Gebrauchsanweisung für Münster und das Münsterland - Jürgen Kehrer - E-Book

Gebrauchsanweisung für Münster und das Münsterland E-Book

Jürgen Kehrer

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Beschreibung

Er ist so fahrrad- und umweltfreundlich wie sonst keiner, hat eine spannende Geschichte und wird von 50 000 Studenten jung gehalten: der Bischofssitz Münster. Wer hier zu Hause war, hat lebenslang Heimweh – das höchstens durch »Wilsberg «- und »Tatort«-Folgen gelindert wird. Jürgen Kehrer schafft Abhilfe. Er nimmt uns mit in die »lebenswerteste Stadt der Welt« und heimlichste Karnevalshochburg Deutschlands, zur Kreativszene am Haverkamp und ins Kuhviertel. Er weiht uns in die Masematte ein, erzählt von Wiedertäufern, dem Schwarzen Schwan und dem Siegeszug des Hasen Felix. Er führt uns auf die Droste-Burg Hülshoff, zum Westfälischen Versailles und in die Baumberge, zum rock'n'popmuseum und den vielen weiteren Highlights im Münsterland.

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de
Für Sandra, die Neumünsteranerin
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2011
ISBN 978-3-492-95355-9
© Piper Verlag GmbH, München 2011
Umschlagkonzept: Büro Hamburg
Umschlaggestaltung: Birgit Kohlhaas, Egling
Umschlagabbildung: Katrin Müller / Corbis Prinzipalmarkt in der Altstadt von Münster (Sabine Lubenow / Bildagentur Huber)
Karte: cartomedia, Karlsruhe
Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Karte

Stadt, Land, Münsterland

Vorwort

»Ich habe übrigens auch in Münster studiert.« Diesen Satz höre ich jedes Mal, wenn ich zu einer Lesung irgendwo in Deutschland unterwegs bin. Ersatzweise gilt die Variante: »Ich habe übrigens mal in Münster gewohnt.« Und stets ist da so ein Leuchten in den Augen meiner Gesprächspartner. Als wäre es eine Auszeichnung, eine Zeit lang dazugehört zu haben.

Ist es natürlich auch. Wer einmal in Münster gelebt hat, möchte eigentlich nicht mehr weg. Es sei denn, schwerwiegende berufliche oder Liebesgründe zwingen ihn oder sie dazu. Als Strafe droht lebenslanges Heimweh, das nur durch regelmäßiges Gucken von »Wilsberg«- und »Tatort Münster«-Folgen im Fernsehen gemildert werden kann. »Was Heidelberg für Japaner, das ist Münster für die Deutschen: der Inbegriff heiler Welt, so, als hätte es Gerhard Schröder und Angela Merkel nie gegeben«, schreibt Hajo Schumacher, ein gebürtiger Münsteraner, in der Süddeutschen Zeitung. Und Klaus Brinkbäumer, ebenfalls in Münster geboren, ergänzt im Spiegel: »Sollte Münster so etwas wie ein Blick in die Zukunft sein, dann fährt Deutschland bald lächelnd Fahrrad, sitzt in Straßencafés, schwirrt und flirtet, und vielleicht funkelt es sogar …«

Als ich Mitte der Siebzigerjahre von der Zentralen Vergabestelle für Studienplätze nach Münster geschickt wurde, ahnte ich nicht, welches Schicksal mich erwarten würde. Anfangs wollte ich so schnell wie möglich zurück ins heimatliche Ruhrgebiet, doch nach zwei Semestern war der Wunsch wie weggeblasen. Es gefiel mir in Münster, sehr sogar. Ich blieb – auch nach dem Studium. »Münster klebt«, sagen die Einheimischen und grinsen.

Wer das Geheimnis von Münsters Attraktivität entschlüsseln will, muss sich nur mal angucken, welche Auszeichnungen die Stadt erhalten hat. Egal, um welchen Wettbewerb es sich handelt, ob als »lebenswerteste Stadt der Welt«, als umwelt- oder fahrradfreundlichste – Münster kassiert entweder Goldmedaillen oder zumindest Top-Platzierungen. Kurz gesagt: Münster ist eine Insel der Glückseligen.

Und sicher spielt es eine Rolle, dass diese Insel nicht von einem Meer an Ödnis umgeben ist, sondern von einem Park, genauer gesagt: der Parklandschaft Münsterland. Eine Gegend, die reich mit Wasserschlössern, alten Kirchen und malerischen Ortskernen gesegnet und so flach ist, dass man sie bequem mit Muskelkraft durchqueren kann. Weshalb es hier jede Menge ausgeschilderte Fahrradwege gibt, nie weit entfernt von Landgasthäusern, die sich auf radelnde Touristen (und Münsteraner) spezialisiert haben.

