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Die Wahrheit kann tödlich sein ...
Die ehemalige Polizistin Mickey Gibson macht in ihrem Job reiche Steuer- und Kreditbetrüger ausfindig. Als eine neue Kollegin sie bittet, persönlich ein Inventar von einem großen Anwesen zu erstellen, denkt Mickey sich nichts dabei. Doch kaum dort angekommen, findet sie in einem geheimen Zimmer die Leiche des Besitzers. Wie sich herausstellt, ist Mickey einer Betrügerin auf den Leim gegangen. Denn die Polizei verdächtigt sie, den Mann vergiftet zu haben. Aber wer hat sie so aufs Glatteis geführt? Bald ist Mickey gefangen in einem mörderischen Duell mit einer brillanten Frau ohne Namen. Aber ist die Unbekannte in diesem Spiel auf Leben und Tod wirklich Mickeys größter Feind?
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Seitenzahl: 580
Die ehemalige Polizistin Mickey Gibson macht in ihrem Job reiche Steuer- und Kreditbetrüger ausfindig. Als eine neue Kollegin sie bittet, persönlich ein Inventar von einem großen Anwesen zu erstellen, denkt Mickey sich nichts dabei. Doch kaum dort angekommen, findet sie in einem geheimen Zimmer die Leiche des Besitzers. Wie sich herausstellt, ist Mickey einer Betrügerin auf den Leim gegangen. Denn die Polizei verdächtigt sie, den Mann vergiftet zu haben. Aber wer hat sie so aufs Glatteis geführt? Bald ist Mickey gefangen in einem mörderischen Duell mit einer brillanten Frau ohne Namen. Aber ist die Unbekannte in diesem Spiel auf Leben und Tod wirklich Mickeys größter Feind?
David Baldacci wurde 1960 in Virginia geboren, wo er heute lebt. Er wuchs in Richmond auf. Sein Vater war Mechaniker und später Vorarbeiter bei einer Spedition, seine Mutter Sekretärin bei einer Telefongesellschaft.
Baldacci studierte Politikwissenschaft an der Virginia Commonwealth University (B.A.) und Jura an der University of Virginia. Während des Studiums jobbte er u.a. als Staubsaugerverkäufer, Security-Guard, Konstrukteur und Dampfkesselreiniger. Er praktizierte neun Jahre lang als Anwalt in Washington, D.C., sowohl als Strafverteidiger als auch als Wirtschaftsjurist.
Von David Baldacci wurden bislang 29 Romane in deutscher Sprache veröffentlicht. Seine Werke erschienen auch in Zeitungen und Zeitschriften wie USA Today Magazine und Washington Post (USA), Tatler Magazine und New Statesman (Großbritannien), Panorama (Italien) und Welt am Sonntag (Deutschland). Außerdem hat er verschiedene Drehbücher fürs Fernsehen geschrieben.
David Baldaccis Bücher wurden in 40 Sprachen übersetzt und in mehr als 80 Länder verkauft. Alle Romane von David Baldacci waren nationale und internationale Bestseller. Die Gesamtauflage seiner Romane liegt bei über 110 Millionen Exemplaren.
Neben seiner Arbeit als Schriftsteller engagiert sich Baldacci für eine Reihe karitativer und gesellschaftlicher Institutionen, darunter der National Multiple Sclerosis Society, der Barbara Bush Foundation for Family Literacy, der Virginia Foundation for the Humanities, der America Cancer Society, der Cystic Fibrosis Foundation und der Viriginia Commonwealth University.
David Baldacci ist verheiratet und hat zwei Kinder: Tochter Spencer und Sohn Collin. Er lebt mit seiner Familie in Virginia, nahe Washington, D.C.
DAVIDBALDACCI
GEFÄHRLICHES
KOMPLOTT
THRILLER
Übersetzung aus dem Amerikanischenvon Rainer Schumacher
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Simply Lies«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2023 by Columbus Rose, Ltd.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2024 by Bastei Lübbe AG, Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- undData-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Frauke Meier, Hannover
Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille
Umschlagmotiv: © Ilina93/shutterstock; ZRyzner/shutterstock; Cafe Racer/shutterstock
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-5581-8
luebbe.de
lesejury.de
Für Michelle,die mich zu dieser Story inspiriert hat –und zu vielen anderen mehr.
Mickey Gibson wischte die Kotze von Darbys Gesicht und gab ihrer zweijährigen Tochter einen Quietscheball in der Hoffnung, sie damit wenigstens kurz abzulenken. Stoisch saß das Mädchen in seinem Laufstall und beäugte das Spielzeug, als wisse es nicht so recht, ob das Ding nun Freund war oder Feind. Gibson hatte aus einem der vielen Kindererziehungsbücher, die sie gelesen hatte, gelernt, dass Zweijährige sich eigentlich bis zu dreißig Minuten lang selbst beschäftigen können.
Wer auch immer das geschrieben hat, stand offensichtlich unter Drogen. Wenn nicht, dann haben meine Kids keine Zukunft als Erwachsene.
Gibson wünschte sich doch nur fünf Minuten Ruhe, um ihr Telefonat beenden zu können.
Sie nahm ihren drei Jahre alten Sohn Tommy auf den Arm, der seine Mutter bisher als Klettergerüst missbraucht hatte, und setzte ihn sich auf die rechte Hüfte. Es war erst elf Uhr morgens, und Gibson war bereits völlig erschöpft.
»Okay, Zeb«, sagte sie in ihr Headset. »Ich bin wieder da. Wie ich schon gesagt habe, ist die Dokumentenlage ziemlich klar. Da liegen mindestens 200 Millionen auf sechs verschiedenen Bankkonten, drei im Tschad, eins auf den Bermudas und zwei in Zürich. Larkin muss wissen, dass wir ihm auf den Fersen sind. Also versucht er vermutlich, das Geld wegzuschaffen, und zwar ASAP. Wenn er das schafft, dann werde ich es vielleicht nicht mehr finden können.«
Gibson hörte ein paar Augenblicke lang zu, während sie geschickt Tommys Versuchen auswich, ihre Haare zu packen und ihr das Headset vom Kopf zu reißen. Darby warf den Ball aus dem Laufstall und traf ihre Mutter am Rücken. Dann heulte sie laut auf und versuchte, aus dem Laufstall in die Freiheit zu klettern.
Gibson handelte sofort. Noch immer mit Tommy auf dem Arm schnappte sie sich den Ball vom Boden, warf ihn in die Luft und fing ihn geschickt hinter dem Rücken. Das war eine der Fähigkeiten, die sie sich aus ihrer Basketballzeit bewahrt hatte.
Darby hörte auf zu klettern, grinste und klatschte. »Mommy! Mommy! Toll!«
Auch Tommy war fasziniert und ließ das Haar seiner Mutter los. »Noch mal!«, befahl er.
Gibson wiederholte das Spiel und sagte ins Mikro: »Ja, Zeb, ich verstehe. Aber Tatsache ist, dass ich mit ein paar Klicks schlicht Glück gehabt habe, und einer Reihe von schwachen, aber interessanten Spuren hinterherzujagen, hat sich tatsächlich mal gelohnt. Aber es ist keineswegs sicher, dass das noch einmal gelingen wird. Die Anwälte müssen eine einstweilige Verfügung erwirken und den Deckel draufmachen, bevor er das Geld nach Gott weiß wohin überweisen kann. Ich habe das überprüft. Wir können die Konten einfrieren lassen, weil in all diesen Ländern die internationalen Bankgesetze gelten. Also kann Larkin da auch niemanden schmieren. Schließlich wollen diese Leute weiter Teil der internationalen Finanzgemeinschaft sein.«
Gibson hielt kurz inne und warf wieder den Ball, damit Tommy den Finger aus ihrem rechten Auge nahm. »Larkin bereut vermutlich bereits, dass er die Kohle nicht tiefer vergraben hat, irgendwo offshore auf den Cookinseln«, fuhr sie fort. »Oder er hätte es einfach waschen sollen.« Während sie weiter versuchte, ihren sich windenden Sohn im Griff zu behalten, fügte sie hinzu: »Ich habe außerdem noch eine Beweiskette zusammengestellt, die zu den Insolvenzanwälten der Kreditgeber führt. Denen sind wir auch auf den Fersen. In Zürich und im Tschad haben die Banken gerade geschlossen, aber auf den Bermudas haben sie noch auf. Ihr müsst also hart zuschlagen und vor allem schnell.«
Als hätte er nur darauf gewartet, dass Gibson wieder verstummte, kotzte Tommy ihr auf die Brust.
Gibson beobachtete, wie Erbrochenes ihr sauberes Hemd hinunterlief, und einzelne Brocken landeten auf ihren nackten Füßen. Als i-Tüpfelchen sickerte das Zeug schließlich in den Teppich und mischte sich unter all die anderen Flecken, die sich dort bereits gesammelt hatten.
Darby lachte und deutete auf den Fleck. »Tommy toll!«, rief sie.
