Ein Winter in Istanbul - Angelika Overath - E-Book

Ein Winter in Istanbul E-Book

Angelika Overath

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Beschreibung

Goldenes Horn, Bosporus, das alte Byzanz: Angelika Overath erzählt von einer Stadt voller Schönheit und Widersprüche, in der eine unerwartete Liebe möglich wird.

Einen Winter will Cla, Religionslehrer aus dem Engadin, in Istanbul verbringen. Er arbeitet an einer Studie über die Konstantinopel-Mission von Nikolaus von Kues. Doch kaum lernt Cla den jungen türkischen Kellner Baran kennen, taucht er mit ihm ein ihn die Stadt: Sie streifen durch die Gassen und über Märkte, sitzen am Meer und in Cafés, gehen ins Hamam. In ihren Gesprächen prallt die spätmittelalterliche Welt mit ihrer Trennung in Ost- und Westkirche unmittelbar auf das religiös gespaltene Istanbul der Gegenwart. Bei einem geheimen Treffen der Derwische erlebt Cla, wie nah sich christliche Mystik und islamischer Sufismus sein können. Ohne es zu wollen hat er sich in Baran verliebt. Erst als seine Verlobte aus der Schweiz zu Besuch kommt, begreift Cla, wie weit er aus seinem Leben gefallen ist.

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Seitenzahl: 274

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Zum Buch

Einen Winter will Cla, Religionslehrer aus dem Engadin, in Istanbul verbringen. Er arbeitet an einer Studie über die Konstantinopel-Mission von Nikolaus von Kues. Doch kaum lernt Cla den jungen türkischen Kellner Baran kennen, taucht er mit ihm ein in die Stadt: Sie streifen durch die Gassen und die Basare, sitzen am Meer und in Cafés, gehen ins Hamam. In ihren Gesprächen prallt die spätmittelalterliche Welt mit ihrer Trennung in Ost- und Westkirche unmittelbar auf das von politischen und religiösen Konflikten aufgewühlte Istanbul der Gegenwart. Bei einem geheimen Treffen der Derwische erlebt Cla, wie nah sich christliche Mystik und islamischer Sufismus sind. Und langsam realisiert er, daß zwischen ihm und Baran mehr als eine Freundschaft sein könnte. Erst als seine Verlobte aus der Schweiz zu Besuch kommt, begreift Cla, wie weit er aus seinem Leben gefallen ist.

Zur Autorin

ANGELIKA OVERATH wurde 1957 in Karlsruhe geboren. Sie arbeitet als Reporterin, Literaturkritikerin und Dozentin und hat u. a. die Romane »Nahe Tage«, »Flughafenfische« und »Sie dreht sich um« geschrieben. »Flughafenfische« wurde für den Deutschen und den Schweizer Buchpreis nominiert. Für ihre literarischen Reportagen wurde sie mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Sie lebt in Sent, Graubünden.

Angelika Overath

Ein Winter in Istanbul

Roman

Luchterhand

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Copyright © 2018 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Covergestaltung: buxdesign, München Covermotiv: ›Angelus Novus‹ by Sinan Cansel, Istanbul, 2016 Umsetzung Ebook: Greiner & Reichel, Köln ISBN 978-3-641-20141-8V003
www.luchterhand-literaturverlag.de

Für Manfred,in Erinnerungan einen Tübinger Wintervor vierzig Jahren.

For us, there is only the trying. The rest is not our business.T. S. Eliot

Inhalt

I. EminönüDrei Wasserstraßen und ein Schal

II. TarabyaWissen als Nichtwissen oder das Cusanus-Projekt

III. ÜsküdarDie Kirschen der Schwarzmeerküste

IV. Bosporusfähre Anadolu Kavağı – KadıköyNach Venedig!

V. KaragümrükNeun Derwische und ein kleines Hotel

VI. SultanahmetAlva ist da. Und alle sLust will Ewigkeit

VII. EyüpRendezvous mit dem Vater der Lichter

VIII. CihangirVon Quitten und Qualen

IX. Bosporusfähre İstinye – EminönüAmin oder Ave und Ahoi!

Historische Personen, die eine Rolle spielen

Dank

Karten

I. Eminönü

Drei Wasserstraßen und ein Schal

1

Für einen, der aus den Bergen kam, war diese Stadt die Hölle. Er stutzte, als er das dachte, denn er wollte korrekt sein. Eine Vorhölle, korrigierte er sich. Er zögerte und sah hinunter auf die mit weiten Schwingen kreuzenden Möwen. Gut, die schönste aller möglichen Vorhöllen vielleicht. Er faltete seine Serviette zusammen.

In beiläufiger Grazie hatte der Kellner einen türkischen Kaffee auf das weiße Tischtuch gestellt, sich leicht verneigt, und schon war er mit einer Drehung wieder von ihm entfernt und weiter auf anderen Umlaufbahnen durch die Ordnung des gläsernen Speisesaals. Cla sah ihm nach, nicht ohne ihn um die fraglose Sicherheit seiner Haltung zu beneiden. Auch hatte der Mann schöne Hände.

Oder konnte Anmut täuschen?

Cla blickte in die Tulpenmuster-Tasse mit der schwarzen Mitte. Sie hatte etwas Pralinenhaftes. Und dann lag, als sollte die Süße dieser Erscheinung noch gesteigert werden, ein Würfelchen eingedickten Sirups mit Pistazieneinschlüssen daneben, ein rosa-lindgrüner Happen, in Puderzucker gewendet.

