Geborgene Kindheit - Susanne Mierau - E-Book

Geborgene Kindheit E-Book

Susanne Mierau

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Beschreibung

Geborgen auf der Reise durch die Kindheit

Wenn aus Babys Kleinkinder werden, wachsen auch die Herausforderungen in der Familie. Kinder wollen immer mehr selbst entscheiden und selber machen, gleichzeitig brauchen sie noch bei vielem die Unterstützung ihrer Eltern – und all das fordern sie auch ein. Doch wie werden die Wünsche und Bedürfnisse aller Familienmitglieder berücksichtigt? Und wie können Eltern die Kinder in ihrer Entwicklung unterstützen?

Ob schlafen, essen, sprechen, spielen oder sich bewegen – Susanne Mierau erklärt, was dabei für Kinder wirklich wichtig ist und was sie brauchen, um sich zu glücklichen, selbstbestimmten und liebevollen Erwachsenen zu entwickeln.

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Wenn aus Babys Kleinkinder werden, wachsen auch die Herausforderungen in der Familie. Kinder wollen immer mehr selbst entscheiden und selber machen, gleichzeitig brauchen sie noch bei vielem die Unterstützung ihrer Eltern – und all das fordern sie auch ein. Doch wie werden die Wünsche und Bedürfnisse aller Familienmitglieder berücksichtigt? Und wie können Eltern die Kinder in ihrer Entwicklung unterstützen? Ob schlafen, essen, sprechen, spielen oder sich bewegen – Susanne Mierau erklärt, was dabei für Kinder wirklich wichtig ist und was sie brauchen, um sich zu glücklichen, selbstbestimmten und liebevollen Erwachsenen zu entwickeln.

Susanne Mierau, 1980 geboren, ist eine der hierzulande bekanntesten Expertinnen im Bereich bindungs- und bedürfnisorientiertes Familienleben. Ihr Blog »Geborgen Wachsen« ist – wie auch die dazugehörigen Social-Media-Kanäle und das Geborgen-Wachsen-Forum – seit 2012 Anlaufpunkt für Familien zu allen Fragen rund um den Familienalltag. Susanne Mierau ist Mutter von drei Kindern.

Susanne Mierau

GEBORGENEKINDHEIT

Kinder vertrauensvoll und entspannt begleiten

Kösel

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Copyright © 2020 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt München

Umschlagmotiv: plainpicture/altera/Streetangel (Bild-Nr. p429m1062223f)

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-19857-2V004

www.koesel.de

Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich

Inhalt

Einleitung

Verbindungen entwickeln sich

Unser Bindungsmuster gestaltet unser Leben und die Welt von morgen

Alte und neue Wege

Problematische Bindungsmuster

Es ist nicht zu spät, etwas zu ändern

Verbunden mit Mutter, Vater und allen anderen

Bedürfnisorientierte Elternschaft aus der Vaterperspektive

Vertrauen bilden

Warum eine sichere Bindung Freiheit lässt

Worin sich Helikoptereltern und bedürfnisorientierte Eltern unterscheiden

Eine Kindheit voller Hindernisse

Selbstwirksamkeit erfahren

Jedes Kind kommt mit seinem eigenen Temperament zu uns

Auf der Suche nach dem verlorenen Vertrauen

Zehn Tipps für mehr Vertrauen im Alltag mit Kindern

Entwicklung nach dem ersten Geburtstag

Säule 1: Erholsamer Schlaf

Zehn Anregungen für einen guten Schlaf

Säule 2: Gesunde Ernährung

Zehn Anregungen für eine gesunde Kinderernährung

Säule 3: Von der Windel zum Töpfchen

Zehn Anregungen für eine Kindheit ohne Windeln

Säule 4: Sprache und Kommunikation

Zehn Anregungen für die Kommunikation mit Kindern

Säule 5: Lernen im Spiel

Zehn Anregungen für das kindliche Spiel

Säule 6: Motorische Fähigkeiten

Zehn Anregungen für die motorischen Bedürfnisse von Kindern

Säule 7: Gemeinschaft mit anderen

Zehn Anregungen für ein gutes Miteinander

Große Gefühle annehmen und begleiten

Umgang mit Gefühlen

Alle Gefühle dürfen sein

Schimpfen als Stresssymptom

Dabeibleiben

Zehn Anregungen für das Begleiten von Gefühlen

Euer Alltag ist ihre Kindheit

Zu-Hause-Sein ist ein Gefühl

Neue Familienmitglieder

Verlust von Familienmitgliedern

Familienalltag gestalten

Es ist nicht immer alles Bullerbü

Zehn Anregungen für den Alltag mit Kindern

Lasten verteilen

Zehn Anregungen, um mit Elternlasten gut umzugehen

Kinderbetreuung und Kinderbegleitung

Eine Betreuung und Begleitung jenseits von Freunden und Familie?

