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»Meine Großmutter hat sich mit allen Leuten zweimal zerstritten. Das erste Mal, als die Leute die Schrecken der NS-Herrschaft zu schnell vergessen wollten. Und dann, als sie die ökologischen Katastrophen nicht wahrhaben wollten.« Dagmar Reemtsma ist fast 90, sie ist ein Kriegskind. Ihre Enkelin Luisa Neubauer ist in Friedenszeiten aufgewachsen, doch ihre Generation ist durch die ökologische Zerstörung bedroht. Sie beide verbindet ihr Einsatz gegen die Ohnmacht angesichts der Krisen und Kriege der Welt. In diesem Buch erzählen sie erstmals ihre persönliche und politische Geschichte. Zwei außergewöhnliche Frauen und Aktivistinnen, hundert Jahre Geschichten gegen die Ohnmacht – eine Verschwisterung über die Generationen. Luisa Neubauer hat eine besondere Beziehung zu ihrer Großmutter Dagmar Reemtsma. Seit sie ein Kind ist, besprechen sie alles miteinander. Persönliches, genauso wie die großen Fragen von Geschichte, Politik und Gesellschaft. Früh fingen sie an darüber nachzudenken, was Privilegien bedeuten, und wie man ihnen gerecht wird. Sie wurden in sehr unterschiedliche und sehr schwierige Zeiten hineingeboren, mussten früh eine eigene Haltung finden: Dagmar Reemtsma wurde in Zeiten des erstarkenden Nationalsozialismus geboren, ihr Vater kam in einem KZ ums Leben. Luisa Neubauer musste verstehen, dass das Land, in dem sie aufwächst, ihre Generation nicht vor der Klimakrise schützt. Als sie ihr Studium aufnimmt, um die ökologischen Katastrophen besser zu verstehen, stirbt ihr Vater. Doch der Ohnmacht zu erliegen, war für beide nie eine Option. Der Krieg gegen die Ukraine brach mitten in die Gespräche zu diesem Buch. Keine von beiden hätte geglaubt, wieder Krieg in Europa erleben zu müssen. Und wieder stehen sie vor Haltungsfragen, vor Verantwortungsfragen und der Frage, was man der Ohnmacht entgegenstellt. SPIEGEL-Bestseller
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Seitenzahl: 212
Luisa NeubauerDagmar Reemtsma
Gegen die Ohnmacht
Meine Großmutter, die Politik und ich
Tropen
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Tropen
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© 2022, 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Zero-Media.net, München
unter Verwendung zweier Fotos von © Axel Martens, Hamburg
Das Bild der Friedensdemonstration in Berlin 2022 (Tafelteil, 6. Seite unten) stammt von © picture alliance/dpa | Jörg Carstensen, sämtliche anderen Bilder im Tafelteil stammen aus dem Privatbesitz der Autorinnen.
Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-50198-8
E-Book ISBN 978-3-608-11940-4
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Prolog
Jeden Freitag
Aufwachsen
Erinnern
Ostfronten
Rauchen
Empören
Fossilität
Verlieren
Verbrauchen
Privilegien
Regenerieren
Gegen die Ohnmacht
Dank
Genese
Tafelteil
Literaturverzeichnis
Niemand macht einen größeren Fehler als derjenige, der gar nichts macht, weil er nicht alles machen kann.«
Der Philosoph Edmund Burke ist heute aus diversen Gründen umstritten, aber als meine Großmutter den Satz liest und beschließt, selbst was zu unternehmen, geht es ihr nicht um Edmund Burke. Es geht ihr um die Maxime dieses Satzes, die heute aktueller scheint denn je. Im Internet findet sie eine kleine Druckerei, die selbstgestaltete Postkarten druckt. Sie bestellt neunhundert Stück, alle mit dem Satz von Burke auf der Rückseite und einem Link zu einer Website, die über Öko-Stromanbieter aufklärt. Vorne auf den Karten ist ein Foto, das sie von einer Bronzestatue gemacht hat. Es zeigt einen übergewichtigen Adam, der in einen Apfel beißt. »Adam plündert sein Paradies«, heißt die Statue. Sie steht vor dem Botanischen Garten Hamburg.
Die Postkarten holt sie mit dem Fahrrad von der Druckerei in Altona ab, dann fährt sie zum Botanischen Garten. Stellt sich neben den grünlich-angelaufenen Adam aus Bronze auf den sandigen Vorplatz. Und dort bleibt sie, verteilt Postkarte um Postkarte an die Menschen auf dem Weg in den Garten.