Er nahm einen Schluck und steckte sich die Beigabe in den Mund. Es schmeckte bitter und nach der leichten Süße von Rosenwasser. Unter ihm lag die verkehrsreiche Passage zwischen Neuer Moschee und Busbahnhof. Graubunte, wie von irrer Hand aufgefädelte Autostränge, durchzogen vom Gelb der Taxis, liefen über den Asphalt, manchmal schienen einzelne Perlen wegzuspringen, Menschenmuster flossen ineinander, gegeneinander. Schiffe wichen sich aus mit dröhnenden Lauten, die Cla an Kühe erinnerten, an das Aufstöhnen von Stieren. Ihn schwindelte. Er kam aus einem Dorf auf fast 1800 Metern Höhe. Da war jeder ein Besonderer, und man grüßte einander, wenn man sich begegnete. Selbst aus dem Auto heraus.

Er dachte daran, daß er gelogen hatte. Nicht gelogen. Er war nur nicht genau gewesen. Das machte einen Unterschied. Wäre er genau gewesen, säße er nicht hier. Er nahm einen zweiten Schluck Kaffee und sah in die übriggebliebene schlammige Schwärze. (Er könnte den kleinen Matsch auf die Untertasse stürzen und dann, wie er es einmal an einem Nachbartisch beobachtet hatte, aus den verbleibenden Schlieren im Tassenrund seine Zukunft lesen. Wenn er es könnte.) Aber waren die Lügen, die keine Lügen waren, nicht die schlimmsten? Man kam mit ihnen so leicht davon.

Wie groß diese Möwen waren. Raubvogelhaft streckten sie ihre gebogenen Schnäbel nach vorn. Das graumelierte Gefieder ihrer ausgespannten Flügel blieb ruhig. Sie segelten, als verzögerten sie die Zeit. Er sah auf die Rücken ihres Gleitens.

Er saß hier im vierten, fünften oder sechsten Stockwerk eines Restaurants, das durch seine verglaste Fassade die Besucher schon mit Aussicht fütterte. Goldenes Horn, Bosporus und die Ahnung des Marmarameers. Eminönü, die Landspitze, an der drei Wasserstraßen zusammenkommen. Der Beginn von Byzanz. Das Zentrum des alten Konstantinopel.

Er hatte gelogen und nicht gelogen. Wenn er etwas verstehen wollte von Ereignissen, die hier vor knapp 600 Jahren stattgefunden hatten, dann mußte er herkommen! Die alten Steine anfassen. Die Stadt riechen. Hören. Ja, schmecken auch. Nicht alles war lesend zu begreifen. Er wollte noch einmal Augenzeuge werden und in aller Demut die Räume ernst nehmen. Die byzantinischen Kirchen, die Land- und Seemauern, Festungen, Handelshäuser, die aufgegebenen Sufiklöster. Auch die Räume, die sich keiner Menschenhand verdankten, die Hügel, die Wasser, die Himmel über den Wassern. Raum und Zeit lagen im Streit miteinander. Die Zeit galt in der Epoche der Beschleunigung als Siegerin. Aber war vorbei tatsächlich vorbei? Erzählten nicht Meere, Ufer, Wolken, erzählte nicht das Licht am Bosporus über das Vergehen hinweg noch davon, wie es hier einmal war? 600 Jahre sind eine lange Weile. Und ein Wimpernschlag.

Und doch. Er war nicht gekommen, um recherchierend, nacherlebend zu forschen. Zumindest vor sich mußte er das zugeben. Er war pflichtbewußt genug, um hier zu arbeiten, sicher. Schließlich war er Stipendiat der Stiftung einer Schweizer Privatbank, die sich auf den Dialog zwischen den Religionen konzentrierte. Sie ermöglichte ihm einen Winter lang den Aufenthalt in Istanbul, verbunden mit dem Wohnrecht in einem Kolleg in Tarabya. Tarabya war einer der letzten Vororte der Stadt, wenige Kilometer vom Schwarzen Meer entfernt. Von seinem Zimmer aus sah er direkt auf den Bosporus.

Er war Gymnasiallehrer, Deutsch, Religion und Ethik, an einer internationalen Schule im Engadin; ein solches Stipendium konnte als Fortbildung durchgehen. Man hatte ihn für drei Monate beurlaubt.

Er gab dem Kellner, der mit seiner fast bodenlangen Schürze an einer Säule lehnte und der, wie er, durch die Frontscheiben hinausgesehen hatte und sich nun wieder dem Saal zuwandte, ein Zeichen, er wolle bezahlen.

Und gleichsam schutzlos, hier oben ausgesetzt, in diesem aquariumhaften Raum, spürte er, was für ein unsicherer Stipendiat er war. Und welch vager Geliebter, der alle täuschte.

Der Kellner hatte ihm durch eine nickende Geste geantwortet und war verschwunden, um mit einer Mappe aus Kunst­leder zurückzukommen. Er legte sie auf den Tisch und entfernte sich. Cla griff danach.

Er war hier, weil er am Ende war.

Er sah auf die Rechnung, legte Geld zwischen die zwei Deckel, klappte das Plastikteil wieder zu. Waren gut zehn Prozent Trinkgeld in Ordnung?

Er war hier, weil er am Ende war.

Nein, er wollte nicht übertreiben. Jemand wie er war nie am Ende, weil jemand wie er gelernt hatte, auch am Ende weiterzumachen. Dramen waren nicht sein Stil.

Er war müde und ein Windspiel aus Zweifeln.

