden gesorgt hatten. Nicht mehr lange und sie würden um Hilfe bitten. Pheedre würde sich weiterhin in Zurückhaltung üben, bis aus dem zaghaften Bitten ein verzweifeltes Flehen geworden war.

»Ihr werdet es lernen«, flüsterte sie gleichmütig und strich sich ihr schneeweißes Haar zurück. »Das habt ihr schon einmal. Doch diesmal werdet ihr es nicht schon nach wenigen Jahrhunderten wieder vergessen.«

Bevor sich das Gefüge der Welt erneut glätten konnte, musste Pheedre allerdings endlich die letzte Gefahr beseitigen. Sie hatte sich Jahrhunderte darauf vorbereitet, so viele Vorkehrungen getroffen, doch trotz allem waren die Worte, die sie damals in den alten Zeiten vernommen hatte, nicht aufzuhalten gewesen. Die Menschen heute würden es Prophezeiung nennen, doch die Hohepriesterin wusste es besser – es war ein wahrer Blick in die Zukunft gewesen. Dieses Wissen hatte Pheedre zu einer Geborenen des Schicksals erhoben – zu einem Wesen, das die Geschicke der Schöpfung selbst beeinflussen konnte. Wer, wenn nicht sie, könnte diese Aufgabe erfüllen?

Trotzdem waren ihr die Fäden des Schicksals entglitten: Zeemira war entkommen.

Ihre Mutter Maheen hatte sich gegen Pheedre gewandt, ihre Tochter war aus Madina geflohen, obwohl sie ihrer Kräfte beraubt worden war. Schlimmer noch: Sie hatte neue Fähigkeiten gewonnen und auch noch einen mächtigen Verbündeten an ihrer Seite gefunden – einen über das Feuer gebietenden Shaytan. Sie hatte sogar einen direkten Angriff von den mächtigsten Lichtgeborenen dieser Zeit überstanden. Als sie dann auch noch Pheedres Lichtsturm entkommen war, hatte sich kurz das kalte Stechen der Furcht in das Herz der Hohepriesterin geschlichen.

Konnte es sein, dass sich das Schicksal nicht von ihr beugen ließ? Und das, obwohl es ihr verraten hatte, was es bringen würde?

Unmöglich.

Ihre filigranen Finger betrachtend, durch die das Licht der Schöpfung selbst floss, mahnte sie sich erneut zur Disziplin. Sie würde das Schicksal diesen Weg nicht bis ans Ende gehen lassen. Die Zeit drängte. Jeder Tag, der verstrich, führte die Menschen näher an den Abgrund.

Es gibt einen Weg, uns alle zu retten, dachte Pheedre und wandte sich kraftvoll von dem Fenster ab, sodass ihr weißes Haar und das lange Gewand ihren Körper umwehten wie Nebel. Es muss einen Weg geben! Und wenn ich für einen kleinen, lebendigen Teil der Welt den gesamten Rest opfern muss.

Die tiefroten Blüten der Sandlilie bewegten sich sanft in einer milden Meeresbrise. Zeemira ließ ihre Handflächen vorsichtig über die zarten Blattspitzen gleiten und schritt barfuß durch das hohe Gras. Ihre Schuhe schwenkte sie locker auf ihren Fingerspitzen und das Kitzeln an ihren nackten Füßen zauberte ein Schmunzeln auf ihr Gesicht. Die Pflanzen um sie herum raschelten leise, als ihr weißes Gewand darüber hinweg flatterte.

Sie kam oft an diesen Ort: Eine kleine Klippe, auf der unzählige Blumen im Schatten eines knorrigen Baumes blühten, der sich stur mit den Wurzeln in das Gestein krallte, um nicht den Felsen hinabzustürzen.

Als sie sich schließlich gegen den rauen Stamm lehnte, hob sie ihr Kinn und blickte hinaus auf die glitzernde Fläche des Ozeans, die am Horizont mit der Weite des Himmels verschmolz. Der Anblick beruhigte Zeemiras Herz – auch wenn ihre Gedanken weiterhin darum kreisten, was jenseits dessen alles geschehen war.

Zeemira war zusammen mit ihrem Geliebten Jaleel aus der Stadt Madina geflohen. Das Juwel inmitten einer lebensfeindlichen Wüste stand unter dem Schutz der mächtigsten Lichtgeborenen dieser Welt. Auf ihrer Flucht hatte sie gemeinsam mit Jal jedes Gefühl durchlebt, das sie sich bis dahin hatte vorstellen können – von tiefem Vertrauen bis hin zu lähmendem Schrecken.

Sie hob einen ihrer Arme und zog nachdenklich mit ihren Fingerspitzen die Ornamente eines der Armbänder nach. Diese uralten Schmuckstücke waren seit ihrem Besuch bei der grotesken Masakh-Schamanin ihre unfreiwilligen Begleiter geworden. Die Hoffnung, damit ihre Heilfertigkeiten wiederherstellen zu können, war in dem Moment erloschen, in dem die Entladung ihrer Macht sie beinahe das Leben gekostet hatte.

Ohne ihren neuen Gefährten, den Flammentänzer Najim, hätte sie längst ihren letzten Atemzug getan. Zeemira war mit dem dunklen Krieger weit über das Meer gereist und schließlich hier auf dieser Inselgruppe gelandet – dem Fatira-Archipel, benannt nach den gefährlichen Strudeln, die sie umgaben.

