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Wenn man kein Ziel hat, muss man sich eines erfinden!
Es ist der Klassiker und trotzdem ein Schock: Ihr Mann betrügt sie mit einer jungen Kollegin! Und Anna Michaelis geht. Sie packt etwas Wäsche zusammen und nimmt den erstbesten Flug, nach Edinburgh. Ihr Weg führt sie in die Nationalgalerie. Auf einem Gemälde von Gauguin beginnt eine Frau, als Rückenansicht dargestellt, plötzlich zu sprechen. Es ist der Anfang eines Spiels. Anna reist weiter. Sie steht vor Bildern in aller Welt und entdeckt Komplizinnen, die von Sehnsucht, Ehealltag, Liebe erzählen. In der Beschäftigung mit den Kunstwerken sieht Anna auf ihre eigene Ehe zurück und findet den Mut zu einem neuen Selbstbild.
Anna Michaelis, Journalistin, 50 Jahre, nimmt ihre Scheckkarte, ihr Handgepäck und geht. Gerade hat sie erfahren, dass ihr Mann, Altphilologe an einem Münchner Gymnasium, sie mit einer jungen Kollegin betrügt. Anna will retten, was zu retten ist, also sich. Doch wohin jetzt? Der erstmögliche Flug bringt sie nach Edinburgh, eine Stadt, in der sie nie war. Und da sie sich in der Fremde immer unter Bildern heimisch gefühlt hat, stolpert sie in die Schottische Nationalgalerie. Während sie müde und irritiert vor einem Gemälde von Gauguin sitzt, beginnt eines der bretonischen Mädchen, plötzlich zu sprechen. Es erzählt, wie es damals war in Pont Aven, als die Maler kamen. Anna staunt und versteht, dass weibliche Rückenfiguren wie jene Frau auf dem Gemälde Gauguins ihr etwas sagen können. Ihr verraten wollen, wie es wirklich war: als Modell, als Ehefrau eines Malers, als Künstlerin. Von da an begibt sich Anna, frisch verlassen, auf eine Reise zu Rückenfiguren in aller Welt: von Edinburgh nach Kopenhagen, weiter bis Boston und zurück auf den Kontinent nach St. Moritz; von dort nach Paris und noch einmal bis ins dänische Skagen. Anna begegnet Gemälden von Paul Gauguin, Vilhelm Hammershøi, Edward Hopper, Giovanni Segantini, Ingres, Jacobus Vrel und Anna Ancher. Über die Antworten der Bilder lernt Anna Michaelis, sich und ihre lange Ehe anders zu sehen, und am Ende weiß sie, dass sie neu beginnen kann.
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Seitenzahl: 295
Angelika Overath
Sie dreht sich um
Roman
Luchterhand
Die Autorin dankt
der Kulturförderung des Kantons Graubünden und der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia für die Unterstützung ihrer Arbeit.
© 2014 Luchterhand Literaturverlag, Münchenin derVerlagsgruppe Random House GmbH.Cover: unter Verwendung einer Photographie von Angelika OverathSatz: Uhl + Massopust, AalenAlle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-641-12525-7
Für Henrike Lähnemann
Something produces intensity, a holy feeling, as oranges produce orange, as grass green, as birds heat. Some hearts put out more love and some less of it, presumably. Does it signify anything? There are those who say this product of hearts is knowledge.
Saul Bellow, Herzog
Aber es gab Augenblicke, in denen es ihm vorkam, daß dieWelt weniger eine moralische denn eine mystische Angelegenheit sei.
Tania Blixen, Babettes Fest
ERSTES BILD, ERSTER TAG
1
Bist du da?
Sie saß auf einem ovalen, rückenlosen Plüschmöbel. Es roch nach Staub wie nach altem Puder. An den Türen standen Aufseher in dunkler Uniform.