Tief unter ihm rückten die Bewegungsfolgen des Nachmittagsverkehrs in ein Fernbild und wurden erträglich. Murmeln aus eines Gottes Hand, nachlässig auf ein Spielfeld geworfen.

Er lehnte sich zurück. Schon vor Jahren hatte er das Rauchen aufgegeben. Aber manchmal kam unerwartet das Verlangen nach einer Zigarette zurück. Als könne das Inhalieren ihn leichter werden lassen. Und mit einem Erschrecken dachte er jetzt an sie, an ihre Haut. Auf einmal war sie ihm nah. Näher als oft, wenn er ihren dünnen Körper im Arm hielt. Und so brachte ihn die Erinnerung an ihren Geruch zu der Lüge, die keine war. Nur ein Zögern, ein Zaudern, ein Ausweichen.

Und die deshalb doch eine war.

Hier oben über den raubvogelhaften Möwen dachte er leichter an sie. Er dachte sie licht. Hell. Als ein verwaschenes Blau. Gestreiftes Leinen. Ein häusliches Blau. Nicht dieses radikale Blau des Engadiner Himmels, ein bisweilen fast aggressiver Azur, vor dem man nur in die Knie gehen konnte. Kapitulierend in seinem kleinen Menschsein. Sie war mild, klar. Ein heimatliches Aquamarin auch. Die Farbe des Gletscherflusses seines Tals, manchmal. Oder das Blau der winzigen Schmetterlinge im Schwarm an seinen Sommerufern. Oder ein Flachsblau, wehend. Er sah sie in ihrer taubenblauen Strickjacke mit den Perlmuttknöpfen, er sah ihren schmalen Hals, der ihrem weißen Blusenkragen entstieg, ihren Nacken, den seine Hand besser kannte als sein Blick. Ihre dunklen Augen, die größer wurden, wenn sie lächelte, ihn anlächelte, ein Schmelzen, ein leichtes Verschwimmen im Schauen, den Kopf zurückgelegt, das braune Haar nach hinten gebunden. Er liebte sie. Falls er lieben konnte. Sagte er sich jetzt.

Alva und er waren ein schönes Paar, das fanden alle. Und er wußte es auch. Und sie tat, als wisse sie es nicht. Blieb scheu. Und dabei doch selbstsicher. Das Wort »tierhaft« fiel ihm ein. Und er präzisierte: ein Tier, das an eine Lichtung kommt.

Sie wurde jetzt 35, eine mädchenhafte Frau, Sport- und Romanischlehrerin an der Kantonsschule in Chur. Ein Kollege, der neu an die Schule kam, hatte sie letzthin für eine Maturandin gehalten. Das hatte sie ihm mit einem Hauch von Spott erzählt und dabei eine Haarsträhne hinter ihr blasses Ohr gestrichen. Nun gut, er rückte die Tasse von sich weg, ihm sah man seine 45 Jahre auch nicht an. Er stand auf.

Sie würde ihn besuchen.

Der Kellner war noch nicht wieder aufgetaucht. Und Cla bemerkte, daß er einer der letzten Gäste war. Drei Tische von ihm entfernt saß ein dicklicher Herr, der, ein Glas Raki vor sich, Russisch auf einen blondierten Teenager in zu engem T-Shirt und mit bürstenfalschen Wimpern einredete. Am Tisch neben ihm tuschelten zwei junge Frauen. Eine, die dunklen Augen in Kajal gebettet, trug ein schwarzes Kopftuch, die andere hatte ihre rötlichen Haare zu kurzen Zöpfen gebunden, die schräg abstanden. Jetzt lehnten die beiden, über den Tisch hinweg, ihre Wangen gegeneinander und konzentrierten ihr Lächeln auf das Rechteck eines Handys, das die Frau mit dem Kopftuch armlang von sich streckte. Sie machten Photos. Jedes Klicken schien ein neues Auflachen auszulösen.

Auf einmal hätte er gerne einen weiteren Geldschein in das Couvert gelegt. Für einen Schweizer waren die Preise in Istanbul niedrig, selbst in diesem wohl eher teuren Restaurant. Aber er schämte sich. Er wollte nicht wirken wie einer, der unsicher war. Und so nahm er seine Tasche, rückte seinen Stuhl an den Tisch und ging, den jungen Türkinnen höflich zunickend, aufrecht durch die weiß eingedeckten Reihen mit den Gläsern, die auf dem Kopf standen, langsam aus dem Saal hinaus.

2

Er nahm nicht den Aufzug, sondern stieg das Treppenhaus hinunter, um den kommenden Schock abzuschwächen. Stufenweise tauchte er ein in die Energien der Metropole. Über dem Grundlärm der beschleunigenden und abbremsenden Autos, ihrem aufkreischenden Hupen und dem dunkleren Stöhnen der Schiffe, hatte ein Muezzin zu singen begonnen. Seine Stimme wurde verstärkt durch einen Lautsprecher minderer Qualität, was sie verdarb. Um Sekunden versetzt hob etwas entfernt ein zweiter Muezzin an, ein dritter. Der Himmel war ein Echoraum aus religiösem Klang. Und die Möwen schrien.

