5,99 €
Ganz einfach: Man mischt dem Liebhaber ein Betäubungsmittel in den Cocktail – und dann: raus mit der Brieftasche!
Diese Methode war Lieutenant Mendoza vom Mord-Dezernat Los Angeles bekannt. Was ihn jedoch beunruhigte, war die Tatsache, dass das Opfer dieses Mal nicht wieder zu sich kam...
Der Roman Gefährliche Cocktails von Dell Shannon (= Leslie Egan und Elizabeth Linnington) erschien erstmals im Jahr 1967; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im Jahr 1970.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2019
DELL SHANNON
Gefährliche Cocktails
Roman
Apex Crime, Band 44
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
GEFÄHRLICHE COCKTAILS
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Ganz einfach: Man mischt dem Liebhaber ein Betäubungsmittel in den Cocktail – und dann: raus mit der Brieftasche!
Diese Methode war Lieutenant Mendoza vom Mord-Dezernat Los Angeles bekannt. Was ihn jedoch beunruhigte, war die Tatsache, dass das Opfer dieses Mal nicht wieder zu sich kam...
Der Roman Gefährliche Cocktails von Dell Shannon (= Leslie Egan und Elizabeth Linnington) erschien erstmals im Jahr 1967; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im Jahr 1970.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Sie hatten sich in dem kleinen Café am Sunset Boulevard verabredet, wo sie sieh schon früher verschiedentlich getroffen hatten. Es war ein sauberes kleines Lokal, wo man in Ruhe, ohne von einem ungeduldigen Kellner bedrängt zu werden, bei einer Tasse Tee sitzen und sich unterhalten konnte. Dorothy Swanson, die ältere der beiden, die zuerst ankam, hatte allerdings nicht die Absicht, sich Tee zu bestellen. Vier Jahre in Kalifornien hatten sie gelehrt, dass es hoffnungslos war, in Amerika richtig zubereiteten Tee zu erwarten.
Sie setzte sich in eine Nische im etwas düsteren Hintergrund des Lokals und bestellte sich eine Portion Kaffee, während sie auf das andere Mädchen wartete. Sie gestand sich ein, dass sie jetzt eigentlich genug hatte vom kalifornischen Sonnenschein Und der amerikanischen Lebensweise. Wie viele andere junge Engländerinnen, die hier arbeiteten, zumeist als Haustöchter und Kindermädchen, hatte sie das Geld gelockt, das hier geboten wurde. Doch je länger sich ihr Aufenthalt hinzog, desto stärker wurde das Heimweh nach Winscombe und dem stillen Hügelland von Cotswold. Immer nur Sonnenschein macht eben auch nicht glücklich. Sie trank einen Schluck Kaffee und beschloss, dem Vermittlungsbüro demnächst mitzuteilen, dass diese Aushilfsstellung ihre letzte sein würde. Sie wollte wieder nach Hause.
Dann glitt das andere Mädchen in die Nische und ließ sich ihr gegenüber nieder.
»Ich hab’ den Bus um zwölf verpasst«, sagte sie. »Tut mir leid, dass ich so spät dran bin, Dot. - Du, Dot, ich wollte dich übrigens etwas fragen...« Sie brach ab, als die Kellnerin kam, und bestellte sich Kaffee und ein belegtes Brötchen. »Dot...«
»Was macht die Arbeit?«, erkundigte sich die andere. Manchmal fiel ihr Carole Leslie auf die Nerven. Sie ärgerte sich darüber, dass sie ständig von dem Gefühl bedrängt wurde, für das Mädchen verantwortlich zu sein. Aber das war ihre eigene Schuld. Wenn Carole nicht zusammen mit Dorothys jüngerer Schwester zur Schule gegangen wäre, wenn sie nicht davon gehört hätte, was für ein herrliches Leben Dorothy in Amerika führte, wenn ihre Mutter Dorothy nicht geschrieben und sie gebeten hätte, ein Auge auf Carole zu haben, wenn sie nicht zu Pflichtgefühl und Verantwortungsbewusstsein erzogen worden wäre - ja, wenn... Nun, es war nicht zu ändern.
»Ach, mir gefällt es überhaupt nicht mehr.«
Strahlend blondes, kurzgeschnittenes Haar umgab wie ein Glorienschein Caroles Kopf. Sie hatte einen Teint wie Milch und Blut. Die Augen waren groß und tiefblau. Ihr Mund war mit grellrosa Lippenstift geschminkt. Dorothy fand die Farbe viel zu auffallend. Doch Carole war erst neunzehn Jahre alt.
»Ich wollte dir erzählen - aber wie macht sich denn deine neue Stellung?« Es war klar, dass sie nur aus Höflichkeit fragte. »Du sagtest, es wäre nur eine Aushilfsstellung?«
»Ja, nur für zwei Monate«, erwiderte Dorothy zerstreut. »Die Zwillinge sind ja goldig...«
»Zwillinge? Ach wie süß! Wie alt?«
»Knapp zwei. Ein Junge und ein Mädchen.«
Die Kellnerin kam mit dem Kaffee und dem belegten Brötchen. Dorothy bestellte sich ebenfalls etwas zu essen.
