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Tiefblaue Seen, sonnenbestrahlte Schneegipfel - mit seiner extremen Landschaft und dem einzigartigen Licht gehört das Engadin zu den spektakulärsten Ferienzielen der Alpen. Angelika Overath stellt die bedeutendsten Orte und schönsten Landschaften vor, von Scuol bis Sils, vom Corvatsch bis ins Münstertal, und gibt spannende Geheimtipps. Sie erklärt, warum die Alpenpässe Eisenbahnfans begeistern und Autofahrern den Angstschweiß auf die Stirn treiben. Wieso sich Engadiner Spezialitäten nicht zum Abnehmen eignen und wie die uralte romanische Sprache, in der es »Bun di« und »Chau« heißt, in dieser Kulturregion weiterlebt. Vom mondänen Oberengadin bis hinunter zum schroffen, noch bäuerlichen Unterengadin ermöglicht sie faszinierende Einblicke in eines der schönsten Täler der Schweiz.
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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deFür Nanaund ihre Söhne Ferdinand und Leonhard,unsere ambulante Wohngemeinschaft Sent – BaselISBN 978-3-492-97530-8September 2016© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016Redaktion: Karin Steinbach Tarnutzer, St. GallenÜbersetzungen der Gedichte, Lieder und literarischen Texte durch Angelika Overath und Manfred Koch (S.130 f. und 238 f.), Claire Hauser-Pult und Chasper Pult (S.176 und 177) sowie Anna Kurth
und Jürg Amann (S.194)Karte: cartomedia, KarlsruheCoverkonzeption: Büro HamburgCovergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaasbuchgestaltung.de
Covermotiv: Bergdorf Guarda (Claudia Below/Plainpicture) und Lago di SaoseoDatenkonvertierung: Fotosatz Amann, MemmingenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.
– eine Leuchtkraft aller Farben,ein Blau auf See und Himmel,eine Klarheit der Luft,vollkommen unerhört …Friedrich Nietzsche
Seit neun Jahren leben wir im Unterengadin, in Sent, einem Dorf auf einer Sonnenterrasse 1450 Meter über dem Meeresspiegel. Etwa 300 Meter tiefer fliesst der Inn. Unser jüngster Sohn Matthias kam mit sieben Jahren in die zweite Klasse der rätoromanischen Volksschule in Sent; mit fünfzehn Jahren ging er nach Chur auf die weiterführende Kantonsschule. Während der Schulzeiten kommt er nur noch an den Wochenenden nach Hause.
Unsere beiden erwachsenen Kinder Silvia und Andreas studieren in Deutschland. Aber sie besuchen uns regelmässig im Tal; beide haben in den Semesterferien im Engadin gearbeitet.
Mein Mann Manfred unterrichtet an der Universität Basel und fährt während des Semesters für zwei Tage vom Inn an den Rhein. Diese vier Stunden Pendelzeit nutzt er zum Lesen und Schreiben: von Scuol bis Landquart in der Rhätischen Bahn, danach bis Basel im Speisewagen der SBB.
Mein Schreibtisch steht in Sent, aber regelmässig gebe ich Kurse an der Schweizer Journalistenschule MAZ in Luzern, und oft bin ich unterwegs auf Lesereisen. Unser Familienleben ist geprägt durch Weggehen und Wiederankommen. Das schult den Blick für das Besondere in diesem Hochtal, das wir, noch immer mit einem Glückserschrecken, als Heimat empfinden.
Die »Gebrauchsanweisung für das Engadin« speist sich aus Alltagserfahrungen, Lektüren, Recherchen, zufälligen Gesprächen und gezielten Interviews. Ihre Perspektive geht vom Dorf Sent aus und damit von der Sprache dieser Gemeinde, dem Vallader.
Über die Form meiner »Gebrauchsanweisung« habe ich lange nachgedacht. Und einiges ausprobiert. Das Engadin ist eines der höchstgelegenen bewohnten Täler Europas. Leicht liesse sich diese alpine Zone flussabwärts begreifen: von Maloja (1809 m) bis hinunter zum fast 800 Meter tiefer gelegenen Martina (1035 m) an der österreichischen Grenze; oder – der Bewegung der Fische folgend – die gut achtzig Kilometer gegen den Strom hinauf. Da das Buch aber keinen geografischen Schwerpunkt hat, sondern sich als Beitrag zur Mentalitätsgeschichte dieser extremen Bergregion versteht, habe ich als Ordnungsprinzip das Alphabet gewählt. Ein Stichwort heisst »Bergell«. Das Bergell und das Engadin sind verschiedene Täler, und doch ist das Engadin vom Bergell aus zu verstehen. Das Bergell beginnt geografisch im Oberengadin bei Isola, am Silsersee, etwa vier Kilometer östlich von Maloja, und gehört – als eine Treppe hinunter nach Italien – zum Erfahrungsraum der Engadiner.