Zu diesem Zeitpunkt ist seit über einem halben Jahr Pandemie in Deutschland und meine Großmutter macht sich Sorgen, dass Corona Aktivismus und Widerstand in der Gesellschaft zum Erliegen bringt. Ein paar Freundinnen helfen ihr mit dem Verteilen. Nach wenigen Wochen sind sie alle Karten los.
Meine Großmutter ist dreißig Jahre vor mir Aktivistin geworden, ausgelöst durch die atomare Bedrohung, angefeuert von den wachsenden ökologischen Krisen und weltweiten Ungerechtigkeiten. Lange vor mir hat sie Proteste organisiert, auf Aktionärsversammlungen gesprochen und die Politik konfrontiert. In ihrem langen Leben hat sie mit eigenen Augen verfolgt, wie der Versuch, endloses Wachstum und endlosen Wohlstand zu schaffen, in nie da gewesene ökologische Krisen mündete, und auch wie das Friedensprojekt Europa hoffnungsvoll startete und mit der Invasion in die Ukraine in Teilen scheiterte.
»Was für eine Welt hinterlasst ihr uns nur«, frage ich sie manchmal.
»Wir haben alles gegeben«, entgegnet sie. »Und ihr baut auf unsere Arbeit auf. Wie sähe die Welt sonst aus?«
Sie sagt aber auch: »Wir, die Großelterngenerationen haben durch unser Verhalten und unsere Lebensweise die Lebensverhältnisse geschaffen, auf die unsere Enkel hinwachsen. Ich sehe es als meine Pflicht, euch zu unterstützen.«
Immer wieder stellen wir fest, wie unterschiedlich unsere Perspektiven und wie ähnlich dennoch viele Erfahrungen sind. Politisch und persönlich. Auf unsere eigene Art und Weise empören wir uns über die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern, die wirtschaftlichen Ausbeutungssysteme und die politische Verantwortungslosigkeit in der Klimakrise. Aus unserer Empörung haben wir beide die Energie gezogen, etwas zu verändern. Wir haben beide unsere Väter verloren. Die Umstände lassen sich nicht vergleichen, wohl aber die Antwort auf die Frage: Wie gehen wir um mit dem Verlust, mit dem Verlust im Leben und – auf einer anderen Ebene – mit dem Verlust der Lebensgrundlagen?
Und aus unserer jeweiligen Perspektive fragen wir uns, was es braucht, damit aus Empörung Handeln wird, und woher in Krisen die Zuversicht kommen kann, die wir so dringend brauchen.
Nachdem meine Großmutter die letzten Karten am Botanischen Garten verteilt hat, ruft sie mich an. Zu dem Zeitpunkt bin ich als Aktivistin jeden Tag eingespannt. »Was ist nur aus der Welt geworden?«, fragt sie.
Ich erlebe es auch, auf Veranstaltungen, Protesten und in Gesprächen. Der Glaube an eine bessere Zukunft ist immer mehr der Ohnmacht angesichts der sich überschlagenden Krisen gewichen. »Was soll denn noch kommen?«, raunt es überall.
In wenigen Generationen könnten wir eine um drei Grad heißere Welt erleben. Die Klimakrise eskaliert Tag für Tag, Krisen eruptieren drum herum. Es ist weniger die eine Katastrophe, die wir erleben. Sondern eine Aneinanderreihung an Mikro-Katastrophen, versteckt und offen, leise und laut. Eine Welt nach der anderen bricht zusammen. Wie die Versprechen einer sicheren und friedlichen Zukunft eingehalten werden sollen, steht in den Sternen. Bis heute ist auch die Frage offen, welche Worte das Fassungsvermögen entfalten können, der Wucht dieser Krisen gerecht zu werden. Wie dringt man noch durch? Und: Wie lässt sich verhindern, dass aus immer mehr Wissen über die Klimakrise mehr Macht und nicht mehr Ohnmacht erwächst? Denn sie ist es, die Ohnmacht, die zum Hauptgegner geworden ist. Das lähmende Gefühl, dass sich doch nichts mehr ausrichten lässt, dass es schon zu spät ist, dass man selbst zu klein und die Krise zu groß und zu unaufhaltsam ist.
Meine Großmutter und ich kennen nicht alle Antworten. Aber wir sehen, dass wir es anders machen müssen. Wir sehen, dass wir anfangen müssen, persönlich zu werden. Geschichten zu erzählen. Über die Ohnmacht und ihre Wurzeln. Dass wir den Wurzeln auch an Orte folgen müssen, die nicht mehr oder noch nicht viel besprochen werden. Wir wollen neue Bande spannen, über die Generationen und über die Jahrhunderte hinweg.