»Aber du wolltest mir doch von deiner Arbeit erzählen, Carole«, wandte sie sich dann an ihre Freundin. »Letztes Mal sagtest du...«
»Hm«, machte Carole mit vollem Mund und kaute hastig. »Ich muss dir einfach mein Herz ausschütten, Dot. Ich glaube, da stimmt was nicht ganz. Irgendetwas ist da im Gange. Mir gefällt’s überhaupt nicht. Ich meine, die ganze Stellung passt mir nicht. Erst dachte ich, es wäre eine erholsame Abwechslung nach dem Theater mit diesen grässlichen Gören von den Millers - du weißt schon, meine erste Stellung. Und zuerst ließ es sich ja auch gar nicht so übel an. Ich fand es zwar ein bisschen sonderbar, dass sie eine Haustochter suchte - sie ist ja höchstens fünfunddreißig -, aber sie machte einen ganz netten Eindruck und sieht auch nicht schlecht aus. Sie redet gern über Kleider, zeigte mir ihre ganze Garderobe und ist soweit recht nett und harmlos. Aber auf die Dauer ist sie sterbenslangweilig. Ich glaube, ich kenne inzwischen ihre Lebensgeschichte von A bis Z. Außerdem stört es mich, dass sie so abfällig über ihren Mann redet. Der ist nämlich wirklich ein sympathischer Mensch. Er erinnert mich ein bisschen an meinen Vater, weißt du. Und dann erzählt sie mir dauernd von ihrer Erbschaft und dem obskuren Onkel, der plötzlich aus der Versenkung auftauchte und ihr sein ganzes Geld hinterließ, obwohl sie sich seiner kaum mehr entsinnen konnte. Na, das hab’ ich dir ja alles schon erzählt. Ich muss mich weiß Gott nicht zu Tode arbeiten, höchstens ein bisschen aufräumen, das Mittagessen machen und Geschirr spülen. Dafür muss ich mir aber die meiste Zeit ihr Geschwätz anhören. Sie weiß mit sich allein nichts anzufangen. Aber ich glaube wirklich, dass da etwas im Gange ist, Dot.«
Carole legte ihr Brötchen auf den Teller und starrte Dorothy mit gerunzelter Stirn an.
»Wie meinst du das?«
Das wenige, was Carole ihr vor einigen Wochen berichtet hatte, war auch Dorothy recht merkwürdig erschienen. Eine seltsame Stellung.
»Du weißt, dass es mir nicht einfallen würde zu lauschen«, erklärte Carole. »Bestimmt nicht. Aber neulich bat sie mich, den Kaffee zu machen. Ich wollte ihn gerade ins Zimmer bringen, da hörte ich die beiden reden - sie und den anderen, den Bruder ihres Mannes. Der kommt häufig zu Besuch. Und er ruft immer an, wenn Mr. Newhouse im Büro ist. Sie hat mir übrigens erzählt, dass sie Mr. Newhouse dazu überreden wollte, seine Stellung aufzugeben, wo sie doch jetzt das viele Geld haben. Sie will unbedingt reisen. Aber er weigert sich.«
»Sehr vernünftig. Wie gewonnen, so zerronnen«, stellte Dorothy ein wenig altbacken fest.
»Ja, wahrscheinlich. Also, wie gesagt, ich wollte bestimmt nicht lauschen, Dot, aber sie redeten so laut, als ich den Kaffee brachte, dass ich es hören musste. Es war am letzten Samstagnachmittag. Der Bruder war da. Als ich zur Tür ging, hörte ich ihn sagen: Wir könnten eine Menge Spaß miteinander haben, Evelyn, wenn du diesen Sauertopf los wärst. Und sie antwortete: Ja, du hast allen Grund, ihn auf immer loswerden zu wollen, nicht wahr? Es klang nachdenklich, so als überlegte sie. Er sagte dann schnell: Es geht uns beide an. Und dann waren sie still, weil ich zur Tür hereinkam. Es klang wirklich merkwürdig, Dot. Meinst du, die beiden haben vor, sich davonzumachen? Vielleicht will sie sich von Mr. Newhouse scheiden lassen.«
Auch Dorothy schien dieses Gespräch reichlich seltsam.
»Ich weiß nicht«, meinte sie, »Aber ich kann verstehen, dass dir die Stellung nicht besonders gefällt.«
»Ich habe einfach nicht genug zu tun. Dabei zahlt sie mir zweihundert Dollar im Monat. Stell dir das vor! Aber es ist mir zu langweilig, Dot. Da schlag5 ich mich schon lieber mit brüllenden Kindern herum. Mr. Newhouse mag ich gern, aber er ist nur abends zu Hause. Außerdem geht er regelmäßig zu seinem Schachabend. Das ist übrigens auch so eine Sache. Er geht jeden Dienstagabend Schach spielen, und dann erscheint prompt der andere, der Bruder, jedenfalls war das in den letzten drei Wochen so. Sie machen dann einfach die Tür zum Wohnzimmer zu und lassen sich nicht mehr blicken.«
»Ich glaube, es ist besser, wenn du Ende des Monats kündigst und dir von Mrs. Spain etwas anderes besorgen lässt«, sagte Dorothy. »Es hat wirklich den Anschein, als entwickle sich da etwas Unerfreuliches.«
»Das dachte ich mir auch.«
»Was hast du am Sonntag gemacht?«
»Ach, da war ich am Strand. Mit Randy.«
»Randy Bearley? Der Junge von der Tankstelle? Hör mal, Carole, ich glaube, das ist kein richtiger Umgang.« Sie zögerte. Carole konnte manchmal recht störrisch sein, und je mehr man sagte, desto dickköpfiger wurde sie meist.
»Randy ist ein netter Kerl«, erklärte Carole und trank einen Schluck Kaffee. »Hast du Lust, ins Kino zu gehen? Ich weiß zwar nicht, was gegeben wird, aber...«
»Ich muss Einkäufe machen«, versetzte Dorothy und blickte auf ihre Uhr.
Es war schon zwei Uhr. Donnerstags musste sie um halb sechs Uhr zurück sein. Sie wollte aber noch das Geburtstagsgeschenk für ihre Mutter besorgen. Wenn sie sich nicht aus unerfindlichen Gründen für Carole verantwortlich gefühlt hätte, hätte sie sich gar nicht die Zeit genommen, sich mit dem Mädchen zu treffen. Sie nahm ihr Portemonnaie heraus und warf einen Blick auf die Rechnung.
»Willst du mitkommen?«, fragte sie Carole.