Schläfrig gegen die Reflexionen der Wasseroberfläche blinzelnd, ließ sie ihren Blick schweifen und dachte erneut darüber nach, was alles anders hätte sein können. Als sie auf dem weiten Blau des Meeres mehrere dunkle Punkte ausmachte, die sich in ihre Richtung bewegten, hob sie überrascht ihre Brauen und beschattete ihre Augen mit der Handfläche.

Schiffe, erkannte sie, als sie genauer hinschaute. Keine der unsrigen dabei. Wer ist so wagemutig und versucht die Strudel ohne die hiesigen Lotsen zu umschiffen?

Plötzlich vernahm sie hinter sich ein ungewöhnliches Rascheln. Zeemira wirbelte kampfbereit herum und berührte mit ihrem Geist die Verbindung zu ihren Armbändern, wie sie es von Najim gelernt hatte.

»Bitte ... entschuldigt«, sprach hastig ein alter Mann im Schatten des Baumes und hob abwehrend die Arme. »Ich habe nichts Böses im Sinn.«

Zeemira erinnerte sich vage an sein Gesicht, er war einer der Bewohner dieser Insel. Vermutlich war sie ihm manchmal in dem kleinen Dorf begegnet, in dem sie nun lebte. Sie entspannte sich und lächelte ihn an.

»Schon gut, Ihr habt mich nur ein wenig erschreckt«, sagte sie und warf ihren locker geflochtenen Zopf nach hinten über die Schulter.

»Nun, ich schätze, das bringt das Söldnerleben so mit sich. Keine schlechte Eigenschaft«, antwortete er und grinste sie mit einer löchrigen Zahnreihe an.

Es ist mir schon ins Blut übergegangen. Dieser Gedanke ließ sie bestätigend Nicken.

»Weswegen ich hier bin ...«, begann er zögerlich mit leiser Stimme.

»Ja?«, ermunterte Zeemira ihn, als er stockte.

»Habt Ihr die Schiffe auf dem Meer gesehen?«, fragte er dann und deutete mit der Hand hinter Zeemira. »Die Klippenspäher haben eine Briefkrähe gesendet. Es sind Räuber.«

»Ich habe so etwas vermutet, sie wollen ohne Navigationshilfe an den Strudeln vorbeischiffen«, meinte Zeemira und tippte sich mit dem Zeigefinger nachdenklich gegen das Kinn.

»Sie werden es problemlos schaffen.« Der Alte seufzte. »Die Späher berichten, dass sie mit den Riffen schon keinerlei Probleme hatten.«

»Dann werden es nicht nur ein paar Vagabunden sein, sondern fähige Seeleute. Vermutlich mit guten Kämpfern an Bord«, schloss Zeemira und ahnte bereits, was der Mann hier von ihr wollte.

»Der Kiral ist noch mit seiner Flotte außer Landes. Wir haben auch nicht genügend Zeit, um Hilfe von den anderen Inseln kommen zu lassen ... Unsere Kampfkraft ...«, begann er und stoppte.

»... ist keinesfalls ausreichend, um standzuhalten«, beendete Zeemira den Satz mit ernster Stimme.

Ohne die wendige Flotte des Herrschers über das Archipel – dem Kiral – würden diese Schiffe auf See nicht aufzuhalten sein und deren Mannschaften problemlos das Land erreichen. Der Mann hatte seine Bitte noch nicht direkt ausgesprochen, daher blieb Zeemira noch eine kurze Bedenkzeit.

Najim war auf einer anderen Insel. Jeden zehnten Tag des Monats suchte er sie auf, damit potenzielle Auftraggeber Kontakt zu ihm herstellen konnten. Ob die Angreifer davon gewusst hatten? Zeemira war allerdings hiergeblieben. Vielleicht dachten sie, die beiden würden normalerweise zusammen den Treffpunkt aufsuchen? Vielleicht hatten sie aber auch gar keine Ahnung, was genau sie hier erwarten würde. Dagegen sprach jedoch, dass sie sich so gut mit der Navigation auskannten und offensichtlich genau wussten, dass der Kiral abwesend war.

»Würdet Ihr ...«, murmelte der Alte vorsichtig. »... könntet Ihr ... mit mir kommen? Uns helfen ... uns schützen? Wir haben nicht viel Geld, aber ...«

Er kramte in den Taschen seiner zerschlissenen Hose und holte ein paar Münzen hervor. Er streckte sie Zeemira auf seinen schwieligen Arbeiterhänden entgegen.

»Nein«, sie schüttelte langsam den Kopf, woraufhin der Alte den Mund öffnete und traurig die Schultern hängen ließ. »Ich brauche dein Geld nicht«, fuhr sie fort und lächelte ihn aufmunternd an. »Natürlich helfe ich dem Dorf. Das ist das Mindeste für eure Gastfreundschaft uns gegenüber.«

Sein Gesicht zeigte zuerst Erstaunen, dann hellte es sich freudig auf.

»Wirklich?«, fragte er und schaute sie an wie ein kleiner Junge.

»Aber ja.« Zeemira lachte kurz auf, wurde jedoch sofort wieder ernst. »Los, lass uns keine Zeit verlieren. Wir müssen schnell zum Hafen!«

Der Alte nickte eifrig, steckte die Münzen weg und eilte voraus. Zeemira schlüpfte schnell in ihre Schuhe und lief ihm hinterher. Sie überquerten die spärlich bewachsenen Hügel hinab zur Siedlung. Der kleine Ort schmiegte sich in eine Bucht entlang eines felsigen Ufers und mündete in einen recht großen Hafen, in dem winzige Fischerboote und breitere Transportschiffe vor Anker lagen. Durch die engen schattigen Gassen laufend, stiegen Zeemira die ihr mittlerweile vertraut gewordenen Gerüche von Algen, Salz und Fisch in die Nase.