Wobei wir bei dem nicht ganz unkomplizierten Verhältnis zwischen Münsteranern und Münsterländern wären, denn Erstere halten Münster nicht für einen Teil des Münsterlandes, was die Zweiten in ihrer Ansicht bestärkt, dass die stets schick gekleideten Münsteraner etwas überheblich auf die »Landbevölkerung« herunterblicken.

In den Sechziger- und Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts gab es einen Kitt, der Münster und das Münsterland zusammenhielt: Preußen Münster. Doch seitdem die Preußen nicht mehr in der Fußball-Bundesliga oder knapp darunter spielen, sondern mittlerweile in der dritten Liga kicken, hat die Identifikation der Münsterländer mit ihrer Hauptstadt nachgelassen. Natürlich ist die Verwaltungs-, Bischofs- und Universitätsstadt Münster noch immer das politische, kulturelle, religiöse und wissenschaftliche Zentrum des Münsterlandes. Auf der anderen Seite haben sich die vier Landkreise Steinfurt, Warendorf, Coesfeld und Borken, in denen zusammen etwa 1,3 Millionen Menschen auf der doppelten Fläche des Saarlandes leben, wirtschaftlich und kulturell von ihrer ehemaligen Metropole emanzipiert. Die Zeiten, in denen das Fürstbistum Münster und die preußische Provinz Westfalen mit straffer Hand vom münsterschen Domplatz aus regiert wurden, sind eben schon länger vorbei als der Höhenflug der fußballernden Preußen.

Dieses Buch handelt also von Stadt und Land, von den Annehmlichkeiten einer intakten Großstadt und den Sehenswürdigkeiten einer überwiegend flachen Landschaft, durch die vor knapp zweihundert Jahren Annette von Droste-Hülshoff ihren Knaben im Moor rennen ließ. Und über die Otto Jägersberg, ein Münsterland-Autor des 20. Jahrhunderts (»Weihrauch und Pumpernickel«), im Zug sitzend sinniert: »Schöne Gegend mit Figuren, noch richtig aus richtigen Steinen gemauerte Häuser, Wiese und Kuh, Feld und Wallhecke, gut platziert. Wolken auch. Wolken als Geschiebezulage. Sollte man sich mal genauer anschauen.«

Von Liudger, den Wiedertäufern und dem Westfälischen Frieden

Eine kurze Geschichte Münsters

Sieht man von den germanischen Stämmen der Brukterer, Chamaven und Cherusker ab, die hier zur Zeit der Römer lebten und sich gelegentlich mit deren Armeen herumschlugen, dann beginnt die dokumentierte Geschichte Münsters und des Münsterlandes mit einem Missionar. Im Jahr 793 wurde der Mönch Liudger offizieller Missionsbeauftragter für ein Gebiet, in dem sich der sächsische Stamm der Westfalen niedergelassen hatte. Keine leichte Aufgabe, denn die Sachsen hingen noch an ihren germanischen Göttern und ließen sich nur widerwillig vom christlichen Glauben überzeugen. Karl der Große, Christ und Frankenkönig, musste gleich mehrfach über den Hellweg ins Sachsenland einrücken und die neue Religion mit dem Schwert verteidigen.

Mimigernaford – Monasterium-Münster

Liudger war sich der Gefahren durchaus bewusst. Er beschloss, seinen Hauptsitz in dem Dorf Mimigernaford am Ufer eines kleinen Flusses aufzuschlagen und dort ein befestigtes Kloster (= Monasterium) mit hohem Wall und Gräben zu errichten. Nur für den Fall, dass die Sachsen auf den Gedanken kommen sollten, die neu erbaute Holzkirche abzubrennen.

Aus Monasterium wurde Münster und Liudger 805 dessen erster Bischof. Ein Amt, das er lediglich vier Jahre ausüben durfte, denn bereits 809 starb Liudger auf einer Reise durchs Münsterland in dem Dörfchen Billerbeck.

Die folgenden Jahrhunderte verliefen ziemlich unspektakulär. Auch außerhalb des befestigten Klosters siedelten sich nun Handwerker und Händler an. 1170 erhielt Münster Stadtrechte, immer mehr Kirchen entstanden, ein zweiter, wesentlich längerer Befestigungsring kam hinzu, mit Stadtmauern, Wassergräben, Toren und Zugbrücken. Als Hansestadt nahm Münster am regen Handelsleben Nordeuropas teil, vierundzwanzig von den Besitzbürgern der Stadt gewählte Stadträte mit zwei Bürgermeistern an der Spitze entschieden weitgehend über alle politischen und juristischen Fragen – mit Ausnahme der Domimmunität, wie das Gebiet des alten Klosters in der Mitte der Stadt inzwischen genannt wurde.