Gibson musterte kurz ihren Sohn, dessen Gesicht ihr alles verriet, was sie wissen musste. Sie rannte sofort los und erreichte die Toilette gerade noch rechtzeitig, um Tommy über die Schüssel zu halten, während sie gleichzeitig den Stummschalter an ihrem Headset drückte. Trotzdem schaffte Tommy es irgendwie, die Schüssel vollständig zu verfehlen. Stattdessen kotzte er auf den Klopapierhalter und auf Gibsons Slipper, die daneben standen. Gibson hatte sie hiergelassen, als sie vorhin schon mal versucht hatte, selbst das Badezimmer zu benutzen. Doch dann hatte sie ein Krachen gehört und Tommy auf dem Küchenboden gefunden, voller Dreck aus einem zerbrochenen Pflanzgefäß. Sie hatte den Jungen ausgezogen und seine Sachen direkt in die Waschmaschine gestopft. Am liebsten hätte Gibson auch Tommy reingeworfen, aber sie hatte keine Lust auf einen Besuch vom Jugendamt. Dann hatte sie die Slipper vergessen. Und den Drang zu pinkeln.
Schließlich schaltete Gibson das Mikrofon wieder an. Zeb hatte unentwegt weitergeredet, während sie mit ihrem Sohn gerungen hatte. Er hatte von dem ganzen Drama nichts mitbekommen.
»Wie gesagt: gute Arbeit. Und jetzt lass mal ordentlich die Sau raus, Mick. Natürlich geht alles auf die Firmenkarte. Hab Spaß. Du hast es dir verdient.«
»Ja, Zeb, ich werde es richtig krachen lassen. Champagner, Kaviar und ein langes sexy Kleid.«
»Hab einfach Spaß. Wir können alle ein wenig Auszeit brauchen.«
»Das kannst du laut sagen.«
»Hey, und lass uns nächstes Mal über Zoom reden. Ich sehe meinen Leuten gerne mal ins Gesicht.«
Nicht dieser Frau, dachte Gibson. Nicht jetzt. Vielleicht nicht für die nächsten zehn Jahre.
»Klar. Klingt gut.«
Gibson legte auf, betätigte die Toilettenspülung und schaute zu ihrem Sohn.
Tommy rieb sich den Bauch und sagte: »Ist schon besser, Mommy.«
»Darauf möchte ich wetten.«
Später, als die Kinder ein Nickerchen machten, gönnte sich Gibson eine schnelle Dusche, öffnete die Tür zu ihrem Arbeitszimmer und ging hinein. In der einen Hand hatte sie einen Becher Pfefferminztee und in der anderen einen Hafercookie. Ihre vollgekotzte Kleidung hatte sie gegen eine grüne Turnhose, ein T-Shirt und frische Socken getauscht. Bis die Waschmaschine durch war, waren das die einzigen sauberen Sachen, die ihr noch geblieben waren. Das sexy Kleid würde definitiv warten müssen, denn sie hatte noch nicht einmal eins, ganz zu schweigen von Zeit, um »die Sau rauszulassen«, was auch immer das bedeuten sollte. Und mit Tee und Cookie hielt sie das Mommy-Äquivalent von Champagner und Kaviar bereits in den Händen.
Zumindest was diese Mommy betrifft.
Der Babymonitor stand auf dem Regal. Inzwischen hörte Gibson nur sanftes Atmen und dann und wann ein leises Schnarchen, von dem sie wusste, dass es von Tommy stammte. Gibson atmete tief durch und fragte sich, ob die Kinder heute wohl wirklich mal eine Stunde lang schlafen würden. Inzwischen hatte sie herausgefunden, dass es für eine Mutter nur eine vorhersehbare Komponente gab, nämlich dass kein Tag wie der andere war.
Gibson betrachtete ihr farbloses Spiegelbild in den beiden Computermonitoren.
Sie war eins siebzig groß – zumindest wenn sie sich zu voller Größe aufrichtete, was ihr jedoch nicht mehr gelungen war, seit sie ihr erstes Kind geboren hatte. Sie hatte das Gefühl, als wäre ihre Hüfte ganze zehn Zentimeter nach links gerutscht, und sie hatte keine Ahnung, ob sie sich irgendwann in ihre ursprüngliche Stellung zurückbewegen würde. Und wie ihre Wirbelsäule aussah, das wollte sie gar nicht wissen; aber wenn ihre chronischen Rückenschmerzen etwas zu besagen hatten, dann war das eine anatomische Horrorshow. Auch hatte Gibson noch immer ein paar störrische Pfund Schwangerschaftsspeck auf Hüften, Hintern und Bauch, und soweit sie wusste, würden die auch nicht mehr weggehen. Ihr dunkles Haar trug sie inzwischen kurz geschnitten, denn ihr fehlte schlicht die Zeit, sich lange Zöpfe zu flechten. Auch war ihr Gesicht geschwollen und ihre Haut fleckig – laut Gynäkologe aufgrund postnataler Hormonschübe –; dabei hatte in all den Schwangerschaftsbüchern, die sie gelesen hatte, kein Wort davon gestanden. In jedem Fall war von der schlanken, dynamischen Sportlerin nichts mehr zu sehen, die sie in der Highschool und im College gewesen war.
Als harter, angriffslustiger, ballgeiler und die Ellbogen einsetzender Point Guard mit bösartigem Midrange-Wurf, beeindruckenden Passfähigkeiten und toller Court-Awareness hatte sie den ganzen Tag laufen können. Später, zuerst als Kriminaltechnikerin, dann als Streifenpolizistin und schließlich als Detective, hatte sie sechs Jahre in Folge die Zehn-Kilometer-Meisterschaft für das Revier gewonnen und dabei sowohl Frauen als auch Männer geschlagen. Am Start waren die Jungs zwar immer schneller gewesen als sie, doch bei etwa Kilometer fünf hatte ihre Kondition nachgelassen, und Gibson hatte sich immer ein Grinsen verkneifen müssen, wenn sie an ihnen vorbeigezogen war.
Nun war ihr selbst die Treppe zu viel.
Gibson war auf die Temple University in Philly gegangen und dort von der legendären Dawn Staley trainiert worden. Auch Theater war eines ihrer Hauptfächer gewesen, und sie hatte eine Reihe von Hauptrollen in Studentenaufführungen gespielt. Viele hatten damals geglaubt, dass sie irgendwann an den Broadway gehen würde.
Nach dem College hatte sie auch kurz mit dem Gedanken gespielt, zur Bühne zu gehen; doch sie hatte rasch herausgefunden, dass man das nicht mit halber Kraft erreichen konnte, denn mit einem Mal hatte sie es mit einer ganzen Legion von ungeheuer talentierten und ehrgeizigen Leuten zu tun bekommen, die fest davon überzeugt gewesen waren, dass der Broadway ihr Schicksal war.
In ihrer Jugend war Gibson auch ein Computernerd und eine Hardcore-Gamerin gewesen. Am College hatte sie dann entsprechende Kurse belegt, um ihre Computerkenntnisse zu erweitern, denn die würden ihr später mit Sicherheit helfen können. Einmal hatte sie sogar mit dem Gedanken gespielt, Basketballprofi zu werden, aber ihr war schnell klar geworden, dass es ihr sowohl an Athletik als auch an Leidenschaft mangelte, um erfolgreich in der WNBA zu spielen.
Stattdessen hatte Gibson beschlossen, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten, und war zur Polizei gegangen. Ihr Dad war begeistert gewesen, ihre Mutter hingegen weniger. Irgendwann hatte sich Gibson bis zum Detective hochgearbeitet. Dann hatte sie den Mann gefunden, von dem sie geglaubt hatte, er sei die Liebe ihres Lebens.
Sein Name war Peter Gibson, und er war groß, gut aussehend, gesellig und lustig. Und – wie Gibson erst viel zu spät herausgefunden hatte – er war der größte Wichser auf dieser Welt. Er hatte ihr gesagt, er wolle eine große Familie, doch kaum war der Braten aus der Röhre gekrochen, da hatte er sich in einen völlig anderen Mann verwandelt. Ständig hatte er gejammert, dass er nicht mehr mit seinen Freunden ausgehen konnte, dass die Daddypflichten seine Wochenenden »ruinierten«. Als Gibson dann mit Darby schwanger gewesen war, hatte er ihr Bankkonto leer geräumt und war mit seiner Sekretärin durchgebrannt. Plötzlich war Gibson allein gewesen mit einem Kleinkind und einem Baby im Bauch sowie mit einer Hypothek und Rechnungen, die sie von ihrem Gehalt allein nicht hatte bezahlen können.
Natürlich hatte Gibson nach ihm gesucht, doch Peter war wie vom Erdboden verschluckt gewesen, sodass sie sich gefragt hatte, ob er vielleicht professionelle Hilfe gehabt hatte. Schließlich hatte sie das Haus verloren und ihren Job aufgeben müssen. Dann war sie nach Williamsburg in Virginia gezogen, wo ihre Eltern lebten, die inzwischen in Rente waren. Sie hatte jedoch Schwein gehabt und sofort einen Job bei ProEye gefunden, einer global operierenden Privatdetektei, die größtenteils online schnüffelte. Der Job war gut bezahlt und ermöglichte es Gibson, ihre Computerkenntnisse einzusetzen. Außerdem konnte sie Vollzeit von zu Hause aus arbeiten. Und ihre Eltern waren in der Nähe, um sie zu unterstützen.