»Hm«, machte Carole und nickte vergnügt, während sie den letzten Bissen ihres Brötchens in den Mund stopfte. »Mit Vergnügen. Die Läden hier sind so verlockend.« Sie strahlte Dorothy an, tupfte sich sorgfältig den Mund ab und wühlte in ihrer Handtasche nach dem Lippenstift. »Ich glaube, du hast Recht. Es ist das Beste, wenn ich kündige. Mrs. Spain von dem Vermittlungsbüro hat mir gesagt, es gäbe haufenweise offene Stellen, und außerdem habe ich ein bisschen Geld gespart. Er hat noch etwas gesagt - der Bruder, meine ich -, was mir seltsam vorkam. Ich begriff zwar nicht ganz, was es zu bedeuten hatte, aber es steht fest, dass er von Mr. Newhouse nicht viel hält. Und weißt du, Dot, es ist doch auch irgendwie sonderbar, dass er immer dann auftaucht, wenn Mr. Newhouse nicht da ist. Mir ist wirklich unbehaglich.«
»Das kann ich verstehen«, sagte Dorothy.
Zumindest hatte sich Carole ihren Sinn für Anständigkeit bewahrt. Zwar war sie manchmal ein bisschen unreif und flatterhaft, doch in dieser Sache schien ihr gesunder Menschenverstand zu siegen. Dorothy wäre eigentlich viel lieber allein losgezogen, um das Geburtstagsgeschenk für ihre Mutter zu kaufen. Das Geplapper Caroles würde sie nur ablenken. Außerdem wurde es allmählich Zeit, dass Carole auf eigenen Füßen stand und sich selbst ein Urteil über die Menschen bildete. Aber das konnte man ihr natürlich nicht so unverblümt sagen. Dieser Randy war ja ein Tunichtgut, aber er sah gut aus, und Carole war erst neunzehn Jahre alt.
Sie steckte ihr Portemonnaie wieder ein und holte einen Notizblock aus der Handtasche.
»Du hast meine neue. Adresse nicht«, meinte sie. »Und die Telefonnummer. Ich schreib’ dir das lieber auf. Und hör zu, Carole, wenn irgendetwas Merkwürdiges passiert - wenn du irgendetwas auf dem Herzen hast, dann ruf mich ruhig an.«
Sie schrieb Adresse und Telefonnummer auf den Block, riss den Zettel ab und schob ihn über den Tisch.
Carole drückte eine Ecke der Papierserviette auf den frisch geschminkten Mund.
»Mach dir keine Sorgen. Es wird schon alles gut gehen. Ich sage einfach, dass ich Ende des Monats weg will. Die können mich ja schließlich nicht festbinden. Trotzdem vielen Dank, Dot.«
Dorothy legte das Geld auf den Tisch, dazu 25 Cent Trinkgeld und stand auf. Mit Carole im Gefolge schritt sie zur Tür.
Als die Kellnerin zu dem verlassenen Tisch trat, verzog sie angesichts des bescheidenen Trinkgelds säuerlich den Mund und wischte dann mit rascher, geübter Hand Krümel und zusammengeknüllte Papierservietten auf ihr Tablett, stapelte die schmutzigen Teller und Tassen auf und marschierte in die Küche. Auch der kleine Zettel, auf dem in flüssiger, rechts geneigter Handschrift Mrs. Mendoza, 311 Rayo Grande Avenue, Hollywood - 377-4684 stand, landete im großen Mülleimer in der Küche.
»Doch der Narr folgt seinem Trieb«, bemerkte Mendoza und ließ sich brummend in dem Drehsessel hinter seinem Schreibtisch nieder. »Diese Halbstarken! Diese Tagediebe und Strolche! Oder sollte ich etwa mit zunehmendem Alter unduldsamer werden?«
»Die meisten von ihnen«, meinte Grace mit seiner weichen, melodischen Stimme, »würden gar nicht so weit sinken, wenn sie keine Narren wären.«
»Sicher, sicher«, stimmte Mendoza zu, »aber ich habe es manchmal einfach satt, mich mit ihnen herumschlagen zu müssen, Jase.«
Higgins sagte nichts. Er steckte sich eine Zigarre an und stieß mit einem tiefen Seufzer den Rauch aus. Sie hatten eben eine Sitzung mit einem dieser Dummköpfe hinter sich. Unablässig machten ihnen diese Kerle zu schaffen, die unfähig - oder unwillig - waren, auch nur fünf Minuten vorauszudenken, die ihr ganzes Leben nur das taten, was ihnen gerade in den Sinn kam und dann höchst unangenehm überrascht oder empört waren, wenn ihnen die Rechnung präsentiert wurde. Der junge Mann, dessen Verhör sie soeben abgeschlossen hatten, ein gewisser William Roudybush, hatte eine lange Liste kleinerer Vergehen vorzuweisen - Trunkenheit am Steuer, nächtliche Ruhestörung, Ladendiebstahl, Taschendiebstahl - und hatte sich nun, ganz ohne es zu wollen, ein weit schwereres Verbrechen aufgeladen. Er hatte sich nämlich in einer Bar in der 1. Straße in eine Schlägerei eingelassen und dabei seinen Gegner mit solcher Wucht gegen die Bartheke geschleudert, dass dieser einen tödlichen Schädelbruch erlitten hatte.
Man würde ihn wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht stellen und ihn für etwa zehn Jahre ins Gefängnis stecken. Der Fall lag verhältnismäßig einfach, doch Arbeit gab es immer.
»Mensch, ich war eben blau«, hatte er gesagt. »Ich wollt’ doch niemanden umbringen. Ich war betrunken, weiter nichts. Ich hab’ den Kerl ja nicht mal gekannt. Dafür werden Sie mir doch nichts anhängen, oder?«
Ja, manchmal war Mendoza es wirklich müde, sich mit diesen hirnlosen Narren abgeben zu müssen. Doch es gehörte nun einmal zum Beruf, und die Arbeit musste getan werden.
