13,99 €
Es beginnt mit langweiligen Verwandtenbesuchen, in einem überfüllten Pendlerzug, am Regal mit den aussortierten Büchern im Eingangsbereich der Stadtbibliothek oder im Regen vor der eigenen Haustür. Es beginnt also alles hier oder nirgends oder woanders. Dann kommt eins zum anderen, manchmal eine zum anderen, mit zwingender Logik in Welten, die dem Alltäglichen um ein Winziges entrückt sind. Nur so weit allerdings, dass wir mühelos unsere eigene Welt erkennen und doch vom grenzenlosen Einfühlungs- und Vorstellungsvermögen des Autors mitgerissen werden. Frank Jakubzik erzählt von Menschen, die vom Unerwarteten enttäuscht werden, und von der Seltsamkeit des Alltäglichen, die immer wieder überrascht und überfordert.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 181
Veröffentlichungsjahr: 2019
Frank Jakubzik
Gefühlte Zuversicht
Erzählungen
Suhrkamp
Martin der Kühne
Zwischen den Fenstern
Die Bestimmung
1
2
3
Irrsinnige kleine Lichter
Der Gedankenkünstler
Verpaßte Chance
Anderswo
Zur Hochzeit
Der Lokomotivführer
Die Freiheit
Lust
Das Glück
Pendlerzug nach Portland
Das plötzliche Ende der siebziger Jahre
Zwei japanische Fabeln
1. Grausamkeit
2. Zärtlichkeit
Editorische Notiz
Martin wandte den Kopf zu der Uhr mit dem kreisrunden ausdruckslos-nüchtern-objektiven Ziffernblatt. Er stand schon viel zu lange vor den Regalen mit den aussortierten Büchern im Eingangsbereich der Stadtbücherei, ganz vorn bei den Schließfächern, nicht in den Büchersälen, und las eine Rückenaufschrift nach der anderen. Titel für Titel – von manchen hatte er gehört, die meisten kannte er nicht. Auf dem Teppichboden vor den Regalen waren die Stapel gewachsen, erst einer, dann zwei, obwohl er längst hätte losgehen müssen, um Claire auf dem Parkplatz am Fluß zu treffen, aber er hatte nicht aufhören können, es waren wirklich viele, und viele interessante. Immer wieder hatte er lange überlegen müssen, aussortieren unter den Aussortierten, und als er sich jetzt wieder bückte, am Ende der untersten Reihe des letzten Regals, zog er auch dort noch ein Buch heraus, blätterte, zögerte, und legte es schließlich auf den zweiten Stapel.
Die Uhr über der Ausleihe zeigte immer noch zehn nach fünf, wie vor ein paar Augenblicken, aber die Zeit war natürlich trotzdem nicht stehengeblieben und er viel zu spät. Die Angestellten hinter dem Tresen standen beschäftigungslos herum und schienen sich nach dem Feierabend zu sehnen (eine lange hagere Frau blickte von ihm aus nach links, eine sitzende dickliche träumend-vage in seine Richtung, eine dritte beugte den Rücken über eine breite, tiefe Schublade – wie für ein Gemälde arrangiert).
Er schaute seufzend auf die beiden Bücherstapel hinab, die auf dem Teppichboden vor den drei Regalen hochgewachsen waren, fast ohne sein Zutun, wie es schien. Durch die Stadt tragen mußte er sie jetzt auch noch, sonst wäre alles Vorhergehende sinnlos gewesen. Obwohl es fast besser schien, sie einfach stehenzulassen, als wäre mit dem Heraussuchen bestimmter, ihn interessierender Bücher aus den Mengen der Verstoßenen auch schon irgendeine Arbeit getan, die man zurücklassen konnte zum späteren Gebrauch durch andere. Aber in Wahrheit hätten bloß die Bibliotheksangestellten die Bücher von den Stapeln in die Regale zurückgestellt, das ganze wäre eine absurde Aktion geworden, wie das Schachspiel in Becketts Murphy, einmal alle Mann vor, einmal alle zurück.