Gibson kam allmählich wieder auf die Beine, aber eine alleinerziehende Mutter zu sein, war schon eine Herausforderung, auch wenn ihre Eltern nicht weit weg wohnten. Umso mehr, da die sich mit gesundheitlichen Problemen herumschlugen und öfter im Wartezimmer eines Arztes Däumchen drehten, als dass sie ihrer Tochter hätten helfen können. Aber irgendwie sorgte Gibson dafür, dass es funktionierte, denn sie hatte keine Wahl, und sie liebte ihre Kinder – auch wenn sie ihr die Klamotten vollkotzten.
Jetzt nutzte Gibson ihre Computerkenntnisse für ProEye. Die Firma war darauf spezialisiert, das Vermögen von reichen Straftätern aufzuspüren, die im Luxus schwelgten, während die Gerichte und Gläubiger gegen eine Wand von hinterlistigen Anwälten, verschlagenen Buchhaltern und PR-Dreckschleudern anrannten. Und es gab so viele von diesen reichen Schmarotzern, dass ProEye und damit auch Gibson vor lauter Arbeit gar nicht mehr wussten wohin.
Einige reiche Leute zahlten offenbar nicht gerne ihre Schulden. Sie ignorierten sie einfach, als wären sie nicht wie jeder andere zur Tilgung verpflichtet. Während Kfz-Mechaniker, Supermarktkassiererinnen oder Lagerarbeiter regelmäßig bei der IRS um ein paar Tausend Dollar kämpften, hielten sich diese Milliardäre die Finanzbeamten einfach mithilfe ihrer Armee aus Juristen und Buchhaltern vom Hals.
Gibson hatte einmal gehört, wie ein Milliardär an Eides statt erklärt hatte, dass sein Unternehmen doch Tausende von Jobs schaffe, und diese Leute bezahlten ja schon Steuern. Er selbst hingegen habe tatsächlich nur ein geringes Einkommen, da der größte Teil seiner Milliarden in Aktien angelegt sei – die er zur Finanzierung seines extravaganten Lebensstils beliehen und damit das Finanzamt effektiv umgegangen hatte –, und dieses wenige spende er für wohltätige Zwecke. Als der Staatsanwalt daraufhin mitgeteilt hatte, das sei keine Rechtfertigung dafür, dass er keine Steuern auf sein tatsächlich zu versteuerndes Einkommen zahle, da hatte der Milliardär ihm schlicht gesagt, er solle sich verpissen. Oder genauer: »Warten Sie mal, was passiert, wenn wir die Gesetze machen. Es wird nicht mehr lange dauern.« Dann hatte er gesagt, er solle sich verpissen.
Gibson nippte an ihrem Tee und biss in ihren Cookie. Sie setzte das Headset auf und tippte drauflos. Was sie jetzt tat, war natürlich kein Vergleich zu ihrer früheren Arbeit und den Adrenalinschüben, die sie immer wieder auf der Straße bekommen hatte. Aber Kompromisse waren Teil des Lebens, und das hier war ein Kompromiss, für den sie sich selbst entschieden hatte. Jede Mutter würde das verstehen. Alles zum Wohle der Familie.
Irgendwann würde Gibson vielleicht auch jemanden finden, mit dem sie ihr Leben verbringen wollte, doch im Augenblick schien das nicht sehr wahrscheinlich zu sein. Warum? Weil Peter Gibson ihr viel genommen hatte, sehr viel sogar, vor allem Vertrauen – das Vertrauen in Männer und schlimmer noch, das Vertrauen in sich selbst.
Gibson bereitete sich darauf vor, einen Geschäftsmann zu jagen, der irgendwo zwei Milliarden Dollar versteckt hatte, doch unglücklicherweise hatte er auch vier Milliarden Schulden. Wieder so ein Dreckskerl, nur einer von vielen in einem ganzen Meer von Betrügern. Noch vor zwanzig Jahren hatte es keine fünfhundert Milliardäre auf der Welt gegeben. Jetzt waren es fast dreitausend. Ein gewaltiges Vermögen war hier entstanden … ein Vermögen für ein paar Auserwählte.
Allen anderen ging es nicht ansatzweise so gut, sinnierte Gibson.
In dem Moment klingelte ihr Telefon.
Und Mickey Gibsons ganzes Leben als alleinerziehende Vorstadtmutter ging den Bach runter.
»Miss Gibson, Arlene Robinson hier, von ProEye. Ich arbeite mit Zeb Brown zusammen. Ich weiß, dass Sie vorhin mit ihm gesprochen haben.«
»Das stimmt. Gibt es ein Problem mit dem Einfrieren der Gelder?«
»Nein, da ist alles in Ordnung. Auf den Bermudas wird bereits gehandelt, und Zürich und der Tschad werden das genauso machen, sobald sie wieder geöffnet haben. Sie haben wie immer hervorragende Arbeit geleistet.«
»Danke. Ich glaube, wir hatten noch nicht das Vergnügen«, sagte Gibson. Sie biss wieder in ihren Cookie und trank einen Schluck Tee.
»In der Tat. Ich bin zwar schon seit achtzehn Monaten bei ProEye, aber erst seit drei Wochen in Mr Browns Abteilung. Er hat eine hohe Meinung von Ihnen.« Dann lachte sie leise.
»Ach, ja?«
»Und er hat mir erzählt, er habe ihnen gesagt, Sie sollten heute die Sau rauslassen oder so was in der Art. Auf Firmenkosten natürlich.«
»Ja, das stimmt«, erwiderte Gibson amüsiert.
»Ich habe mir Ihre Akte angesehen, bevor ich angerufen habe. Sie haben zwei kleine Kinder und sind alleinerziehend, korrekt?«
Jetzt verstand Gibson das Lachen.
»Ja. Und just in dem Augenblick, als ich Zeb gesagt habe, er solle die Konten einfrieren, hat mein Sohn mir auf die Klamotten gekotzt.«
»Ich habe selbst drei unter fünf daheim. Ich kann das also durchaus nachempfinden. Und ich wusste natürlich sofort, dass sie nicht ›die Sau rauslassen‹ würden, im Gegenteil. Vermutlich würde es Sie mehr freuen, wenn Sie einfach mal Ruhe hätten.«
Gibson lachte. »Gesprochen wie eine wahre Mom. Von wo arbeiten Sie?«
»Albany. Ich habe gehört, vor zehn Jahren sei hier das Hauptquartier von ProEye gewesen. Dann kam der Erfolg, und aus der kleinen Privatdetektei wurde ein globales Unternehmen.«
»Das stimmt. Ich bin jetzt seit zwei Jahren dabei. Das ist eine gute Firma.«
»Und sie lassen einen im Homeoffice arbeiten. Das ist nett.«
»Ja, das ist es. Und? Was kann ich für Sie tun, Miss Robinson?«
»Bitte, nennen Sie mich Arlene. Folgendes … Es ist zwar etwas anderes als sonst, aber man hat mir gesagt, ich soll Sie anrufen und mit Ihnen reden.«
»Okay«, sagte Gibson erwartungsvoll.
»Es gibt da ein altes Herrenhaus in der Nähe von Smithfield am James River, Virginia. Es soll zwangsversteigert werden. Deshalb haben die auch an Sie gedacht, weil Sie ja in der Nähe wohnen.«
»An mich gedacht? Inwiefern?«
»Sie wollen, dass Sie dort hinfahren und eine Inventur der Inneneinrichtung machen. Laut Akte gibt es da einen Hausschlüssel unter einer Katzenstatue neben dem Haupteingang. Ist das zu glauben?«
»Das ist in der Tat ein wenig ungewöhnlich. Normalerweise mache ich meine Arbeit im Internet.«
»Ich weiß. Wie Sie wissen, gilt das für fast alles, was ProEye macht. Aber man hat mir aufgetragen, diese Aufgabe Ihnen anzubieten. Und wenn möglich, sollen Sie noch heute hinfahren. Sie können natürlich noch mit Zeb reden, aber im Augenblick ist er in einer Besprechung. Und sie wollen wirklich, dass Sie da schnell rausfahren. Es klang so, als wäre da auch ein netter Bonus für Sie drin.«
Gibson dachte bei sich, ein wenig Außendienst wäre eine willkommene Abwechslung zum ewigen Starren auf einen Computermonitor. Und ein Bonus war immer nett. Allerdings würde sie ihre Eltern anrufen und hoffen müssen, dass sie Zeit hatten. Gibson hatte Zugriff auf ihren Terminkalender, und den rief sie nun auf. Okay, sie haben heute keinen Arzttermin. Welch Wunder!
»Ich denke, das lässt sich einrichten«, sagte sie. »Was können Sie mir über den Besitz und ProEyes Interesse daran sagen?«
»Ich habe die Infos gerade vor mir. Das Haus wurde in den Zwanzigern gebaut, von einem Mann mit Namen Mason Rutherford. Er war ein Räuberbaron, der sein Geld mit Eisenbahnen, Holz und Bergbau verdient hat. Er besaß ein Herrenhaus in Colorado, ein fünfstöckiges Stadthaus in New York und dieses Haus in Virginia. Es steht auf Land, das einst einem britischen Lord gehört hat. Dessen Haus hat man im Unabhängigkeitskrieg jedoch niedergebrannt.« Als Scherz fügte sie hinzu: »Also könnten dort ein, zwei Geister spuken.«
»Hach, ich wollte schon immer Geister jagen.«
»Rutherford ist 1940 gestorben, und Laura, seine Frau, die wesentlich jünger war als er, hat noch bis 1998 gelebt. Mit hundert Jahren ist sie dann auch gestorben, und seitdem ist das Anwesen verfallen. Es muss aber auch ein Vermögen kosten, das Ding instand zu halten.«
»Und der jetzige Besitzer?«, fragte Gibson und dachte bereits darüber nach, was sie für die Fahrt anziehen sollte.