Dieser November - und glücklicherweise war es endlich einmal ein November, wie er sein sollte, mit kühlen Tagen, wölken verhangenem Himmel, ja sogar einigen Regenwolken -, dieser November also hatte dem Morddezernat von Los Angeles bereits den fälligen Anteil an Halbstarken und jugendlichen Tunichtguten beschert. Ein junger Mann hatte im Heroinrausch den Inhaber eines Spirituosengeschäfts niedergeschossen, um sich das Geld für die nächste Spritze zu beschaffen. Bandenkämpfe in der Hafengegend hatten zwei Halbwüchsigen das Leben gekostet. Eine alte Frau war bei einem Raubüberfall brutal totgeschlagen worden. In dieser Sache waren ihre Ermittlungen bisher völlig ergebnislos geblieben, und es sah so aus, als hätten sie sich festgefahren. Die Akte würde wahrscheinlich im Archiv landen. In der 4. Straße hatte eine Frau sich mit Gas vergiftet, hatte aber wenigstens einen Abschiedsbrief hinterlassen. Dann war da noch der Mann, der seine Frau erwürgt hatte, weil sie ihn betrogen hatte. Palliser erledigte in diesem Fall gerade die letzten Formalitäten, während Piggott und Glasser den Täter suchten, der den Apotheker in der San Pedro Street niedergeschlagen und getötet hatte, als er in die Apotheke eingebrochen war, um an die Rauschgifte zu gelangen.
Sergeant Lake steckte den Kopf zur Tür herein.
»Kaffee gefällig?«, fragte er. »Übrigens kam ein Anruf, als Sie beim Verhör waren. Art kümmert sich um die Sache.«
»Na und?«, murmelte Mendoza lustlos.
Doch Higgins erkundigte sich mit leisem Interesse nach näheren Einzelheiten.
Lake zuckte die Achseln.
»Eine Tote. Drüben in der Pomeroy Avenue. Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen.«
Das Telefon auf seinem Schreibtisch im Vorzimmer läutete, und er verschwand.
Mendoza gähnte.
Lake riss die Tür wieder auf. »Es ist Art«, verkündete er. »Für Sie, Lieutenant.«
Mendoza stand auf und ging zum Telefon.
»Was gibt’s?«
»Vergewaltigung und Mord«, berichtete Hackett. »Ich brauche die ganze Mannschaft, Luis. Die Sache ist reichlich verwirrend. Der kleine Junge lief zu den Nachbarn und erzählte dort, ein böser Mann hätte seiner Mami wehgetan. Der böse Mann hätte sie geschlagen. Der Kleine bekam es offenbar mit der Angst zu tun und rannte davon. Aber Sie wissen ja, wie Kinder sind. Überhaupt kein Zeitgefühl. Die Nachbarin, eine Mrs. Färber, ging zum Haus hinüber, um nachzusehen. Dann rief sie uns sofort an. Das ist im Moment alles. Die Tote ist eine Mrs. May Gerner. Der Mann arbeitet irgendwo als Barkeeper. Sie hat drei Kinder. Der Älteste ist sieben. Der Arzt meinte, sie wäre wahrscheinlich vergewaltigt und dann erwürgt worden. So sieht es jedenfalls aus. Bainbridge wird uns Näheres sagen können. Vorläufig nehmen wir an, dass sie seit etwa einer Stunde tot ist.«
Mendoza legte auf. Er starrte zum Fenster hinaus. Es war siebzehn Uhr vierzig. Draußen wurde es langsam dunkel. Die Pomeroy Avenue war eine alte, heruntergekommene Straße im Herzen von Los Angeles, es war keine Slumgegend, aber die Häuser dort unten, auf schmalen Grundstücken erbaut, waren eben verwohnt - und längst nicht mehr neu. Ein tätlicher Angriff, eine Vergewaltigung, ein Mord zu jener Zeit, in jener Gegend? Es schien unwahrscheinlich, doch es war geschehen.
Mendoza befahl Lake, die Leute vom Spurensicherungsdienst zusammenzutrommeln.
»Am besten gehen wir alle zusammen«, sagte er.
Palliser trat ein und legte einen Bericht in dreifacher Ausfertigung auf den Schreibtisch.
»Damit wäre dieser Fall erledigt. Sagen Sie bloß nicht« - als Mendoza seinen Hut nahm »dass schon wieder was passiert ist. So kurz vor Dienstschluss!«
»Was denn sonst?«, meinte Higgins gähnend. »Diesen Kerlen ist es doch schnuppe, welche Zeit es ist.«
Palliser sah verlegen aus. »Brauchen Sie mich auch?«, erkundigte er sich zögernd.
Mendoza lächelte ihn an.
»Ich will diesmal ein Einsehen haben. Gehen Sie nach Hause, novio.«
Palliser war erst seit zwei Monaten verheiratet. Seine junge Frau wartete in dem kleinen Haus in der Tamarind Avenue auf ihn.
»Sie haben gestern ja Überstunden gemacht. - Verflixt, bis wir da hinkommen! Ich glaube, ich rufe Alison lieber an.« Sergeant Lake wählte schon und reichte ihm den Hörer, während Higgins seine Krawatte zurechtrückte und Grace nach seinem Hut griff. »Hallo? Hermosa!«, sagte Mendoza. »Ich bin’s. Ich werde heute Abend...«
»...später kommen«, beendete Alison den Satz. »In Ordnung. Die halten dich aber wirklich auf Trab. Na schön, ich werde mich einrichten.«
»Alles in Ordnung zu Hause? Wie macht sich das Mädchen? Anständig?«
»Oh, ja«, gab Alison zurück. »Sehr anständig, aber mit Maíri natürlich nicht zu vergleichen.«
»Natürlich.«
Ihre Perle, Maire MacTaggart hatte sie glücklicherweise nur für kurze Zeit verlassen. Ihre Schwester hatte sich nämlich das Bein gebrochen, und Maíri war pflichtschuldigst abgefahren, um sie zu pflegen. Ich werde nicht lange wegbleiben, hatte sie versichert. Janet hat eine Rossnatur. Der Bruch wird schnell heilen. Von solchen Sachen lassen wir uns nicht unterkriegen. Aber Sie werden sicher verstehen, dass ich sie nicht allein lassen will. Janet hat mir übrigens von einer Agentur erzählt, die ausländische Mädchen in Familien vermittelt, zum größten Teil Engländerinnen. Und wenn’s mir auch gegen den Strich geht, das sagen zu müssen, die meisten Engländerinnen sind eben, doch gut ausgebildet und arbeitsam - und Janet wird ja bestimmt bald wieder auf dem Damm sein.