Mit dem notwendigen und schönen Zufall der Buchstabenreihung in einem Alphabet konnte ich spielen, da dem deutschen Wort auch immer ein romanisches zur Seite stand mit seinen keltischen, etruskischen, römischen, italienischen Anklängen. Zwei Sprachtouristen, ein englisches und ein französisches Stichwort, sind dazugestossen. Ein solch primär vallader-deutsches Alphabet soll deutlich machen, dass es sich beim Engadin nicht nur um eine spektakuläre Landschaft handelt, sondern auch um eine Kulturregion, in der eine uralte, bedrohte Sprache noch weiterlebt.
Sent, Sommer 2016
Herbst 1992. Eine Heidelberger Freundin, wir kannten uns aus Studienzeiten, hatte im Autoradio etwas von einem seltsamen Ort namens Scuol gehört. Dort, erzählte sie, könne man noch jenseits vom Skirummel Winterferien machen. Es gebe da ein altes Hotel »Quellenhof«, das, wie der Name sage, aus Zeiten eines in Scuol einst berühmten Bädertourismus stamme (→ Mineralquellen). Das Hotel Quellenhof, so habe sie in dem Radioreisebericht gehört, habe noch den Charme der vergangenen Bäderkultur der Belle Époque und eigne sich für preiswerte Familien- oder Gruppenferien. Sie schlage vor, gemeinsam nach Scuol in die Skiferien zu fahren.
Wir waren gerade mit unseren grossen Kindern Silvia und Andreas (Matthias, den Jüngsten, gab es noch nicht) aus Griechenland zurückgekehrt. Manfred hatte dort drei Jahre lang als Lektor an der Aristoteles-Universität in Thessaloniki unterrichtet. Die Idee eines Wintertreffens in den Bergen mit alten und neuen Freunden (mittlerweile bestand eine wunderbare Tübingen-Heidelberg-Saloniki-Connection) fanden alle gut. Wir liebten den neugriechischen Gruss »Chairete!«, »Freut euch!«. Und nun freuten wir uns, im Engadin sein romanisches Echo zu hören: »Allegra!« Es ist eine Kurzform von »Cha Dieu ans allegra!«, wörtlich: »Dass Gott uns erfreue!«
»Allegra« ist der Gruss des Engadins, vor allem des Unterengadins, wo die romanische Sprache zwar rückläufig, aber im Alltag sehr viel präsenter ist als im Oberengadin. »Allegra« wird, je nach Uhrzeit und Beziehung der Sprechenden zueinander, mit anderen Formen variiert. Der erste Gruss am Morgen ist »Bun di«, »Guten Tag«. Von etwa elf Uhr an aber grüssen Einheimische, die einander nicht duzen, mit »Allegra«, bis gegen den späten Nachmittag. Danach wünscht man sich mit »Buna saira« einen »Guten Abend« (im Oberengadin beginnt man mit dem Abendgruss bereits nach dem Mittagessen). Vor dem Schlafengehen heisst es dann »Buna not«, »Gute Nacht«. Feriengäste aber können getrost den ganzen Tag mit »Allegra« grüssen. »Allegra« ist übrigens sehr viel leichter auszusprechen als »Grüezi«. Wenn aber Nicht-Schweizer-Mundart-Sprecher auf einem Wanderweg von entgegenkommenden Schweizer Unterländern mit »Grüezi« angesprochen werden und sie sich den romanischen Gruss »Allegra« – quasi als Gegengruss – nicht zutrauen, dann sollten sie wirklich »Grüezi« und nicht »Grüzi« sagen. Ohne »e« wäre das Wort ebenso falsch, wie wenn sie in einem Restaurant ein »Müsli« bestellten. Nähme man diesen Wunsch ernst, würde statt der gewünschten Zerealien eine kleine Maus serviert. Man denke also an die Maus und sage tapfer: »Allegra!«
Wer sich duzt, grüsst mit »chau« (das klingt wie das italienische »ciao«), das ist zu jeder Tages- oder Nachtzeit möglich. Solange sich Personen aber siezen, sollten sie beim »Allegra« bleiben. Wirklich korrekt, den schönen, höflichen Umgangsformen der Romanen gemäss, wäre allerdings eine Begrüssung bei gleichzeitiger Nennung des Vornamens (also auch, wenn man sich siezt). So werde ich von Dorfbewohnern, die mich nur entfernt kennen, mit »Allegra, duonna Angelika« begrüsst (»Guten Tag, Frau Angelika«), von Freunden aber mit »Chau, Angelika«. Der Nachname wird bei der Begrüssung nicht genannt. Bei meinem Mann wäre es dann »Allegra, sar Manfred« (»Guten Tag, Herr Manfred«) oder eben »Chau, Manfred«. Das Aussprechen des Vornamens ist ein Zeichen der Aufmerksamkeit und Achtung des anderen, und ich ärgere mich regelmässig über mich, wenn ich wieder einmal gedankenversunken vom Schreibtisch auf die Strasse stolpere und dann gerade noch ein »Chau« oder ein »Allegra« hinbekomme, aber meist nicht geistesgegenwärtig genug bin, sofort den Namen des Gegrüssten hinzuzufügen. Aber ich bemühe mich!