Am Hafen hatten sich die Bewohner bereits versammelt und blickten grimmig aufs Meer hinaus. Als Zeemira hinter dem alten Mann ins Sonnenlicht hinaustrat, das ihre kupfernen Haare wie lebendiges Metall glühen ließ, riefen ein paar Kinder aufgeregt durcheinander: »Sayidat-Bayda!«

»Sie ist hier ... Die weiße Dame ist hier!«

»Die Sayidat-Bayda wird helfen!«

Die anderen Leute, allesamt Jugendliche oder ältere Menschen, drehten sich um. Zwar konnte jeder Einzelne von ihnen kämpfen, das lehrte man die Kinder des Archipels ab ihrem sechsten Lebensjahr, aber sie waren nicht im besten Alter dafür. Ihre angespannten Gesichter glätteten sich ein wenig, als sie Zeemira sahen. Die Menschen packten ihre Waffen sicherer. Manche lächelten sogar zaghaft, wenn sie von Zeemiras Blick gestreift wurden.

So viele Erwartungen, dachte sie, die Lippen zusammenpressend. Wie damals in Madina.

Zeemira atmete tief durch und lief ihnen weiter entgegen. Sofort traten die Leute ein wenig zur Seite, wodurch sie ungehindert an den Rand der Kaimauer gehen konnte. Sie rückten jedoch nicht so weit weg, als wäre Zeemira eine Ausgeschlossene. Für diese Menschen war sie ein Teil des Dorfes, trotz ihrer Andersartigkeit. Das warme Gefühl der Akzeptanz durchströmte ihr Herz und ließ die Last, die sie bis eben noch auf ihren Schultern gespürt hatte, leichter werden.

Ich bin nicht wie damals, ermahnte sie sich selbst. Ich werde niemanden von ihnen sterben lassen, auch wenn ich nicht mehr heilen kann.

Sie richtete ihren Blick auf die herannahenden Schiffe. Die Strudel lagen schon hinter den Zweimastern und sie konnte bereits die Kämpfer an Bord erkennen. Zeemira sprang auf den ersten Balken eines Wellenbrechers und balancierte dann weiter nach vorn.

Von hier aus sollte es einigermaßen sicher für die Bewohner sein, überlegte sie, während sie über ihre Schulter zurückblickte.

Zeemira wandte sich erneut den Angreifern zu. Ihr Geist versenkte sich, tastete sich bis hin zu der Grenze, die zwischen ihr und der chaotischen Macht stand. Ihre Gedanken strichen darüber, sodass in ihrer Wahrnehmung ein bizarres Flimmern in dieser Barriere entstand. Ihre Fingerspitzen begannen zu kribbeln und ein Gefühl, als würden sich glitschige Würmer unter ihrer Haut winden, zog sich ausgehend von den Armbändern ihre Unterarme hinauf.

Während sie überlegte, wie sie die Piraten am besten aufhalten konnte, rasten plötzlich schwarze dünne Schatten auf sie zu. Flammen züngelten an ihren Enden.

Feuerpfeile. Das kommt mir sehr gelegen, dachte Zeemira und lächelte. Vielen Dank.

Es kostete sie nur eine einfache Handbewegung.

Auf ihren Fingerzeig hin richtete sich ihre innere Macht gegen die Spitzen der Geschosse und stupste sie leicht an – nur ein sanfter Eingriff in die Flugrichtung, ohne viel Kraftaufwand. Dadurch kippten sie und flogen zurück zu den Schiffen. Die Segel fingen sofort Feuer und aufgeregtes Geschrei ertönte von den Räubern zu ihr herüber. Die Menschenmenge am Hafen lachte auf und johlte. Manche der Leute bedachten die Angreifer mit obszönen Gesten.

Doch die Piraten gaben nicht so einfach auf. Während einige eilig Wasser auf die Planken schütteten, damit das Holz kein Feuer fing, wurden kleine Beiboote zu Wasser gelassen. Mit Krummsäbeln bewaffnete Männer kletterten an Seilen den Bug hinab und sprangen hinein. Einige waren bereits auf dem Weg zum Hafen.

Wenn ich mich zielgenau konzentriere, erreichen zu viele das Ufer, analysierte Zeemira und versuchte dabei; das aufgeregte Herzklopfen in ihrer Brust zu ignorieren, damit sie strategisch dachte. Ich muss sie alle auf einmal erwischen.

Ihr blieb nicht viel Zeit, die Ruderer hatten kräftige Arme und waren bereits auf halbem Wege zum Hafen. Zeemira legte ihre Hände flach auf ihre Brust, schloss die Augen und hielt den Atem an. Mit dem erneuten Berühren der Barriere in ihrem Inneren begann chaotische Macht wie hohe Wellen gegen ihren Körper zu branden. Doch sie schwankte nicht.

Zeemira befolgte Najims Anweisungen aus dem Training: Sie dachte an etwas, das Zorn in ihr weckte. Sie ließ sich davon jedoch nicht überwältigen, sondern nutzte ihren Geist, um damit die Macht zu lenken. Die rohe Kraft zerrte ihre Arme zur Seite und eine unsichtbare Säule aus Energie raste von den Fußsohlen hinauf durch ihre Brust. Sie riss Zeemira vom Boden und hob sie mehrere Fuß breit nach oben.