Er trat hinaus auf den Platz, duckte sich an den rufenden Männern vorbei, die aus verglasten Rollwägen Sesamkringel anboten; Kastanienverkäufer schlugen mit Eisenzangen kriegerisch Synkopen gegen das Metall ihrer Öfen, um im nächsten Moment die röstenden Kerne einzeln und mit Andacht zu wenden. Laufburschen machten brüllend auf die schaukelnden Schiffe an der Galatabrücke aufmerksam, wo man Brötchen kaufen konnte, gefüllt mit Makrelenfilet, Zwiebeln und Salat. Es windete. Eine kalte Bö brachte den Geruch von gebratenem Fisch und Benzin. Instinktiv versuchte Cla, sich zu schützen, wandte sich ab von dem vielspurigen Verkehrsareal und überquerte den weitläufigen Platz zurück in Richtung Ägyptischer Basar. Er ging nicht in die Halle hinein, an deren Eingang Sicherheitsbeamte mit Handdetektoren standen, flankiert von jungen Polizisten, die ihre Sturmgewehre senkrecht in beiden Händen hielten, wie zu große Puppen. Unversehens geriet er in die Gasse, die an der Außenmauer des Gebäudes vorbeiführte.

Offene Verkaufsstände waren übergossen mit Halden von Nüssen, Mandeln, Fruchtkernen aller Art, als wäre Fülle ihre erste Erscheinungsform. Dabei wuchsen sie doch alle klein und einzeln an den Zweiglein von Baum und Strauch.

Verkäufer schoben Aluminiumschaufeln in die beweglichen Massen und füllten weit ausholend in Plastiktüten ab. Feuchtweiße Käseblöcke standen auf feuchtweißen Käseblöcken, hohe Formationen, von denen mit Küchenbeilen abgestochen wurde. Daneben kindskopfgroße Butterklumpen in gestuften Gelbtönen. Cla dachte an die Molkerei in seinem Dorf, wo man mit einer schmalen Spanne zwischen Daumen und Zeigefinger die Scheibendicke andeutete und auch nur 50 Gramm bestellen konnte.

Tubenartige Auberginenringe hingen als trockene Ketten von den Zeltdächern. Rote Girlanden aus dürren Peperoni, grüne Auffädelungen runzeliger Okra-Kapseln. Er schaute offen in das Fluten, und ohne daß er es bemerkt hätte, wurde er Teil einer immer dichter werdenden Masse aus Mänteln und Leibern. Sein Rhythmus war nun der der anderen, die ihn an der rechten Gassenseite entlang nach vorne schoben, während auf der linken Gesichter und Körper auf ihn einströmten, sich an ihm vorbeiquetschten. Als könne er sich an ihr festhalten oder mit ihr schützen, drückte er seine Aktentasche gegen den Brustkorb. Sekundenblicke stießen ihm ins Gesicht. Und von hinten wurde er weitergedrängt. Er ließ sich mitnehmen, gab seinen Willen auf. Und auf einmal roch er Kaffee. Und im Schwanken sah er rechts vor sich, durch Köpfe, Hälse, Schultern hindurch, am Beginn einer Seitengasse ein Eckgeschäft, wohl eine Rösterei mit Verkaufstheke, vor der Menschen in einer langen Schlange warteten.

Später sollte Baran ihn hierher mitnehmen und ihm erklären, daß dies ein rarer Ort war, an dem man echtes Salep kaufen konnte, das Pulver aus Orchideenwurzeln. Er würde dieses süße Getränk lieben lernen, das, mit Zimt bestreut, entfernt an dünnen Reisbrei erinnerte. Sie würden es zu zweit auf den Schiffen trinken, draußen im Wind, und sich die Hände an den Tassen wärmen. Und lachend darauf anspielen, wie sie das erste Mal, noch ohne sich zu kennen, in einem Restaurant gleichsam im Himmel hinter Glas aufeinandergetroffen waren, Baran als Kellner und Cla als sein Gast.

Er war an die Öffnung der Seitengasse gedrückt worden. Hier schien ein Ausweichen möglich. Und er meinte schon, er hätte es geschafft, da stolperte er und wäre beinahe über einen kleinen, schmutzfarbenen Knaben gefallen, dessen Bild in ihm den Wortreflex »Zigeuner« auslöste. Worauf er sich sofort fragte, ob dieses Kind nicht doch ein Flüchtlingsjunge aus Syrien sei, der hier zu betteln versuchte.

Am Morgen hatte er auf der Einkaufspassage İstiklal, kurz unterhalb von Taksim, drei kurzgeschorene Buben sitzen sehen. Sie saßen, die Schultern dicht aneinandergepreßt, als seien sie ein einziger Körper und schrien lauthals halbwegs Melodisches aus sich heraus, das in ihrer aufgegebenen Welt und in anderen Zusammenhängen vermutlich ein Lied gewesen wäre. Er hatte die Kinder auf acht, neun Jahre geschätzt, das älteste höchstens zehn; sie sahen sich ähnlich, vielleicht waren sie verwandt, oder es war das Elend, das sie einander gleichen ließ wie Brüder. Er war schnell vorbeigegangen, da er ihren Anblick nicht ertrug. Und jetzt spürte er, daß er sich immer noch schämte. Er wußte um die Last dieser diffusen Scham, der er doch einmal auf den Grund gehen sollte. Denn wann, fragte er sich, berührt uns etwas? Und wann so, daß wir handeln?