Der Bischof, seit dem Sturz des Sachsenherzogs Heinrich im Jahr 1180 zum Fürstbischof des Bistums Münster befördert, regierte den größten Teil des heutigen Münsterlands (Oberstift) und noch einen Teil des Emslandes (Niederstift). Damit war er so beschäftigt, dass er die Stadt weitgehend in Ruhe ließ. Alles hätte friedlich so weitergehen können, wäre nicht Münster Mitte des 16. Jahrhunderts plötzlich zum Ort eines religiösen Experiments geworden, das in ganz Europa Aufsehen erregte.

Die Wiedertäufer

In der Zeit der Reformation leistete sich Münster den Luxus eines eigenen religiösen Visionärs. Bernhard Rothmann war Kaplan in St. Mauritz vor den Toren Münsters und zum Ärger seiner katholischen Vorgesetzten vom neuen Glauben infiziert. Dummerweise besaß Rothmann Charisma und Überzeugungskraft, jeden Sonntag pilgerten Heerscharen von Gläubigen aus Münster nach St. Mauritz, um seinen Predigten zu lauschen. Auch eine Fortbildung, zu der man den Kaplan nach Köln schickte, half nicht. Im Gegenteil: Rothmann wurde immer radikaler. Hatte er sich anfangs an Martin Luther orientiert, so lehnte er inzwischen die Kindstaufe ab, ebenso wie die Vorstellung, dass beim Abendmahl Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi verwandelt würden. Ähnlich wie der selbst ernannte Prophet Melchior Hoffmann, der in Straßburg im Gefängnis saß, begann Rothmann, Erwachsene zu taufen. Ein gefährliches Ritual, denn die Wiedertäufer – wie die neue Sekte von der Obrigkeit genannt wurde – riskierten unerbittliche Verfolgung bis hin zu Todesurteilen.

Doch die Münsteraner ließen sich von derlei drakonischen Strafen nicht abschrecken. Täglich nahm die Zahl der doppelt Getauften zu. Und während Katholiken und Lutheraner – überwiegend die Wohlhabenderen – ihre Sachen packten und zu ihren Verwandten aufs Land zogen, strömten Wiedertäufer aus dem Münsterland und den Niederlanden nach Münster. Achttausend bis zehntausend Menschen lebten in dieser Zeit in Münster, allerdings waren die wenigsten von ihnen wahlberechtigt. Umso größer die Sensation bei der turnusmäßig stattfindenden Ratswahl im Februar 1534: klarer Sieg für die Partei der Wiedertäufer. Ein Beweis dafür, dass nicht nur die einfachen Handwerker, Bauern und Tagelöhner zu Rothmanns Anhängern gehörten, ohne die reichen Wahlbürger, die Handwerksmeister, Händler und einflussreichen Gilden hätte er sich nicht durchsetzen können.

Seinem eigentlichen Ziel, Münster zu einem neuen Jerusalem zu machen, zur Stadt der Auserwählten und Gerechten, die auf das Weltende und die Wiederkehr des Messias warteten, war Rothmann damit ein erhebliches Stück nähergekommen. Doch noch immer gab es Ungläubige in der Stadt. So wurden die übrig gebliebenen Katholiken und Lutheraner vor die Wahl gestellt: Entweder sie schlossen sich den Wiedertäufern an – oder sie mussten die Stadt verlassen.

Die Revolution hatte gesiegt. Und wie zumeist in solchen Fällen richtete sich die Wut des Volkes erst einmal gegen die alte Ordnung. Man plünderte die Kirchen und Klöster, zerstörte die als Ketzerei verurteilten Heiligenbilder und -skulpturen, auch Schuldbriefe, Verträge und das Ratsarchiv gingen in Flammen auf.

Nach dem Bildersturm führte Rothmann die Gemeinschaft der Gleichen ein. Sein Vorbild war das Frühchristentum, wie die Apostel sollten die Münsteraner auf eigenen Besitz verzichten. Wohnungen, Kleidung, Lebensmittel – alles gehörte allen und jeder bekam nach seinen Bedürfnissen. Natürlich stießen solche Ideale nicht bei sämtlichen Einwohnern Münsters auf uneingeschränkte Zustimmung. Insbesondere diejenigen, die nur pro forma zum neuen Glauben übergetreten waren, in der Hoffnung, die Herrschaft der Wiedertäufer unbeschadet zu überstehen, wehrten sich mit Händen und Füßen gegen ihre Enteignung. Ohne Erfolg. Und wer allzu heftig protestierte, musste feststellen, dass die errungene Freiheit genau da endete, wo sie sich gegen die neuen Herren richtete. In diesem Punkt unterschieden sich die Wiedertäuferführer nicht von späteren Revolutionshelden, die sich nach gelungenem Machtwechsel alsbald in Diktatoren verwandelten.