Das Kind einem anderen anvertrauen

Zeit für die Eingewöhnung

Und wenn es doch nicht passt?

Gedanken zur Betreuung außerhalb der Familie

Auf eigene Bedürfnisse achten

Sich selbst nicht vernachlässigen

Niemand ist perfekt

Zurück zur Achtsamkeit mit sich selbst

Mehr Achtsamkeit und Entspannung finden

Anhang

Schlusswort

Dank

Literatur

Anmerkungen

Einleitung

Ein bedürfnisorientierter Weg ist ein guter Start ins Leben. Bedürfnisorientiert meint, dass wir uns an den Bedürfnissen orientieren, die alle Menschen haben.

Kinder vertrauensvoll zu begleiten, erscheint uns nicht immer einfach. Wenn du dieses Buch zur Hand genommen hast, ist es wahrscheinlich dein Wunsch, als Elternteil deinem Kind eine geborgene Kindheit zu schenken: Du möchtest dein Kind liebevoll auf seinem Weg ins Leben begleiten, ihm an die Hand geben, was es braucht, und es bestmöglich auf seine Zukunft vorbereiten. Doch wie wir unseren Kindern dies ermöglichen können, bringt uns niemand bei. Was brauchen Kinder heute, damit sie morgen glückliche Erwachsene werden? Während in der Babyzeit oft noch alles recht einfach erscheint, kommt es in den anschließenden Jahren bis zum Schulalter nicht selten zu größeren Herausforderungen.

Ein bedürfnisorientierter Weg ist ein guter Start ins Leben. Bedürfnisorientiert meint, dass wir uns an den Bedürfnissen orientieren, die alle Menschen haben: physiologische Bedürfnisse (Nahrung und Schlaf), Sicherheitsbedürfnisse (sich geschützt und frei von Bedrohung fühlen), soziale Bedürfnisse (Zugehörigkeit, Verbundenheit), Individualbedürfnisse (Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung) sowie kognitive und ästhetische Bedürfnisse (Wissen, Fortschritt, Sauberkeit). Die Bedürfnisse von Kindern sind anders ausgeprägt als die von Erwachsenen, vor allem aber brauchen Kinder noch lange Zeit die Unterstützung von Bindungspersonen, um diese Bedürfnisse zu erfüllen. Das Eingehen hierauf gibt unseren Babys das mit, was sie für ihre Entwicklung am Anfang des Lebens vor allem benötigen: Bedürfnisbefriedigung und dadurch Vertrauen in uns als Erwachsene, Vertrauen in die Beziehung zwischen ihnen und uns – und letztlich Vertrauen in sich selbst.

Doch nach und nach werden die Einflüsse von außen größer, und die Kinder entwickeln sich weiter. Sie beginnen zu sprechen, zu laufen und eigene Freundschaften zu entwickeln. Es ist nach dem ersten Geburtstag nicht immer leicht, auf dem Weg zu bleiben, den man eingeschlagen hat, oder ihn bei all den äußeren Einflüssen überhaupt noch zu finden. Wir Eltern müssen uns immer wieder anpassen, neu ausrichten und fragen uns so manches Mal, wie es denn überhaupt bedürfnisorientiert weitergehen kann mit einem Kind, das ganz andere Vorstellungen hat als wir selber: Wo hört das Wir auf, und wo fängt das Ich an? Und wie kann das miteinander verbunden werden? Wie kann Bedürfnisorientierung gelingen, wenn das Kind scheinbar etwas ganz anderes möchte als wir Erwachsenen? Und wie können das Vertrauen und die Bindung dabei aufrechterhalten werden?