Anna Michaelis sah zu derWand mit den Bildern, auf die gedehnten Choreographien von Körpern, die sich an ihnen vorbeibewegten.Vom Hotel aus war sie gleich hierher gekommen. Die National Gallery lag unterhalb der Altstadt, nur wenige Schritte über unregelmäßiges Kopfsteinpflaster, dann eineTreppe hinunter durch einen Park. Museen waren sichere Orte.Tarnkappen. In ihren Räumen mußte man sich nicht verhalten. Im Grunde war man gar nicht da. Die Bilder waren da, und man selbst konnte untergehen in ihrem Muster oder sich wegschauen in das Leben anderer. Ein lichtflimmernder Salon, eine Frühstücksgesellschaft im Grünen. Eine hohe Dame in blauem Brokat mit Hündchen. Ein Klatschmohnfeld, eine Meerlandschaft. Anna war unsichtbar, aber nicht allein.
Sie streifte ihre Slipper von den Füßen, bewegte die nackten Zehen und sah ihnen zu. Wissen Zehen, wo sie sind? Zehen machten alles richtig. Beim Aufsetzen, beim Abrollen, Druck ausgleichen. Anna streckte ihren Rücken durch. Stellte die Füße vorsichtig auf das weiche, vom Laufen noch warme Leder. Seit frühmorgens war sie unterwegs. Es mußte jetzt später Nachmittag sein. Eine Stunde Zeitverschiebung. Das Museum würde bald schließen. Sie sah den Besuchern nach. Einige von ihnen waren zu zweit; ab und an sprachen sie leise miteinander. Wiesen sich, gegenseitig Zustimmung voraussetzend oder zumindest ein Interesse erwartend, auf etwas hin.Waren sie einzelne, bewegten sie sich stumm von Bild zu Bild. Manche notierten etwas in ein dünnes Büchlein, auf einen Block.
Edinburgh, Schottische Nationalgalerie, Saal der Impressionisten. Fraglos saß sie da. Aber was tat sie hier, Anna Michaelis, an einem regnerischenTag am Ende derWoche?Wenn das Museum schloß, würde sie wieder ins Hotel gehen. Und dann?
Am Morgen hatte sie noch einmal in seine Augen gesehen. Es waren alte Augen, älter als er, Augen von dieser samtenen Schärfe, als habe er eine hyperrealistische Aufmerksamkeit im Blick. Ein verdienter Oberstudienrat, immer schon einen pädagogischen Schritt weiter als seine begabten Schüler. Doch sie war ruhig aufgestanden und hatte wie in Zeitlupe (ja, sie hatte sich regelrecht dabei zugesehen!) ihr Handgepäck zusammengesucht. Sie konnte blind packen, ohne viel nachzudenken. Einen warmen Pullover, Strickjacke, T-Shirts, einen Rock, eine Jeans, etwas Unterwäsche; Reisen gehörte zu ihrem Beruf. Dann verließ sie das alte Münchner Reihenhaus, zwanziger Jahre, privilegierte Lage, mit dem maßvoll verwilderten Obstgarten und der kleinen, im Sommer rosenumrankten Dachterrasse. Kaum hörbar zog sie die Haustüre zu, wissend, daß er dieses sanfte Geräusch empfinden würde wie eine Detonation. (Gefolgt vom leiser werdenden Knirschen der nassen Kiesel, dem kurzen Quietschlaut der niedrigenVorgartentür mit dem Löwenknauf.) DasTaxi wartete schon.
Sie hatte den nächstmöglichen Flug genommen. München – Edinburgh! Sie kannte diese Stadt nicht.