In der Seitengasse hatte die Enge sich gelöst. Rechts und links gab es kleine Ladenzeilen. Nun war es wieder möglich stehenzubleiben. Cla trat an den Rand, wo sich auf einem Tisch Plastiktüten mit Grünem Tee stapelten; am Boden standen Säcke voll geschnittenem Tabak in Brauntönen zwischen Malz und Senf. Daneben begann eine Zeile mit Auslagen von Papierschleifen, Servietten und allerlei fragilem Bedarf für Zuckerbäckereien. Die Strömungskräfte der Körper hatten sich zu einem Dahinplätschern beruhigt. Nichts Reißendes war mehr in dieser luftigen Masse. Hinter schmalen Schaufenstern öffneten sich Gänge, in deren Tiefe Verpackungsmaterialien angeboten wurden, Kartonagen in Serien von Farben und Formen, hohe Papierrollen, massig wie Teppiche. Jemand verkaufte Schnur und Seile in verschiedenen Stärken und Farben. Ein anderer Holzbretter und schmale Wellhölzer diverser Formate und Längen. Cla ging weiter, als durchquere er eine Kinderfibel mit elementarem Vokabular.

Er hatte keine Ahnung, wohin er wollte. Rechter Hand hinter einer Balustrade öffnete sich ein Café mit niedrigen Holztischen und bastbespannten Hockern. Menschen tranken Tee aus Tulpengläsern, manche stachen in runde Kuchen, die in heißen Blechformen serviert wurden und an den Gabeln Fäden zogen. Cla wollte nicht auffallen, aber einen Moment verweilen. Vorsichtig ging er auf das Lokal zu und setzte sich möglichst beiläufig an einen Tisch am Rand, nahe der Balustrade, den Rücken zur Wand.

Er atmete durch wie ein Entkommener. Nun war er wieder draußen, ein Individuum, wie vorhin im siebenten Stock des verglasten Restaurants (beim Hinuntergehen hatte er die Etagen gezählt). Er sah auf das dahinlaufende Band der Menschen. Konnte man »Wellen« sagen zu dem Wogen der Körper und Köpfe auf unterschiedlicher Höhe? Bei ihm zu Hause, in seinem Tal, gab es an den alten Engadiner Häusern ganz oben unter den Giebeln eine kreisförmige kleine Öffnung und darunter ein Sgraffito-Wellenband. Das war für die Seelen der Verstorbenen, die den Körpern entwichen. Durch das Rund konnten sie das Haus verlassen und sich vor ihrem Weiterflug im fließenden Wasser reinigen.

Obwohl der Nachmittag noch nicht weit fortgeschritten war, schien es bereits zu dämmern. Oder kam Nebel auf? Cla sah weiter in die dunkel vorbeiziehenden Schemen. Wer reinigte sich hier?

Waren die Tragödien der Menschenwelt die Katharsis eines unverstandenen Gottes?

Er lebte noch nicht lange in Istanbul, aber er hatte begonnen, eine Aufmerksamkeit für Kopftücher und Verschleierungen zu entwickeln. Er nahm Tuchlängen wahr, bis zum Hals, zur Brust, zur Taille, zum Boden und bemerkte, ob weibliche Wangen offen blieben oder Augen, Nase und Mundansatz knapp eingefaßt waren oder ob endlich nur noch ein Blick aus einem schmalen Schlitz zu den andern drang. Es gab auffallend schöne Kopftuchträgerinnen, selbstbewußte Frauen, gekonnt geschminkt, ja manche trugen diesen Stoff, der am Hinterkopf über eine Auspolsterung fiel und das Haupt altägyptisch verlängerte wie eine Verführung. Andere wiederum schienen jede erotische Ausstrahlung verbergen zu wollen. Als müßten sie sich vor männlichen Blicken schützen. Mußten sie?

Er wußte nichts über muslimische Ehen. Aber gerade die Verschleierung schien ihm nun signalhaft zu bedeuten, wie stark Religion und Körperverständnis und politische Strukturen zusammengehörten. Das war neu für ihn.

Seine Mutter war eine deutsche Katholikin aus dem Rheinland gewesen, manchmal hatte sie lachend von ihren Schuljahren bei den Dominikanerinnen erzählt. Beschleierte Lehrerinnen, das Gesicht in ein weißes Oval gelegt, haarlos. Mit beginnender Pubertät war sie ausgebrochen und hatte durchgesetzt, auf eine staatliche Schule gehen zu dürfen. Sein Vater war ein reformierter Engadiner, aufgewachsen in einer moderat religiösen Familie. Beide Eltern nahmen ihre Religion als eine heimatliche Färbung, die sie, nicht zuletzt durch ihre Lieder, geprägt hatte. Und heute war es in den Engadiner Dorfschulen üblich, daß alle in denselben Religionsunterricht gingen, auch die ungetauften Kinder (es waren meist die von Zugezogenen), die katholischen aus Italien oder Portugal und die Sprößlinge der muslimischen Familien aus dem Kosovo. Am 24. Dezember feierte man zusammen Schul-Weihnachten in der Kirche. Die Konfirmation der 16jährigen war ein Fest der Verwandten und Nachbarn, und am Abend zogen die kindlichen Jungerwachsenen aus zum ersten öffentlichen Bierrausch mit den Kollegen. Religion war dörfliches Ritual, verbindend, nicht ausgrenzend.

Doch hier kam etwas anderes hinzu. Er bemerkte es nicht immer. Weniger bei den jungen Frauen und nicht in allen Vierteln, Straßen. Aber das Kopftuch konnte wie ein politisches Signal wirken neben den Türkinnen mit Kurzhaarfrisuren oder jenen, denen offene Locken bis zu den Hüften fielen. Er spürte in der Metropole Istanbul eine atmosphärische Reibung, die stärker war als etwa in Paris oder London, wo sich auf den Boulevards die Ethnien und Religionen mischten. Und einander nachlässig gelten ließen. Dies hier waren andere Widerstände, schwierig zu benennen, aber wahrnehmbar. Da floß etwas eng Verwandtes beieinander, das politisch und sozial in entgegengesetzte Richtungen wollte.