Vor allem Jan Matthys, der aus Haarlem nach Münster gekommene Prophetennachfolger Melchior Hofmanns, duldete keinen Widerspruch. Wer gegen ihn murrte – und das kam durchaus vor –, fand sich alsbald vor seinem Henker wieder. Tröstlich für manche, dass sie nach Matthys’ Prophezeiungen nur noch ein paar Wochen im irdischen Jammertal ausharren mussten. Für den Ostersonntag 1534 hatte er das in der Apokalypse des Johannes beschriebene Ende der Welt vorhergesagt. Gerade rechtzeitig, denn Münster war mittlerweile eine belagerte Stadt.

Franz von Waldeck, der Fürstbischof von Münster, hätte sich vielleicht noch damit abgefunden, wenn die Hauptstadt seines Bistums zum Luthertum übergewechselt wäre, dem Reich der Wiedertäufer jedoch erklärte er den Krieg. Mit finanzieller Unterstützung der katholischen Fürstenkollegen hob Bischof Waldeck eine Söldnerarmee aus und brachte sie rund um Münster in Stellung. An eine simple Eroberung der Stadt war vorläufig allerdings nicht zu denken, die Stadtmauern stellten ein fast unüberwindliches Hindernis dar, zudem gaben sich die gut bewaffneten Wiedertäufer kämpferisch. Die Taktik des Bischofs bestand vielmehr darin, die Stadt auszuhungern.

Dem wollte Jan Matthys zuvorkommen. Zusammen mit wenigen Getreuen ritt der Prophet am Ostersonntag 1534 vor das Ludgeritor, direkt auf die bischöflichen Landsknechte zu. Sein Plan, dass sich am Tag des Weltuntergangs höhere Mächte zu seinen Gunsten einmischen würden, ging allerdings gründlich schief. Die auf den Stadtwällen versammelten Anhänger Matthys’ mussten entsetzt mit ansehen, wie die Söldner ihren Propheten zuerst zerstückelten und dann seinen Kopf auf einen Zaunpfahl spießten.

Innerhalb der Stadtmauern breitete sich Ernüchterung aus. Nur einer erkannte in dieser desolaten Situation seine Chance: Jan van Leyden, ein ehemaliger Schauspieler und Schüler Jan Matthys’. Kurzerhand erklärte er sich zum neuen Propheten, verzichtete klugerweise jedoch darauf, den nächsten Weltuntergangstermin festzulegen. Stattdessen stimmte er die Münsteraner auf eine längere Belagerungszeit ein, und um den tristen Zeiten einen etwas glamouröseren Anstrich zu verleihen, ließ er sich obendrein zum König krönen. (Die Geschichten vom prunkvollen Hofstaat und den sechzehn Ehefrauen des Königs sind übrigens die in Münster bis zum heutigen Tag am besten überlieferten.)

Nicht alle Anweisungen des Königs wurden von seinen Untertanen klaglos hingenommen. Als er verfügte, dass sich die alleinlebenden Frauen – und von denen gab es eine Menge – einen männlichen Haushaltsvorstand suchen mussten, gab es lautstarke Proteste. Ebenso störten sich etliche alteingesessene Münsteraner, wie der reiche Pelzhändler und frühere Bürgermeister Bernd Knipperdolling, an den Machtallüren Jan van Leydens. Einmal provozierte Knipperdolling den Königsdarsteller mit angeblichen göttlichen Offenbarungen so lange, bis dieser ihn für drei Monate in den Kerker werfen ließ.

Im Großen und Ganzen aber hielten die Wiedertäufer zusammen und den Truppen des Bischofs stand. Hoffnungen auf Befreiung durch ein niederländisches Täuferheer oder von ausgesandten Predigern geschürte Aufstände im Münsterland zerschlugen sich allerdings regelmäßig. Immer wieder gelang es Bischof Waldeck, Boten abzufangen und Unterstützern den Weg abzuschneiden.