Waffe, befahl sie stumm und öffnete ihre in wildem Weiß flackernden Augen.

Die Macht folgte ihrem Wunsch auf ganz eigentümliche Weise. Das Meer um sie herum bog sich nach unten wie eine Schüssel. Die Wellen der hohen See erreichten sie nicht mehr, sondern flossen in einiger Entfernung an ihr vorbei. Es schien, als würde die Natur sie plötzlich meiden. Auf einmal schossen Bänder aus Wasser nach oben, rotierten spiralförmig um Zeemira herum und warteten auf ihren nächsten Befehl.

Die Menschen an Land betrachteten mit großen Augen die schwebende Frau, deren weißes Gewand ihren Körper in einem ätherischen Wind umwehte. Zwischen den rotierenden Wassersträngen glitzerte ein Vorhang aus tausend Tropfen. Das Sonnenlicht reflektierte sich seltsam entrückt auf dem goldenen Metall der Armbänder und warf gebrochene Reflexionen auf das Wasser unter ihr. Für einen Augenblick erschien sie wie eine magische Wesenheit des Ozeans, emporgestiegen, um der Welt den Zauber der See zu offenbaren. Ein Wesen, das nicht hierher gehörte und dem sich die Realität beugte.

Doch weder die Macht, die Zeemira in den Armbändern weckte, noch sie selbst, hatten in diesem Moment friedliche Absichten.

Boote, dachte sie, woraufhin das Rauschen des Wassers anschwoll und die transparenten Bänder wie die Peitschen eines Foltermeisters hervorschnellten.

Sie schmetterten gegen die Ruder der kleinen Gefährte, die daraufhin in unzählige Splitter zerbarsten. Manche der flüssigen Waffen rammten den Bug, sodass die Angreifer im Meer landeten. Doch der chaotische Kraftausbruch war nicht leicht zu kontrollieren. Manche der Hiebe schlugen direkt gegen die Brustkörbe der Männer und schleuderte sie meterweit fort. Sie fielen ins Wasser und tauchten nicht wieder auf. Vermutlich hatte die Wucht ihre Rippen gebrochen.

Das wollte ich nicht, dachte Zeemira bitter, ließ jedoch nicht zu, dass sie ihre Konzentration verlor. Doch ich werde nicht zulassen, dass ihr meinem kleinen Zuhause etwas antut.

In wenigen Augenblicken hatte sie sämtliche Beiboote zerstört oder fahruntüchtig gemacht. Daraufhin sprangen die unverletzten Männer ins Wasser und begannen zum Hafen zu schwimmen. Zeemira kam nicht umhin, sie für ihren Mut angesichts ihrer Macht zu bewundern. Sie konnte sie offenbar nur aufhalten, indem sie ihre Kraft direkt gegen die Männer richtete.

»Erwartet sie mit den Lanzen am Kai!«, rief hinter Zeemira eine rundliche, alte Frau und stellte sich mit gesenkter Klinge an die Mauer. »Wir können die Weiße Dame nicht alles alleine machen lassen! Wo bleibt unsere Ehre? Sind wir nur noch gebrechliche Schankweiber?«

Die anderen lachten auf, traten an ihre Seite und taten es ihr gleich. Zeemira konnte es nicht riskieren, ihre Armbänder großflächig nahe den Verteidigern einzusetzen. Also zog sie die Kraft komplett zurück, woraufhin das Wasser um sie herum augenblicklich leblos nach unten platschte.

Sie wirbelte herum und eilte, so schnell es die rutschigen Balken zuließen, zu den anderen Dorfbewohnern. Sofort öffnete sich deren Front, ließ sie hindurch und schloss sich wieder. Zeemira sprang auf einen Stapel Frachtkisten und versuchte sich einen Überblick über das nun entstandene Kampfgetümmel zu verschaffen. Dann hob sie eine Hand, legte ihren Mittel- und Ringfinger an ihren Daumen und konzentrierte sich. Sofort war die Macht wieder an ihrer Seite und brodelte ungeduldig.

Zeemira versuchte so viele Angreifer wie möglich im Blickfeld zu haben und gewährte nur wenig Macht ein Ventil. Mit ihrer unsichtbaren Kraft drückte sie sanft gegen die Waffen der Piraten. Durch das resultierende Ungleichgewicht war es nun ein Leichtes für die kampfgeübten Dorfbewohner, auszuweichen und einen Gegenangriff zu starten.

Früher habe ich weit hinter den Kämpfern gestanden und mich ganz auf die Verteidiger konzentriert. Nun stehe ich selbst an der Front und stelle mich den Angreifern entgegen, schoss es ihr durch den Kopf. Ich bin wahrlich nicht mehr dieselbe ...

Die Sonne schien sich zu verflüssigen und begann, das Meer in einen warmen Goldton umzufärben. Die Hitze des Tages verflüchtigte sich und hinterließ eine wohlige Wärme auf der Haut.

Für Najim war es das Zeichen, seinen Platz verlassen zu können. Er war gegen Mittag an diesen Ort gekommen und hatte sich auf einem Felsen an der Küste niedergelassen. Nach kurzer Zeit hatte er seine Lider leicht gesenkt, mit leerem Blick auf das Wasser geschaut und sich in eine meditative Versenkung begeben. Nun regte er sich wieder, rollte mit den Schultern und seine Sicht klärte sich.

Keine Auftraggeber, stellte er fest.