Er ging in die Knie und klemmte sich den ersten Stapel unter den linken Arm. Dann krabbelten die Finger seiner Rechten gehorsam bis zum untersten Band des zweiten Stapels (die Fingerspitzen berührten den öffentlichen Teppichboden, irgendein kleines Dings schlüpfte als blinder Passagier an Bord eines Nagels) und er schob den losen Bücherturm vorsichtig an seinem rechten Bein hinauf, bis er unter der rechten Achsel einigermaßen sicheren Halt fand. Schwankend kam er wieder hoch, eingeklemmt zwischen zwei Stapeln unter seinen geblähten Armen, schwerfällig wie ein fetter Riese.
Als er die Bücherei verließ, kam ihm gottlob ein kleiner Junge entgegen (ein ernstes, fast schönes Gesicht, dichte dunkle Augenbrauen), er hätte sonst die Tür nicht aufgebracht. Kaum war er nach draußen getreten – er hätte schwören können: genau in diesem Moment – fing es zu regnen an.
Zaghafte kleine Tropfen fielen herunter, und als er den Blick zum Himmel hob, hatte sich in der beginnenden Dämmerung über der Stadt ein Haufen schwerer dunkler Wolken zusammengeballt, wirbelförmig, und dräute über den Häusern wie das erboste Auge Gottes.
Sicher, Claire würde sauer sein, aber was war das schon, eine halbe Stunde Verspätung. Na gut, bei Regen. Aber sie hatte ja das Auto.
In grotesker Verrenkung, die Oberarme so weit gespreizt, wie es die Buchdeckel verlangten, die Handflächen Richtung Körper pressend, überquerte er den verwaisten Platz vor der Bücherei, den Kopf eingezogen, damit ihm der Regen nicht ins Gesicht fiel, die Schultern bereits sacht schmerzend. Außer ihm war nur noch ein Mantarochen aus Plastik da, der mit weit geöffnetem Maul über den Boden schwebte.
Die Rückseite eines Rewe-Markts, die Glasflächen mit Klebefolie blind gemacht, versprach irgendwie Schutz, bot aber natürlich keinen. Martin lief so rasch es ging an ihr entlang, die Bücher beidseitig am Oberkörper, das Kinn auf der Brust. Die Spitzen seiner Wildlederschuhe färbten sich schwarz, während sie im Stakkato unter seinem Leib hervorschossen und wieder verschwanden.
Der Regen war eisig. Sein Nacken war schon eiskalt. Die Schultern schmerzten noch entschiedener. In seinen Händen schien sich ein Krampf auf seinen triumphalen Auftritt vorzubereiten.
Er dachte schon eine Weile gar nichts mehr. Er war nur noch schmerzender Körper und Schmerzempfangszentrale. Hetzender Atem und brennende Schenkel, regennaß den Kopf eingezogen, kalter Nacken und wieder Atem und ein vorspringender nasser Wildlederschuh.
Er kam durch die Unterführung auf die Canisiusstraße, die mit ihren Gründerzeithäusern hoheitlich über ihn hinwegsah. Nur die Kirche auf dem kleinen Platz in der Mitte der Straße ließ einen Schwall heiligen Dröhnens auf ihn niedergehen.
Er hatte nichts Böses getan (sich bloß ein bißchen verspätet), die Glocken waren nur leeres Symbol, sie scherten sich nicht um ihn, wie alles. Aber es kam ihm trotzdem so vor, als würden sie sich irgendwie auf ihn beziehen.
Als wollte ihn wer mit tausend Höllenhunden hetzen. Wer? Zunächst fiel ihm niemand ein. Gefährlichkeit eines Worts wie »zunächst«. Wer denn doch? Niemand. – Die Gesellschaft, wenn er drüber nachdachte. Bot einen Himmel voller Zorneswolken auf, ließ ihre Kirchenglocken schwellen, sobald er, aus seinen Bücherträumen kommend, die dunkelnde Straße betrat. Heiliger Brodem erfüllte die Stadt, die regennaß war, häßlich und voller Autos und Menschen im Feierabendverkehr an diesem schmutzignassen Novemberabend in der Dämmerung. Was hatte er getan?
Ihm fiel ein, daß er die »Spende« für die »Bücher zum Mitnehmen«, zu der ein mit einem Einwurfschlitz versehenes Holzkästchen an der Wand aufrief, nicht entrichtet, noch nicht einmal in seiner Tasche gekramt, sondern die Aufforderung im selben Moment, in dem sie ihm in den Blick gefallen war, aus seinem Bewußtsein verbannt hatte. Aber das taugte ja als Erklärung kaum.
