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Vom Lesen und Schreiben
„Fließendes Land” ist vielleicht Angelika Overaths persönlichstes Buch: eine Reise in die eigene Vergangenheit, in andere Ländern und Kulturen, in die Welt des Schreibens. Ihre Geschichten erzählen von der Begegnung mit ungewöhnlichen Menschen und öffnen die Werkstatt der Reporterin und Schriftstellerin. Schritt für Schritt entfaltet sich aus den verschiedenartigen Prosastücken, aus Erinnerungen, Reisebildern, Reportagen und Essays, ein besonderer Kontinent der Wahrnehmung.
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Seitenzahl: 213
Angelika Overath
Fließendes Land
Geschichten vomSchreiben und Reisen
Luchterhand
Compose. (No ideasbut in things) Invent!William Carlos Williams
für Urs Birchler
I Fegefeuer
Kirschbäume und frühe Zweifel
Dann aber war der Sommer käuflich geworden. Käuflich wie ein schöner Kirschbaum in einem großen Garten. Ein tschechischer Schulfreund, Sohn einer alten, bei der Niederwerfung des Prager Frühlings nach Deutschland entkommenen Arztfamilie, hatte sie mitgenommen in das Anwesen von Freunden. Es galt, den Baum abzuernten, und so verbrachten sie, zwei muntere Abiturienten, einen halben Tag, zupfend, essend, tschechische Verse ins Deutsche balancierend, in einer Weltenkrone aus grünen Blättern und glanzroten Früchten. Es waren Herzkirschen von außerordentlicher Qualität, wie sie auf den sorgfältig beschnittenen Bäumen im Badischen gelangen, groß und süß aufgeschossen in der feuchten Hitze der Rheinebene. Schwer lag ein Kirschenpaar in der Hand, das eben noch an den elastischen Stielen wippte.
Und doch umgab die nicht zu steigernde Pracht des Kirschbaums ein beinah frivoler Anhauch, etwas seltsam Falsches, das schwer zu bestimmen war. »Warum ernten sie ihn nicht selber ab?« hatte sie damals gedacht, als genieße sie hier eine fremde Lust. Unter sich sah sie das helle Grün eines bürstenschnittigen Rasens, auf dem nun dunkle Kirschbaumblätter und Zweiglein lagen, als müßten sie aufgekehrt werden.
In der Neubausiedlung am Stadtrand, in der sie wohnte, gab es Grünstreifen zwischen den Häusern, die davon ablenken sollten, daß hinter den Mietblocks das Brachland begann. Ungeachtet der nicht privilegierten Wohnlage trugen die Straßen Märchennamen; sie wohnte im Dornröschenweg. Tatsächlich hatte es hier einmal eine Zeit geheimer Fülle gegeben, die mit dem ungenutzten Land und einigen aufgelassenen, von wucherndem Brombeer- und Schlehengebüsch gesäumten Gärten zu tun hatte. Damals, in den Monaten der Vorbereitung auf die Erstkommunion, in die auch ihre erste Menstruation fiel, radelte sie oft nachmittagelang an den mäandernden Altrheinarmen entlang oder streunte durch einen der verlassenen Gärten, nicht um wirklich zu spielen, wie früher, das ging nicht mehr, sondern nur um fort zu sein. Sie sammelte etwas auf, schnitzte an einem Stock herum oder hockte in ihrem Lieblingsbaum, einem verwachsenen Kirschbaum mit blinden Seitenästen, von denen leicht einer brach.