»Aaah … Das ist der berüchtigte Rutger Novak. Er hat das Haus vor sieben Jahren gekauft und jede Menge Geld in die Renovierung gesteckt.«
»Rutger Novak? Den Namen habe ich definitiv schon mal gehört.«
»Bestimmt. Er und ProEye haben eine gemeinsame Geschichte, und zwar keine gute. Bitte verzeihen Sie, wenn ich Ihnen Sachen erzähle, die Sie bereits wissen, aber Novak ist Deutscher. Vor dreißig Jahren war er ein großer, wenn auch zwielichtiger internationaler Geschäftsmann. Er war Waffenhändler, vor allem im Nahen Osten. Und er hat beide Seiten beliefert. Im Laufe der Jahre musste er einige Rückschläge hinnehmen, und es sah so aus, als würde er mit dem Geld, das ihm geblieben war, einfach in der Nacht verschwinden. Aber offenbar hat er ein paar schlechte Entscheidungen getroffen, sodass er schließlich pleite war, und dann hat er begonnen, sich Geld zu leihen – viel Geld. Und wie sich herausstellte, war fast alles Schrott, was er dafür verpfändet hat. ProEye hat ihn vor Jahren im Auftrag einer ganzen Bande von Gläubigern gejagt, doch trotz aller Bemühungen haben sie ihren Auftraggebern nicht einen Dollar beschaffen können.«
»Den Teil kenne ich«, sagte Gibson. »Das war zwar noch vor meiner Zeit, aber die Firma hat das nicht vergessen. Das ist Teil des Firmenmythos. Sie erzählen sogar in ihren Vorbereitungsseminaren davon, eine dauernde Warnung und eine Aufforderung, immer noch einen Schritt weiterzugehen, als unbedingt nötig. Wir dürfen uns nie selbstgefällig zurücklehnen.«
»Tja, offenbar hat die Zeit Novak eingeholt. In den letzten paar Monaten ist alles auf den Kopf gestellt worden.«
»Ist er denn noch da, oder hat er sich wie beim letzten Mal verpisst?«
»Er ist verschwunden. Zumindest steht das in der Akte. Er schuldet seinen Gläubigern so viel, dass sie sich alles schnappen, was sie in die Finger bekommen können. Dazu gehört auch das Herrenhaus. Deshalb sollen Sie ja da hinfahren. Die Firma möchte wiedergutmachen, was beim letzten Mal passiert ist.«
»Es liegt in der Nähe von Smithfield, sagen Sie? Geht das auch ein wenig genauer?«
Gibson hörte das Klappern einer Tastatur. »Es liegt zwischen einem Ort mit Namen Morgarts Beach und Rushmere an einer … Moment … Burwell Bay.« Robinson nannte Gibson die Adresse.
»Okay, das gibt mir Kontext. Der kürzeste Weg schließt eine Fahrt mit einer Fähre ein. Das dauert ungefähr eine Stunde von hier und das auch nur, wenn die Fähre pünktlich ist. Der längere Weg würde mich nach Süden führen, durch Newport News und über die James River Bridge nach Smithfield. Von da sind es nur noch etwa acht Meilen. Allerdings muss man einen weiten Bogen fahren. Auch das würde ungefähr eine Stunde dauern, je nach Verkehr, aber da wäre ich nicht von der Fähre abhängig. Den Weg werde ich wohl nehmen.«
»Sehen Sie? Es zahlt sich schon aus, jemanden zu haben, der sich in der Gegend auskennt.«
»Ich bin nur überrascht, dass bis jetzt noch niemand dort gewesen ist.«
»Na ja, bis vor einer Stunde wussten wir schlicht noch nichts von dem Besitz. Deshalb hat Zeb das vorhin auch nicht erwähnt. Der Grundbucheintrag läuft auf eine Briefkastenfirma. Wir haben diese Wand gerade erst durchstoßen. Unsere Klienten haben ihre Ansprüche auf sämtlichen Besitz des Mannes bereits geltend gemacht, und uns liegen Blankovollmachten vor, die es uns erlauben, jedes seiner Grundstücke und Häuser zu betreten. Wir hoffen nur, dass Novak so schnell fliehen musste, dass er keine Zeit mehr hatte, das Haus auszuräumen, denn soweit wir wissen, hat er stets die schönen Dinge im Leben geliebt, und das Haus könnte voll davon sein. Gemälde, Möbel, Skulpturen … Himmel, die Gläubiger würden auch Orientteppiche, Silberbesteck und den Inhalt des Weinkellers oder der Bibliothek nehmen, egal. Aber wie auch immer, die können von Glück reden, wenn sie zum Schluss einen Nickel pro Dollar bekommen.«
»Da haben Sie recht. Okay. Ich fahre so schnell wie möglich los.«
»Und die Kinder?«, fragte Robinson.
»Als Erstes rufe ich jetzt meine Eltern an. Sie wohnen in der Nähe.«
»Ein Hoch auf Eltern in der Nähe! Meine leben an der Westküste, und ich denke, da steckt Absicht dahinter.«
Der schwarze Hosenanzug war an der Hüfte ein wenig eng. Er spannte am Bund und Gibsons Fettschürze hing raus. Ihre weiße Bluse hingegen saß perfekt. Aber Gibson war angepisst, denn die Bluse gehörte zwar ihr, aber den Hosenanzug hatte sie sich von Dorothy Rogers geliehen, ihrer Mutter!
Du hast zwei Kinder zur Welt gebracht. Davon erholt man sich nicht sofort. Das dauert. Na ja … Es ist jetzt zwei Jahre her, seit Darby auf die Welt gekommen ist. Da hätte eigentlich schon längst was passieren müssen.
Jetzt bereute Gibson den Hafercookie.
Und sie hatte den Blick gesehen, mit dem ihre Mutter sie bedacht hatte, als sie in dem Hosenanzug die Treppe hinuntergekommen war. Sie hatte kein Wort gesagt, nur dieser Blick … nein, dieses Grinsen. Und dann hatte ihre Mutter doch noch bemerkt: »Das Outfit habe ich gerade erst bei TJ Maxx gekauft. Aber dann habe ich viel Sport gemacht und auf meine Ernährung geachtet. Das ist sehr wichtig, wenn man älter wird, und wir werden ja alle nicht jünger, nicht wahr, Liebes? Aber jetzt knöpf einfach das Jackett zu; dann fällt niemandem auf, wie sehr die Hose spannt. Ein Babybauch kann aber auch wirklich übel sein. Ich habe dreißig Jahre gebraucht, bis meiner wieder weg war. Vielen Frauen gelingt das nie.«
Das war ungefähr so subtil, wie Gibsons Mutter nur sein konnte. Vielleicht galt das ja für alle Mütter.
Gibson fuhr mit ihrem Mommy-Van auf der Interstate 64 East nach Süden und bog dann auf die U.S. 17 ab, die sie in einem weiten Bogen über den turbulenten James River führen würde. Als Nächstes fuhr sie nach Norden und durch die einstige Welthauptstadt des Schweineschlachtens: Smithfield. Laut ihrem Navi waren es noch sieben Meilen bis zu den Überresten von Rutger Novaks untergegangenem Imperium. Die ganze Strecke maß keine fünfzig Meilen, aber in der Enge dieses Teils der Küste von Virginia war das ein langer Weg. Überall waren hier Spuren des Militärs zu sehen; dazu kamen Unterwassertunnel, Brücken, das Meer mit seinen Sandstränden und all die Wasserwege, die sich wie Kapillaren durch die Erde zogen oder wie fette Arterien über sie hinwegströmten.
Gibson hatte überlegt, zuerst noch mal Zeb Brown anzurufen, aber sie wusste, dass er noch mit dem Fall beschäftigt war, über den sie an diesem Morgen gesprochen hatten. Außerdem freute sie sich, endlich mal aus dem Haus zu kommen.
Gibson folgte den Richtungsangaben bis zu einer langen schmalen Straße, die auf beiden Seiten von alten Bäumen gesäumt war, an denen sich bereits das erste Grün des Frühlings zeigte. Gibson nahm die Hand herunter und berührte das Holster an ihrem Gürtel. Darin befand sich die achtschüssige Beretta Nano, die in Hinblick auf Größe und Gewicht durchaus mit der Glock 26 zu vergleichen war, die sie bei der Polizei getragen hatte. Sie verwendete sogar die gleiche Munition. Allerdings war diese Waffe ein wenig kleiner, wodurch sie perfekt in Gibsons Hand passte, und die 9mm-Luger-Munition würde so ziemlich alles aufhalten, was sie traf.