Unterdessen schnürte der enger werdende Belagerungsring die Stadt von jeglicher Zufuhr ab. Aus dem Sozialismus der ersten Zeit war längst eine Mängelwirtschaft geworden, die Wiedertäufer hungerten. Das Ende des Täuferreiches führte schließlich ein Verräter herbei. Heinrich Gresbeck, erst kurz zuvor aus Münster geflohen, öffnete in der Nacht vom 24. auf den 25. Juni 1535 den bischöflichen Soldaten eines der Stadttore. Es folgten drei Tage Gemetzel, bei dem fast alle männlichen Wiedertäufer starben. Gegen drei ihrer gefangen genommenen Anführer – Jan van Leyden, Bernd Knipperdolling und Bernd Krechting – inszenierte Bischof Waldeck einen Schauprozess, der am 22. Januar 1536 mit der öffentlichen Hinrichtung auf dem münsterschen Marktplatz endete. Nach vier Stunden Folter mittels glühender Eisen und Zangen wurden die Leichen der Täuferführer in drei eisernen Körben am Turm der Lambertikirche aufgehängt – »allen unruhigen Geistern zur Warnung und zum Schrecken«, wie es hieß.

Bernhard Rothmann, als Worthalter bis zuletzt der Chefideologe des Täuferreiches, fiel den bischöflichen Landsknechten nicht in die Hände. Dreißig Jahre lang hielt sich das Gerücht, er sei noch am Leben.

Der Westfälische Friede

Es dauerte einige Jahrzehnte, bis Münster seine vollen Stadtrechte zurückerhielt. Mitte des 17. Jahrhunderts war die Wiedertäufer-Episode so weit verarbeitet, dass Münster zum Schauplatz einer der bedeutendsten Friedenskongresse der europäischen Geschichte werden durfte.

Wobei Kongress eigentlich der falsche Begriff ist. Denn die siebenunddreißig ausländischen und hundertelf deutschen Gesandten, die fast sechs Jahre lang in Münster und Osnabrück residierten, um mit dem Westfälischen Frieden das Ende des auf dem halben Kontinent tobenden Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) auszuhandeln, trafen sich nie gemeinsam. Zumeist fanden die Friedensverhandlungen bilateral und schriftlich statt. Und da die Gesandten keine eigenständigen Entscheidungen treffen konnten, sondern sich immer wieder bei ihren Herrschern oder Regierungen rückversichern mussten, verging dabei eine Menge Zeit. Wenn – sagen wir mal – der spanischen Seite ein neues Angebot unterbreitet wurde, schickte der spanische Gesandte Conde de Peñaranda einen Boten zum spanischen König. Für die Strecke von Münster nach Madrid benötigte selbst ein guter Reiter bei häufigem Pferdewechsel rund drei Wochen. Rechnet man noch eine gewisse Zeit fürs Nachdenken hinzu, dauerte es rund zwei Monate, bis Graf Peñaranda seinem münsterschen Gesprächspartner eine Antwort übermitteln konnte.

Die Haupttätigkeit der Gesandten bestand also im Abwarten, was manchen ganz gehörig auf die Nerven ging. Einige vertrieben sich die Zeit mit Schreiben, andere veranstalteten rauschende Feste. Vor allem die Südländer konnten sich mit dem Tagungsort Münster nicht recht anfreunden. Sie klagten über die Kälte, den ständigen Regen und das in ihren Augen undiskutable kulinarische Niveau.

Einer der kreativsten unter den Gefrusteten war der Apostolische Nuntius Fabio Chigi, der als Alexander VII. später selbst zum Papst aufstieg. In einem Gedichtzyklus beschrieb er die »Heimat des Regens«, der er nicht viel Gutes abgewinnen konnte: »Dicker Schmutz liegt meist an den beiden Seiten der Straßen,/Ja, oft sieht man sogar dampfende Haufen von Mist. / Unter gemeinsamem Dach wohnen Bürger und trächtige Kühe,/Und mit dem stinkenden Bock auch noch die borstige Sau.«

Auch die Essgewohnheiten der Einheimischen bekamen ihr Fett weg: »Denn was im Morgenland blüht und gedeiht, suchst hier Du vergebens,/Nicht die Äpfel der Gärten des Königs Alkinoos gibt es,/Nicht die Genüsse Lukulls, nicht die feinen Speisen Apollos! / Denn der schlichte Westfale verachtet ein üppiges Leben,/Protzige Gaben verschmäht er, der tapfere Recke! / Mit seiner Schüssel Gemüse ist er schon völlig zufrieden,/Schwarzbrot isst er dazu, das mit goldgelber Butter bestrichen.« (Fabio Chigi: Gedichte, übersetzt von Dr. Hermann Bücker, Stadt Münster 1975)