Eines Nachmittags, es war Frühling, und ihr Baum trug seine ersten kümmerlichen Knospen, sah sie einen Jungen kommen, der nicht in die Siedlung gehörte. Er mußte aus den Baracken sein, die hinter dem Brachland begannen. Dort wohnten kinderreiche Familien, die Sozialhilfe bezogen; in der Neubausiedlung waren sie, in kühner Überschätzung des sozialen Abstands, als die »Asozialen« bekannt. Manchmal standen dort neben den Baracken auch Zigeunerwagen, man witterte den in der Ferne verwischten Schein von Feuer, Hunde bellten. Den Kindern der Siedlung waren die Baracken ein Ort von Verbot und Verheißung. Manchmal fuhren sie mit ihren Rädern an den Bezirk, wo jene Pisten begannen, die schon beim leichtesten Regen verschlammten. Das eine oder andere Kind von dort ging, zumindest zeitweise, mit ihnen zur Volksschule. So gab es ein dunkelhäutiges Mädchen, das unter dem Wort »Bastard« weinend im Pausenhof stand.
Als der Junge sie im Baum bemerkte, rief er etwas, das sie nicht verstand. Sie war auf der Hut. Sie besuchte jetzt die erste Klasse eines dominikanischen Mädchengymnasiums in der Stadt, und hätte man sie gefragt, ob sie morgen für Jesus Christus sterben wolle, wäre sie nickend einfach mitgegangen. Sie war elf Jahre alt, er war, wie er später sagen würde, dreizehn. Sie kam vom Baum herunter. Sie fand sich gescheit, und sie wollte nicht mit einem dummen Jungen sprechen. Ob er schon bruchrechnen könne? Sie gab ihm einen Stock in die Hand, säuberte mit dem Fuß ein Stück Boden unter dem Kirschbaum und ließ ihn rechnen. Er schrieb zügig Zahlen in den Sand. Sie registrierte sein Tempo, war aber im Rechnen nicht sicher genug, um prüfen zu können, was er tat. Er lachte, warf den Stock fort, fuhr über die glatte Rinde des Kirschbaums und hangelte sich mit einem Klimmzug in die erste Astgabel. Dort drehte er sich um, zog sein Hemd aus und warf es ihr zu. (Noch Jahre später sollte sie diese Geste beschäftigen.)
Sie fing das Hemd auf. Und während er mit magerem Oberkörper weiter in den Kirschbaum hinaufkletterte, stand sie da, das bubenwarme karierte Flanellhemd in der Hand, hob es an ihr Gesicht und roch daran.
Erkenntnis war ein Atemzug. Sie hatte das Hemd auf die Brombeerhecke geworfen und war davongerannt.
Zu Hause in der offenen Badezimmertür stand die Mutter, über eine Plastikschüssel geneigt, und drehte tropfende Putzlappen. Sie sah aus wie eine alte Frau. Natürlich gebe es Gott, antwortete die Mutter, richtete sich auf und wischte mit ihren kleinen Händen über das bunte Würfelmuster der Kittelschürze. Die Tochter aber brauchte die Antwort nicht mehr.
Handtaschen
Später habe ich es wieder in Budapest gesehen, in der Straßenbahn. Dort war es wie früher. Früher hatten die Straßenbahnen in unserer Stadt noch lange, hell lackierte Holzbänke. Früher, das war so lange nach dem Krieg, daß die Menschen schon wieder etwas waren. Da saßen die Frauen und hielten mit beiden Händen ihre Handtaschen auf ihren geschlossenen Knien fest. Es war, als drückten sie ein Siegel auf ihren Schoß, als schützten sie ihr Geschlecht. Oder es war, als ob all diese Frauen keine Genitalien hätten, dafür aber Handtaschen. Vielleicht aber waren die Genitalien der Frauen in ihre Handtaschen gerutscht. Jetzt saßen sie da und hielten sie fest wie etwas, das man sauer erspart hat und das einem deshalb nicht weggenommen werden durfte. Männer saßen nie so da. Auch Männer nicht, die die Handtaschen ihrer Frauen trugen.
Damals, als der Krieg gerade so lange vorbei war, daß die Menschen wieder etwas sein konnten, damals gab es Männer, die die Handtaschen ihrer Frauen trugen. Am gebogenen Henkel. Nach dem Einsteigen in die Straßenbahn gaben sie sie ihren Frauen zurück.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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