Eine Menschengruppe gab imWeitergehen ein Gemälde frei. Sie hatte es beim Betreten des Raums flüchtig gesehen, aber kaum wahrgenommen. Es war ein Gauguin, das Bild mit den Bretoninnen, die sich um einen roten Platz versammelten. Anna kannte das Bild von verschiedenen Reproduktionen, »Jakobs Kampf mit dem Engel«. Bei einer Studienfreundin hing es einmal über dem Schreibtisch. Hier also war das Original. Sie hatte nicht erwartet, in der fremden Stadt gleich ein vertrautes Bild zu sehen. Sie schlug die Beine übereinander, stützte die Ellenbogen auf ihren Oberschenkel und legte das Gesicht in die Hände. Die Augen geschlossen. Die Berührung der Finger auf den Augäpfeln erzeugte ein buntes Blitzen. Das Sehorgan reagiert bei Druck mit Sichtbarem. Mit was reagiert die Seele?
Am Abend waren sie noch in einem Konzert gewesen. Eine Geigerin mit blonder Kurzhaarfrisur spielte die Solosonaten von Bach. Sie spielte ohne Vibrato und so ruhig und zugleich virtuos, als sehe sie mit Erstaunen ihrem Bogen zu. Es war etwas Keusches in diesem Spielen. Als sei sie einzig ein Medium für die Bachsche Musik. Und als müsse sie sich nur hingeben und schon entstünde unter ihrem Atmen zwischen Schulterkugeln und Handgelenken dieser Klang wie von selbst.
Da es stark regnete, waren sie mit demTaxi nach Hause gefahren.
Sie hatte noch etwas trinken wollen und in der Küche ihrem Mann vom Kühlschrank aus zugerufen, ob er auch etwas möchte. Da hatte er, er stand mittlerweile in der Tür wie in einem Rahmen, mit der sicheren Stimme des Oberstudienrats gesagt: Ich war nicht allein inTriest.
Noch in der Hocke vor dem summenden Kühlschrank, war ihr der Altphilologenkongreß an Ostern eingefallen. Und sie hatte gleich gewußt, mit wem er inTriest nicht allein gewesen war.
Weißwein? hatte sie nach drei Sekunden Ewigkeit gefragt. Er hatte nicht geantwortet. Sie hatte, immer noch in der Hocke vor dem offenen Kühlschrank, auf das angeschnittene Stück Mozzarella gesehen das sie, in seinem Rest Plastikhaut in ein weißes Porzellanschälchen gelegt hatte, damit es nicht austrocknete. Und auf einmal hatte dieses Stück Käse sie gerührt, wie es so dalag in einer kleinen milchigen Pfütze. Und ihr ganzer Restalltag hatte sie gerührt, wie sie ihn bewahren wollten, immer wieder, in all den kleinen und größeren Gefährdungen einer langen Ehe.
Da hatte er gesagt: Sie wünscht sich ein Kind von mir.
Schockfrosten. Gefrierschockverfahren dienten der sensiblen Haltbarmachung von Lebensmitteln. Manchmal fielen Anna in schwierigen Situationen seltsame Wörter ein, die sie ablenkten und damit schützten. Sie glaubte dann mehr an die Wörter als an den Moment. Und dann war der Moment in seiner schlimmen Heftigkeit meist schon ein wenig vorbei. Bei mindestens minus achtzehn Grad, aber nur kurz, vielleicht zwei Minuten.
Sie hatte den Kühlschrank geschlossen. Sie war aufgestanden und sah zu ihm hin, ein Scherenschnitt in der offenen Tür.
Dann mußt du dich entscheiden, hatte sie gesagt. Er aber hatte sich umgedreht und war über den Gang in seiner Bibliothek verschwunden.
Nullpunkt, dachte Anna und öffnete die Augen. Wie oft hatte sie diese Szene rekapituliert in den letzten Stunden. Sie richtete sich wieder auf.Vor ihr lagen die weißen, die übergroßen und flächigen Hauben der bretonischen Mädchen. Sie sah nach ihren Schuhen, schlüpfte mit den Füßen hinein. Ihre Finger halfen den Fersen nach. Und als sie jetzt aufstand, um zu gehen, da hörte sie es.
2
So war es aber nicht.