Das war ihm ganz recht, denn der letzte Auftrag für einen Grabräuber war plötzlich eskaliert. Statt ein wenig Steine hin und her zu räumen, hatten sie sich im Kampfgetümmel mit einer Horde Masakh wiedergefunden. Allerdings waren sie sehr gut bezahlt worden, nachdem der Auftraggeber wohlbehalten mit einem kleinen Kästchen seines Weges gezogen war. Das Geld sollte eine Weile ausreichen. Trotzdem begab er sich jeden zehnten Tag hierher und gab somit anderen die Möglichkeit, Kontakt aufzunehmen.

Najim stand auf und streckte sich mit einem leisen Stöhnen. Während der Mediation nahm er seinen Körper kaum wahr, denn er nutzte diese ausschließlich, um das Feuer in sich zu spüren. Daher schmerzten seine stundenlang im Schneidersitz gefalteten Beine nun ein wenig.

Er wandte sich um, sprang von dem Felsen, landete sicheren Fußes am Strand und sank durch seine Rüstung tief in den weißen Sand ein. Najim stapfte zu dem kleinen Fischerdorf, dessen Dachschindeln in der tief stehenden Sonne rötlich blitzten, und lief dann gemächlich die festgetretenen Wege zwischen den Häusern entlang. Die Bewohner waren an den seltsamen schwarzen Krieger mit dem verborgenen Gesicht gewöhnt, daher ignorierten sie ihn weitestgehend. Als er Zeemiras Ehrentitel Weiße Dame aus einer Unterhaltung heraushörte horchte er auf. Der Krieger blieb stehen und schaute zu zwei Frauen mit fleckigen Schürzen um ihre Hüften. Sie diskutieren energisch miteinander, während sie den heutigen Fang ausnahmen.

»Kanns nich' glauben, dass'se die Piraten aufhalten konnt'!«, meinte die eine, einen weiteren Fisch köpfend.

»Vor allem is' kaum jemand schwer verletzt word'n! Niemand is' gestorb'n! Ohne die Soldaten des Kirals!«, nickte die andere betont wissend und schnippte ein paar Schuppen von ihrem üppigen Dekolleté.

Als die beiden bemerkten, dass Najim sie beobachtete, verstummten sie und arbeiteten scheinbar konzentriert weiter. Er wandte sich hastig ab.

Ein plötzlicher Angriff, aber Zeemira hat sie abgewehrt, schlussfolgerte er stumm. Sie hat sich wohl gut geschlagen.

Dennoch beschleunigte er weiter seine Schritte, bis er schließlich rannte. Schon bald raste er über die Hügelkuppen der kleinen Insel. Die Umgebung zog mit atemberaubender Geschwindigkeit an ihm vorüber, doch seine Füße fanden stets sicheren Halt. Intuitiv verlagerte er sein Gewicht, sobald der steinige Boden poröser wurde, oder er einen Haken schlagen musste. Der Krieger dachte darüber gar nicht weiter nach, seinen Instinkt hatte er jahrelang geschliffen. Kraftvoll sprang er über Hindernisse und flog viele Schritte weit, nachdem er sich vom Boden abgestoßen hatte. Vermutlich konnte das menschliche Auge seinen Bewegungen kaum folgen. Das fremde Blut in seinen Adern machte ihn zu einem tödlichen Kämpfer. Man nannte Najim einen Shaytan – einen Dämon.

Nur Zeemira nicht.

Sie hatte mit Neugier statt mit Ablehnung auf ihn reagiert. Zuerst war ihm das suspekt gewesen, doch schon nach kurzer Zeit hatte er vertrauensselig wie ein Waschweib ausgeplappert, wer er war. Aber auch dann hatte sie ihn nicht abgewiesen.

Vor ihm tauchte die schmale Holzbrücke auf, die diese Insel mit einer weiteren verband. Der Krieger wollte sie nicht mit seiner Kraft beschädigen, also bremste er ab und gab beim Überqueren Acht.

Danach sprintete er weiter und dachte an das Training mit Zeemira, nachdem die beiden über das Meer hierher gereist waren. Neben den harten körperlichen Kampfübungen hatte Najim sie gelehrt, dass Gefühle, die von Menschen oft genug als böse bezeichnet wurden, ihre Berechtigung hatten. Diese waren nicht nur sinnvolle Ergänzungen, sondern konnten mächtige Werkzeuge sein.

Trotzdem ist sie sich immer treu geblieben, dachte er und seine Lippen unter dem Tuch verzogen sich zu einem schmalen Lächeln. Das kann ich von mir nicht behaupten.

Nachdem die Sonne gänzlich hinter dem Horizont versunken war und sich die langen Schatten der Welt mit der Nacht vereint hatten, tauchte vor Najim das Küstendorf auf, in dem er nun lebte. Najim schlitterte geschickt einen Hang hinab und landete auf dem Dach der hintersten Häuserreihe. Im Laufen packte er den Rand der Mauer mit seiner bandagierten Hand, schwang sich darüber und fiel hinab in die Dunkelheit. Lautlos landete er auf dem Boden, sank auf die Knie und blickte sich um. Schon nach einem Wimpernschlag hatten sich seine Augen katzengleich an die Finsternis gewöhnt und erkannte er klar alle Details um sich herum.

Die Häuserwände standen dicht beieinander, so eng, dass seine Schulterpanzer beinahe an ihnen entlang schleiften. Die dazwischen gespannten Wäscheleinen waren bestückt mit Unterhosen und löchrigen Socken. Die Bewohner warfen gern Blüten in ihr Waschwasser. Den starken Geruch nach Seife und Blumenduft konnte er sogar durch sein Tuch wahrnehmen. Leise schnaubend schritt er voran – seine feinen Sinne mochten derart intensive Gerüche nicht.