Elternschaft ist wie die Reise in ein neues, unbekanntes Land: Wir müssen uns zunächst darüber klarwerden, wohin die Reise führen soll, welches Ziel wir verfolgen. Erst dann können wir uns vorbereiten und die Koffer packen mit all den Sachen, die wir dafür benötigen. Wie im sonstigen Leben gilt auch hier: Pack nur das Nötigste ein, nicht zu viel! Die Dinge, die wir im Elterngepäck wirklich für unsere Kinder brauchen, lassen sich nicht erwerben und nehmen keinen Platz weg: Liebe, Neugierde, Freude, Abenteuerlust und Vertrauen. Sie müssen von innen kommen, aus uns selbst heraus. Wir können sie auf unserem Weg immer wieder neu entdecken, können kleine Feuer neu entfachen. Aber wir brauchen das Vertrauen, dass alles gut gehen wird, dass wir auf dem richtigen Weg sind – und das gerade dann, wenn uns die Stolpersteine der frühen Kindheit im Weg liegen. Dieses Grundvertrauen können wir nirgends kaufen. Wir müssen es als Eltern selbst entwickeln – und oft auf unserem langen Weg verteidigen und manches Mal wieder neu gewinnen. Wenn wir loslassen und verstehen, dass wir zwar die Richtung vorgeben, aber den Weg vertrauensvoll gemeinsam mit unseren Kindern gehen können, wird vieles leichter.

In diesem Buch begeben wir uns mit kleinem Handgepäck zusammen auf die Reise. Wir sehen uns die Stolpersteine an, die auf dem Weg der frühen Kindheit liegen können, und auch die Hindernisse, die wir vielleicht selbst errichten. Leider gibt es keinen immer gültigen Reiseführer durch die Kindheit, der zu jedem und jeder Familie passt. Aber es gibt Reisetipps dazu, was wir auf unserem Weg dabeihaben sollten, wie wir schwierige Situationen umschiffen können oder gut durch sie hindurchkommen. Es gibt Hinweise zu Schlechtwetter- und Sonnenscheintagen. Und auf dieser Basis kann jede Familie ihren guten Weg durch die manchmal stürmischen, manchmal lauen Tage der Kindheit finden.

Verbindungen entwickeln sich

Ein sicheres emotionales Zuhause ist die Basis für ein gutes und glückliches Leben. Von dort aus können unsere Kinder losziehen, um die Welt zu erforschen.

Die meisten Eltern eint der Wunsch, dass ihre Kinder ein schönes Leben haben und die Herausforderungen des Lebens gut bewältigen. Das gilt für die gesamte Lebensspanne unserer Kinder, denn Eltern bleiben wir immer: vom Anfang der Schwangerschaft bis zu unserem Lebensende. Schon zu Beginn des Lebens legen wir den Grundstein dafür, dass sich dieser Wunsch erfüllen kann: Wir gehen eine Bindung zu unseren Kindern ein. Durch unseren Umgang mit ihnen prägen wir in großem Maße, wie sie die Welt erleben, wie sie lernen und wie sie wahrscheinlich auch in Zukunft mit anderen in Kontakt treten werden. Unser Umgang mit ihnen eröffnet ihnen die Welt.

In den vielen Jahren unserer Elternschaft erleben wir viele wunderschöne Momente und viele, die uns fordern und vor Entscheidungen stellen. Die Art, wie wir damit umgehen, beeinflusst immer auch die Beziehung zwischen unserem Kind und uns. Viele Entscheidungen, die wir als Eltern treffen, haben auch mit der Verbindung zwischen Kind und Erwachsenem zu tun. Es ist nicht möglich, nicht in Beziehung zu sein. Manches Mal müssen wir abwägen oder uns gegen die Empfehlungen anderer durchsetzen. Je größer unsere Kinder werden, desto mehr solcher Momente tun sich auf, und wir fragen uns, wie wir zum Wohle aller entscheiden sollen und ob wir das überhaupt können. Wir suchen den richtigen Weg, das Patentrezept für die Elternschaft und das Glück unserer Kinder. Doch den einen immer richtigen Weg gibt es nicht im Detail. Es gibt nur die eine immer richtige Route: Gehe dorthin, wohin dich dein Herz trägt, und lass es mitentscheiden. Denn wenn wir liebevoll eine sichere Bindung als Ziel unserer gemeinsamen Reise wählen, wählen wir auch an den Weggabelungen den passenden Weg aus.

Wir könnten das Reisegepäck durchs Leben mit vielen Dingen anreichern, die ein gutes Vorankommen ermöglichen sollen: Im Designerrucksack mit extra weichen Schulterpolstern mit dem wärmsten Schlafsack, der schönsten Kleidung und den besten Spielsachen. Wir können die Inhalte beständig nachfüllen und auswechseln und noch bessere, neuere und hochwertigere Dinge einfüllen. Doch all das ist es nicht, was ein wirklich schönes Leben ausmacht.