Wir sind nicht dagestanden und haben fromm und ergriffen hingeschaut.Warum auch! Es gab nichts zu sehen. Ich meine, für uns. Und was hätten wir zu tun gehabt bei diesem Apfelbaum auf rotem Sand! Das war seine Idee.
Ganz langsam, dachte Anna und setzte sich wieder.
Und dann malte er uns, wie er uns brauchte: ergriffen von einerVision. SeinerVision. Aber wir haben das nie gesehen. Wir nicht. Und der Pfarrer auch nicht. Gut, in der Kirche hat Monsieur le Curé von einem Kampf mit dem Engel erzählt. Nein, erzählt nicht gerade. Er hat aus der Bibel gelesen, heiligesWort für heiligesWort, und dann hat er etwas gepredigt. »Furt« weiß ich noch. Und »Mann«. Und »Ringen«. Und »Hüfte«. Und »Mensch und Gott«, und: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn«. Aber wer sagt, daß uns das interessiert hätte? Er.
Anna sah auf die Leinwand vor sich. Und sei es, daß sie zu müde war, um zu staunen, sei es, daß ihr das fremde Sprechen gar nicht so fremd schien, jedenfalls ließ sie sich unwillkürlich von der Stimme weiter mitnehmen.
Wir haben ihm gepaßt für sein Bild.Von uns.Vor allem farblich. Ein frischgestärkter Bogen aus weißen Hauben um dieses glühende Rot herum. Aber so rot war der Sandplatz vor der Kirche dann doch nicht. Auch wenn er glühte. Und er meinte wohl diesen Sand. Und als Glutkern in das Rot hinein – das wir rahmten – setzte er die zwei Männer. Jakob und den Engel. Oder wer diese winzigen, durchtrainierten Kerle auch gewesen sein mögen. In Blau und in Grün.
Und der eine hatte gelbe Flügel.
Nicht genau auszumachen, was die beiden taten. Kampf,Tanz? Ein Sich-Messen jedenfalls. Ums Leben? Um Mut, Anmut. Schwer zu sagen, was schwer war. Für uns war etwas anderes schwer als für ihn. Aber das fiel ihm nicht ein. Und dann hat er noch dieses Tier dazugemalt. Wie eine junge Kuh oder wie ein kleiner Stier, auf der anderen Seite des Apfelbaums, der mit seinen bunten Blättern in den Himmel stieg. Die Beine des Tieres waren komisch, staksig, ein wenig verdreht, genau wie die Beine der Kämpfenden.
Anna sah auf die Kämpfenden und auf das Tier. Sie sah von den Beinen des Tiers zurück auf die Beine der Kämpfenden.
Denn auch sie, diese seltsamen Kerle – und der eine geflügelt! – waren ein einziger Körper, eine einzige Gestalt. Ich sah das gleich. Sie waren nicht zwei. (Und ich wußte auch warum.) Und selbst der Pfarrer, der nichts wußte und nichts sah, muß es geahnt haben.
Von Pont-Aven haben sie ihm das Bild hinaufgeschleppt, durch Buchweizenfelder, Kastanienwälder. Eine seltsame Prozession, heidnisch: Er, der ernste Maler, und seine zwei jungen Freunde; sie trugen das Bild bis in die Kirche von Nizon. Dort haben sie es aufgestellt in das stickige, fromme Dunkel mit den hölzernen Heiligen und den geschnitzten Gesichtern, die von den Dachbalken herunter grimassierten. Dieser alte Gegenzauber gefiel ihnen! Das Gemälde würde es mit ihm aufnehmen und mit dem christlichen Glauben dazu. Jakobs Kampf mit dem Engel sollte sich in der Kirche beweisen. Das Bild erzählte von einer anderen Religion.
Auf einmal schien es Anna, als ginge eine ganz leichte Bewegung durch die Blätter des Apfelbaums. Sie wischte sich über die Augen. Sie hatte kaum geschlafen.