Vielleicht war es wie mit den Wassern des Bosporus. Die Meerenge zwischen Europa und Asien galt als gefährlich, da sie in ihrer Strömung diffus blieb. Unterhalb der starken Fließrichtung vom Schwarzen Meer hin ins Marmarameer gab es salzhaltigere tiefe Gegenströmungen, die die Kapitäne der Frachter und Fähren Achtung lehrten. Die großen Tanker nahmen diese Passage oftmals nur mit Pilotbooten.

Seit er am Bosporus lebte, schlief er schlecht. Er war sicher, es lag an der Energie dieses unentschiedenen, starken Gewässers, das sich an zwei Kontinenten rieb. Oder waren die Erdplatten zu spüren, die hier aneinanderstießen, die anatolische und die eurasische, deren Verwerfungen sich morgen oder in der Spanne eines kleinen Menschenlebens in ein vernichtendes Erdbeben entladen würden?

Wenn er ehrlich war, machte ihm nicht der islamistische Terror Angst, nicht die alltäglichen politischen Verhaftungen, die mittlerweile auch Ausländer trafen. Aber die geologische Lage der Stadt hauchte ihm Respekt ein.

Oder war es die Macht der Geschichten, die in seinen Nächten zurückkam? Byzanz, Konstantinopel. Bruchstücke von Überlieferungen, Legenden griffen nach ihm. Wenn er jetzt die Augen schloß, sah er die Bilder der erzählenden Steinteppiche der Chora-Kirche. Und sie schienen ihm vertrauter als dieser exotische Alltag, in dem er hier auf einem instabilen Hocker saß.

Du übertreibst, sagte er sich sofort, so weltfremd bist du nicht.

Von einem Heizstrahler in der Ecke ging Wärme aus. Er versuchte sich zu konzentrieren auf das, was er sah: eher dunklere Gesichter, eher Frauen mit Kopftüchern, wenige Europäerinnen. Er befand sich wohl in einer anatolisch geprägten, ärmeren Marktzeile. Aber ihm war nicht recht wohl bei dieser Etikettierung. Hatte er nicht vor wenigen Metern ein türkisches Spezialitätengeschäft gestreift?

So viele Menschen. Vor ihm zogen Schicksale vorbei, durch ihre Vielzahl beiläufig, wie Weggeworfenes. Für ihn, der aus den Bergen kam, eine nicht enden wollende Überfülle naher Fremder, die ihn schon im nächsten Augenblick zu Körperkontakt zwingen konnten. Er schloß die Augen. Sofort stieg das Stimmen- und Lautgewirr an. Als er sie wieder öffnete, stand ein Junge mit fragendem Blick neben ihm. Offensichtlich half er in diesem Café aus. Er hatte dunkle Haut und gerötete Backen. Cla sah in die Kinderaugen. Und bestellte, als sei es das Normalste auf der Welt, einen türkischen Tee. Es ist das Normalste der Welt, korrigierte er sich. Auch wenn dies alles für ihn entmutigend neu war. Aber das wolltest du, dachte er, das wolltest du doch.

Er lehnte sich zurück gegen die Wand. Nicht bewegen. Dasitzen und schauen. Durch Schauen die Zeit verlangsamen. Dem Raum sein Recht geben. Im Sehen gleiten. Zoomen. Bis die Zeit im Augenblick zögerte.

Da zum Beispiel, diese junge Frau. Schwarze Pelerine aus Wollstoff über dem bodenlangen schwarzen Mantelkleid. Das porzellanhelle Gesicht mit der persisch anmutenden Nase von einem Kopftuch eng eingefaßt. Wangenlos. Ruhiger Blick.

Sie trug eine Plastiktüte mit Bananen (er schätzte: gut zwei Kilo), und er sah, wie das Gelb der Früchte sich intensivierte, vor dem Schwarz ihrer Kleidung. Unter dem Umhang mußte ihr eine größere Tasche von der Schulter herabhängen. Die Verhüllung ließ sie statuenhaft erscheinen und damit größer. Ein zierlicher Kragen aus schwarzem Tierfell lag ihr um den Hals. Katze?

Der Junge stellte das Teeglas mit einem bunten Unterteller auf den Tisch.

Und schon war sie dabei zu verschwinden, eine Rückenfigur, die in der Menge unterging. Wenn er nicht aufstünde und ihr folgte, würde er sie nicht wiedersehen.

Er stand nicht auf. Und doch. Er hatte sie sich gemerkt. Solches Zuschauen gab ihm eine momentane Sicherheit. Als könne er in der verwirrenden Wirklichkeit lesen wie in einem Buch. Als seien diese flüchtigen Momente verständlich, komponiert und also entschlüsselbar. Sie waren es nicht. Er war es, der schauend Ordnung schaffte. Stimmte das? Er hatte diese Szenen ja nicht entworfen, er fing sie nur auf. Aber indem er sie annahm, wie Geschenke, und festhielt, stützten sie ihn in seinem Dasein, hier auf einem zu niedrigen Schemel an einem wackeligen Tisch am Rand eines Marktes in der Nähe eines Hafens, in einer 15- oder 20-Millionenstadt, deren Sprache er nicht verstand. An einem frühen Nachmittag Ende Dezember.