Ein wirklich schönes Leben basiert auf Zufriedenheit, auf dem Gefühl des Vertrauens und der Geborgenheit. Doch Geborgenheit bedeutet mehr als nur Schutz und Hülle. Geborgenheit bedeutet auch, von Abenteuern in liebende Arme zurückkommen zu können. Geborgenheit kann es nur dann geben, wenn es auch Herausforderung und Erkundung gibt. Ein sicheres emotionales Zuhause ist die Basis für ein gutes und glückliches Leben. Von dort aus können unsere Kinder losziehen, um die Welt zu erforschen. Tolle Hilfsmittel können sie unterstützen, ihnen eine gute Zeit geben, doch die wirklich wichtigen Dinge sind nicht käuflich. Wir geben sie unseren Kindern kostenfrei mit, und das ist das beste Geschenk, das wir ihnen machen können. Denn mit diesem Geschenk geben wir ihnen die Möglichkeit, die Landkarte des Lebens zu lesen, wohin auch immer sie später reisen mögen, und sich Menschen an die Seite zu holen, die sie liebevoll unterstützen, wenn wir nicht mehr ihre Hauptbezugspersonen sind. Kinder brauchen eine sichere Bindung, um gut wachsen zu können. In der Babyzeit und auch in all den Jahren danach.

Unser Bindungsmuster gestaltet unser Leben und die Welt von morgen

Kinder sind auf uns Erwachsene als Bindungspersonen angewiesen und brauchen zum Überleben unsere Nähe, Zuwendung und die Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Nicht nur als Babys, sondern noch lange Zeit in der Kindheit sind sie auf unsere Versorgung angewiesen, da Menschenkinder als physiologische Frühgeburten auf die Welt kommen. Als die Menschen anfingen, aufrecht zu gehen, veränderten sich ihr Skelett und die Muskulatur. Gleichzeitig oder etwas später wurde auch das Gehirn der Nachkommen größer. Die anatomischen Strukturen der Gebärenden passten nicht mehr mit denen des Babys überein. Daher wurde die Geburt vorverlegt und Babys wurden immer früher geboren, sodass sie noch gut durch den Geburtskanal passen. Im Gegensatz zu anderen Säugetieren sind sie dann aber noch recht unselbstständig und angewiesen auf eine Versorgung durch einen anderen Menschen.1

Um die Pflege und Bedürfnisbefriedigung dieser kleinen abhängigen Wesen sicherzustellen, hat die Natur das Bindungssystem eingerichtet, das dafür sorgt, dass sich die nahen Bezugspersonen an das Baby binden (Bonding) und sich das Baby nach und nach mehr an die Erwachsenen bindet (Attachment). Jedes Verhalten unseres Babys zielt darauf ab, dass es diese Fürsorge von uns erhält.

Bindung bedeutet aus Sicht des Kindes zunächst: Ich bin mit dir verbunden, damit ich überleben und wachsen kann. Die Bindung ist deswegen ein »Sicherheitssystem des Kindes«2, das die Grundversorgung regelt. Und dies gilt auch weit länger als nur für die Babyzeit: Viele Konflikte, die wir mit unseren größeren Kindern haben, drehen sich eigentlich »nur« um Versorgung, Zuwendung und Ressourcenverteilung – beim Essen, bei der Aufmerksamkeit, bei der Kleidung, bei Vorlesegeschichten und Geschwisterstreitigkeiten. Immer wieder geht es im Laufe der Elternschaft darum, wie und ob wir unsere Kinder versorgen und ihnen damit das Gefühl geben, mit uns liebevoll-fürsorglich verbunden zu sein. Wir stellen Geborgenheit her, indem wir ihre Grundbedürfnisse befriedigen und sie sich bei uns sicher fühlen.

Was sie im Babyjahr an Verständnis und Zuwendung von uns erhalten haben, erwarten sie auch in den Jahren danach von uns – auch wenn die Themen andere werden und die Entwicklung von Frustrationstoleranz fortschreitet. Als Eltern sollten wir nun nicht auf einmal den Kurs wechseln und unsere Kinder mit einem neuen Erziehungsstil konfrontieren, weil es jetzt schwerer fällt, die passenden und richtigen Antworten zu finden. Wir sollten eher auf unserem Kurs bleiben und sehen, woher die neuen Anforderungen und Fragen kommen.