Als der Pfarrer, das Brevier in der Hand, endlich aus seinem Garten auftauchte, genügte ihm ein Blick. Er versuchte, höflich zu bleiben. Doch er schüttelte nur den Kopf. Nicht für geschenkt wollte er das haben, nicht in seiner Kirche! Das war kein frommes Bild. Das wenigstens war ihm klar.
Warum ich das weiß?Weil ich dabei war, weil ich ihnen nachgeschlichen bin. Jemand wie ich fällt nicht auf. Ein Dorfkind, das man zu Besorgungen schickt. Aber mir fiel auf, daß dieses Bild eine andere Geschichte erzählt.
Welches Dorfkind?Welche Geschichte? Selbstvergessen zog Anna die nackten Füße auf das Sofa, schlang die Arme um die Beine und hörte zu.
Jedenfalls brauchte er unsere Köpfe für seine Erleuchtung. Ausgerechnet als Rahmen. Als anmutigen Bilderrahmen im Bild. Haube an Haube an Haube. Gestärktes, kühlesWeiß, heiß gebügelt von uns, von unseren Müttern mit Bügeleisen, die glühende Kohlen im Bauch hatten. Mit uns konnte er das machen.Wer waren wir denn für ihn und seinesgleichen? Bauernmädchen aus der Bretagne. Reine Motive. Auf der Leinwand jedenfalls.
Oft genug gezeichnet. Geduldig. Alle diese Maler, die kamen, haben uns gezeichnet. Wir waren ein einfaches Sujet. Immer wieder. Sie fanden unsere Hauben pittoresk. Sie fanden uns pittoresk. Frisch, dieWangen gerötet vom Wind. Pont-Aven war pittoresk. Ein exotisches Nest jedenfalls, wenn man aus Paris kam, aus Brüssel, Kopenhagen, New York. Und ein Maler war. Und wir, wir waren neugierig. Freilich. Geschmeichelt von diesen jungen Herren. Und nervös. Und hingerissen. Und standen im salzigen Wind.
Jetzt, auf dem Bild, ist alles einfach. Hinterher kann einem nichts mehr geschehen.
Aber damals –
3
Eine Aufsicht in nachtblauer Uniform stand vor ihr. Anna erschrak. Das Museum schließe in wenigen Minuten. Sie stand sofort auf und ging, nun wieder in der Wirklichkeit der Wärter angekommen, einige Schritte weiter.
Sie war durcheinander, es ging ihr nicht gut. Sie wußte nicht, was sie hier machte in diesem Museum auf einer Insel zwischen Nordsee und Nordatlantik und wo sie hin sollte in der schottischen Stadt. Aber verrückt war sie nicht.
Das Bild hatte gesprochen. Daran gab es keinen Zweifel. Dieses wirkliche Bild, das sie bislang nur kannte von Kalendern, Postkarten, von einem Plakat über dem Schreibtisch einer Freundin, hatte erzählt.
Sie wußte, daß sie jetzt gehen sollte. Und sie ging zu dem Bild zurück. »Jakobs Kampf mitdemEngel oder Vision nach der Predigt«, Pont-Aven 1888, 73 auf 92 Zentimeter. Sie setzte sich wieder (auf das Plüschmöbel, das nach Staub roch wie nach Puder). Ruhig bleiben, dachte sie. Haltung bewahren. Etwas Ungewöhnliches ist geschehen. Und doch war dieser Vorgang auch fast natürlich gewesen. (Also hatte sie nicht aufgeschrien, sondern zugehört.) Ihr Hinschauen war kaum merklich in ein Hinhören übergegangen.
Nun war es wieder still. Aber genau in dieser Stille hallte nach: das Bild sprach.