»Ich glaube nicht, dass ich spät kommen werde«, sagte Mendoza...
»Das Versehen kenne ich. Heute ist sowieso Restetag. Da versäumst du nichts. Geh nur los und nimm die neue Leiche unter die Lupe.«
Sie fuhren hinaus in die Pomeroy Avenue und sahen sich die Tote an. Dann sagte Mendoza den Sanitätern, sie könnten die Frau wegbringen. Er würde sich den genauen Befund später von dem leicht reizbaren Doktor Bainbridge geben lassen.
Es ist niemals erfreulich, dem Tod ins Angesicht zu blicken. Hier handelte es sich um eine junge Frau, eine recht hübsche junge Frau, mit dunklem lockigem Haar, einer kleinen Stupsnase und einer erfreulich proportionierten Figur. Sie war tot. Blut befleckte den Teppich im Wohnzimmer. Es war ein ordentliches und sauberes Zimmer in einem alten, reinlich gehaltenen Haus.
Die Nachbarin, Mrs. Färber, die zwei Häuser weiter wohnte, empfing die Beamten mit einem Wortschwall.
»Es ist einfach unglaublich, wo hier doch die Häuser so nah beieinander stehen. Und ich habe keinen Ton gehört, nichts gesehen. Natürlich haben die Kinder auf der Straße gespielt, und es war recht laut draußen, aber trotzdem... Und die Weavers nebenan arbeiten ja beide. Aber auf der anderen Seite wohnt Mrs. Pitts. Die ist den ganzen Tag zu Hause. Man sollte doch meinen, dass die wenigstens etwas gehört hätte. - Ja, sie war ein netter Kerl, eine gute Frau und eine gute Mutter. Sie hat ihre Kinder nicht verwöhnt. Die drei sind immer höflich und nett. Überhaupt eine nette Familie. Das sieht man gleich. Natürlich kennen wir Mr. Gerner nicht so gut, er ist ja den ganzen Tag nicht zu Hause, aber Mrs. Gerner war wirklich eine nette Frau. Ich kann es einfach nicht glauben, dass sie tot ist. Eine grässliche Art zu sterben. Umgebracht. Dabei waren hier doch überall Menschen - und am helllichten Nachmittag!«
Sie war eine magere Frau mittleren Alters in einem verwaschenen blauen Baumwollkleid. Sie fröstelte in der Kühle des Abends und zog ihre Jacke enger um die Schultern.
»Ich hab’ mir gar nichts dabei gedacht, als der kleine Bobby Gerner herüberkam. Er ist im gleichen Alter wie unser Kenny. Ich habe nämlich die beiden Kinder meiner Tochter bei mir, wissen Sie, weil meine Tochter arbeitet. Ihr Mann ist beim Militär. Kenny ist fünf. Er spielt häufig mit Bobby. Aber als ich dann rauskam, um den Kinderwagen hereinzuholen, fing Bobby plötzlich an, von dem bösen Mann zu erzählen, der seiner Mutter wehgetan hätte. Erst dachte ich - na, Sie wissen schon - Kinder denken sich ja alle möglichen Geschichten aus. - Wie bitte? - Nein, keine Ahnung. Es muss so gegen halb fünf gewesen sein, als Bobby herüberkam. Vielleicht auch später. Ich kann es wirklich nicht sagen. Erst als er diese Geschichte erzählte - ich wollte auf jeden Fall mal nachsehen und lief schnell hinüber zu den Gerners. Da stand die Tür offen, und das arme Kind lag da - es war schrecklich.«
Sergeant George Higgins sah May Gerner, ehe sie weggetragen wurde. Und ganz überraschenderweise verspürte er etwas Stärkeres als das sonstige unpersönliche Mitleid. May Gerner, die da leblos und schlaff auf dem Boden lag, während die Beamten vom Spurensicherungsdienst ihren Kreidekreis zogen, die später dem kalten Messer des Pathologen unterzogen werden würde, erinnerte ihn an Mary Dwyer. Mary Dwyer war die Witwe seines Kollegen und Freundes Bert Dwyer, die Witwe eines Polizeibeamten. Sie hatte sicherlich nicht die Absicht, wieder einen Polizeibeamten zu heiraten, gleich wie aufrichtig er sie - und auf eine änderte Art die Kinder - liebte. Diese May Gerner besaß die gleiche mattweiße Haut wir Mary, die gleichen großen grauen Augen. Higgins hatte schon viele Tote gesehen, doch beim Anblick dieser jungen Frau, die da inmitten der kleinen alltäglichen Dinge, die sie eingekauft hatte, auf dem abgetretenen beigen Teppich lag, stieg tiefes Mitleid in ihm auf.
Er räusperte sich.
»Sie muss gerade erst vom Einkaufen zurückgekommen sein«, bemerkte er. »Sonst hätte sie die Sachen sicher schon weggepackt.«
»Ja«, brummte Mendoza. »Irgendjemand hier in der Straße muss sie Weggehen und heimkommen gesehen haben. Dann können wir wenigstens den genauen Zeitpunkt feststellen.«
»Mrs. Färber kann uns da jedenfalls nicht helfen«, schaltete sich Hackett ein. »Sie war in der Küche, ehe sie hinausging, um den Kinderwagen hereinzuholen. Sie hat Mrs. Gerner nicht vorbeikommen sehen. Sie meint allerdings, dass Mrs. Gerner im Allgemeinen in dem Lebensmittelgeschäft in der Marengo Avenue eingekauft hätte. Da gehen die meisten Hausfrauen aus dieser Gegend hin. Wir müssen eben sehen, was wir aus den anderen Nachbarn herausbekommen, und beim Lebensmittelladen auch nachfragen.«
»Ja«, stimmte Mendoza zu.
Dr. Bainbridge würde ihnen sagen, was sich abgespielt hatte. May Gerner trug ein blaues Baumwollkleid. Es war von oben bis unten zerrissen, als wäre es mit einem brutalen Ruck aufgeschlitzt worden. Sie lag halb auf der Seite, den Kopf zurückgeworfen, und um sie herum war Blut, lagen die verstreuten Lebensmittel - ein Päckchen Gefriergemüse, Fleisch, Zucker, ein Päckchen Zigaretten, ein Karton Milch, Margarine, eine Flasche Orangensaft, ein Glas Mayonnaise.