Es war nichts als eine seltsame Verkettung für sich genommen alltäglicher Vorgänge – und auch ihre Verkettung bedeutete nichts, fühlte sich bloß bedeutsam an. Immerhin.
Säuerlich fuhr ihm der Regen von der Seite auf Wange und Auge, getrieben von einer illegitimen Windböe. Noch tiefer ducken konnte er sich beim besten Willen nicht. Und wenn er das Gesicht zur Seite drehte, lief er noch gegen einen Laternenpfahl.
An der Hauptstraße dröhnte der Feierabendverkehr in zwei einander kreuzenden Richtungen. Das Unwetter, schwarz und schwer, kreiste über der Stadt (über Martin), um all seine Last, seinen Zorn, auf sie (ihn) niederzulassen. Die Luft voller Glockengedröhn, der eiskalte Niesel peitschte seine Wangen. Passanten mit aufgeblähten grotesk gezackten Schirmen anstelle von Köpfen überquerten regenspritzende Spiegelbahnen.
Vielleicht die Bücher einfach auf dem Gehweg ablegen, im Regen, der sicheren Zerstörung geweiht. Ein Mahnmal, gewiß, für die vorbeistreunenden Bürger. Seht, das Lesewerk vergeht! Achtlos in zwei Stapeln inmitten ausschreitender Beine, rasch verdorben vor Nässe. Ein trauriger Fetz lappiger Blätter. Memento mori!
Aber er kämpfte sich durch, er war entschlossen zu kämpfen, nicht aufzugeben, mit seiner Last, mit den üblen Vorzeichen, an die er nicht glaubte, die aber trotzdem da waren, am Himmel und in der Stadt, daß sich alles gegen ihn verschworen hatte. Daß er irgendwas Furchtbares furchtbar falsch gemacht, sich eines Vergehens, einer unverzeihlichen Übertretung schuldig gemacht hatte, zwei Armvoll Bücher, für die sich niemand interessierte, in panischer Flucht errettend.
Als Kind hatte er regelmäßig den Bücherbus besucht. Jede Woche klopfenden Herzens (nein, in Wahrheit ganz ruhig). Als er älter wurde, war er in die Stadtbücherei im Rathaus gegangen. Mehr Räume, endlose Gänge. Erwachsenere Bücher. Und dann war alles sehr schnell und sehr durcheinander gegangen. Einer der müßigen Studentennachmittage, diesmal nicht mit einem Buch – Claire (Claires Haar), die Kinder, das Geldverdienenmüssen. Abends nur noch Fernsehen und Elternversammlung. An den Wochenenden Herrgott er wußte nicht was. Die Kinder wurden immer größer, erst hingen sie einem am Hals, dann standen sie auf ihren kleinen Füßen vor einem und blickten zu einem auf. War noch irgendwas? Immer war noch irgendwas. Nie kam man zur Ruhe, und das war gar nicht einmal unangenehm, bis man plötzlich doch einmal zur Ruhe kam. Dreißig Minuten Lücke in einem ganz normalen durchgeplanten Tag, nur weil er plötzlich vor dem Hauptbahnhof links abgebogen war.
Ein Auto hupte ihn an, er war achtlos auf die Straße getreten. Er machte einen Schritt zurück. Er war dem Huper dankbar, daß er ihn aus diesen nutzlosen Gedanken riß. Seine Arme schmerzten inzwischen wirklich höllisch, weniger vom Gewicht, das sie trugen, als von der unnatürlichen Spreizung durch die eingeklemmten Schwarten.
Vor Erschöpfung und aufrechtgehaltener Anspannung keuchend, lief Martin den Kaiser-Friedrich-Ring hinunter, spähte den entgegenkommenden Autos unter die Frontscheiben und erwartete halb hoffnungsvoll, halb furchtsam, Claires Gesicht zu erblicken, ausdruckslos vor Zorn. (Sie würde ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie sich gezwungen fühlte, ihn in der Stadt zurückzulassen, im Regen, wollte aber natürlich wegen der Kinder pünktlich zuhause sein.) Dann beschloß er, sich lieber an der Farbe der naßglänzenden Fahrzeugdächer zu orientieren. Das schied eine Menge unangenehmer Gesichter aus.