Sie war jetzt doch aufgeregt. Sie drehte sich nach den letzten Besuchern um. Niemand außer ihr schien etwas gehört zu haben. Dann sah sie noch einmal auf die weißen Hauben, die einen Halbkranz bildeten, den Schwung eines Rahmens um einen Platz. Lackrot. Japanisch. Keine Schatten.
Eine Geschichte aus der Bibel.Was aber sahen die Bretoninnen auf dem Platz? Und was sah sie, Anna, im Museum?
Bilder verändern sich nicht. Bilder sind so da, wie sie gemalt worden sind. Dann werden sie angesehen von vielen Menschen. Sie verstauben.Werden geputzt. Umgehängt. Sie sind begehrt und gehen auf Reisen zu anderen Museen.Wo sie auch sind, wer vor ihnen steht, sie sind dieselben über ein Jahr, ein Jahrhundert, ein Jahrtausend. Gut, sie altern, sie dunkeln nach. Doch ist das, was auf ihnen zu sehen ist, lange auf ihnen zu sehen. Auch Bilder, die eine Geschichte erzählen, sind stumm.
Aber dieses Bild hatte leise und mit einer jungen, festen Stimme gesprochen. Zu ihr, Anna, Journalistin, fünfzig Jahre alt, frischverlassen, sich wie fünf fühlend. Wie fünf, oder fünfzehn. Ein Alter, in dem man gerade schreiben lernt. Oder lieben. Frischverlassen, mit einem flatternden Ich.
Immerhin ein Anfangsgefühl. Null. Es kam also nur darauf an, wie man weiterzählte.Weitererzählte. Anna sah auf die beiden winzigen, muskulösen Männer. Ineinandergreifend, blau und grün und gelb geflügelt.
War es nicht auch als Kind so gewesen, daß Bilder erzählten und einen mitnahmen? In der Kirche die frischen Heiligenbildchen, die man sich an besonderen Feiertagen neben dem Portal von der Bank nehmen durfte und dann vorsichtig in das Gebetbuch legte.Welche lange Kinderzeit war ein lateinisches Hochamt! Bis die schmalen, nach Druckfarbe riechenden Figuren anfingen, sich zu bewegen: Und eine Geschichte inWeihrauch und Myrrhe begann.
Sie sah noch einmal zur Seite. Nein, es hatte tatsächlich niemand außer ihr etwas gehört. Sie sah die Rücken der letzten Museumsbesucher, die in der Flucht der Haupttür weitergingen. Ein Wärter sammelte Audioführer ein.
Vor den Fenstern wurde es langsam dunkel. Eine wattige Helle erfüllte den Raum. Wie ein Unterwasserlicht noch dicht am Meeresspiegel.
Anna fragte sich, warum sie sich nicht mehr wunderte. Aber es ging ja nur ums Aushalten, irgendwie. Bei Geburten etwa produzierte der Körper schmerzstillende Stoffe. Damit dieTrennung leichter gelang, betäubte er sich selbst. Vielleicht konnte die Seele das auch.
Anna spürte, wie sie ruhiger wurde. Sie sah noch einmal auf die weißen Hauben. Sie sah, daß es auch Helme waren.Vor allem eine ganz imVordergrund. Und war diese Helmhaube nicht von einer eigentümlichen Flächigkeit? Anna versuchte, die Helmhaube in ihrerVorstellung weiter nach oben zu schieben. Fast, dachte sie. Fast wäre diese Haube eine Leinwand für die Szene des Kampfes. Und wie die Flügel der Kämpfenden nach oben zeigten, so wiesen, beinahe spiegelsymmetrisch, die beiden Haubenbänder hinunter.
Das Bild schwieg.
Anna sah noch einmal auf das Schild neben dem Rahmen.
Was war los in Pont-Aven im Sommer 1888?
Es klingelte zum dritten Mal. Die Wächter begannen, die Seitentüren zu schließen. Anna nickte dem Bild zu, als grüße sie es. Dann war sie auf demWeg ins Hotel.