Gibson hatte ihre Mutter nicht zusehen lassen, wie sie das Zahlenschloss des Safes in ihrem Schlafzimmerschrank geöffnet hatte, und die Pistole hatte sie auch vor ihr verborgen. Ihre Mom hatte nie gewollt, dass ihre Tochter ein Cop wird, doch Gibson hatte dem Beispiel ihres Vaters folgen wollen. Als ältestes Kind – sie hatte noch zwei jüngere Brüder – hatte sie große Ehrfurcht vor ihrem Vater in Uniform gehabt. Dennoch hatte Gibson sich zunächst dem Willen ihrer Mutter gebeugt und war als Kriminaltechnikerin zur Polizei gegangen. Das hatte ihre Mutter ein wenig beruhigt, denn wenn die Kriminaltechniker am Tatort erschienen, war die Gefahr zumeist vorüber.
Ihre Mutter hatte einen Wutanfall bekommen, als Gibson dann heimlich die Einstellungsprüfung für die Polizeiakademie gemacht hatte. Erst als Rick Rogers, ihr Vater, sich eingemischt hatte, hatte Mom ihr erlaubt, ihren Traum zu verwirklichen. Und ihr alter Herr war stolz auf sie – das wusste Gibson –, auch wenn er das nur selten zeigte. Die öffentliche Zurschaustellung von Zuneigung lag schlicht nicht in der DNA der Familie Rogers. Gibson konnte an einer Hand abzählen, wie oft ihre Mutter sie umarmt oder geküsst hatte. Und sie konnte mit einem Finger zählen, wie oft ihr Vater dergleichen gemacht hatte. Sie wusste es noch ganz genau. Das war am Tag ihres Abschlusses an der Polizeiakademie gewesen.
Selbst bei ihrer Hochzeit hatte Dad das nicht getan, und er hatte ihr die Gründe dafür klar und deutlich erklärt, bevor er seine Tochter zum Altar geführt hatte.
Gibson verließ die Straße und fuhr eine andere hinunter. Das Anwesen lag direkt geradeaus auf der rechten Seite.
Vielleicht gibt’s da ja wirklich ein paar alte britische Geister.
Gibson bremste ab, als sie die steinernen Monumente rechts und links der Einfahrt sah. An einem war ein Schild mit der Aufschrift STORMFIELD zu sehen.
Arlene Robinson hatte Gibson den Namen des Anwesens nicht genannt, aber das war ja auch nicht so wichtig.
Das Tor war aus Schmiedeeisen, und es war offen. Ein Stück weit hinter der Einfahrt und teils verdeckt von ein paar Büschen stand ein Briefkasten. Gibson fuhr die gepflasterte Einfahrt hinauf und bog um eine Kurve. Jetzt erblickte sie auch das große, alte Herrenhaus. Es sah aus, als hätte seit dem Bau niemand mehr etwas daran gemacht. Wenn Rutger Novak wirklich etwas renoviert hatte, dann nur im Inneren.
Gibson konnte die Architektur nur als wilde Mischung aus feudal und gotisch mit einem Hauch von Versailles beschreiben. Die Fassade ragte vor ihr auf, fleckig und verblasst, nachdem sie schon so lange den Elementen einer gnadenlosen Flussmündung ausgesetzt gewesen war, und es roch zu gleichen Teilen nach Meer- und Süßwasser.
Sie parkte vor dem Haupteingang und stieg aus. Die einzigen Geräusche waren die Brise und gelegentlich ein Vogel, der in Erwartung des Frühlings sein Lied anstimmte. Die Baumwipfel waren jedoch noch immer verhältnismäßig kahl, und der düstere Himmel spendete am Nachmittag nur wenig Licht. Sie nahm an, wenn es dunkel wurde, konnte man hier kaum noch etwas sehen. Und dann beschloss sie, sich zu beeilen, denn ihr war gerade der Gedanke gekommen, dass es hier vermutlich keinen Strom gab.
Gibson holte eine Taschenlampe aus ihrem Van, denn so groß, wie das Haus war, würde es an einigen Stellen ziemlich finster sein, egal ob draußen nun die Sonne schien oder nicht.
Sie ging zum Haupteingang. Er war gut drei Meter hoch, und die Tür bestand aus massivem Eichenholz. Gibson fand die Katzenstatue und darunter den Schlüssel. Als sie die Statue wieder an ihren Platz zurückstellte, hatte sie das Gefühl, als warne das Tier sie, von hier zu fliehen, bevor es zu spät war.
Als Gibson die Tür aufschloss und hineinging, traf sie die stickige Luft wie ein Schlag. Das war seltsam, dachte sie, denn das Haus war doch angeblich bis vor Kurzem bewohnt gewesen. Aber vielleicht roch es hier immer so.
Hastig schaute Gibson sich nach dem Kontrollpanel einer Alarmanlage um. Ein wenig panisch lauschte sie auf ein Geräusch, das sie aufforderte, einen Code einzugeben, bevor es zu spät war. Tatsächlich sah sie die Zahlentastatur auch neben der Tür, doch sie war unbeleuchtet, also offenbar ohne Strom.
Auch das ist seltsam.
Aber es war auch ein Glück, denn Robinson hatte ihr keinen Code gegeben.
Gibson holte ihr iPad aus dem Rucksack und schaltete die Kamera ein. Sie kannte zwar den Grundriss nicht, aber da das Haus fast so groß war wie ein kleines Einkaufszentrum, ging sie davon aus, dass ihre Arbeit nicht an einem Nachmittag erledigt sein würde. Sie begann im Foyer, wo zwei riesige mittelalterliche Rüstungen standen, die in diesem hohen Raum jedoch geradezu winzig wirkten.
Als Nächstes kam sie in einen großen Speisesaal, der bis auf eine Chippendale-Kommode komplett barock ausgestattet war. Gibson war inzwischen schon so etwas wie eine Expertin für solche Dinge, denn in den letzten Jahren hatte sie viele Vermögenswerte der Reichen und Schönen aufgespürt. An den Wänden hingen Ölgemälde, die größtenteils Landschaften aus der Kolonialzeit zeigten. Gibson glaubte zwar nicht, dass es sich um Originale handelte, aber selbst wenn, waren sie vermutlich nicht viel wert. Es gab auch eine Minibar aus dem 19.Jahrhundert in Form eines massiven Globus auf Rollen sowie ein paar nette Orientteppiche. Die könnten durchaus ein paar Dollar einbringen.
Gibson ging die Flure hinunter und in die anderen Räume. Sie machte Videos und diktierte ständig Informationen in ihr iPad, egal ob sie selbst eine Expertise zu einem Objekt abgeben konnte oder nicht. Später konnte sie das alles immer noch googeln. Sie kam an einem breiten Fenster vorbei und schaute zur untergehenden Sonne hinaus. Von hier aus konnte man zum dunklen James River blicken, der träge an Newport News vorbeiströmte. Dann bog er nach Osten ab und floss zwischen Hampton und Norfolk in die Chesapeake Bay. Dahinter befand sich der lange Chesapeake-Bay-Bridge-Tunnel, und dahinter lag der Atlantik.
Gibson war schon ein paarmal durch den Bay-Bridge-Tunnel gefahren, und das hatte ihr nie gefallen. Der Bay-Bridge-Tunnel war über siebzehn Meilen lang. Entlang der Strecke hatte man künstliche Inseln angelegt, und die Brücke schien mitten in der Bucht einfach zu verschwinden, dort, wo die Straße in den Tunnel überging. Es war, als würde der Highway sich in Selbstmordabsicht ins Wasser stürzen und allen Verkehr mit in den Abgrund reißen.
Am Ufer sah Gibson ein altes Bootshaus mit einem Anleger. Dort lag ein Kabinenkreuzer, und auch dafür konnte man sicherlich ein paar Dollar bekommen. Gibson beschloss, sich das einmal genauer anzusehen, solange es draußen noch hell war. Sie hatte bereits festgestellt, dass es tatsächlich keinen Strom im Haus gab, was vermutlich auch der Grund für den muffigen Geruch war, denn eine Luftzirkulation schien es ebenfalls nicht zu geben.
Gibson ging durchs Haus wieder zurück und betrat die Bibliothek. Die Regale waren größtenteils leer. Entweder hatte Novak sie ausgeräumt, oder er war schlicht kein Leser.
An den Regalen entlang schlenderte sie zu einer einsamen großen Vase, und plötzlich spürte sie etwas an ihrem Knöchel.
Sie blieb stehen und beäugte die Wand. Zwei der Regalwände schlossen nicht bündig ab. Eine ragte einen Zoll vor. Gibson legte ihr iPad beiseite, schob die Finger in den Spalt zwischen den Regalen und zog. Die Wand schwang auf, und dahinter kam ein dunkler Raum zum Vorschein. Irgendetwas surrte ganz in der Nähe, und jetzt spürte sie den Luftzug auch viel deutlicher.
Gibson schaltete ihre Taschenlampe ein und fokussierte den Lichtkegel. Ihre andere Hand lag auf der Beretta. Nach vier Schritten im Dunkeln fand sie die Quelle des Geräuschs und des Luftzugs. Es war ein batteriebetriebener Ventilator, der nur wenige Fuß vom Eingang entfernt auf dem Boden stand. Gibson ging weiter.
Und der Geruch traf sie wie ein Schlag.
Verdammt! Das kenne ich.