»Ist ihr Mann schon benachrichtigt worden?«
»Mrs. Färber weiß nicht, wo er arbeitet. Sie konnte uns nur sagen, dass er gewöhnlich gegen achtzehn Uhr nach Hause kommt.«
Higgins war inzwischen verschwunden. Er machte die Runde bei den Nachbarn.
»Das hilft«, meinte Mendoza. »Er müsste jeden Augenblick kommen. Ein schöner Empfang.«
»Irgendjemand muss doch etwas beobachtet haben«, bemerkte Hackett. »In dieser Gegend, wo die Leute so aufeinander leben. Und dazu die Kinder, die auf der Straße spielen.«
»Darauf würde ich mich lieber nicht verlassen, Arturo«, versetzte Mendoza. »Wir wissen doch aus Erfahrung, dass diese frechen Überfälle am helllichten Tag häufig am schwierigsten aufzuklären sind.«
»Ja, natürlich«, bestätigte Hackett resigniert und strich sich über sein rotblondes Haar.
Und sicher war es wieder einer jener primitiven Burschen gewesen, die ohne nachzudenken ihrem Trieb folgten und das taten, was ihnen gerade in den Sinn kam. Ob sie ihn jemals fassen würden, wussten die Götter.
Carole Leslie betrat die große, elegante Wohnung am Sunset Plaza um achtzehn Uhr fünfzig. Sie hatte einen Hausschlüssel. Aus dem Wohnzimmer klangen Stimmen. Es ließ sich gar nicht vermeiden, dass sie hörte, was da drinnen gesprochen wurde. Die Wohnungstür ließ sich fast lautlos öffnen, und ihre Füße glitten geräuschlos über den dicken Teppich im Flur.
»Aber, Harry, wenn jemals etwas davon ans Licht käme...«
»Es wird nichts ans Licht kommen. Kein Mensch wird auch nur die leiseste Ahnung haben. Das ist es ja, worauf ich hinaus will. Es ist doch schließlich dein Geld, oder nicht? Wir haben ihn los, und damit ist das Rennen gelaufen. Siehst du das nicht ein? Wer sollte schon dahinterkommen? Du gibst doch zu, dass er uns beiden auf die Nerven fällt. Und wer soll ihn schon vermissen? Wen kennt er denn? Mit wem ist er schon befreundet? An dem liegt keinem Menschen was. Und dann...«
»Aber, Harry...«
»Ich sehe überhaupt keine Schwierigkeit«, behauptete er prahlerisch und optimistisch.
»Und wenn nun doch jemand Verdacht schöpft?« Ihre Stimme klang beinahe weinerlich.
»Keine Sorge. Uns kann gar nichts passieren. Tu du nur, was ich dir sage.«
Es klang wirklich ausgesprochen sonderbar, dachte Carole. Wovon die beiden wohl sprachen? Von Mr. Newhouse? Dabei war Mr. Newhouse doch wirklich ein netter Mensch, wenn auch vielleicht eine Spur zu durchschnittlich und langweilig. Wenn hier irgendetwas im Gange war, dann wollte sie keinesfalls etwas damit zu tun haben. Vielleicht war es am klügsten, gleich zu kündigen. Dann würde ihr allerdings ein halbes Monatsgehalt verlorengehen.
Der Ehemann, Bill Gerner, erschien etwa fünfzehn Minuten nach achtzehn Uhr. Er kam zur gleichen Zeit wie der älteste Junge, Ray, der mit einem Freund auf dem Spielplatz gewesen war. Die Reaktion des Mannes war normal - Überraschung, Schmerz, Empörung. So, wie der Fall sich bis jetzt darstellte, hatte der Mann mit der Sache nichts zu tun. Trotzdem musste man ihn natürlich unter die Lupe nehmen.
Die Kinder wurden bei einer Nachbarin untergebracht. Und jetzt hörten sie zum ersten Mal, dass das Baby, gesund und munter, in seinem Sportwagen neben der toten Mrs. Gerner aufgefunden und von Mrs. Färber mitgenommen worden war.
Um achtzehn Uhr vierzig kamen Bob Schenke und Nick Galeano an, die diese Woche Nachtdienst hatten. Mendoza und Grace fuhren nach Hause. Higgins beschloss, noch eine Weile zu bleiben. Er war ja Junggeselle, niemand wartete auf ihn.
Mendoza fuhr auf dem kürzesten Weg in die Rayo Grande Avenue in Hollywood. Sheba, die Katze, sprang ihm auf die Schulter, noch ehe er dazugekommen war, seinen Hut abzunehmen.
»Du Ungeheuer«, sagte er automatisch und küsste Alison. »Ich hab’ dir ja gesagt, dass es nicht spät werden würde.«
»Ich habe mit dem Essen auf dich gewartet. Aber wenn es noch zehn Minuten länger gedauert hätte, dann hätte ich mich allein hingesetzt. Bei euch ist wirklich immer irgendetwas los, amante. Das Essen ist gleich fertig. Möchtest du einen Cocktail?« Alison war schon auf dem Weg zur Küche.
»Nein danke. Was machen die Kinder?« Er schlenderte hinter ihr her.
»Die sitzen Gott sei Dank endlich in der Badewanne. Ja, Dorothy macht sich gut. Wenn sie nur nicht so ausgesprochen englisch wäre«, erzählte Alison. »Ja, gnädige Frau, nein, gnädige Frau. Du weißt schon, was ich meine. Sie kommt mit den Zwillingen gut zurecht, und auf diese Weise gewöhnen sich die beiden wenigstens endlich mal daran, englisch zu sprechen und nicht dieses spanisch-amerikanische Kauderwelsch. Außerdem hat sie Katzen gern.«
Alison trug das Tablett ins Esszimmer.