Mit der zu erwartenden Schimpftirade von Claire käme er klar. Sicher, er hätte an sonst einem Tag in die Bücherei gehen können, an jedem beliebigen anderen Tag, nur nicht, wenn sie beim Auto verabredet waren. Aber er kam eben nicht hin, kam nie mehr hin, nirgendwo mehr. War immer bloß mit etwas beschäftigt, das ihm die Geistesabwesenheit raubte, in die er früher in jedem Moment nach Belieben geschlüpft war. Die ihn vor den Bücherregalen wieder überkommen hatte, in die er dort versunken war. – Das war sein schuldhaftes Verhalten. Er hatte Claire und den Kindern den Rücken gekehrt. Deshalb – und gar nicht verwunderlich – der zornige Himmel, das protestierende Gebimmel, die Panik, der Wahn. Die eiskalte Stadt mit ihren gezackten Köpfen, die wollte, daß er sich verdammt noch mal um seine Familie kümmerte.
An einem großen alten Gebäude, einem vormaligen preußischen Irgendwas-Amt, das erhaben genug wirkte, um sich unter seinen Fittichen geborgen zu fühlen, hielt Martin einen Augenblick im Schutz eines Mauervorsprungs inne, den Hintern an die Wand gepreßt, die Bücher eng am Körper haltend, vorgebeugt, als wollte er sein Gesicht verbergen.
Es ist nicht zu spät, dachte er vage, vornübergebeugt unter dem Vorsprung, den vor ihm an einer Ampel gestauten Verkehr im Blick, das rote Autodach oder die roten Autodächer, die aber alle noch nicht zu ihrem Wagen gehörten, bis er hinter eifrig winkenden Scheibenwischern Claires Gesicht erkannte. Hinter ihm hörte endlich das endlose Glockengebimmel auf.
Zuhause trug er die Bücher in sein Zimmer, während Claire ihren regennassen Mantel krachend in die Garderobe hängte. Er schloß sanft die Tür. Die Kinder, die um diese Zeit längst von ihrer Oma zurück sein sollten, waren noch nicht da.
Er stellte die beiden Stapel nacheinander behutsam auf dem Schreibtisch ab und setzte sich auf den Stuhl. Kreisrunde Tropfen glitzerten auf den Schutzfolien, mit denen sie von Bibliotheksmitarbeitern überzogen worden waren.
Konnte irgend etwas darin sein Leben ändern? Wahrscheinlich nicht. Zärtlich nahm er vom linken Stapel das oberste Buch und fing an zu lesen.
Irgendjemand macht irgendwas, Irgendjemand Anders ist dagegen, will nicht, daß es gelingt, will es selber. Ein Konflikt entsteht, wir fiebern mit Irgendjemand – Irgendjemand Anders hat fiese, verschlagene Augen, einen bösen Blick, ist schmierig undsoweiter, die ganze Palette runter.
Morgen und Abend erheben bzw. senken sich über der grauen Stadt. Ein paar Leben gehen weiter, andere – ruhen mehr so auf der Stelle, auf der sie immer schon waren. Urlaube sorgen für Abwechslung.
Irgendjemand beschließt, sich diesmal durchzusetzen, jetzt Ernst zu machen mit der Sache, es ist mitten in der Nacht, das schert ihn nicht, und ruft Irgendjemand-Weibliches an.
Das Telefon klingelt in die Nacht von Irgendjemand-Weibliches Apartment hinein. Wir spiegeln unsere Vorstellungen in die Handlung, die Handlung spiegelt unsere Vorstellungen, so wie sich im Fenster von Irgendjemands Wohnung jetzt die Nacht, die Stadt und die Lichter spiegeln (Fließtext wird durch Illumination erst schön).