Der Gang führte um eine Biegung, und Gibson folgte ihm. Sie richtete ihr Licht auf die feuchten Wände. Vermutlich stammten sie noch aus der Zeit, als das Haus gebaut worden war.
Gibson ging weiter und leuchtete mit ihrer Taschenlampe hin und her.
Und plötzlich blieb sie stehen und richtete den Lichtstrahl auf einen einzigen Punkt.
Ein weißer Streifen und zwei Farbtupfer schälten sich aus der Dunkelheit: Zähne in einem Mund und hervorquellende Augen.
Der Mann saß auf einem Stuhl. Er war groß und schon ein wenig älter, und er hatte dünnes graues Haar.
Und dem Gestank nach zu urteilen, war er definitiv tot, und zwar schon länger.
Der Streifenwagen hielt mit quietschenden Reifen vor dem Haus, wo Gibson auf den Stufen hockte. Sie stand auf und ging zu dem Fahrzeug. Zwei uniformierte Deputys des Sheriffbüros von Isle of Wight County stiegen aus.
»Sind Sie die Frau, die uns angerufen hat?«
Gibson nickte und zeigte den Beamten ihren Personalausweis. »Ich bringe Sie hin.«
Sie führte die beiden hinein und zu dem Raum, in dem sich die Leiche befand. Einer der Deputys hielt sie an der Schwelle des geheimen Zimmers auf und bat sie, wieder zurückzugehen und draußen zu warten. Der andere Beamte begleitete sie. Gibson war klar, dass er sie für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie die Mörderin war, im Auge behalten musste. Binnen dreißig Minuten kamen weitere Beamte, diesmal vom Smithfield Police Department, und ein County-Detective, ein Lieutenant. Fünf Minuten danach traf dann der Letzte ein. Er stellte sich Gibson als Wilson Sullivan vor, ein Kriminalbeamter der Staatspolizei von Virginia.
Sullivan war fast eins neunzig, muskulös mit breiten Schultern und circa vierzig Jahre alt. Er hatte ein kantiges Kinn und kurz geschnittenes Haar, das genauso unordentlich wirkte wie sein Anzug.
Und er hatte den typischen Blick eines Cops, dachte Gibson: wachsam, misstrauisch, neugierig und nachdenklich.
Als die Beamten gemeinsam hineingingen, um sich die Leiche anzusehen, kamen auch die Kriminaltechniker. Sie luden ihre Ausrüstung aus und schlurften ins Haus, um nach mikroskopischen Spuren des Täters zu suchen.
Sullivan kam später wieder heraus und setzte sich neben Gibson auf die Stufen.
»Muss ich noch lange bleiben?«, fragte Gibson. »Ich habe zwei kleine Kinder, um die ich mich kümmern muss. Meine Aussage habe ich doch schon gemacht.«
Sullivan zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch von ihr weg. »Ich sollte wirklich damit aufhören, aber die Pflaster helfen einfach nicht. Auch sonst nichts. Und Tatsache ist, dass ich das mag.«
»Ich kenne viele Cops, die rauchen. Für einige gehört das schlicht zum Job.«
Sullivan musterte Gibson von Kopf bis Fuß. »Sie sehen aus, als hätten Sie mal Uniform getragen.«
Gibson schaute ihn amüsiert an. »Woran sehen Sie das? An meiner extremen Fitness?«
»Sie haben eine Leiche in einem gruseligen Haus gefunden, und Sie sind weder hysterisch, noch weinen Sie oder sind sonst irgendwie aufgeregt. Das heißt, Sie sind entweder die Mörderin, oder Sie sind den Anblick von Leichen gewohnt. Außerdem sehe ich das an Ihren Augen und der Art, wie Sie sich zwischen all den Beamten bewegen, die hier inzwischen unterwegs sind.«
»Okay. Sie haben mich ertappt. Jersey City. Ich war zwei Jahre Kriminaltechnikerin, habe sechs Jahre Streifendienst gemacht und vier Jahre als Detective gearbeitet.«
»Und sie sind eine Mom und haben zwei kleine Kinder. Und ihr Mann?«
»Geschieden.«
»Aha … Können Sie mir sagen, wie Sie hier gelandet sind? Ich weiß, das steht in Ihrer Aussage, aber ich würde es gerne von Ihnen selbst hören.«
Gibson erklärte ihm, für wen sie arbeitete, und erzählte von dem Anruf, den sie erhalten hatte.
»Haben Sie einen Ausweis oder so was, etwas, das belegt, dass Sie für ProEye arbeiten? Von denen habe ich übrigens schon gehört.«
Gibson holte ihren Führerschein und ihren Dienstausweis heraus.
Sullivan schaute sich die beiden Karten aufmerksam an und gab sie dann zurück. »Ist das eine gute Firma?«
»Für mich ja, vor allem weil ich bei meiner Arbeit sehr flexibel bin. Größtenteils arbeite ich im Home Office.«
»Aber nicht diesmal«, sagte Sullivan. Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, drückte sie aus und steckte die Kippe in die Tasche. »Ich will den Tatort nicht kontaminieren«, erklärte er. »Also … Rutger Novak?«
»Ja.«
Sullivans Blick veränderte sich auf eine Art, die Gibson nicht gefiel. »Ich habe von ihm gehört, in letzter Zeit allerdings nicht allzu viel. Dass er in der Gegend hier lebt, wusste ich zum Beispiel nicht.«
»Und ich wusste noch nicht einmal, dass es dieses Haus hier gibt. Ich bin noch verhältnismäßig neu in der Gegend. Man hat mir gesagt, dass das Haus in den Zwanzigern von einem Räuberbaron gebaut worden ist, von einem Mann mit Namen Mason Rutherford. Ursprünglich soll hier das Haus eines britischen Lords gewesen sein, doch das ist im Unabhängigkeitskrieg niedergebrannt worden.«
Sullivan warf ihr einen weiteren Blick zu, der Gibson noch weniger gefiel als der erste.
»Was ist?«, fragte sie argwöhnisch.
»Ich bin auch erst vor ein paar Jahren in die Gegend hier gekommen. Aus North Carolina. Aber ich lerne schnell, und ich habe nie gehört, dass ein britischer Lord hier gelebt hat. Und von diesem Mason Rutherford weiß ich auch nichts, und ich habe Stormfield, das Anwesen hier, nachgeschlagen, bevor ich gekommen bin. Rutger Novak hat es nie gehört.«
Gibson schaute verwirrt drein. »Ich … Ich verstehe nicht.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Sullivan und schaute sie auf eine vertraute Art scharf an. Gibson hatte das auch immer getan, wenn sie einen Verdächtigen vor sich gehabt hatte.
Scheiße.
Sullivan holte sein Handy heraus und scrollte durch ein paar Bildschirmanzeigen. »Stormfield ist auch nicht in den Zwanzigern gebaut worden, sondern in den Fünfzigern, und zwar von einem Mann mit Namen Richard Turner. Er war der Urgroßvater der Leute, die hier vor dem jetzigen Besitzer gewohnt haben. Er hat sein Geld mit Werbung in New York gemacht, aber er stammte aus Tidewater und hat dieses Haus in seiner Heimat gebaut. Seinen Nachfahren gehörte das Haus bis vor ungefähr sechs Jahren.« Er hielt kurz inne und beäugte Gibson aufmerksam.
»Ich … Ich verstehe das alles nicht. Man hat mir gesagt, Laura Rutherford habe bis zu ihrem hundertsten Lebensjahr im Jahre 1998 hier gelebt, und …«
Sullivan drehte sich zu einem uniformierten Beamten um, der gerade das Haus verließ, und rief ihn zu sich.
»Bitte entschuldigen Sie mich«, sagte Sullivan, stand auf und gesellte sich für eine Minute zu dem Beamten. Sie flüsterten miteinander und blickten immer wieder zu Gibson, die zunehmend nervös wurde. Sie schaute auf ihre Uhr und rechnete jeden Moment mit einem Anruf von ihrer Mutter, die wissen wollte, wo zum Teufel sie so lange steckte.
Nachdem der Beamte wieder ins Haus gegangen war, kehrte Sullivan zu Gibson zurück. Sein Gesichtsausdruck war düster, doch ansonsten schwer zu deuten.
»Gibt es ein Problem?«, fragte Gibson.
Sullivan holte sein Feuerzeug heraus und klappte es immer wieder auf und zu, als wäre es ein Spielzeug.
»Wir haben uns bei ProEye nach Ihnen erkundigt. Sie haben gerade zurückgerufen.«
»Und Sie haben bestätigt, dass ich für sie arbeite.«
»Ja, das haben sie.«
»Ich höre da ein aber.«
»Aber sie haben Ihnen nie aufgetragen, hier rauszufahren und eine Inventur zu machen. Sie haben Sie nie wegen Stormfield angerufen. Tatsächlich haben Sie noch nicht einmal eine Ahnung, was und wo das ist.«
Gibson schnappte nach Luft. »Mit wem haben Ihre Leute denn gesprochen?«
»Mit einem Zeb Brown. Er hat gesagt, er sei Ihr direkter Vorgesetzter.«
»Das stimmt.«
»Könnten Sie mir diese Diskrepanz dann vielleicht erklären? Denn offensichtlich lügt einer von Ihnen, und ich würde gerne wissen wer.«
»Ich habe es Ihnen doch schon gesagt. Ich habe einen Anruf von Arlene Robinson bekommen, aus dem Büro in Albany …«
»Es gibt keine Arlene Robinson im Büro von Albany. Tatsächlich gibt es überhaupt keine Arlene Robinson bei ProEye – Punkt. Also frage ich Sie noch einmal: Was machen Sie hier?«
Gibson schaute zu dem alten hässlichen Gebäude, und eine ganze Reihe von Szenarien ging ihr durch den Kopf.