Auch die Schulkinder grüssen ihre Lehrer mit deren Vornamen und vorangestelltem »duonna« oder »sar«: »Bun di, duonna Ladina« oder »Buna saira, sar Claudio«.
Eine kleine romanische Begrüssungsbegegnung unter Nachbarn vor dem Dorfladen könnte so aussehen: »Bun di, Maria, co vaja cun tai?« – »Bun di, Flurin, grazcha, bain. E cun tai?« – »Grazcha, tuot in uorden! Fa ün bel di!« – »Tü eir, chau, sta bain.« Also: »Guten Morgen, Maria, wie geht’s?« – »Guten Morgen, Flurin, danke, gut. Und dir?« – »Danke, alles in Ordnung! Hab einen schönen Tag!« (wörtlich: mach einen schönen Tag!) – »Du auch, mach’s gut« (wörtlich: bleib gesund).
Es ist nicht so schwierig, Romanisch zu sprechen. (Auch wenn ich mich furchtbar anstelle. Aber ich arbeite mit der deutschen Sprache, und ich finde das Romanische so schön, dass ich, wie eine immer noch Frischverliebte, alles auch schön und richtig machen will. Das ist ein sicherer Weg, eine Sprache nicht zu lernen.) Wer etwas achtgibt, wird das Romanische – zumindest im Unterengadin – noch oft hören: auf der Strasse, in den Geschäften, im Gottesdienst, im Bus. Beim Aussteigen sieht man zum Busfahrer, der hier der »schofför« des »auto da posta« ist, und ruft ihm ein einfaches »Grazcha« zu oder auch elaborierter: »Grazcha fich ed a revair« (»Vielen Dank und auf Wiedersehen«).
Wenn ich Romanen im Zugabteil höre, schleiche ich mich gern unauffällig an und setze mich hinter sie. Dann sammle ich Wörter, Aussprachen, Intonationen. Ich versuche, mir Redewendungen zu merken. Ich lausche wie ein Dieb und vermehre meine Silbenbeute wie Saatgut. Freilich nehme ich auch Romanischunterricht, aber nichts ist so effektiv wie das direkte Hören – und natürlich das unmittelbare Sprechen im Alltag. Wenn man sich hoffentlich endlich traut!
Ein aufmerksamer Feriengast kann schnell einen kleinen Grundstock beisammenhaben. Hier ein »Sta bain«, dort ein »Fa ün bel di« oder »Che bell’ ora!« (»Was für ein schönes Wetter!«), ein »Ma, che fraid!« (»Was für eine Kälte!«), und schon ist er Teil einer kleinen, exklusiven Sprachgemeinschaft. Solange ein Feriengast Romanisch spricht, auch wenn er nur radebricht, werden die Romanen mit ihm in bewundernswerter Geduld Romanisch sprechen (sicher: im Unterengadin eher als im Oberengadin). Denn sie lieben ihre alte Muttersprache als ein kostbares Gut. »Chara lingua da la mamma« beginnt eines der bekanntesten romanischen Volkslieder, mit dem der Unterengadiner Lehrer Gudench Barblan (1860–1916) die weit über Romanischbünden hinaus bekannte inoffizielle Hymne der Engadiner und Münstertaler Rätoromanen, der »Jauers«, geschrieben hat. Wer den Titel »Chara lingua da la mamma« oder auch »Lingua materna« bei YouTube eingibt, kann das Lied hören, gesungen etwa von der Knabenkantorei Basel.