Najim mochte die tröstende Stille der Nacht, die engen Gassen, die ihn umfingen wie eine Umarmung, und die gedämpften Geräusche des vergehenden Tages. Von irgendwoher drang leise Flötenmusik an sein Ohr, vielleicht von der Taverne am Hafenkai. Ratten huschten geschwind zwischen seinen Füßen hindurch oder hielten an, um ihn mit ihren kleinen Näschen zu beschnuppern.

Ihr fürchtet mich nicht, dachte Najim und beugte sich zu einem der Nager hinab, der ihn daraufhin mit seinen schwarzen Knopfaugen anstarrte. Dabei würdet ihr genauso verbrennen wie alle anderen.

Ein kindliches Quieken und lautes Fußgetrappel scheuchten das Tier auf, woraufhin es als dunkler Schatten in ein kleines Loch in der Wand flüchtete. Najim trat aus der Dunkelheit der Gasse auf die größere Straße vor ihm. Ein paar Kinder rannten an ihm vorbei und spielten mit hölzernen Schwertern. Laut krachten die stumpfen Klingen aneinander und die Jungs riefen sich wüste Beleidigungen zu, die sie wohl von Erwachsenen aufgeschnappt hatten. Sobald jemand getroffen wurde, tat er so, als wäre er tödlich verwundet, und ließ sich zu Boden fallen.

Naiv. Najim schnaufte verstimmt.

Plötzlich kam ein Mädchen angerannt. Es hatte kurzes Haar und einen aus Gras geflochtenen Zopf an ihr Hemdchen gebunden. Um seine Hüfte flatterte ein kaputtes, weißes Laken mit dreckverschmierten Enden.

»Ich helfe euch!«, rief sie mit kraftvollem Stimmchen, hob ihre Hände und deutete mit ihnen auf die Jungs.

»Die Weiße Dame!«, riefen die anderen.

Manche warfen sich nach hinten, andere stürmten auf sie zu. Andere sprangen dazwischen und kämpften gegen sie. Najims Schultern bebten ein wenig, als er sich ein Lachen verkneifen musste. Das Mädchen spielte Zeemira, die heute das Dorf verteidigt hatte!

War ja auch eine gute Leistung, stimmte er gedanklich zu und nickte.

Er wollte sich gerade abwenden, als er auf einmal einen weiteren Jungen rufen hörte: »Keine Sorge, meine Dame! Ich helfe euch!«

Der Junge hatte sich die Kehrschaufel aus der Küche seiner Mutter um die Brust gebunden, einen Lappen vor dem Mund und hielt eine kleine Fackel in der Hand.

»Der schwarze Krieger ist da!«, riefen die anderen. »Er wird seiner Weißen Dame beistehen. Wir haben keine Chance!«

Najims Gesicht lief bis zur unverdeckten Augenpartie knallrot an. Ein hitziges Kribbeln lief ihm seine Arme entlang und er blinzelte ein paar Mal verwirrt. Die Kinder spielten auch ihn – den bösen schwarzen Flammentänzer. Und nicht nur das! Sie taten so, als würden er und Zeemira zusammengehören.

Najim konnte den Kindern keine Sekunde länger zuschauen, sondern wandte sich um und rannte den Weg zurück, den er gekommen war. Dann hangelte er sich an einigen der Fensterbretter und Dachrinnen nach oben und stürmte über die Dächer weiter. Er verstand selbst nicht, warum ihn dieses Kinderspiel so verlegen machte, wusste er doch, was er für Zeemira fühlte und auch, dass sie es nicht erwiderte. Alles war ausgesprochen. Sie liebte Jaleel. Najim war ein Lehrer, Beschützer und guter Freund für sie. Seinem Kopf war das klar, seinem Herzen allerdings vollkommen egal – selbst nach all diesen Jahren.

Schließlich erreichte er das Haus, das er mit Zeemira bewohnte. Es stand ein wenig abseits des Dorfes, war aus kräftigen Balken gebaut und hatte drei Stockwerke. Die beiden bewohnten das oberste Geschoss, die unteren dienten als Lagerräume für Werkzeuge und Stoffe der Händler. Das war eine gute Sache für die Dörfler, denn die beiden beschützten so unfreiwillig die Waren. Als Gegenleistung mussten Najim und Zeemira keine Miete zahlen.

Der Flammentänzer blieb davor stehen und musterte das Gebäude. Alles war ruhig. Es brannte kein Licht in einem der oberen Fenster. War Zeemira noch nicht zurück? Er trat durch die stets unverschlossene Vordertür und schob sich den schmalen Flur entlang. Die hölzerne Wendeltreppe war so eng, dass er nur mit verdrehtem Oberkörper nach oben steigen konnte. Sie knarzte selbst unter seinen stets so beherrschten Sohlen. Immerhin bedeutete es, dass ungebetene Gäste keinesfalls unbemerkt hereinkommen konnten.

Zeemira hatte an der Wohnungstür ein Gesteck aus getrockneten Blumen aufgehängt. Der Heu-Geruch begrüßte Najim und erzeugte ein seltsam wohliges Gefühl in seinem Bauch. Dieser Ort war so etwas wie ein Zuhause geworden. Er schlüpfte leise durch die Tür. Der Krieger war allein und entspannte sich unwillkürlich in seiner Körperhaltung.