4
Vieles ist möglich, was man nicht für möglich hält. Anna sah in den Spiegel und zog ein Stück Zahnseide durch die Zähne. Es ist möglich, verlassen zu werden, nach einem halben Leben. Es ist möglich, sehr schnell ein Handgepäck zusammenzusuchen, in einTaxi zu steigen, in ein Flugzeug. Es ist möglich, in einer fremden Stadt zu landen, in der man noch nie war.Weil es ein Anfang sein soll.Wenigstens ein Anfang.Was bleibt einem am Ende sonst übrig.
Edinburgh also. Sie nahm einen Schluck Mundwasser und bewegte die leicht beißende Flüssigkeit zwischen den Backen. Und dann war es möglich, in eine Gemäldegalerie zu gehen. Wie Tiergärten, wie Kirchen waren Museen zuverlässige Orte. Bilder vor allem schienen ihr eine immer angenehme Gesellschaft zu sein. Sie forderten nichts. (Weniger als die neugierigen Zebras hinter den Stäben; von den Heiligen in den Kirchenräumen ganz zu schweigen.) Bilder hatten eine einladende Überzeugungskraft. Sie waren versöhnlich, gesammelte Zeit. Schon geleistete Erfahrung. Bilder sind immer neu da, Anna spuckte das Mundwasser aus, und doch haben sie zugleich schon alles hinter sich.
Unwillkürlich zog sie mit den Zähnen die Oberlippe ein, dann die Unterlippe. Sie leckte mit der Zungenspitze nach. Daß man auch in der Katastrophe an die Mundhygiene denkt. »Mundhygiene«! Machte nicht gerade dasWort »Hygiene« jedes weitereWort, dem es sich verband, ein wenig verdächtig? Ohrenhygiene, Nasenhygiene,Vaginalhygiene. Augenhygiene, Herzhygiene. Sie drehte sich um.
Vor ihr lag ein schmales Bett mit abgesteppter altrosa Bettdecke. Am Kopfende des Bettes, da, wo sie die Erhebung eines Kissens ahnte, lag ein Konfekt. Sie begann, sich langsam auszuziehen.
Als sie jung gewesen war, konnte man Monatsfahrkarten kaufen für das europäische Streckennetz der Eisenbahn. So war sie damals durch viele Städte gekommen, mit Schulfreunden im letzten Sommer vor dem Abitur, in den folgenden Jahren mit Studienkollegen, aber auch allein. Und ganz selbstverständlich, ohne sich bewußt zu sein, daß das nicht selbstverständlich war, hatte sie in jeder neuen Stadt sofort nach den Galerien gesucht. Eine Stadt besichtigen hieß für sie, ihre Bilder zu sehen. Eine Stadt versäumt haben war identisch mit demVersäumen ihrer Gemälde. Es gab also in jeder Stadt eine zweite Stadt der Bilder. Und wenn sie jetzt zurückdachte, dann hatte sie durch die Bilder, die sie jeweils sah, doch einiges verstanden von der fremden Stadt, die sie nur flüchtig besuchte. Und konnte dort auf ihreWeise zu Hause sein.
Anna saß nackt auf der Bettkante. Sie sah hinunter auf ihre Füße. Sie mochte ihre Füße, ihre Zehen erinnerten sie an Gefieder. Flugbereit. Sie drehte sich zur Seite und sah zum Fenster.
Und wenn man kein Ziel hat, dachte sie, muß man sich eines erfinden.
ERSTES BILD, ZWEITER TAG
1
Vor dem Hotel nieselte es. Anna schlug den Kragen ihresTrenchcoats hoch und lief schnell die braunglänzende mittelalterliche Gasse entlang Richtung National Gallery. Erstaunlicherweise hatte sie geschlafen.Traumlos. Zum Frühstück hatte sie ein Glas Orangensaft getrunken und eine Kanne grünenTee. Essen mochte sie noch nicht.
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