Das Romanische ist Heimat und Rückzugsort. Ein innerer Schutzraum gegen Touristen, Feriengäste, Ferienwohnungsbesitzer, Zuwanderer. Aber er kann betreten werden. Jede neue Vokabel ist ein Zauberwort, das die romanische Welt öffnet.
Eine bedrohte Sprache zu lernen, sie zu sprechen, ist ein ernstes und schönes Spiel. Wörter sind Schibboleths, Erkennungszeichen, die verraten, ob jemand dazugehört, dazugehören möchte, oder nicht. Wenn Feriengäste romanische Sätze versuchen, zeigen sie, dass sie sich für die Sprachsituation im Engadin interessieren. Schon ein »Allegra«, ein »Co vaja« ist eine kleine Verbeugung vor dem romanischen Dorf, eine Geste der Wertschätzung der einheimischen Kulturgemeinschaft. Sie wird verstanden und von den Romanen entsprechend beantwortet mit einem heiteren Willkommen: »Mo, tü discuorrast bain rumantsch!« (»Oh, du sprichst aber gut Romanisch!«). Das stimmt dann natürlich nicht, aber es ist eine Einladung unter das Dach der Rumantschia.
Es war also kurz vor Weihnachten 1992, als wir uns mit dem Auto von Tübingen aufmachten, um zum ersten Mal ins Engadin zu fahren. Auf der Rückbank sassen Silvia, fünf Jahre, Andreas, drei, und Florence, zwölf, das Kind von Pariser Freunden, das mit uns kam. Manfred hatte kurz auf die Landkarte geschaut und sich für den direktesten Weg entschieden: am Bodensee entlang, das Rheintal hinauf, durchs Prättigau bis Klosters, dann Richtung Davos und über den Flüelapass hinunter ins Engadin! Wir hatten – noch von Griechenland kommend – die Sonne im Herzen und Sommerreifen am alten Golf. Und wer im Schatten des Götterbergs Olymp gelebt hat, der interessiert sich für so banale Grössen wie Passhöhen nicht.
Wir fuhren durch graue und grüne Fluren. Es war ein schneearmer Winter. Schon auf der ersten Etappe des Flüelapasses wunderte sich Manfred, dass wir offensichtlich die Einzigen waren, die hier fuhren. Na, immerhin kein Stau! Die Kinder waren bester Laune, im Kassettenrekorder des Autos liefen die Prinzen. Es gab leichte Schneeverwehungen. Beim Gasthof Tschuggen sahen wir kurz ein Auto vor uns, Bündner Kennzeichen, das wir aber bei der nächsten Kehre aus den Augen verloren hatten. Die Schneeverwehungen nahmen zu. Manfred drehte die Musik leiser. Die Kinder protestierten. »Seid doch still«, sagte er, seltsam unfreundlich.
Wir erreichten die Passhöhe von 2383 Metern. Die Strasse war weiss bedeckt, Schneeanhäufungen am Rand. Rechts und links lagen Seen unter Schnee. Die grauen Flanken der hohen Berge zeigten ein geschecktes Katzenfell. Dann begann die Abfahrt. Manfred schaltete die Musik aus. Von der Rückbank kam Rascheln, dann der Geruch von zerkauten Gummibärchen. In der Ferne sahen wir das Bündner Auto noch einmal, das aber nach einer Kehre wiederum verschwunden war. Über die Strasse zog sich jetzt ein Streifenmuster aus Weiss, Grau und Schwarz. Ab und an ein dunkler Glanz. Manfred bremste auf ungewöhnliche Weise und fuhr schlingernde Bögen. Auf meine Frage (ich fahre nicht Auto), was los sei, antwortete er nur: »Schnee.« Dann, nach einer Pause: »Und Eis.« Das hatte ich schon gesehen, aber jetzt erst verstand ich.
In das Abbremsen und ausweichende Fahren kam nun regelmässig die leise Stimme von Florence, die fragte, wie lang es noch sei. Nicht mehr lange, log ich und drehte mich mit mütterlichstem Lächeln zur Rückbank. Das Kind hielt einen kleinen Weihnachtsbaum aus grünem Plastik auf dem Schoss, den wir noch in Saloniki gekauft hatten (schliesslich wollten wir im Hotel Quellenhof Weihnachten feiern!). Ich sah die Mädchenhände, die das struppige Grün bang an seinem hölzernen Sockel hielten. Silvia und Andreas fochten derweil einen Kampf mit zwei aufblasbaren Nikoläusen; sie waren Fahrten über Schlaglöcher durch das thessalische Pilion-Gebirge und über Schotterpisten im mazedonischen Hinterland gewohnt. Manfred versuchte, sehr, sehr langsam zu fahren und den unfreiwilligen Schwung, den eine Schneepassage ihm gab, auf dem nächsten, vertrauenerweckend schwarzen Asphaltstück wieder aufzufangen. Er war blass. Die Strasse schien ein haarnadelkurviges, schmales Band über sich in immer neuen Schrecken zeigenden Schluchten. Endlich begann der Wald, und Manfred schaltete wieder hoch.