Zur Partyfraktion der Gesandten gehörte der Franzose Henri d’Orléans, Herzog von Longueville. Sein Gefolge bestand aus mehr als sechshundert Personen, darunter Kanzlei- und Küchenpersonal, adelige Begleiter, Diener, Gardisten, Geistliche, Ärzte und Trompeter. Die Ankunft seiner Gattin, der schönen Herzogin Anne-Geneviève de Bourbon-Condé, feierte Longueville wie einen Staatsempfang, mit Kanonendonner und Spalier stehenden Soldaten, Mauleseln, livrierten Pagen, Edelmännern zu Pferd und Schweizergardisten zu Fuß. Und obwohl die Herzogin schnell zur Ersten Dame des Kongresses aufstieg, litt sie angeblich unter der Langeweile Münsters und sehnte sich zurück ins weltstädtische Paris. Longueville musste sich einiges einfallen lassen, um seine Frau zu unterhalten. Einmal ließ er einen dressierten Elefanten nach Münster kommen, der auf dem Prinzipalmarkt Kunststücke vollführte. Dann inszenierten die Franzosen Friedens- und Freudenballette, die sowohl in den eigenen Residenzen wie auch im städtischen Rathaus aufgeführt wurden. Die Ballette, eine Art Vorläufer des Musicals, waren eine bunte Mischung aus Pantomime, Deklamation, Gesang und Tanz, untermalt durch Geigenspiel. Für besondere Komik sorgte, dass die Frauenrollen von Männern gespielt wurden.

Abseits der unterhaltsamen Zerstreuung gab es allerdings auch Spannungen zwischen den in Münster vertretenen Nationen. Vor allem zwischen den Delegationen jener Länder, die auf den Schlachtfeldern Europas Krieg gegeneinander führten, ungeachtet der gleichzeitig laufenden Friedensverhandlungen. Um für Ruhe und Ordnung zu sorgen, hatte die Stadt einen erfahrenen Stadtkommandanten und tausendzweihundert Stadtsoldaten angeworben. Eine gewaltige Streitmacht bei rund zehntausend Einwohnern, zu denen noch einmal genauso viele Kongressteilnehmer kamen.

Gefahr von außen musste man hingegen nicht befürchten. Der Kaiser hatte Münster und Osnabrück zu neutralen Städten erklärt und von allen Verpflichtungen gegenüber ihren jeweiligen Landesherrn befreit. Zum ersten Mal in seiner Geschichte war Münster damit faktisch unabhängig vom Fürstbischof.

Die Hoffnung der Einheimischen, dass der Kongress auch einen wirtschaftlichen Aufschwung bringen würde, erfüllte sich jedoch nur zum Teil. Zwar gab es erhebliche Mieteinnahmen, doch die großen Gesandtschaften umgingen die münsterschen Kaufleute und schickten eigene Einkäufer hinaus ins Münsterland, wo sie nach Lebensmitteln und anderen Gebrauchsgegenständen Ausschau hielten. Luxusgüter wie Wein ließen sich die adeligen Herren aus ihren Heimatländern nachsenden. Zollfrei, versteht sich, wie es ihrem Diplomatenstatus entsprach.

Ein anderes Problem ergab sich durch die lange Dauer des Kongresses: Den Gesandtschaften der kleineren Fürstentümer ging das Geld aus. Sie lebten auf Pump und blieben Hausbesitzern und Kaufleuten Geld schuldig.

So atmeten alle auf, als es 1648 endlich zu Friedensvereinbarungen kam. Zuerst schlossen Spanien und die Niederlande im Januar einen Vertrag, der die Unabhängigkeit der Niederlande von der spanischen Krone garantierte. Dann, im August 1648, einigten sich auch die schwedisch-französische Partei auf der einen und die kaiserlich-kurbayerische Partei auf der anderen Seite.

Für die feierliche Ratifikation des spanisch-niederländischen Friedensvertrags erbat der spanische Gesandte Peñaranda die Überlassung der Ratskammer im münsterschen Ratshaus.

Seit diesem Ereignis, das gleichzeitig die einzige öffentliche Zeremonie des gesamten Kongresses darstellte, heißt die Ratskammer Friedenssaal.

Kanonenbischof und Provinzialhauptstadt

Die Selbstständigkeit während der Kongresszeit hatte in Münster mal wieder den Wunsch geweckt, sich vom Fürstbischof zu befreien. Eine im Stadtrat diskutierte Idee sah vor, den Kaiser um die Erhebung in den Rang einer unabhängigen Reichsstadt zu bitten. Wegen der zu erwartenden höheren Steuern ließ man den Plan später wieder fallen.

Ein noch verwegeneres Vorhaben verfolgten die Gilden, die neben dem Stadtrat mächtigen Organisationen der Handwerker und Händler. Sie träumten davon, Münster dem neu gegründeten Staat der Niederlande anzuschließen. Gildenvertreter reisten zu Geheimverhandlungen nach Den Haag, erhielten aber ausweichende Antworten. Grundsätzlich zeigten sich die Niederländer wohl interessiert, zögerten aber, sich mit dem Fürstbischof und dem deutschen Kaiser anzulegen.