»Ich habe einen Anruf von einer Frau bekommen, die sich als Arlene Robinson identifiziert hat. Das war ein paar Stunden, nachdem ich mit Zeb über einen anderen Fall gesprochen habe. Sie hat gesagt, sie würde für ihn arbeiten.«
»Und das haben Sie einfach so akzeptiert?« Sullivan hielt sein Handy hoch. »Ich habe nur fünf Minuten gebraucht, um alles über dieses Haus zu recherchieren.«
»Schauen Sie … Die Frau wusste, dass Zeb und ich kurz zuvor miteinander geredet haben. Sie hat Details unserer Unterhaltung angesprochen. Tatsächlich hat sie Zeb sogar einmal wörtlich zitiert. Also bin ich davon ausgegangen, dass sie wirklich dort arbeitet, denn woher hätte sie das sonst wissen sollen? Und sie wusste auch, dass ich Kinder habe. Sie hat gesagt, da ich nicht weit von hier lebe – auch das hat sie gewusst –, solle ich hier rüberfahren und Inventur machen. Sie hat gesagt, Rutger Novak, der Besitzer, habe eine Menge Schulden angehäuft, und die Gläubiger wollten alles haben, was sich irgendwie zu Geld machen lässt. Genau das ist es ja, was ProEye tut. Ich hatte also keinen Grund, an der Echtheit des Anrufs zu zweifeln oder an der Natur des Auftrags.«
»Wie ich schon gesagt habe, Rutger Novak ist nicht der Eigentümer von Stormfield.«
»Das habe ich nicht gewusst. Wem gehört es dann?«
»Dem Mann, den Sie in dem Geheimraum gefunden haben: Daniel Pottinger.«
»Sie haben ihn schon identifiziert?«
»Vorläufig. Er hatte eine Börse mit einem Führerschein. Das Foto darauf passt zu dem Verstorbenen. Aber natürlich müssen wir das noch bestätigen.«
»Und wer war dieser Pottinger?«
»Offenbar ein reicher Mann. Ich habe ihn nie kennengelernt. Er hat Stormfield von den Turners gekauft. Mehr weiß ich nicht.«
»Und wie ist Pottinger gestorben?«
Sullivan schüttelte den Kopf. »Dazu kann ich jetzt nichts sagen. Wir werden uns mal Ihren Verbindungsnachweis ansehen, um zu bestätigen, dass Sie wirklich einen Anruf bekommen haben. Vielleicht können wir ihn ja zurückverfolgen … falls es ihn denn gegeben habt.«
»Ich sage die Wahrheit. Warum sollte ich denn sonst hier sein? Warum hätte ich sonst die Polizei rufen sollen, nachdem ich die Leiche gefunden habe?«
»Ich weiß es nicht, Miss Gibson. Es gibt Gründe für beides.«
»Was meinen Sie mit ›beides‹?«
»Es gibt Gründe für die Annahme, dass Sie in der Tat unschuldig sind, aber auch solche, die nahelegen, dass Sie etwas mit dem Mord an Daniel Pottinger zu tun haben.«
»Dann ist er also ermordet worden, ja? Ich konnte keine Wunde sehen«, sagte Gibson.
»Laut Ihrem Führerschein wohnen Sie in Williamsburg, korrekt?«
»Ja. Mit meinen zwei kleinen Kindern. Das habe ich doch schon gesagt. Meine Mutter passt gerade auf sie auf und wartet auf meine Rückkehr. Das war alles sehr spontan, und deshalb musste ich sie auch als Babysitter rekrutieren. Ich dachte, ich würde den Tag mit der Jagd auf Vermögenswerte im Internet verbringen. Mit einem Mordopfer in einem gruseligen Haus habe ich nicht gerechnet.«
»Nun ja, es wäre in der Tat besser für Sie gewesen, weiter Digital-Detektivin zu sein. Hier draußen ist es viel gefährlicher.«
»Und was passiert jetzt?«, fragte Gibson.
»Ich werde Ihnen nach Hause folgen. Dann können wir weiterreden, und ich kann ein paar Sachen prüfen, die Sie hoffentlich entlasten werden.«
»Glauben Sie wirklich, dass ich etwas mit dem Mord zu tun habe?«
»Sie waren doch mal Detective. Was denken Sie?«, erwiderte Sullivan.
Gibson seufzte. »Jeder ist verdächtig, bis schlüssig bewiesen ist, dass er das nicht ist.«
»Gut. Sie erinnern sich also noch daran.« Sullivan packte sie fest am Arm. »Dann los. Fahren wir.«
Auf der Rückfahrt schaute Gibson immer wieder in den Rückspiegel zu Sullivan in seiner Limousine. Sie versuchte einzuschätzen, ob der Mann sie wirklich für eine Mordverdächtige hielt oder nicht. Sein Blick war fokussiert, wirkte aber auch irgendwie abwesend, als gingen ihm die unterschiedlichsten Szenarien durch den Kopf. Gibson fühlte sich an sich selbst erinnert. Auch sie war immer so gewesen, wenn sie einen Fall zu knacken hatte. Sie hatte sich Zeit gelassen; das Ganze noch einmal aus der Ferne analysiert und plausible Theorien entwickelt, die dann entweder von den Fakten bestätigt worden waren oder auch nicht.
Als sie an Gibsons Haus eintrafen, stellte sie Sullivan ihrer Mutter vor, aber sie erklärte ihr nicht, warum er da war.
»Das hat mit der Arbeit zu tun, Mom. Könntest du noch ein bisschen dableiben und dich um die Kinder kümmern? Ich muss mit Detective Sullivan ein paar Sachen durchgehen. Danke.«
Dorothy Rogers musterte ihre Tochter und drehte sich dann zu dem großen, attraktiven Sullivan um. Sie lächelte. »Dann lasse ich sie beide mal allein.«
Es kostete Gibson all ihre Kraft, nicht laut zu stöhnen.
Er will kein Date mit mir, Mom. Er will herausfinden, ob ich jemanden ermordet habe oder nicht.
Gibson führte Sullivan in ihr Arbeitszimmer und holte ihr iPhone heraus. »Das ist mein Diensthandy.« Sie scrollte durch den Bildschirm. »Hier ist die Nummer, von der sie mich angerufen hat. Da steht kein Name, weil ich sie nicht in meiner Kontaktliste habe. Eine Standortangabe gibt es zwar auch nicht, aber da das mein Arbeitshandy ist, gehe ich eigentlich immer ran.«
Sullivan tippte die Nummer in sein eigenes Handy und hielt es sich ans Ohr. Es klingelte und klingelte, doch niemand hob ab. »Das ist vermutlich ein Prepaidhandy oder so was in der Art«, verkündete er schließlich. »Oder irgend so ein VPN-Bullshit. Wir werden trotzdem versuchen, die Nummer zurückzuverfolgen, aber verlassen Sie sich nicht darauf.« Er schaute sich Gibsons Arbeitsplatz an, vor allem die beiden Monstermonitore. »Also hier wirken Sie Ihre Ermittlermagie, ja?«
»Wenn Sie diese digitale Plackerei so nennen wollen, dann ja.« Gibson setzte sich, zog die Schuhe aus und rieb sich die Füße. »Bitte, entschuldigen Sie. Ich bin es noch nicht einmal mehr gewohnt, feste Schuhe zu tragen.«
Sullivan setzte sich ihr gegenüber. »Können Sie sich an sonst noch etwas von dem Anruf erinnern?«
Gibson wusste, dass Sullivan sie das alles auch in Stormfield hätte fragen können, aber er hatte offensichtlich wissen wollen, ob sie wirklich die Vorstadt-Mom war, die sie vorgab zu sein.
»Wie jeder Ex-Cop bin ich natürlich misstrauisch, aber sie hat das perfekt gespielt. Zuerst hat sie zum Beispiel mein Gespräch mit Zeb erwähnt, und damit hatte ich keine Zweifel mehr.«
»Was heißt, entweder steckt Ihr Boss da mit drin, oder …«
»… oder Sie arbeitet wirklich dort, hat aber einen falschen Namen und ein Prepaidhandy benutzt und das Gespräch belauscht. Oder sie hat entweder mein oder Zebs Telefon angezapft und ist auf die Art an die Information gekommen.«
Sullivan nickte anerkennend. »Sie haben sich offenbar Ihre Fähigkeiten als Detective bewahrt. Eingerostet sind Sie nicht.«
»Wirklich? Nach allem, was passiert ist, habe ich das Gefühl, als müsste ich mein Hirn mal wieder schmieren. Sie hat mich so richtig an der Nase herumgeführt. Normalerweise hätte ich mir das Anwesen genau wie Sie erst einmal online angesehen, aber diese Arlene hat mir eine plausible Geschichte aufgetischt und immer wieder betont, dass das schnell erledigt werden müsse … zumindest hat sie das behauptet. Und sie hat mir nie gesagt, wie das Anwesen heißt, vermutlich, damit ich es nicht nachschlagen und so herausfinden kann, dass sie mir nur Mist erzählt hat. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hat sie das mit dem Namen Rutger Novak in Verbindung gebracht.«
»Warum ist das so wichtig?«, fragte Sullivan neugierig.