Mit lockerem Handgriff zog er das bunte Tuch vor seinem Gesicht nach unten und atmete tief durch. Die Düfte von altem Holz und salziger Meeresluft kitzelten in seiner Nase. Najim öffnete die Schnallen seiner ledernen Stiefel und schüttelte sie ab, wie ein Hund sein nasses Fell. Mit einem dumpfen Laut fielen sie zu Boden.

Vorsichtig setzte er seine nackten Füße auf die Holzdielen und bog seine Zehen ein wenig nach oben. Normalerweise lief er nur auf den Ballen, denn seine Gelenke waren lang gezogener und sehniger als die normaler Menschen. Dadurch bewegte er sich federnd, fast wie ein Raubtier. Zeemira würde ihm allerdings die Ohren lang ziehen, wenn er auf diese Weise den Boden mit seinen Krallen beschädigen würde. Daher tapste er nun unelegant mit voller Fußfläche in sein kleines Zimmerchen.

Nachdem er die Bandagen seiner Hände entfernt hatte, schob er seine harten Krallen unter die Verschlüsse seiner Armschienen, ließ sie aufschnappen und legte die Rüstungsteile auf sein Bett. Er ließ seine Arme kreisen und genoss das leise Knacken der befreiten Gelenke. Als er auch seine Waden von dem gehärteten, schwarzen Leder befreit hatte, setzte er sich auf die Bettkante und ließ sich einfach nach hinten auf die mit Stroh gefüllte Matratze fallen. Seine Kopfhaut juckte, also schob er das Tuch nach oben und kratzte sich unwirsch mit verzogenem Gesicht in seinem kinnlangen, dunklen Haar.

»Ob Zeemira etwas zu essen mitbringt?«, murmelte er vor sich hin und klopfte kurz gegen seinen Bauchpanzer.

Als wäre das ein Stichwort gewesen, öffnete sich knarzend die Haustür und Zeemira schritt die Wendeltreppe nach oben. Najim erkannte sie an ihrer Art zu gehen: Leicht und ein wenig beschwingt, als wäre sie stets guter Laune. Der Krieger richtete sich wieder auf und trat in das Hauptzimmer.

»Oh, du bist zurück!«, rief Zeemira sogleich, als sie in die Wohnung trat.

»Mhm«, meinte Najim nur nickend, verschränkte seine Arme und lehnte sich gegen den Türrahmen.

»Heute wurde das Dorf angegriffen. Zum Glück konnten wir die Piraten abwehren«, berichtete Zeemira und streifte ebenfalls ihre Schuhe ab.

»Habe davon gehört«, entgegnete Najim und folgte ihren Bewegungen mit den Augen. »Niemand gestorben, ich gratuliere.«

Zeemira schaute ihn freudestrahlend an. Offensichtlich genoss sie seinen Zuspruch. Normalerweise lief bei ihren Kräften nicht alles so reibungslos ab.

»Lass uns das feiern!«, sagte sie und lief auf ihn zu.

Prompt stolperte sie über Najims Stiefel, die noch immer mitten im Zimmer lagen. Wild mit den Armen rudernd, kämpfte sie um ihr Gleichgewicht, bis sie sich wieder fangen konnte.

»Die Sayidat-Bayda ist ein Tollpatsch«, murmelte Najim schmunzelnd, wodurch man seine spitzen Reißzähne aufblitzen sehen konnte.

»Was lässt du die auch hier stehen«, murrte Zeemira, senkte jedoch den Blick und betrachtete seine Fußkrallen. »Aber du hast wenigstens keine Schäden angerichtet.«

»Nun, immerhin ist einer von uns kein Tollpatsch«, antwortete Najim und grinste nun so breit, dass er wie ein spitzbübischer Fuchs auf Hennenjagd wirkte.

Zeemira hob ihr Kinn, schürzte kurz ihre Lippen, doch dann lächelte sie plötzlich wissend.

Kein gutes Zeichen, dachte Najim sofort. Ich sollte mich verkrümeln.

»Zum Glück. Daher wirst du heute Abend auf dem Siegesfest des Dorfes sicher eine gute Figur machen«, sprach sie mit honigsüßer Stimme.

»Ich passe«, meinte er nur knapp und wandte sich ab.

Postwendend zog eine Kraft an dem Flammentänzer und ließ ihn rückwärts taumeln.

»Jetzt sei kein Karpfen«, meinte Zeemira hinter ihm.

Najim wirbelte herum und schaute die unschuldig dreinblickende Zeemira an, die gerade noch schnell ihre Hände senkte.

Die Armbänder. Das war wirklich geschickt, stellte er anerkennend fest.

»Komm schon, das wird dir guttun. Raus aus dem Alltag! Du hast doch heute nur im Schneidersitz auf einem Felsen gesessen, oder?«, argumentierte sie und traf damit natürlich voll ins Schwarze.

»Ich mag Menschenmengen nicht«, grummelte Najim leise und kratzte sich am Hinterkopf.

Die starren nur und zerreißen sich das Maul, außerdem ist es Zeitverschwendung, ergänzte er gedanklich.

Zeemira seufzte auf, legte den Kopf schräg und schaute traurig. Dann wandte sie sich langsam ab und schlurfte deprimiert zu ihrem Zimmer. Najim knirschte mit den Zähnen und seine Krallen an den Füßen bohrten sich unwillkürlich in die Bretter.

»Na gut. Kann nicht schaden«, lenkte er ein, woraufhin sie stoppte und freudig zu ihm herumwirbelte.