Er hatte Hunger. Er hatte sich nicht einmal Zeit zum Mittagessen genommen. Nach dem Essen schenkte er sich eine zweite Tasse Kaffee ein und zog seine Zigaretten heraus.
»Ich habe es so satt, mich mit diesen Halbstarken abplagen zu müssen«, meinte er und knipste sein Feuerzeug an. »Jeden Tag das gleiche.«
»Was macht der neue Fall?«
»Ach, wir hatten heute mehrere neue Fälle. Aber reden wir nicht über die Arbeit. Zu eintönig«, meinte Mendoza und gähnte verstohlen. »Das Verbrechen stirbt eben nicht aus. Heute Morgen habe ich übrigens Percy Andrews getroffen. Ich musste wegen dieser Schießerei in dem Spirituosengeschäft hinüber zu Goldberg. Er meint, es könnte sich um einen seiner alten Kunden handeln. Aber das wird sich noch zeigen. Rein technisch gesehen gehört diese andere Sache ja in Percys Ressort, zur Sitte, aber ich würde mich nicht wundern, wenn die Angelegenheit doch noch auf meinem Schreibtisch landet. Diese K.-oh,-Cocktails sind zu gefährlich.«
»K.-o.-Cocktails?«
»Ja, sie werden mit Vorliebe von gewissen Straßenmädchen verabreicht«, erklärte Mendoza und ließ sich tiefer in seinen Sessel sinken. »Diese liebenswerten Geschöpfe gibt es in jeder Stadt. Leider. Sie arbeiten mit Barkeepern zusammen und berauben ihre ahnungslosen Opfer. Doch Percy erzählte mir, dass diese Fälle in letzter Zeit überhandnehmen. Nach Schätzungen der Sittenpolizei werden jede Nacht zwanzig bis dreißig derartige Überfälle begangen, unten im Viertel bei der Main Street und der San Pedro Street. Die meisten Geschädigten melden sich gar nicht. Sie genieren sich, weil sie sich haben hereinlegen lassen. Und das ist auch verständlich. Aber hin und wieder erstatten doch welche Anzeige. Sehr oft handelt es sich um junge Soldaten aus kleinen Städten und Dörfern, die keine Ahnung haben, worauf sie sich da einlassen. Verschiedentlich haben auch die Streifenbeamten die armen Opfer in irgendeiner Hintergasse aufgelesen. Percy hat den Verdacht, dass da eine richtiggehende Organisation am Werk ist. Und früher oder später wird einer dieser Ahnungslosen eine Überdosis erwischen, und darin landet die Sache natürlich bei uns im Morddezernat.«
»Hm, das kann natürlich geschehen«, meinte Alison. »Ich wünsche es dir nicht.«
Sie stapelte das Geschirr auf das Tablett und trug es hinaus in die Küche. Mendoza ließ sich mit seinem geliebten Kipling im Wohnzimmer nieder. Er hatte, wie so viele Kipling-Verehrer, entdeckt, dass die Bücher dieses Schriftstellers immer wieder lesenswert sind und immer wieder neue Aspekte zu bieten haben.
Das neue Kindermädchen schien sein Geld wert zu sein. Von den Zwillingen war kein Laut zu hören. Bast, die abgeklärte Matrone, hatte sich auf dem Büfett zusammengerollt. Nofretete und Sheba lagen eng aneinandergedrückt auf dem Sofa und schliefen selig. El Señor umstrich Mendozas Beine und sprang ihm auf den Schoß.
Alison schüttelte den Kopf, als sie ihren Mann wieder einmal in einen Kipling-Roman vertieft sah und setzte sich dann an den Schreibtisch, um einige Briefe zu beantworten.
Higgins blieb in der Pomeroy Avenue, um Schenke und Galeano zur Hand zu gehen. Sie verhörten die Nachbarn und den Ehemann. Um neunzehn Uhr dreißig hatten sie schon eine ganze Menge Material gesammelt.
Gerner war in der Black and White Bar am Olympic Boulevard beschäftigt. Er war Teilhaber des kleinen Lokals. Unter normalen Umständen wäre er nach dem Abendessen in die Bar zurückgekehrt, um seinem Partner zu helfen. Higgins erbot sich, zu dem kleinen Lokal zu fahren und Hadley Willetts, dem Geschäftspartner Gerners, Bescheid zu geben.
Hadley Willetts war verstört. Er hatte May Gerner gut gekannt. Die beiden Ehepaare waren seit Jahren eng befreundet. Er war so entsetzt, dass er sein kleines Lokal schloss und Higgins verkündete, er würde mit ihm zu Gerner zurückfahren, um sich zu erkundigen, ob er irgendwie behilflich sein könnte. Tragisch und unfassbar, dieser Fall. Natürlich, er wusste, dass die Polizei sich bemühte, dieses Pack, das heutzutage die Stadt unsicher machte, unschädlich zu machen, aber die Polizei hatte eben einfach nicht genug Leute. Wirklich schrecklich! Und May Gerner war eine so reizende junge Frau gewesen.
Er erregte sich noch mehr, als Higgins begann, ihm Fragen über Gerner zu stellen. Higgins überhörte geflissentlich die empörten Bemerkungen und gelangte schließlich zu der Überzeugung, dass Gerner mit der Sache nichts zu tun haben konnte. Dafür sprachen auch die Aussagen der Nachbarn. Gerner hatte seit ein Uhr mittags in der Bar gearbeitet, hatte sich nicht von seinem Posten entfernt und war erst um siebzehn Uhr gegangen, um zum Abendessen nach Hause zu fahren, wie üblich.
Die Geschichte, wie sie sie von den verschiedenen Leuten in der Pomeroy Avenue gehört hatten, lag recht klar. Mehrere Nachbarn hatten May Gerner gesehen, als sie zum Einkaufen gegangen war. Eine Frau in der Lord Street hatte sich mit ihr unterhalten. Mrs. Jean White hatte May Gerner recht gut gekannt, und als sie sich an diesem Nachmittag begegnet waren, hatten sie sich eine Weile unterhalten. May Gerner hatte den kleinen Bobby bei sich gehabt und das Baby im Sportwagen. Mrs. White hatte sie allerdings nicht zurückkommen sehen. Doch es musste etwa drei Uhr gewesen sein, als ihr May Gerner auf dem Weg zum Einkaufen in die Arme gelaufen war, und sie hatte gesagt, sie hätte nur ein paar Kleinigkeiten zu besorgen. Lange konnte es also nicht gedauert haben. Man konnte annehmen, dass sie ungefähr um halb vier Uhr den Heimweg angetreten hatte.