Irgendjemand-Weibliches ist selbstredend bildhübsch: Langes Haar, schwarz wie Ebenholz oder wie du willst. Ihr Augenaufschlag brächte Eisberge zum Schmelzen (sogar den Teil unter dem Wasser). Das ist auch der Grund, warum Irgendjemand und Irgendjemand Anders Interesse an ihr gefaßt haben: Beide sind eigentlich stahlharte Kerle und an ihren Gefühlen nicht interessiert (sie versuchen auch jetzt keine zu haben). In ihren Nachttischschubladen liegen Revolver, und nicht nur zum Spaß. Irgendjemand Anders war im Irak-Krieg, Irgendjemand mehrmals im auch recht derben »Bauernkrug« (das nur, um die Unterschiedlichkeit der beiden zu verdeutlichen).
Das Telefon klingelt in die wehende Nacht des Apartments von Irgendjemand-Weiblichem, wir sehen einen nagellackbewehrten Finger, wir hören den Hauch einer Stimme, die von ganz tief unten zu kommen scheint und noch tiefer runter reicht. So fängt die Sache an.
Am nächsten Tag regnet es. Ein ganz fieser Wind bricht über die Stadt herein, die sehr malerisch im Tal liegt und sich keiner Schuld bewußt ist. Ladeninhaber kurbeln die Markisen raus, Autos platschen durch Pfützen. Es sind die Vorstellungen von den Dingen, nicht die Dinge selbst, die die Menschen verwirren.
Irgendjemand Anders hockt in einer Bar (hockt ist das richtige Wort): über ein Glas Whisky gebeugt, es ist nicht das erste. Ein regentriefender Augustus Dritter kommt herein, erweckt seine Aufmerksamkeit. Der unter dem fies gesenkten Anders-Kopf hervorschießende Blick verheißt nichts Gutes (verheißt er nie).
Der Dritte zieht den Regenmantel aus und schüttelt ihn, daß sich Regenwasser in der ganzen Bar verteilt. Dann bemerkt er Irgendjemand Anders und dessen lauernd auf ihm ruhenden Blick: »Hey, Mann …«
So kommen die Dinge ins Rollen, wechselt eine Information den Besitzer – das heißt genaugenommen: verdoppelt die Zahl ihrer Besitzer. Irgendjemand Anders flucht, donnert das Whiskyglas auf den Tisch. In seinem Gesicht sieht man gleich jene für Schurken typische jähe, ganz und gar einseitige Entschlossenheit.
Eine Ambulanz kommt bzw. fährt draußen vorbei, im Regen, aufplatschend durch Pfützen. Läßt die Passanten stehen, fährt anderswohin, ihr schrilles Gelärme verklingt …
Wir befinden uns jetzt im Mittelteil, hier – ist es nicht recht geheuer. Dinge geschehen und verschwinden in Millisekunden wieder, oder geschehen nicht, was noch viel schlimmer ist, oder geschehen oder geschehen nicht, so daß man es nicht so genau weiß, oder geschehen mit unklarer Bedeutung, aber sehr schnell – das ist das Allerschlimmste.
Auf den Bergen, die die Stadt umkränzen, ragen die Bäume finster und verschlossen in die Luft, es sieht aus, als ob sie sich steif machten, tief Luft holten und den Atem anhielten, starr aufgerichtet wie Soldaten, des kommenden Unheils, das sie riechen können wie Tiere ein Unwetter, eingedenk.
Unten in der Stadt hat Irgendjemand gerade sein Auto aus der Tiefgarage geholt, fährt zu einem Blumenladen, kommt mit einem Armvoll Blumenstrauß heraus und fährt zum Bungalow der Blonden (ja, Sie haben richtig gelesen: er will erst noch was erledigen).
Wir alle haben die Geschichte im Kopf, sehen, wie der schiefmündige Anders seinen Revolver aus der Nachttischschublade holt, ihn poliert, putzt, säubert, öffnet, nachsieht, wieviel Patronen noch drin sind, seit er ihn das letzte Mal abgefeuert hat. Das Ergebnis stellt ihn offenbar zufrieden.
Schnitt Schnitt und wieder Schnitt, wir sind wieder in der Stadt, das verheulte Gesicht der Blonden (nachdem wir durch ein offenstehendes Fenster hereingekommen sind) in ihrem Bungalow. Irgendjemand steht grimmig blickend am Fenster, die schönen Rosen verstreut auf dem Boden, das Telefon klingelt (unmotiviert).