Die Ausgestaltung der Bindung hängt davon ab, wie wir auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen, ob wir beispielsweise feinfühlig, zuverlässig, sicher und – je nach Alter – prompt reagieren. Tun wir dies, sind die Grundlagen dafür, eine sichere Bindung aufzubauen, günstig. Das ist der Idealfall für die Art von Entwicklung, die wir uns heute wünschen und für unsere Zukunft anstreben. Sicher gebundene Kinder »sind nämlich gegen psychische Belastungen widerstandsfähiger, haben mehr Bewältigungsmöglichkeiten, leben eher in freundschaftlichen Beziehungen, sind häufiger in Gruppen, verhalten sich in Konflikten prosozialer, weniger aggressiv und finden Lösungen, die sie aufbauen und ihnen weiterhelfen. Sie sind auch kreativer, flexibler, ausdauernder, ihre Lern- und Merkfähigkeit, also ihre Gedächtnisleistungen, sind besser, ebenso ihre Sprachentwicklung«, schreibt der Arzt, Psychotherapeut und Bindungsforscher Karl Heinz Brisch.3 All dies wünschen wir uns für unsere Kinder und ihre Kindheit.

Natürlich haben solche Persönlichkeitseigenschaften ihre positiven Auswirkungen nicht nur auf den jeweiligen Menschen, sondern können einen gesamtgesellschaftlichen Einfluss nehmen: Unser Ziel als Eltern ist es heute, soziale, liebevolle und friedvolle Menschen wachsen zu lassen, die für eine gute gemeinsame Zukunft sorgen. Gerade jetzt, in Zeiten des Klimawandels mit allen politischen Herausforderungen, die damit zusammenhängen, ist dies eine wichtige Zukunftsperspektive. »Liebe – und nicht Profit, Größe oder Leistung – ist das entscheidende Merkmal unserer Evolution«4, schreibt der Psychoanalytiker Arno Gruen und erläutert, dass eine Demokratie nur durch Empathie überhaupt erst möglich ist. Für die Entwicklung der Empathie ist es notwendig, dass die Bedürfnisse von kleinen Kindern angemessen beantwortet werden.

In einer demokratischen, gleichberechtigten und friedlichen Gesellschaft, die wir heute anstreben, brauchen wir deswegen sicher gebundene Kinder, damit sie die Gegenwart leben und die Zukunft gestalten können, die wir uns für uns alle wünschen. Unsere Art der Erziehung heute gestaltet die Welt von morgen. Mit der Art, wie wir auf unsere Kinder eingehen und sie wachsen lassen, bestimmen wir, wie sie miteinander und mit der Welt als Ganzes umgehen. Unsere Welt braucht sicher gebundene Kinder – und Eltern, an die sie sich sicher binden können.

Alte und neue Wege

Die Entwicklungsziele vorangegangener Generationen haben sich teilweise von denen unserer heutigen Zeit unterschieden: Während heute das individuelle, kreative Glück im Vordergrund steht, waren in früheren Zeiten Disziplin, Ordnung oder auch Gehorsam ein Erziehungsziel, dem es nachzukommen galt. Diese Ziele haben sich auf den Umgang mit dem Kind ausgewirkt: Kinder wurden abgehärtet, sollten nicht verzärtelt werden, um die angestrebten Ziele zu erreichen. Aus Sicht der Eltern, die sich dieser Art der Erziehung verschrieben hatten (und auch vielen, die von dieser Erziehung geprägt wurden), sind moderne Erziehungsstile eine Art des Verwöhnens, sprechen sie doch genau gegen das, was früher galt. Der (Generationen-)Konflikt ist vorprogrammiert. Um ihn zu entschärfen, müssen wir uns vor Augen halten, dass wir heute unsere Kinder eben in einer anderen und für eine andere Gesellschaft groß werden lassen – unsere Wünsche unterscheiden sich von denen der älteren Generation. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Erwachsenen früher ihre Kinder nicht liebten oder ihnen Böses wollten. Auch sie wollten ihre Kinder bestmöglich auf das Leben vorbereiten – nur waren damals die Anforderungen an das Leben andere wie auch die gesellschaftlichen und politischen Einflüsse, die sich auf Erziehung auswirkten.5 Heute nehmen wir unsere Kinder liebevoll an die Hand und gehen entspannt gemeinsam, während Kinder in vergangenen Zeiten mehr angetrieben wurden und mithilfe von Strafe und Gehorsam auf dem gewählten Weg bleiben sollten.