Dem Fürstbischof selbst, seit 1650 hieß er Christoph Bernhard von Galen, konnte all das nicht gefallen. Drei Mal belagerte er seine Hauptstadt. Und da die Militärtechnik seit der Wiedertäuferzeit Fortschritte gemacht hatte, richteten seine Kanonen erhebliche Schäden innerhalb der Stadtmauern an, was ihm bei der Bevölkerung den Spitznamen Kanonenbernd einbrachte.

1661, bei der dritten Belagerung, kapitulierte die Stadt. Bischof Galen strich Münster sämtliche Privilegien, ließ im Westen ein Stück der Stadtmauer abreißen und eine Zitadelle errichten, eine Festung mit bischöflichen Soldaten, dazu gedacht, die Münsteraner dauerhaft in Schach zu halten.

Die Lücke, die die Zitadelle gerissen hat, ist noch heute zu erkennen. Zwar sind von der Stadtmauer nur noch Bruchstücke erhalten, doch verläuft an ihrer Stelle eine Fahrradallee, Promenade genannt, rund um die Stadt. Lediglich auf der Westseite, dort, wo die Zitadelle gestanden hat, ist die Promenade unterbrochen. Hier befinden sich heute das von Johann Conrad Schlaun erbaute Residenzschloss und der dahinter liegende Schlossgarten.

Obwohl für den Fürstbischof gebaut, hat nie ein Fürst im Schloss gewohnt. Im 18. Jahrhundert amtierten die Fürstbischöfe von Münster oft gleichzeitig als Kölner Kurfürsten und zogen es vor, im Rheinland zu bleiben. Für die Regierungsgeschäfte schickten sie einen Minister nach Münster. Der wohl berühmteste unter ihnen war Freiherr Franz von Fürstenberg (1729–1810), der das Schulwesen reformierte, die Universität gründete und ein Komödienhaus errichtete.

Nach dem Tod des letzten Fürstbischofs und der napoleonischen Besatzung fiel das Münsterland 1815 an Preußen, und Münster wurde Provinzialhauptstadt der neu gegründeten Provinz Westfalen. Das war wahrlich keine Liebesbeziehung, das katholische Münster fühlte sich im protestantischen Preußen nicht recht wohl. Höhepunkt des Fremdelns war der Kulturkampf zwischen 1872 und 1887, in dem der preußische Staat Klöster auflöste, den Bischof verhaftete und kirchliches Vermögen versteigerte.

Den Katholizismus konnten die Preußen jedoch nicht aus Münster vertreiben. Während der Weimarer Republik dominierte in Münster die katholische Zentrumspartei. Und nach 1933 hielt sich die Begeisterung für die Nationalsozialisten in Grenzen. Obwohl die Nazis Münster zum Sitz der Gauleitung machten und am Aasee einen gigantischen Gebäudekomplex planten, kam Widerstand auch von katholischer Seite. Bischof Clemens August Graf von Galen predigte öffentlich gegen die nationalsozialistische Ideologie und das Euthanasieprogramm. Für die noch in Münster lebenden Juden konnte oder wollte auch er sich nicht einsetzen. Von den rund siebenhundert jüdischen Bürgern, die 1933 in Münster wohnten, wanderte knapp die Hälfte aus, während die anderen deportiert wurden. Nur achtundzwanzig von ihnen überlebten die Konzentrationslager.

Im Zweiten Weltkrieg wurde die münstersche Innenstadt zu neunzig Prozent zerstört. Glücklichen Umständen ist es zu verdanken, dass man sie nach dem Krieg nicht so praktisch und verwechselbar neu errichtete, wie das in den meisten deutschen Großstädten geschah. Eine Bürgerbewegung sorgte dafür, dass Straßen und Häuser der Altstadt wenn nicht restauriert, so doch in ihren Umrissen erhalten blieben. Die heutige Bevölkerung, durch Zuwanderung und Gebietsreformen auf mittlerweile zweihundertdreiundachtzigtausend Einwohner, darunter fünfzigtausend Studenten, angestiegen, weiß das zu schätzen. So ist die Altstadt nicht nur Touristenziel, sondern auch bei den Einheimischen sehr beliebt.