Es ist eine alte Geschichte. Irgendwas mit Schlagen, mit Suff, mit Eifersucht. Männer sind hart und Frauen weich und schön. Irgendjemand geht, ohne ein weiteres Wort gesagt zu haben (wir kamen zu spät).
Draußen legt sich Dunkelheit über die Straßen. Die Händler sperren hektisch ihre Läden zu. Ein Mülltonnendeckel rollt über die Gasse. Der Camaro, denn ein Camaro ist es, von Irgendjemand legt sich in die Kurve. Ein paar Kinder mit Mützen spielen im Hauseingang mit Murmeln (aber um Geld). Später jault eine Katze.
Irgendjemand Anders lehnt an der Wand neben dem Eingang des Apartmentgebäudes, grimmigen Gesichtsausdrucks. Was wissen wir über ihn, außer daß es nicht gut sein kann, ihm zu begegnen? Er kaut etwas, spuckt es aus, kaut aber weiter (ein Reservoir von Zahnstochern im Hals versteckt?).
Wir sehen, wie ein älteres Ehepaar sich – in irgendeinem der Häuser der Stadt, in einem namenlosen Fenster – vor dem Zubettgehn (beide im Pyjama, sie geblümt, er kariert) noch einmal um den Hals fällt, um den Tag zu beschließen. Sehr sanft um den Hals fällt (auch kleinere Bewegungen sind im Alter heikel), sich drückt, herzt, knuddelt, was weiß ich – aber eben sehr zart, anrührend zart. Auf den Nachttischen senden die Nachttischlampen ein immer noch schimmernd-verheißungsvolles Licht aus, dabei ist es ihre wer-weiß-wievielte gemeinsame Nacht. Aber die Verheißung ist immer noch da. Dies fungiert als Gegenbild, Mahnung, Warnung, Verheißung, Kontrast, irgendwas in dieser Preislage.
Irgendjemand schießt im Camaro durch die Nacht, Irgendjemand Anders hat den Colt aus der Tasche geholt und spielt damit im halben Lampenlicht unter der Markise vor dem Apartmentgebäude herum. Oben im soundsovielten Stock macht sich Irgendjemand-Weibliches die Finger- oder Fußnägel, ihre Katze sitzt am Fenster, ein weiblich-verschwommener Blick geht zu ihr hin, ja: das ist Liebesverlangen. Der Dritte von gestern in dem Regenmantel ist betrunken, hockt nun seinerseits in einer Bar (das läßt tief blicken; wir wissen aber nicht, ob es um die Blonde oder Irgendjemand-Weibliches geht, sehen ihn auch nur ganz kurz), dann hält der Camaro am Gehweg vor dem Apartmentgebäude. Menschliche Motivationen sind schwach, immerdieselben, und unhintergehbar korrumpiert: Ein Lauf blitzt auf unter der Markise (sagten wir schon: es regnet?).
Irgendjemand, den wir im Lauf der Ereignisse kennen- und lieben- – na ja: zumindest mögen gelernt haben, weil er nachvollziehbare Emotionen zeigte (denken wir nur an seinen Ärger über den Boss und wie er dem reizenden kleinen Mädchen über die Straße geholfen hat), kommt jetzt durch den Regen den Gehweg herauf, tritt auf das Apartmentgebäude zu, einen zweiten Strauß Blumen im Arm (er hat alles richtig gemacht), während der Regen fällt, in langen dünnen silbernen Streifen in die Stadt hinabhängt bzw. -langt wie soundsoviel Schnüre eines Puppenmeisters, an denen wir alle hängen, nicht nur die Figuren, denen wir folgen, sondern auch wir; indem wir ihnen folgen, sie ernstnehmen, ihr Verhalten für ernstzunehmend halten, lernen wir etwas über die Welt, in die wir hineingeworfen wurden. Puppenmeisters Schnüre hängen aus dem Weltall herunter oder aus den Jahrhunderten, wir nehmen sie auf knüpfen sie an unsere Hälse führen die zappelnden Bewegungen aus, und die Geschichten gehen, wie sie seit jeher gehen, verlaufen, wie sie müssen (im Regen, im Schnee, an einem frühreifen Herbsttag): Ein Schuß fällt (oder fällt nicht), der Regen jedenfalls fällt, die Puppenschnüre, und in ihrem Apartment oben fällt sich Irgendjemand-Weibliches selbst um den Hals.