3

Die Tage waren kurz in Istanbul. Er sah auf die Uhr. Bereits am frühen Nachmittag nahm das Licht ab. Zur natürlichen Dämmerung kam die politisch-religiöse Zeitverschiebung. In der Türkei galt jetzt Mekka-Zeit. Schon bald nach sechs Uhr war Nacht. Aber es lag auch am Rhythmus der Stadt selbst, der die Stunden beschleunigte. Istanbul war schneller als Paris, London, Berlin. Und die Entfernungen machten ihm Mühe. Jede Idee hatte ihre Wege.

Jetzt war er in Eminönü in einem Marktviertel nahe dem Ägyptischen Basar. Gegenüber lag Beyoğlu, das einstige Pera, mit dem Galataturm, den die Genueser Mitte des 14. Jahrhunderts als Teil der Festungsanlage für ihre Kolonie gebaut hatten. Er war ein Wahrzeichen der Stadt und für ihn ein erster Orientierungspunkt. Er würde jetzt zurück in seine Wohnung im Kolleg fahren. Vorher sollte er im Salt-Kulturzentrum vorbeischauen, um sich über die Bestände der Präsenzbibliothek zu informieren.

Vom Salt waren es dann, über den Galataturm, etwa 20 Minuten zur Metrohaltestelle Şişhane. Die Metro brachte ihn in weiteren gut 20 Minuten zur Endhaltestelle. Doch da die Züge tief unter der Erde abfuhren und man mehrere Rolltreppen hinunter und lange Rollbänder passieren mußte, marmorne, metallene Wege durch Niemandsräume, kamen noch einmal zehn, fünfzehn Minuten Reisezeit zur reinen Fahrzeit dazu. Bei HacIosman nahm er für die wenigen Restkilometer einen Dolmuş oder ein Taxi bis ins Kolleg, das unten beim Bosporus hinter einer Mauer direkt am Wasser lag. Von Wächtern beschützt, lebte er dort mit Wissenschaftlern und Dozenten anderer Disziplinen in einem parkartigen Anwesen. Ein Idyll, mit altem Baumbestand, in dem ein Schwarm grüner Papageien lebte. Aber es lag eine Stunde von den Zentren entfernt, wo sich die drei Wasserstraßen trafen, zwischen den Fährenhäfen Eminönü und Karaköy auf der europäischen und Kadıköy auf der asiatischen Seite.

In Istanbul leben hieß: Unterwegs sein. Aber im Grunde kannte er das von seinem Alltag im Engadin. Für Engadiner war die Rhätische Bahn mit den roten Waggons ein zweites Zuhause. Nur war sie mit ihren Plüschbänken wohnlicher als die Istanbuler Metro, selbst noch, wenn sie durch die langen Tunnel fuhr. Er stutzte. Nein, dieser Vergleich war nicht gut. Besser wäre es, die Rhätische Bahn, die von Scuol nach St. Moritz, von Chur nach Tirano fuhr, mit den Fähren zu vergleichen, die den Bosporus oder das Goldene Horn hinauf- und hinunterkamen. Hierbei wiederum würden die Istanbuler Fähren besser abschneiden. Mit ihren möwenumflatterten Oberdecks und den schönen alten Salons, wo es Tee, Salep, frisch gepreßten Orangensaft und Toast gab.

Er stand auf und drückte dem Jungen das Geld für den Tee in die Hand. Statt zwei Türkische Lira hatte er ihm drei gegeben. Und als der Kleine lächelte, fiel ihm auch das andere Bild ein, eines der ersten in dieser Stadt, das ihn aufgestört hatte.

Auf den Steinstufen eines ehemaligen Bankgebäudes am Fährenhafen von Karaköy hatte er einen Jungen auf dem Bauch schlafen sehen. Das war nicht weiter ungewöhnlich in einer Stadt, in der mittlerweile an die vierhunderttausend syrische Flüchtlinge lebten, viele davon auf der Straße. Der Junge, eingewickelt in eine Decke, hatte seinen Oberkörper auf ein altes Sofapolster gelegt – weiß Gott, in welcher Müllansammlung er es gefunden hatte –, den Kopf in seine Arme gebettet. Und hier begann ein zweiter Kopf. Mit Fell und Ohren. Mit dem Jungen schlief ein Hund. Es war eines dieser großen, halbwilden Tiere, die in den Nischen der Metropole ihre Reviere fanden, gefüttert von den Anwohnern, geimpft von ambulanten Tierärzten.

Ein obdachloser schlafender Junge auf den Stufen eines alten Bankportals war ein obdachloser schlafender Junge. Kopf an Kopf mit einem Hund war der Junge eine Geschichte.

Als Cla aufstand, näherten sich zwei vollverschleierte Frauen und sahen ihn unter kajalumrahmten Augen an. Sie wollten sich an seinen nun freiwerdenden Tisch setzen. Sie hängten ihre cremefarbenen Designerhandtaschen an die Stuhllehnen, während sie weiter arabisch in goldene Handys sprachen.

Und als er jetzt nach seiner Aktentasche griff, bemerkte er es. Sein Schal war nicht mehr da. Er bückte sich, aber der Schal lag weder unter dem Tisch noch bei den Stuhlbeinen.