An jeder Ecke Geschichte

Ein Spaziergang durch Münsters Altstadt

Man kann Münster mit dem Flugzeug (Flughafen Münster-Osnabrück), mit dem Auto (Autobahnen A 1 und A 43) oder mit dem Zug erreichen. Sollten Sie mit dem Zug kommen und sollten Sie zudem gehört haben, dass Münster eigentlich eine ganz hübsche Stadt ist, müssen Sie unbedingt die Augen verschließen, solange Sie sich im Bahnhofsgebäude aufhalten. Oder, um den Münsteraner Götz Alsmann zu zitieren, der im Hauptbahnhof mal gefragt wurde, wo denn die Toilette sei: »Der Bahnhof ist die Toilette – mit Gleisanschluss.«

Als ich 1974 nach Münster kam, um hier zu studieren, sah der Hauptbahnhof schon so aus wie heute – nur ein bisschen weniger heruntergekommen. In all den Jahren gab es immer wieder Ausschreibungen, Pläne, Zusagen von Investoren, das Bahnhofsgebäude komplett umzubauen. Nie wurde etwas daraus. Auch Die Bahn (vormals Deutsche Bundesbahn) fand überall in Deutschland wichtigere Projekte. Man baute neue Bahnhöfe oder alte um, nur den in Münster vergaß man irgendwie immer. Mit der Folge, dass so hypermoderne Erfindungen wie Rolltreppen oder Aufzüge in Münsters Bahnhofsgebäude einfach nicht existieren. Für manche Reisenden, die ihre schweren Koffer oder Kinderwagen zum Bahngleis schleppen müssen, kann das zum Horror werden.

Neuerdings sind jedoch gewisse Bauaktivitäten im Bahnhof zu beobachten, zwar nur im Bahnsteigbereich und nicht im tristen Drumherum, aber immerhin. So besteht die berechtigte Hoffnung, dass in einigen Jahren auch der münstersche Bahnhof den Anschluss an die Gegenwart finden wird.

Doch nehmen wir mal an, Sie haben den Bahnhof unfallfrei verlassen. Dann wenden Sie sich Richtung Innenstadt und gehen ein paar Hundert Meter geradeaus. Bald überqueren Sie den Promenade genannten Fahrradschnellweg, der anstelle der alten Stadtmauer rund um die Stadt führt (zu den damit verbundenen Gefahren siehe das Kapitel über die Leezenhauptstadt). Innerhalb des Promenadenrings befinden Sie sich auf dem Gebiet des mittelalterlichen Münsters, das gerade mal zehntausend Menschen beherbergte – mitsamt ihren Schweinen, Kühen und Pferden.

Noch ein paar Schritte weiter, an der Stubengasse, stoßen Sie auf einen modernen Gebäudekomplex, der im Jahr 2010 fertiggestellt wurde. Früher stand hier das Clemenshospital, nach der Zerstörung des Krankenhauses im Zweiten Weltkrieg blieb das Gelände eine Brache, das heißt: ein Parkplatz. Wie immer, wenn etwas Neues gebaut wird, so lehnt auch in diesem Fall ein Teil der Bevölkerung die Architektur ab und findet das Ganze hässlich. Aber mal ehrlich: Was kann hässlicher sein als ein Parkplatz mitten in der Innenstadt?

Nun können Sie gleich nach links gehen, zu Münsters Prachtstraße, dem Prinzipalmarkt. Oder Sie machen einen Schlenker nach rechts. Dort, am Rand der Stubengasse, zwischen Salzstraße und Servatiikirchplatz, stehen zwei der schönsten Gebäude, die der münstersche Baumeister Johann Conrad Schlaun (1695–1773) geschaffen hat: die Clemenskirche und der Erbdrostenhof. Die Clemenskirche, ein Kuppelbau nach römischem Vorbild, gilt als die bedeutendste Barockkirche Norddeutschlands (wenngleich mit Rokoko-Innenausstattung). Fürstbischof Clemens August ließ sie als Krankenhauskapelle für das nebenan gelegene Clemenshospital bauen.

Noch glanzvoller geriet Schlaun der Erbdrostenhof, der sich bis heute im Privatbesitz befindet. Als sich im 18. Jahrhundert der damalige Droste eine repräsentative dreiflügelige Anlage wünschte, kaschierte der Architekt das Problem der relativ kleinen Grundfläche dadurch, dass er einfach diagonal baute.

Sowohl Clemenskirche wie auch Erbdrostenhof zeigen die für Schlaun typischen Stilmittel: roter Backstein, kombiniert mit Baumberger Sandstein, dazu weiße, unterteilte Fenster und geschwungene Fassaden. Übrigens war Schlaun, nicht untypisch für die Baumeister seiner Zeit, auch noch ein hoher Militär. In der Nähe von Paderborn geboren, absolvierte er eine militärische Ausbildung beim Fürstbischof von Paderborn, bevor er als Generalmajor der Artillerie nach Münster wechselte. Glücklicherweise konnte er seinen Zweitberuf vernachlässigen und kam nie in den Gewissenskonflikt, als Artilleriegeneral das zerschießen zu müssen, was seine Baumeisterkollegen aufgebaut hatten.

Prinzipalmarkt

Ende der Leseprobe