An den Sonntagen ging es für Mark vor allem darum, in die somnambule Stimmung zu kommen, die er mehr liebte als alles andere. Er blieb vor der kalten Heizung stehen, bis der weiße R 16, der die ansteigende Straße im Wohnzimmerfenster wie ein schwerfälliges Insekt hinaufkroch, nicht mehr zu sehen war. Er wischte ein Guckloch in den kondensierten Atem auf der Scheibe, um zu sehen, ob sie nicht auf der anderen Straßenseite wieder herunterkamen – kamen sie aber nie (einen kurzen Moment lang bereute er, daß er nicht mitgefahren war. Ein kleiner heißer Schmerz schoß in ihm hoch und verdampfte wieder).
Dann schritt er in gehöriger Gemessenheit die gesamte Wohnung ab, trat in jedes Zimmer, hielt sich ein paar Momente darin auf, sah den Gardinen beim Wehen (oder Nichtwehen) zu, rückte hier etwas zur Seite, kickte dort einen Ball oder ein Stuhlbein fort, um sich selbst zu überzeugen, daß er ganz allein war. Zuerst das Zimmer seiner kleinen Schwestern gleich vorn bei der Wohnungstür, in dem Bärchengleichmut und Söckchenunschuld inmitten winziger rosafarbener Tassen und Teller ihrer Herrinnen harrten. Bleiches Licht schimmerte von der Straße her durch die hellen Stores, wie um ihn an die Abwesenheit ihrer plappernden Stimmen zu erinnern. Dann ins Bad gegenüber, mit dem von einer Milchglasscheibe gedämpften Blick in den Hof (bestenfalls Schemen sah man bei günstigem Lichteinfall) und der unverrückbaren Waschmaschine. Durch den Flur mit dem Schuhschrank aus weiß furniertem Sperrholz, der sich mit seinen drei Schiebetüren fast bis zur Wohnungstür erstreckte und den sein Vater in endloser Heimarbeit gebaut hatte: größer, klobiger und weitaus praktischer als alles, was man kaufen konnte (niemand, den er kannte, besaß einen größeren Schuhschrank als sie). Über ihm prangte ein kreisrunder selbstzufriedener Spiegel, der einem vor dem Verlassen der Wohnung sagte, ob man den Anforderungen der Außenwelt genügte (was Mark egal war). Daneben fünf Garderobenhaken aus weißem Kunststoff mit vier entseelten schlaffen schurkischen Jacken.
Die Zimmer schwiegen allesamt, sie schworen, ihn nicht zu stören. Auch das Gästeklo und die grünkachelige Küche – wirklich niemand da außer ihm. Hier und da legte er im Vorbeigehen tröstend Hand auf. (Nur ins Schlafzimmer warf er keinen Blick, diesen kältesten und fremdesten Raum der Wohnung mit dem unablässig durchs gekippte Fenster einströmenden Wind, den leise sich reibenden Faltungen hellblauer Polyestergardinen).
Schließlich fand er ins Wohnzimmer zurück, dessen ganze Sonntagsnachmittagsherrlichkeit nun ihm allein gehörte. Nicht von einem der beiden Sofas, sondern von dem dazupassenden einzigen Sessel aus starrte er die gewölbte graue Mattscheibe des Fernsehers an, bis er in ihr das dunkle Zerrbild eines Zimmers ausmachen konnte, in dem irgendjemand seine Beine über die Sessellehne geschlagen hatte.
Nach einer Weile nahm er die Fernbedienung vom Tisch und schaltete den Apparat ein. Um diese Zeit liefen amerikanische Spielfilme – meist Western, in denen ein geheimnisvoller Fremder (wie er selbst) in eine Stadt einritt, unauffällig abgeschätzt von ein paar Damen auf dem Balkon des Saloons, weshalb Mark den Ausgang der Sache unbedingt erfahren mußte, auch wenn der Anfang immer das Beste war – oder Sportübertragungen. Selbst Pferdespringen hielten ihn manchmal eine ganze Weile auf dem Sessel fest.