Kurz vor Susch, dem ersten Dorf im Engadin, fragte Florence ein letztes Mal: »Wie lang noch?« Dann maunzte sie, sie wolle aussteigen. Dann kotzte sie. Wir waren froh, den Pass heil hinter uns gebracht zu haben, und reinigten notdürftig Mädchen und Bäumchen mit Kleenex. Im Quellenhof duschte unser Pariser Ferienkind in einer alten, frei stehenden Badewanne auf goldfarbenen Löwenpranken, und ich spülte am Waschbecken unter dem Hahn mit den alten Messingbeschlägen die griechische Plastiktanne im Wasserstrahl aus. So begann unsere Liebe zum Engadin.
Dabei hätten wir, von Tübingen kommend, uns leicht über Österreich dem Unterengadin nähern können. Der Weg hätte uns bequem nach Landeck und Pfunds gebracht, beim Grenzort Martina wären wir, immer leicht ansteigend, in das Hochtal hineingefahren. Von diesem Zugang bei Martina allerdings abgesehen (man biegt von der Reschenpassstrasse, die über Nauders ins Südtiroler Vinschgau führt, rechts Richtung St. Moritz ab), ist das Engadin allein über Pässe zu erreichen.
Es sei denn, man reist durch den Berg hindurch. Im November 1999, pünktlich zum Beginn der Wintersaison, wurde der Vereinatunnel für den Bahnverkehr mit Autoverladung eröffnet. Der mit mehr als neunzehn Kilometern weltweit längste Schmalspurtunnel (Spurbreite ein Meter) verbindet zwei- bis dreimal in der Stunde Klosters im Prättigau (Verladebahnhof Selfranga) mit Sagliains im Engadin. Seit die Bahn durch den Berg fährt, ist der Flüelapass im Winter gesperrt. Aber auch nach seiner Öffnung zur Sommersaison, je nach Witterung meist im Mai, kann es sein, dass man auf der Passhöhe von einem Schneesturm überrascht wird; immer wieder muss die Strasse unter dem Jahr gesperrt werden. Eines der Sprichwörter im Tal besagt: »Kein Monat ohne Schnee.« Und ich erinnere mich an einen Feriensommer in Guarda (1650 m), in dem wir den Kindern Wollsocken als Handschuhe anzogen und eine Wanderung ins Tuoi-Tal abbrechen mussten, weil wir im schliesslich kniehohen Schnee stecken blieben.
Der Vereinatunnel hat das Leben im Engadin verändert. Nun ist das Unterengadin einen Tagesausflug nah an Zürich herangerückt. Bevor es den Tunnel gab, folgte der alte Weg der Rhätischen Bahn von Scuol aus (Endstation und östlichster Bahnhof der Schweiz) der Richtung ins Oberengadin, bog bei Bever nach Norden ab und führte durch die Albula-Alpen hinauf nach Spinas (1816 m) und durch spektakuläre Kehrtunnel und über schwindelhohe Brücken hinunter nach Thusis im Hinterrheintal (697 m) und weiter bis nach Chur (593 m), der Hauptstadt des Kantons Graubünden. Diese Strecke gehört heute zum UNESCO-Weltkulturerbe. Eisenbahnbegeisterte aus der ganzen Welt kommen hierher, nur um diese Strecke zu fahren. Und das Bahnmuseum Albula in Bergün wird auch Reisende erfreuen, die sich nicht für Eisenbahnen interessieren. Von Chur endlich fuhr man durch das Rheintal, dann am Walensee und am Zürichsee entlang bis nach Zürich.
Für die Strecke Scuol–Zürich brauchte die Bahn damals knapp fünf Stunden. Mit dem Vereinatunnel sind es heute nur etwas mehr als zweieinhalb. Zunehmend wird das abgelegene Unterengadin für den Fremdenverkehr interessant. Viele Reisende kommen am Vormittag mit dem Ausflugszug »Aqualino«, um einen Tag im Scuoler »Bogn Engiadina«, dem Mineralwasserbad, einer der Hauptattraktionen des Engadins, zu verbringen (→ Mineralquellen). Für mich ist das »Bogn Engiadina« vor allem wegen seiner weitläufigen Sauna-Anlage mit dem marmornen Kaltwasserschwimmbecken die schönste Bäderlandschaft, die ich kenne.