Aufgrund gesellschaftlicher Einflüsse und Bedürfnisse und auch aufgrund nicht aufgearbeiteter, negativer eigener Bindungserfahrungen der Erwachsenen gibt es neben der heute gewünschten sicheren Bindung auch andere Bindungsmuster, bei denen die Kinder nicht feinfühlig und liebevoll angenommen werden, wie es angestrebt werden sollte. Gerade Eltern, die selber keine oder wenige zugewandten und sicheren Bindungsbeziehungen in der eigenen Kindheit erleben konnten, haben es schwer, ihre eigenen Kinder anders aufwachsen zu lassen. Zu schwer kann die Bürde der Vergangenheit auf ihnen lasten, oder das Verhalten des Kindes lässt heute Erlebnisse aus der eigenen Kindheit hochkommen, die auch die damaligen Antworten der eigenen Eltern hochspülen. Gerade wenn die Kinder nach der Babyzeit in die Autonomiephase kommen, sind Gedanken wie »Ich höre mich an wie meine Mutter« nicht selten.

In solchen Momenten spüren wir, wie sehr uns die Kindheit prägt und wie lange sie nachwirkt. Wir bekommen eine Ahnung davon, dass der Satz »Es hat mir ja auch nicht geschadet« nicht stimmt. Wir sind versucht, die festgetrampelten Pfade unserer eigenen Kindheit nachzugehen, denn sie sind so bekannt und wir können ohne Nachdenken darauf wandeln. Doch manches Mal lohnt es sich, neue Wege durch noch unwägbares Gelände zu suchen, um den heutigen Zielen näher zu kommen und Altes und Überholtes hinter uns zu lassen für eine andere Zukunft unserer Kinder. Dieser Weg ist nicht immer einfach für Eltern, wenn sie ihren Kindern ein anderes Bindungsmuster mitgeben wollen, als sie selbst erfahren haben. Aber es ist, wie wir sehen werden, möglich und auf jeden Fall immer und zu jeder Zeit einen Versuch wert.

Problematische Bindungsmuster

Auch wenn Eltern unzuverlässig sind, in der Qualität ihrer Zuwendung schwanken oder die Kinder sogar physisch oder psychisch schädigen, entwickelt das Kind eine Bindung an den Elternteil, weil es trotz dessen negativen Verhaltens für die Grundversorgung auf ihn angewiesen ist. Das Überleben geht in diesem Fall vor. Doch das Kind entwickelt sich dann anders als bei einem sicheren Bindungsmuster. Die Welt wird anders erlebt und schließlich auch anders gestaltet. Das Kind entwickelt sich aufgrund der Erfahrungen, die es macht, und der gestellten Anforderungen. Es wird in ein Leben hineingeboren und versucht, sich bestmöglich anzupassen. Sein Reisegepäck sieht anders aus, wenn es in Unsicherheit und Angst aufwächst. Seine Reiseutensilien sind dann nicht von Anfang an Vertrauen und Sicherheit, sondern eher Vorsicht und Zurückhaltung. Und mit dieser Grundvoraussetzung wird es auch zukünftig neues Land erkunden und andere Menschen kennenlernen. Es verhält sich anders als ein sicher gebundenes Kind.

Das Vorhandensein einer Bindung allein sagt deswegen nichts aus über das tatsächliche Familienklima und die Zuwendung zum Kind. Eine Bindung entwickelt sich auf unterschiedliche Arten, je nachdem, wie die Beziehung gestaltet wird. Unterschieden wird heute deswegen zwischen verschiedenen Bindungsarten, die zwischen Kindern und Bezugspersonen bestehen können. Neben der sicheren Bindung, die wir anstreben, gibt es auch unsicher-vermeidende, unsicher-ambivalente und desorganisierte Bindungsmuster.

Es ist nicht zu spät, etwas zu ändern

Doch wir sind mit unseren Bindungsmustern nicht in einer Einbahnstraße gefangen: Wir können nämlich zu verschiedenen Menschen unterschiedliche Bindungsmuster aufbauen, je nachdem, welche Erfahrungen wir mit ihnen machen. Wir können zu der einen Person eine sichere Bindung aufbauen und zu einer anderen ein anderes Bindungsmuster. Bindung ist deswegen kein Persönlichkeitsmerkmal, sondern sagt etwas über die Beziehung aus. Sie nimmt einen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes aufgrund des Verhaltens, das die Bezugspersonen zeigen: Die Verhaltensmuster, die eine sichere Bindung entstehen lassen, sind auch solche, die förderlich sind für die Intelligenzentwicklung und Herausbildung der Feinfühligkeit. Gerade in späteren Jahren der Kindheit wird deutlich, wie sehr Bindung und Bildung zusammenhängen und wie wichtig ein gutes Miteinander beispielsweise in der Schule für den Lernerfolg ist.