»Lange bevor ich zu ProEye gekommen bin, hatten sie eine heftige Auseinandersetzung mit Novak. Er hat schließlich gewonnen, indem er einfach verschwunden ist, und ProEye hat nie etwas gefunden, was sie für ihre Klienten zu Geld hätten machen können. Das war eine böse Niederlage für die Firma. Deshalb bekommt auch jeder Neuling bis heute in den Orientierungsseminaren eine Flut von Informationen zu Novak. Es ist, als wollten sie damit sagen: Du solltest besser hart arbeiten und dich in alle Richtungen absichern, sonst schlüpfen dir die dicken Fische durchs Netz. Diese Arlene muss das gewusst haben, und deshalb hat sie auch seinen Namen erwähnt. Damit hatte ich keinen Grund mehr, an ihren Worten zu zweifeln.«
»Mickey Gibson. Das steht auf Ihrem Führerschein. Aber ist Mickey nicht die Kurzform von Michelle?«
»Nicht in diesem Fall. Ich heiße wirklich Mickey.«
»Okay. Gibt es eine Geschichte dazu?«
Gibson seufzte resigniert. »Zu sagen, mein Großvater sei ein fanatischer Yankees-Fan gewesen, wäre noch untertrieben. Er hatte marineblaues Blut. Laut einer Familienlegende hat er gedroht, meinem Vater den Hals umzudrehen, wenn er seinen ersten Enkel nicht nach Mickey Mantle nennt. Das Geschlecht war egal. Und voilà, da bin ich.«
»Also das ist wirklich mal was anderes.«
»Das ist aber nett ausgedrückt. Als ich mit diesem Namen aufgewachsen bin, habe ich das anders beschrieben.«
»Ich nehme an, das hat Sie nur härter gemacht.«
»Na ja, irgendetwas hat es schon mit mir gemacht, aber was genau …?« Gibson zuckte mit den Schultern.
»Was uns wieder zu der Frage zurückbringt: Warum ausgerechnet Sie? Warum hat sich diese Arlene ausgerechnet Sie ausgesucht?«
»Darüber habe ich während der ganzen Fahrt nachgedacht, und mir ist kein anderer Grund eingefallen als die Tatsache, dass ich für ProEye arbeite und nicht weit entfernt von Stormfield lebe. Offensichtlich wollte sie, dass ich die Leiche finde, und zwar heute. Die Geheimtür war ein kleines Stück geöffnet, und da war ein Ventilator, der für einen Luftzug und ein Geräusch gesorgt hat. Außerdem stand da noch eine einsame Vase auf dem Regal, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. So standen die Chancen gut, dass ich den Mann auch wirklich finde.«
»Besteht die Möglichkeit, dass Sie die Frau unter einem anderen Namen kennen?«
»Ich habe die Stimme zwar nicht erkannt, aber sie könnte sie verstellt haben. Ich kenne nicht wirklich viele Leute hier, abgesehen von den anderen Eltern in der Nachbarschaft.«
»Glauben Sie, dass der Tatort arrangiert worden ist?«
»Da war kein Strom im Haus. Der Ventilator lief mit Batterie, und die Tür stand einen winzigen Spalt offen. Ja, für mich sieht das so aus wie geplant.«
»Und die Kriminaltechniker schätzen, dass der Ventilator noch eine ganze Weile hätte weiterlaufen können«, sagte Sullivan.
»Also hat wer auch immer das war das alles vermutlich heute aufgebaut. Vielleicht hat diese ›Arlene Robinson‹ mich sogar von dort aus angerufen. Sie wusste, wo ich wohne und wie lange ich bis Stormfield brauchen würde, denn ich habe es ihr selbst gesagt: ungefähr eine Stunde.«
»Dann lautet die Frage: Hat sie ihn auch umgebracht?«
»Wie lange ist er denn schon tot?«
»Also heute ist er nicht gestorben. So viel kann ich Ihnen sagen.«
»Das habe ich selbst gesehen. Hatte denn jemand ein Motiv, Pottinger umzubringen? Hatte er Feinde?«
»Um das zu sagen, ist es noch zu früh. Wir prüfen alle Möglichkeiten.«
»Ich habe gehört, das Haus sei unbewohnt. Aber wenn Pottinger noch dort gelebt hat, wo sind dann seine Angestellten? Um so ein Anwesen kann man sich doch nicht allein kümmern. Aber als ich dort angekommen bin, war niemand da und der Strom abgeschaltet. Und es sah auch nicht so aus, als würde dort jemand leben. Es gab zwar noch ein paar Sachen, die ich auf meine Liste gesetzt habe, aber es fühlte sich verlassen an.«
»Auch das überprüfen wir.«
»Dann haben Sie mich also von der Liste der Verdächtigen gestrichen?«
»Noch nicht ganz, aber es läuft in diese Richtung.« Sullivan stand auf. »Wir bleiben in Verbindung.«
»Hören Sie, wenn Sie noch zwei Augen brauchen …«
»So arbeitet die Virginia State Police nicht. Tut mir leid.«
Gibson trat einen symbolischen Schritt zurück. »Natürlich.«
Sullivan betrachtete die Computer. »Ich nehme an, das war ein großer Schritt. Von der Straße zu den Dingern da, meine ich.«
»Ja, das war es. Aber Mutter zu werden ist eine noch viel größere Veränderung, vielleicht die größte.«
Sullivan ließ Gibson mit ihren Monitoren allein.
In was zum Teufel bin ich da nur reingeraten?
Gibson nahm das Handy herunter. Sie hatte gerade mit Zeb Brown gesprochen. Er hatte alles bestätigt, was Sullivan ihr erzählt hatte. Es gab keine Arlene Robinson, und es gab auch keinen Auftrag von ProEye.
Brown hatte jedoch nicht wirklich Mitgefühl mit Gibson gehabt, im Gegenteil. Er war angepisst gewesen, weil sie sich den Auftrag von ihm nicht hatte bestätigen lassen. Das hätte der Firma viel Ärger erspart.
»Wir haben einen gewissen Ruf, den wir auch bewahren müssen«, hatte er sie getadelt. »Wenn so etwas noch einmal passiert, dann rufen Sie mich an, okay? Vielleicht können wir es dann ja vermeiden, Teil einer gottverdammten Polizeiermittlung zu werden. Und vielleicht sollten Sie heute doch nicht die Sau rauslassen, um den Larkin-Fall zu feiern, und stattdessen wieder einen klaren Kopf bekommen.« Und bevor Gibson etwas darauf erwidern konnte, war das Gespräch beendet.
Langsam legte Gibson das Handy auf den Tisch. Okay. Zeb hält mich entweder für eine Idiotin, oder er glaubt, dass ich in ein Verbrechen verwickelt bin, und ich bin nicht sicher, was schlimmer ist. In jedem Fall kann ich es mir nicht leisten, diesen Job zu verlieren.
Später fütterte sie ihre Kinder, spielte mit ihnen, badete sie und brachte sie schließlich ins Bett. Sie trug noch immer den Hosenanzug ihrer Mutter. An der Hüfte war er schon ein wenig lockerer, und ihr fiel ein, dass sie seit dem Hafercookie nichts mehr gegessen hatte.
Gibson ging in die Küche runter und machte ihr Spezialgericht: Makkaroni mit Käse – natürlich als Fertiggericht – und dazu ein Glas billigen Merlots, um den Geschmack hinunterzuspülen.
Gibson schaute aus dem Fenster und sah nichts außer der Dunkelheit des kalten Frühlingsabends.
Draußen Dunkelheit, drinnen Dunkelheit.
Dunkelheit zwischen meinen Ohren.
Und dann summte ihr Handy. Ihr Geschäftshandy. Sie schaute auf den Bildschirm. Es war ein Text.
Können Sie reden? AR
Gibson hätte fast den Wein fallen gelassen. Dann schaute sie sich rasch um, um sicherzugehen, dass sie nicht beobachtet wurde.
Sie schrieb zurück: Okay. Und sie wartete.
Das Handy summte. Gibson ging ran. Es war dieselbe Frauenstimme.
»Darf ich Ihnen das erklären?«, fragte die Stimme.
»Was für eine tolle Idee«, schnappte Gibson. »Wie wäre es zum Anfang mit Ihrem echten Namen?«
»Sie haben die Leiche gefunden, korrekt?«
»Ja, ich habe die Leiche gefunden. Daniel Pottinger. Ermordet. Wie haben Sie ihn umgebracht?«
»Sie sollten zur Haustür gehen.«
»Warum?«, erwiderte Gibson angespannt. Instinktiv schaute sie nach oben, wo die Kinder schliefen.
»Dort finden Sie ein Handy in einem Karton«, sagte die Frau. »Das werde ich in dreißig Sekunden anrufen.« Und sie legte auf.
Gibson lief zu ihrem Waffensafe, schloss ihn auf, holte die Beretta heraus und schob ein Magazin in den Schacht.