Der Schal war ein Abschiedsgeschenk von Alva gewesen. Er soll dich wärmen, hatte sie gesagt. Und ihm am Flughafen den weichen Stoff mit dem grauen Karomuster um den Hals gelegt. Sie hatte dabei auf die Zehenspitzen gehen müssen. Das hatte ihn gerührt. Und er hatte gespürt, was sie meinte und nicht sagte: Der Schal soll dich behüten, wo ich es nicht kann. Das Gewebe hatte sich, am Nacken, unter dem Kinn beginnend, in einen Schauer von schlechtem Gewissen verwandelt, der ihm durch den Körper lief. Also hatte er sie nur flüchtig auf die Stirn geküßt. Und als sie sich an ihn schmiegte und er spürte, daß sie diese sprachlose Geste als ein inniges Zeichen verstand, stieg eine Beklemmung in ihm auf, die sich auch nicht legte, als sie ihre Umarmung wieder löste und er nun doch sagte, er werde sie vermissen.

Jetzt war der Schal weg, und sie würde es symbolisch nehmen. Sie würde sein Fehlen bemerken, wenn sie ihn besuchte. Es war ein italienischer Schal. Alva hatte ihn bei einem Ausflug mit ihrer Freundin, einer Kollegin von ihrer Schule, in Mailand für ihn ausgesucht. War er ihm im Gedränge beim Gewürzbasar heruntergerutscht? Das war wahrscheinlich. Dann würde er ihn nicht mehr finden. Hatte er ihn oben im Restaurant liegengelassen? Das wäre eine Chance.

Als Cla bei den letzten Treppenstufen vor dem gläsernen Terrassensaal ankam – er begriff jetzt, daß man im Sommer die Wandscheiben und Teile des Daches würde öffnen können und dann direkt unter freiem Himmel saß –, sah er den Kellner wieder mit dem Rücken an die Säule gelehnt. An einem Reflex im Glas schien er sein Kommen bemerkt zu haben, jedenfalls drehte er sich um. Und noch bevor Cla, der nun auf ihn zuging, ganz bei ihm war und etwas hätte sagen können, hatte der Kellner, der ebenfalls auf ihn zukam, auf eine Ablage gegriffen und hielt ihm nun den Schal entgegen.

Auf seinen englischen Dankesschwall sagte er: Sie sind aus Deutschland?

Er hatte diesen Satz akzentfrei gesprochen. Und Cla schüttelte noch atemlos den Kopf: aus der Schweiz.

Der Kellner legte den Kopf etwas zur Seite, sah Cla in die Augen und sprach langsam, die Silben betonend, als rezitiere er: Berge, Schokolade, Gold. Schokolade wie Berge aus Gold.

Cla fühlte eine kleine Verlegenheit, und es ärgerte ihn, daß er sie fühlte.

– Sie waren in der Schweiz?

Der Kellner verneinte, er kenne die Schweiz aus der Werbung und Toblerone aus Deutschland.

Cla sah seine gerade Nase, die ihn an die persisch wirkende Passantin in der schwarzen Pelerine mit dem schwarzen Katzenfellkragen erinnerte. Von nah, im Gespräch, wirkte sein Gesicht nun jünger als bei der ersten Begegnung, da er ihm allein in professionellen Kellnergesten entgegengetreten war. Der Mann mochte Ende 30 sein. So geläufig wie er sprach, war er vermutlich ein Kind von Gastarbeitern, in Deutschland aufgewachsen, dann in seine türkische Heimat zurückgekehrt.

Cla war froh, den Schal wiederzuhaben, so froh, daß er ihn fast krampfhaft in der Hand behielt. Neue Gäste kamen, die Zeit für das Abendessen schien zu beginnen. Auf einmal hatte er Lust, ein Glas Wein zu trinken.

– Schenken Sie Alkohol aus? fragte er, und indem er fragte, fiel ihm ein, daß das unnötig war, er hatte den Raki trinkenden Russen ja gesehen. Aber vielleicht wollte er höflich sein und zeigen, daß das für ihn nicht selbstverständlich war.

Der Kellner machte mit dem Arm eine einladende Bewegung, gerade zu dem Tisch, an dem Cla schon vor einigen Stunden gesessen hatte. Und so war es ihm, als komme er zurück und sei in diesem Restaurant bereits ein wenig vertraut. Er nahm die Weinkarte, die der Kellner ihm brachte, und sagte: Ich bin nicht aus Zürich. Kein Gold, keine Schokolade. Nur Berge. Ich komme aus einem ziemlich kleinen Dorf.

– Aus einem Dorf?

– Es liegt über 1700 Meter hoch. Wir haben sechs Monate Schnee im Jahr.

Der Kellner lachte. Und Cla sah, welch weiße Zähne er hatte.

– Aber es gibt dort ein internationales Internat mit Kindern aus der ganzen Welt. Ich bin Lehrer. Wir haben Schüler aus China, aus Russland, Spanien -

– Aus der Türkei?

– Lassen Sie mich überlegen. Doch. Da gibt es einen Jungen aus Ankara.

– Na, immerhin. Und aus Griechenland?

– Nein. Warum fragen Sie nach Griechenland?

Und der Kellner antwortete in wenigen Strichen, daß seine Familie väterlicherseits Pontos-Griechen waren, die sich nach dem Bevölkerungsaustausch in Thessaloniki angesiedelt hatten.

– Bevölkerungsaustausch?

­– 1923, die Zwangsumsiedlung der christlichen Griechen, meist von der Schwarzmeerküste nach Griechenland, viele von ihnen nach Thessaloniki. Und die muslimischen Türken, die in Griechenland lebten, mußten in die Türkei kommen. Etwa vierhunderttausend Türken waren betroffen. Und etwa 1,2 Millionen Griechen.

Seine Mutter sei eine Türkin aus Giresun. Und er also halb Türke und halb Grieche. Worauf Cla erzählte, daß seine Mutter aus Deutschland kam.