Wir zehren von dem, was unsere Eltern uns als Reiseproviant mitgeben. Aber nicht nur die Feinfühligkeit der Eltern bestimmt den späteren Weg. Natürlich ist es wichtig, dass wir am Anfang des Lebens gut mit unseren Kindern umgehen – und auch in den Jahren danach. So wie wir immer und mit allen Menschen gut umgehen sollten – aus Nächstenliebe und auch für uns und unseren eigenen entspannten Weg durch das Leben. Doch neuere Studien zeigen auch, dass die frühkindliche Bindung nicht das Bindungsverhalten an sich im Erwachsenenalter vorhersagen muss und dass sich unser Erleben von Bindungen im Laufe des Lebens ändern kann. Die frühkindlichen Erfahrungen können also durchaus in einem bestimmten Rahmen überlagert und ausgeglichen werden. Bindung ist dynamisch.

Wir müssen nicht unsicher an einen Partner gebunden sein, nur weil wir in der Kindheit eine unsichere Bindungsbeziehung hatten. Und genau das entlastet uns als Eltern auch ein Stück weit: Selbst wenn wir eine schlechte Zeit haben, wenn wir aus bestimmten Gründen nicht sofort die beste Bindung aufbauen können, wenn wir einen schlechten Start in die Eltern-Kind-Beziehung haben, haben wir Zeit, es immer wieder zu probieren, um dann unser Bestes zu geben, wenn es uns möglich ist. Oder das Kind hat vielleicht die Möglichkeit, sich zunächst einer anderen Person zuzuwenden, die es sicher und emotional stabil versorgen kann. Und wir wissen: Unsere Kinder können ihren Weg gut gehen. Es ist immer einfacher, wenn der Start optimal ist und man all die Vorteile mitnehmen kann, die eine sichere Bindungsbeziehung mit sich bringt. Es ist am besten, wenn wir für die Reise richtig ausgerüstet sind, aber es ist auch möglich, später noch einmal die Ausrüstung zu überprüfen und andere Entscheidungen zu treffen. Wir können lernen, unseren Kindern besser zuzuhören, auf ihre Bedürfnisse zu achten und sie liebevoll zu begleiten. Jeder Tag bietet uns dafür eine neue Chance. Und gerade auch nach dem ersten Geburtstag gibt es viele Momente, in denen ein achtsamer Umgang praktiziert und geübt werden kann.

Zu wissen, dass Bindungsmuster veränderbar sind, ist für uns als Eltern besonders wichtig, wenn wir selber negative Bindungserfahrungen hatten und es bei unseren Kindern ganz anders machen wollen. Es ist nicht immer einfach, sich gegen die Handlungsmuster zu stellen, die man als Kind selbst erfahren hat, und manches Mal ist es ein schwerer Weg, diese hinter sich zu lassen und mit dem eigenen Kind ganz andere Wege zu gehen. Aber es ist möglich, und wir sind nicht darauf eingeschworen, die Taten unserer Eltern zu wiederholen. Wir haben mit unserer neuen Familie die wunderbare Möglichkeit, ein Kind ganz anders aufwachsen zu lassen und ihm all das zu geben und zu ermöglichen, was wir selbst vermisst haben.

Während es im ersten Lebensjahr noch recht einfach ist, das Baby bindungs- und bedürfnisorientiert wachsen zu lassen, werden die Stimmen unserer eigenen Vergangenheit lauter, je größer das Kind wird. Zum Teil werden sie real laut, wenn sich Großeltern und andere Verwandte zu der anderen Art der Erziehung äußern, die sie selbst doch so erfolgreich angewendet haben, zum Teil werden sie in unserem Inneren laut, wenn uns die Herausforderungen der frühen Kindheit mit Situationen konfrontieren, die eigene Erfahrungen in uns hochschwemmen und uns zu Handlungsmustern und Aussagen führen, die wir selbst erlebt haben. Diese Stimmen können es uns schwer machen, uns bedrücken und die Leichtigkeit und das Vertrauen aus unserem Alltag nehmen.6 Doch gerade Entspannung ist es, die wir im Alltag mit Kindern jeden Tag brauchen. Entspannung im Inneren, damit wir die kleinen Unwägbarkeiten leichtnehmen und es uns selbst gut geht.