Das Personal im Lebensmittelgeschäft konnte sich nicht genau erinnern. Es handelte sich um einen ziemlich großen Selbstbedienungsladen. Eine der Kassiererinnen entsann sich, dass May Gerner am Nachmittag im Laden gewesen war, konnte jedoch über die Zeit keine Auskunft geben.
Alle Leute, die sie befragten, zeigten unverhohlen ihr Entsetzen und ihre Empörung. Niemals, behaupteten sie, wäre etwas Derartiges in dieser ruhigen Gegend vorgekommen. Und alle zeigten sich überrascht, dass niemand May Gerner hatte schreien hören.
»Es kann natürlich sein«, meinte Jean White nachdenklich, als Higgins sich mit ihr unterhielt, »dass ihr Schreien einfach vom Rattern der Maschinen auf der Baustelle drüben verschluckt wurde. Die Leute arbeiten seit drei oder vier Tagen da drüben, an der Kreuzung Lord Street und Pomeroy Avenue. Ich weiß nicht, was sie da machen, wahrscheinlich legen sie eine neue Gasleitung, aber sie benutzen jedenfalls diese Pressluftbohrer, und Sie wissen ja, was die Dinger für einen Lärm machen. - Nein, ich kann mich nicht mit Bestimmtheit erinnern, dass die Bohrer um diese Zeit arbeiteten, aber ich hab’ mich schon so daran gewöhnt, dass es mir kaum mehr auffällt.«
Das war natürlich durchaus möglich.
»Meiner Ansicht nach«, meinte Galeano, als sie sich gegen zwanzig Uhr auf der Veranda des Hauses versammelten, »hat es sich folgendermaßen abgespielt: Der Mann hat sie erwartet, vielleicht war sie ihm früher schon aufgefallen, vielleicht folgte er ihr vom Lebensmittelgeschäft. Auf jeden Fall folgte er ihr ins Haus und überfiel sie dort. Gerner sagte uns, dass sie niemals die Haustür unversperrt gelassen hätte, und wir wissen, dass die Hintertür abgesperrt und verriegelt war. Das ist Grund genug, anzunehmen, dass der Täter ihr folgte. Sie sperrte bei ihrer Rückkehr die Haustür auf und schob dann den Sportwagen hinein. Da sie beide Hände wahrscheinlich voll hatte, nahm sie sich nicht die Mühe, die Tür zu schließen. Sie ging ins Wohnzimmer, wo sie ihre Handtasche niederlegte, um dann ihre Einkäufe in die Küche zu tragen. Und in diesem Moment fiel er über sie her - wahrscheinlich von hinten. Er ist einfach hinter ihr her in die Wohnung geschlichen. Aber warum niemand etwas beobachtet hat...«
»Vielleicht ganz natürlich«, warf Higgins ein. »Sie wissen ja, was wir von den Nachbarn gehört haben. Die eine Frau arbeitete in ihrem Garten, die andere kochte das Abendessen und eine ganze Reihe von Frauen war selbst unterwegs, um Einkäufe zu machen. Die Kinder, die auf der Straße spielten, achteten natürlich gar nicht auf die Erwachsenen. Und was wir von dem kleinen Bobby erfahren haben...« Er seufzte.
»Ja.« Galeano seufzte ebenfalls.
Galeano war von seinen Kollegen dazu erkoren worden, den kleinen Jungen zu vernehmen. Man war sich einig, dass er am besten verstand, mit Kindern umzugehen.
Bobby, verwirrt und ängstlich von all dem ungewohnten Aufruhr, hatte eine halbwegs plausible Geschichte erzählt. Doch etwas Neues hatten sie nicht daraus erfahren. Auf die Fragen Galeanos hatte er stammelnd und zögernd erklärt, dass er seiner Mutter voraus ins Haus gelaufen war, als diese die Tür aufgeschlossen hatte. Er war ins Kinderzimmer gerannt, um seinen Cowboyrevolver zu holen. Den ließ Mami ihn nämlich nie mit in den Laden nehmen. Und dann hatte er Mami plötzlich schreien hören. Er war schnell zurückgelaufen und hatte gesehen, wie der böse Mann seine Mami geschlagen hatte. Er hatte solche Angst bekommen, dass er zur Tür hinausgerannt war zu Kennys Haus. Und als Kennys Großmutter herausgekommen war, hatte er ihr von dem bösen Mann erzählt.
Wie brachte man einen fünfjährigen Jungen dazu, den bösen Mann zu beschreiben?
Vielleicht würde der Spurensicherungsdienst Hinweise entdecken. Fingerabdrücke oder etwas Ähnliches. Nun, das würde sich zeigen.
An diesem Abend jedoch blieb nichts mehr zu tun.
Schenke und Galeano fuhren ins Präsidium zurück. Higgins machte sich auf den Weg zu seiner Junggesellenwohnung in der Bronson Avenue.
Als Mendoza am Freitagmorgen ins Amt kam, fand er Sergeant Rory Farrell vor. Farrell machte für Lake Dienst, der seinen freien Tag hatte.
Galeano war noch nicht nach Hause gefahren. Er hatte offensichtlich auf Mendoza gewartet. Als Mendoza, gefolgt von Higgins, Hackett und Landers, eintrat, sagte Galeano: »Wir haben einen neuen Fall. Ich hab’ nie zuvor so etwas erlebt. Furchtbar! Diese hilflosen alten Frauen!« Er schüttelte den Kopf. »Ein schriftlicher Bericht wäre viel zu schwach gewesen. Deshalb bin ich geblieben.«
»Was! Wieder ein neuer Fall?«, rief Hackett. »Was denn?«