»Du kommst mit?«, rief sie mit glitzernden Augen. »Wunderbar!«

Warum habe ich nur das Gefühl, dass ab dem Stolperer alles geplant war?, schoss es ihm durch den Kopf.

Najim ging zu seinen Stiefeln und machte sich daran, wieder in sie hineinzufahren.

»Was tust du da?«, fragte Zeemira und trat zu ihm heran.

Er hob einfach nur fragend seine Augenbrauen.

»Du wirst dort sicher nicht in deiner Rüstung auftauchen«, erklärte sie ihm.

Zeemira tippte ihm mit dem Zeigefinger gegen den gepanzerten Rücken. Daraufhin runzelte er schweigend die Stirn und richtete sich auf.

»Ich habe dir etwas mitgebracht«, meinte sie lächelnd, trat wieder in den Flur und kehrte mit einem Stoffbündel zurück.

Kurzerhand warf sie es ihm zu und Najim fing den Stapel geschickt auf. Als er ihn genauer betrachtete, erkannte er feinen, weichen Stoff, verzierte Nähte und dezente Muster.

Sie hat wirklich alles geplant, erkannte er leise knurrend.

»Zu unsicher. Was, wenn nachts weitere Piraten angreifen?«, entgegnete er mürrisch.

»Erzähl keinen Unsinn.« Zeemira rollte mit den Augen. »Die sind alle in Gefangenschaft oder geflüchtet. Keiner von denen traut sich erneut hierher.«

»Ich mache mir nichts aus schöner Kleidung«, versuchte er es weiter.

»Du vielleicht nicht, wir anderen aber schon.« Sie grinste und zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

Najim starrte sie durch seine wilden Haarsträhnen hindurch düster an. Sie erwiderte seinen Blick mit einem zuckersüßen Lächeln und neckisch tanzenden Augenbrauen. Er wusste, sie meinte es nicht böse. Sie versuchte immer wieder, den Flammentänzer an die Gesellschaft von Menschen zu gewöhnen. Sein ganzes Leben lang hatte er sie gemieden, und Zeemira war der Meinung, er könnte ein paar Freunde gut gebrauchen.

Schließlich gab er auf. Seine Schultern sackten nach vorn und er seufzte laut. Der Krieger klemmte die Kleidung unter einen Arm, wandte sich um und machte einen Schritt auf sein Zimmer zu.

»Krallen hoch!«, brauste Zeemira hinter ihm auf.

Najim machte einen kleinen Hüpfer, knurrte nochmals, lief dann aber artig mit hochgezogenen Zehen in sein Zimmer, um sich umzuziehen.

Das Herrenhaus stand in einer kleinen Nebenstraße der Stadt Halga. Es war eher schmal und hoch als ausladend prunkvoll. Wie alle anderen Gebäude der Stadt, war es aus den Ruinen vom Sabiqaan erbaut worden: Die Gebäudeecken bestanden aus senkrechten Stahlpfeilern, die Zwischenräume hatte man mit Steinen aufgefüllt und mit Stoffen verziert. Der Weg durch den ungewohnt gepflegten Garten wurde mit stets brennenden Fackeln beleuchtet – eindeutige Luxuserscheinungen an diesem Ort. Abgesehen davon, war das große Eingangsportal mit Metall beschlagen und ein großer, stilisierter Löwenkopf war daran angebracht worden.

Jaleel lief betont gemächlich durch den langen Gang im ersten Stock, dessen Wände mit Gemälden in vergoldeten Rahmen verziert waren. In regelmäßigen Abständen hingen Öllaternen und tauchten alles in einen warmen Schein. Beinahe hätte er sich hier wohlfühlen können, wäre nicht die Tatsache gewesen, dass er sich in einem der Häuser des Stadt-Magistrats befand. Seyyid war nicht nur ein unliebsamer, alter Bekannter Jals und führender Stadthalter Halgas, sondern bekleidete zu allem Überfluss auch noch einen hohen Rang bei den Tassallul, der Schattengilde.

Jaleel hatte keine große Wahl gehabt, als er hierher zitiert worden war. In den Jahren, in denen er und Zeemira getrennte Wege gegangen waren, hatte er sich in der Gilde einen gewissen Wert erarbeiten müssen. Selbstverständlich war das nur eine Illusion, denn als er damals den Sohn des Gildengroßmeisters getötet hatte, war sein Name bereits fest in das Totenbuch der Tassallul eingetragen worden. Dies alles war nur ein Aufschub, und einzig seine enge Verbindung zu Zeemira und Najim erhielt ihn am Leben.

Beide waren von großem Interesse für die Gilde, denn ihre Forschungserkenntnisse über das Sabiqaan begründete ihre Macht. Nur so konnten sie den Masakh mit ihrer übermenschlichen Stärke und den Lichtgeborenen mit ihren mystischen Fähigkeiten die Stirn bieten.

Einige dieser Resultate klimperten an Jals schwarzer Lederrüstung. In den Phiolen befanden sich Mittel verschiedener Wirkungsweisen. Manche von ihnen steigerten die Wahrnehmung, andere die Körperkraft. Einige seltene Elemente sollten die hohen Gildenmitglieder sogar zu kleinen magischen Ausbrüchen befähigen. Es machte Jal äußerst misstrauisch, dass er ebenfalls ein paar der Mittel erhalten hatte. Er war ein einkalkuliertes Risiko, warum ihn jedoch gefährlicher machen, als er es bereits war?