Verbunden mit Mutter, Vater und allen anderen

Die Bindungsforschung ging lange Zeit aufgrund des traditionellen Familienbildes insbesondere der Mutter-Kind-Bindung nach, vernachlässigte dabei aber die Einflüsse des Vaters und beachtete auch alternative Familienmodelle wenig. Heute wissen wir, dass auch Väter die Personen sein können, die sich in der ersten Zeit mehr um das Kind kümmern als die Mutter, und es gibt Familienmodelle mit gleichgeschlechtlichen Elternpaaren, in denen Kinder ebenfalls liebevoll und feinfühlig umsorgt werden. Auch in Familien mit nur einem Elternteil können Kinder sichere Bindungen erfahren. Kurz gesagt: Wir sollten Familie und Bindung nicht nach der Konstellation der Bezugsperson(en) messen, sondern die tatsächliche Beziehung in den Blick nehmen. Im Idealfall entwickelt das Kind eine sichere Bindung zu beiden (oder mehr) Elternteilen.

Und genauso kann es auch bei all den anderen Menschen in unserem Umfeld sein: Je größer die Kinder werden und je mehr sie sich von uns wegbewegen, desto eher stoßen sie natürlich auch auf andere Personen. Zunächst treffen sie meist nur auf die Menschen aus unserem ganz nahen eigenen Kreis: die Geschwister, die Großeltern, Tanten und Onkel. Doch im Laufe der Zeit kommen Freunde und Freundinnen mit ihren Eltern hinzu, die Erzieherinnen und Erzieher im Kindergarten, vielleicht Nachbarinnen und Freunde der Eltern. Die Verbindungen werden mehr: manche dicker, manche dünner. Wenn wir uns Bindung vorstellen wie einen Teppich, den das Kind in der frühen Kindheit zu weben beginnt, sehen wir, dass wir durch viele stabile Beziehungen einen besonders hochwertigen, dichten Stoff erhalten, der das Kind gut tragen kann.

Bedürfnisorientierte Elternschaft aus der Vaterperspektive

Auch die Vaterrolle hat sich im Vergleich zu vergangenen Generationen verändert. Wir teilen Elternschaft heute nicht mehr nach typischen Mutter- oder Vatertätigkeiten ein, sondern sprechen vielmehr einfach von Eltern. Das ist auch sehr sinnvoll, denn Studien haben gezeigt, dass es wesentlich weniger Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt in Bezug auf die Fähigkeit, Kinder sicher und liebevoll zu umsorgen, als wir das häufig lesen.7 Es ist wunderbar, wenn Väter nicht nur von Anfang an die Möglichkeit haben, das Kind zu umsorgen und zu pflegen, sondern diese Möglichkeit auch aktiv nutzen und eigene Rituale und Abläufe mit den Kindern finden, um die Beziehung aufzubauen und zu stärken. Ebenso wie Mütter stehen auch Väter vor der Herausforderung, eigene Prägungen eventuell hinter sich zu lassen und neue Wege der Elternschaft zu gehen. Auch sie setzen sich mit dem eigenen »inneren Kind« auseinander und haben es durch die Männlichkeitsbilder vergangener Generationen manchmal besonders schwer, Emotionalität auf dem bedürfnisorientierten Weg zu zeigen und zuzulassen.

Das Wissen darum, dass Väter mit Kindern »nicht erst etwas anfangen können, wenn sie Fußball spielen können«, setzt sich glücklicherweise immer mehr durch. Bindung findet besonders im Alltag statt, in den vielen kleinen Momenten der gemeinsamen Interaktion und dem Wahrnehmen von Signalen mit der anschließenden passenden Reaktion. Teilhabe am ganz normalen Alltag mit allen schönen und allen anstrengenden Momenten ist deswegen auch für Väter wichtig und beziehungsfördernd. Darüber hinaus aber können bindungsstützende Rituale ganz wunderbar sein: gemeinsames Baden, das Tragen des Kindes in Tragehilfe oder -tuch, gemeinsame Mahlzeiten – oder eben auch das Fußballspiel oder Sitzen in der Puppenecke. Jede Familie findet ihre eigenen Rituale, und jeder Elternteil kann entsprechend der eigenen Vorlieben und Möglichkeiten eigene Situationen mit dem Kind schaffen. Als Eltern müssen wir nicht alles gleich machen und auch nicht die gleichen Dinge mit Kindern spielen. Kinder profitieren von der Unterschiedlichkeit der Bezugspersonen. Wichtig ist die Bereitschaft, sich aktiv einzubringen und das Beziehungsleben mit Kind zu gestalten: in den Pflegemomenten wie beim Ins-Bett-Bringen oder der Begleitung von Wutausbrüchen.

Vertrauen bilden

Ohne Freiheit, ohne Flügel, ohne Vertrauen ist keine sichere Bindung möglich. Freiheit und Nähe gehören für eine sichere Bindung und gute Entwicklung zusammen.

Die Entwicklung der Bindung