Winterreisende sollten wissen, dass es um Weihnachten und Silvester wie auch in der Zeit der Faschingsferien bei der Autoverladung am Vereina zu Wartezeiten von mehreren Stunden kommen kann. Stammgäste kennen das und vermeiden, an Samstagen anzureisen. Oder sie stellen sich auf ein vorfreudiges Warten ein, haben heissen Tee und Proviant dabei, stricken, schauen auf ihren Tablets Filme, spielen Jass, Skat. Oder nutzen die Zeit, um mit dem Hund spazieren zu gehen. Schnell ergeben sich Gespräche mit anderen Wartenden, die sich die Beine vertreten. Seltsamerweise ist die Stimmung bei Selfranga, an der Tunnelpforte zum Engadin, immer gut.
Bevor es den Vereinatunnel gab, waren im Winter der Schienenweg über den Albula und die Passstrasse über den Julier die einzigen (meist, aber durchaus nicht immer) freien Zugänge von der deutschsprachigen Schweiz hinein ins Engadin. Die Beschwernisse an den Pässen ändern sich, sind aber auch im 21. Jahrhundert nicht zu vermeiden. Der Tod begleitet die Geschichte der Überquerung der Alpen. In diesen Tagen sterben Motorradfahrer in den Kehren, Autos rutschen über den Strassenrand, Radfahrer verunglücken. In vergangenen Zeiten kippten Kutschen, erfroren Reisende und Ruttner, jene Männer, die mithilfe von Ochsen, Pferden und kleinen Schlitten die Pässe offen halten mussten. Mit Schaufeln wurde der Schnee gebrochen (»ruot« ist der Bruch), dann bahnten sich die dampfenden Tierleiber den Weg. Oft versanken Mann und Pferd bis zu den Schultern im Schnee und mussten schweissgebadet nach wenigen Minuten den nachfolgenden Mann mit Ochse oder Pferd vorlassen. Eine kaum vorstellbar anstrengende und gefährliche Arbeit.
Ruttner erzählten Geschichten von Tod und Rettung. In seinem Buch »Graubünden. Land der Pass-Strassen« zeichnet Paul Caminada ein kleines Medaillon: Im Winter 1862 (noch vor dem Bau der Flüelapassstrasse) fand ein Ruttner auf dem 2606 Meter hohen Scalettapass, dem alten Säumerpfad südwestlich des Flüela, »eine Mutter mit zwei Mädchen« im Schnee liegend. »Eines der Mädchen und die Mutter waren tot. Das kleinere Mädchen lag noch an die Brust der toten Mutter gedrückt. Es lebte und konnte vom Ruttner gerettet werden. Am Auge der Mutter glitzerte eine zu Eis erstarrte Träne.«
Aber auch ohne Schnee war die Alpenüberquerung prekär. Caminada zitiert einen Brief, den der badische Schriftsteller Josef Victor von Scheffel am 6. September 1862 seiner Mutter schrieb, nachdem er das Unterengadin erreicht und in Tarasp Logis genommen hatte:
Dann am 4. September über den 8067 Fuss hohen Scalettapass ins Unterengadin. Dies war kein Spass. Ein einsamer, wilder Steig über Felstrümmer und tote, nur vom Flug des Schneehuhns belebte Natur, zur Rechten und Linken von eiskalt herabwehenden Gletscherfeldern überragt – brausende Wildwasser, deren Wasserscheide (wie im Schwarzwald) westlich zum Rhein, östlich zu Inn und Donau führt – im Herabsteigen klaffende Schluchten … also der Scaletta, dessen Namen von den Skeletten der lawinenerschlagenen Saumtiere und Menschen herrühren soll.
Scheffels Etymologie klingt überzeugend; doch Scaletta geht auf das romanische »s-chaletta« zurück, was »kleines Treppchen« bedeutet.
Die Pässe Flüela (im Sommer auf der Strasse zu überwinden, im Winter auf Schienen durch den Vereinatunnel zu umgehen), Albula (im Sommer ebenfalls mit dem Auto, im Winter nur mit der Rhätischen Bahn befahrbar) und Julier (nur mit dem Auto zu meistern, nicht immer wintersicher) verbinden das Engadin mit der deutschsprachigen Schweiz. Der Malojapass (Autostrasse) ist der Übergang ins italienischsprachige Bergell und hinunter nach Chiavenna in Italien; dann ist man bald am Comer See und in Mailand. Der Ofenpass (Autostrasse) führt von Zernez durch den Schweizer Nationalpark ins Val Müstair und von dort nach Südtirol. Über den Berninapass, 2300 Meter hoch (Autostrasse und Rhätische Bahn – auch diese spektakuläre Strecke gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe), kommt man durchs italienischsprachige Puschlav nach Italien: direkt bis in die palmensüdliche Innenstadt von Tirano im Veltlin (→ Bünde im Bergland, → Jenatsch oder die Bündner Wirren).
Der Reiz des Engadins, ein west-östlich ausgerichtetes Hochtal, gesäumt von Schneegipfeln, lebt zunächst von einem Versprechen: der Nähe des Südens. Nach dem wilden, zerklüfteten Osten des Unterengadins weitet sich das Tal gegen Westen zur Hochebene des Oberengadins mit seinen Seen (St. Moritzersee, Champfèrsee, Silvaplanersee, Silsersee), die so schön geschwungen daliegen, als habe Gott sich in Jugendstilgesten versucht: eisgrau, petrol, türkis, saphirblau. Oben bei Maloja hat das Tal keinen Abschluss, es endet vielmehr gleichsam an einer Kante, offen für Wind und Wolken. Dann folgt der Absturz hinunter Richtung Italien. Von Maloja aus dreht sich das Postauto über enge Passkehren in kürzester Zeit tiefer in eine völlig neue Landschaft. Der Wanderer Hermann Hesse vermittelt in der kleinen Skizze »Sommerreise«, wie sinnlich er diesen Übergang von der schönheitsharten Gletscherregion des Engadins in die grosszügige Üppigkeit der Lombardei empfunden hat. Nach dem »spärlich bewachsenen Alpenhochtal« wird die Vegetation immer fruchtbarer, »erst Kartoffeln und schöner Baumwuchs, dann Korn und Gärten, dann Wein und Mais, Kastanien, Maulbeerbäume, Feigen, Oleander«. Und er jubelt:
Was für Dörfer! Jedes eine fast römisch-romanische Vedute, mit alter Kirche und altem Kastell am Berghang trutzend, der reissende Bach an altem Burggemäuer und unter hohen, rundbogigen Steinbrücken hindurchschäumend.
Der heiteren Langsamkeit des Herunterwanderns der Passstrasse entspräche heute das Hinauftreten. Auch moderne Radfahrer, die sich, mit bronzegebrannter Haut, von Italien kommend, in ihren knappen Synthetikpanzern den Malojapass hochkämpfen, könnten wohl von der Lust der Landschaft erzählen, sofern ihnen die Steilheit dieser Strecke nicht die Aufmerksamkeit nimmt zu sinnendem Schauen.
Der Maler Hesse war empfänglich für Landschaftsfarben: Im Engadin sei »alles hart, blank, metallisch klar und kühl«, im Bergell hingegen erscheine »alles warm, weicher, abgetönter, samtener«. Speziell das Wasser der Oberengadiner Seen – »rein, eisig, geklärt in tiefen Stellen von leuchtendem Grün und Blau« – unterscheide sich deutlich vom matt silbernen der Bergeller Flüsse, die den »feinkörnigen Silbersand« der Maloja-Berge mit sich trügen. Noch nie, schliesst Hesse, habe er »Italien auf einem schöneren Weg erreicht«.
Es scheint das Schicksal des Bergells zu sein, als »schöner Weg« aufgefasst zu werden, als ein Übergang, ein Durchgangstal zwischen der erhabenen Höhe des Engadins hinunter in den wahren Süden. Wer hier haltmacht, tut es meist wegen Rainer Maria Rilke. Der Dichter wohnte und schrieb 1919 für einige Wochen in Soglio in einem der Palazzi des alten Adelsgeschlechts der von Salis. Noch heute beherbergt das Haus ein Hotel mit historischem Park und einem schönen Gartenrestaurant. Unter zwei 1884 gepflanzten Mammutbäumen könnte man in den »Sonetten an Orpheus« lesen. Oder ein paar Schritte weiter durch die Kopfsteingassen Soglios zum kleinen Friedhof am Abgrund gehen und hinüber ins Bondascatal schauen, zu den Dreitausendergipfeln der Sciora-Gruppe und zum Piz Badile, und der »Duineser Elegien« gedenken: »Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?«
Kletterer lieben das Bergell! Es gilt als ein Mekka der Alpinisten. Im Unterschied zum spröden Gestein des Engadins (Gneis, Schiefer, Kalk, Serpentin), das sich oft in Abbrüchen aus Geröll zeigt, bestehen die Gebirgszüge des Bergells aus schönstem Granit. Kulturell aber bleibt das Tal eine unterschätzte Passage, trotz Rilke in Soglio, trotz der Künstlerdynastie der Giacomettis, die aus Borgonovo bei Stampa kommen, trotz der maurisch inspirierten Burg Castelmur aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Mit ihren seiden ausgekleideten oder durch Trompe-l’œil-Malereien erweiterten historischen Räumen ist sie ein Zeugnis der Bündner Auswanderungsgeschichte und beherbergt ein hinreissendes Zuckerbäckermuseum (→ Zuckerbäcker oder Zurückkommen).
Nur wenige Durchreisende halten in Castasegna, dem Grenzort zu Italien, um die Villa Garbald zu sehen. 1864 fertiggestellt, ist sie der einzige Semper-Bau südlich der Alpen. In diesem Haus wohnte eine erstaunliche Familie. Abgeschirmt von einer halbhohen Mauer und einem durch eine Pergola geschützten Vorgarten, liegt das Anwesen direkt an der Hauptstrasse des Orts. Steinstufen führen zu der italienischen Rustico-Villa hinauf.
Arnout Hostens, ein schmaler, altersloser Mann mit dem Charme eines Jünglings, führt in den Salon. Wir setzen uns an einen runden Tisch aus lackiertem Holz. Er schlägt ein Buch auf. »Sehen Sie diese Fotografie? Es ist ein Hochzeitsbild und ein Programm.« Agostino Garbald, seit 1855 Zolldirektor in Castasegna, war während einer Militärübung im Sommer 1860 in Zuoz beim Lehrer Johann Thomas Gredig einquartiert. Hier lernte er dessen älteste Tochter Johanna kennen. Kurz vor der Abreise machte der 32-Jährige der zwölf Jahre jüngeren Johanna einen Heiratsantrag. Sie antwortete nicht. Eine Woche später aber gab sie in einem Brief ihr Jawort, und die Korrespondenz einer Brautzeit begann. In 27 Briefen (zwischen dem 2. Oktober 1860 und dem 22. April 1861) verständigten sich die beiden über ihre eheliche Zukunft. Johanna schrieb ihrem Bräutigam, dass sie Poetin sei – sie habe schon Gedichte geschrieben – und Schriftstellerin werden wolle. Und er fand das gut. Ein solcher Berufswunsch war für ein Mädchen aus dem Engadin, das bislang vom Vater unterrichtet wurde und gerade ein Jahr auf das Bündnerische Töchterinstitut in Chur gehen durfte, bevor es wieder zu Hause mithelfen musste, sehr ungewöhnlich. Agostino aber schrieb, er wolle keine »perfekte Koch-, Wasch- und Nähmaschine« zur Frau, sondern ein Gegenüber, mit dem zusammen er »philosophieren, lesen und studieren« könne, »bis wir schrecklich gescheit sind«. Agostino hatte neben seiner Arbeit als Zolleinnehmer verschiedene, vor allem naturwissenschaftliche Interessen und sah sich als den kühlen Intellektuellen, »die personifizierte Berechnung«. Sie hingegen war für ihn die »leibhaftige Poesie«, seine »Engadiner Sappho«. Die junge Braut wird gespürt haben, dass die Ehe mit Agostino ihr die ungeahnte Freiheit gab, sich zu bilden und ihren schriftstellerischen Neigungen nachzugehen. Und sie durfte das kalte Zuoz im Oberengadin, für sie das »bündnerische Sibirien«, verlassen und im Süden – im Süden! – ein selbstbestimmtes Frauenleben beginnen. »Es ist nicht fein – so sagt man –, wenn ein Mädchen an etwas anderes denkt als an Strümpfe stopfen und Tatsch kochen.« Und endet ihren Brief: »Früher wurden solche, welche etwas mehr Scharfsinn verriethen als die gewöhnlichen, als Hexen verschrien, heut zu Tage stehen sie in dem Geruch der Gelehrsamkeit. Deine Johanna (die auf dem besten Wege steht, an Deiner Hand eine Hexe zu werden).« Er antwortet lakonisch: »Liebste, Du bist schon jetzt eine Hexe, brauchst es nicht erst an meiner Hand zu werden.«