Wir fragen uns: Woher soll die Kraft kommen, in diesem entscheidenden Moment nicht aufzugeben? Woher die Hoffnung, dass es möglich ist, eine gerechte und nachhaltige Zukunft zu gestalten? Woher der Mut, sich dafür einzusetzen? »Wir werden neue Mythen und Geschichten brauchen, ein neues Verständnis der Wirklichkeit. (…) Neue Arten unsere kollektive Existenz zu denken«, schreibt der Autor Roy Scranton.
Es wird viele dieser Geschichten brauchen, in diesen Jahren. Geschichten aus allen nur denkbaren Blickwinkeln und Biographien heraus. Dies ist die Geschichte von einer Frau, die nach fast neunzig Lebensjahren, nach Kriegen und Krisen, loszieht, um Mut zu machen. Und mir, ihrer Enkelin, die irgendwann feststellte: Ich kann nicht alles machen, aber ich kann etwas machen.
Wir wollen zusammentragen, was uns bewegt, was uns zusammenbringt und worüber wir streiten. Wir suchen Antworten darauf, wie wir das 20. und das 21. Jahrhundert zusammenbringen können, durch uns und unsere Erfahrungen, vorwärts und rückwärts, aktivistisch und familiär. Wir fragen uns, was aus Lehren und Versprechen geworden ist, und was es braucht, damit wir die Fehler nicht wiederholen. Und über allem die Frage, wie wir das Gefühl von Ohnmacht überwinden und es in radikale, empörte Zuversicht wenden.
Wo fangen wir an? Ganz von vorne. Bei uns.
In meinen letzten beiden Schuljahren bin ich jeden Freitag nach der Schule zu meiner Großmutter gefahren. Daran muss ich denken, als ich vor ihrem Haus stehe. Neben der Tür lehnt noch immer der Besen an der Hauswand. Wer zu Besuch kommt, fegt kurz die Treppenstufen, damit meine Großmutter nicht auf dem Laub ausrutscht.
Wenn meine Großmutter mich damals vor dem Küchenfenster stehen sah, rief sie so nachdrücklich: Aaach, Luisaa, als wäre sie jeden Freitag aufs Neue überrascht von meinem Besuch. Drinnen hielt sie Hausschuhe bereit, damit ich keine kalten Füße bekäme. In meiner Erinnerung schlurfte ich in viel zu großen Schlappen hinter ihr her in die Küche.
Während sie im Topf rührte, ließ ich mich auf die Küchenbank fallen und steckte die eiserne Nähmaschine auf dem Regal aus, um dort mein Handy zu laden. In der Tasche hatte ich oft kleine Zettel, auf denen stand Indien oder Elbvertiefung oder auch 80er-Jahre, hä? Dinge, die wir im Unterricht besprochen hatten und die ich mit meiner Großmutter diskutieren wollte. Noch bevor ich richtig angekommen war, war sie schon mittendrin: Luisa!, sagte sie dann, was ist nur wieder alles passiert!
Die Tradition der Nachmittage bei meiner Großmutter reicht weit zurück. Schon als kleines Kind verbrachte ich solche Nachmittage bei ihr. Damals trafen wir uns nicht zuerst in der Küche, sondern in ihrer Holzwerkstatt, unten im Keller. Irgendwann hatte sie ihre Garage ausgebaut und statt eines Autos eine Werkbank reingestellt. Sie hatte Holz vom Baumarkt geholt und an der Wand eine lange Leiste mit Löchern angebracht, an die sie buntes Werkzeug hängte. Solange ich denken kann, sitze ich mit ihr da unten. In einem viel zu großen Hemd und mit einer kleinen Laubsäge in der Hand.
Wir sägten alles, was man sägen kann. Weihnachtsgeschenke und Serviettenringe, Holztiere zum Spielen, Schlüsselanhänger und große Holzstücke, die wir später zu Vogelhäuschen zusammensetzen würden. Meine Großmutter stand über mich gebeugt und zeigte mir, wie man die Säge richtig hält oder später, wie man die elektrische Sägemaschine bediente. Ich erinnere mich, wie ich auf ihre Hände blickte, dicht vor meinem Gesicht. Ihre Finger waren übersät mit Schnitten und Falten, darin sammelten sich winzige Sägespäne. Sie sahen nicht aus wie die Finger der Frauen aus den Elbvororten, mit geföhnten Haaren, die wir auf den Veranstaltungen trafen, zu denen sie mich mitnahm.
Meine Geschwister, Cousinen und Cousins waren auch häufig bei ihr. Mal einen Nachmittag, mal eine ganze Woche, um noch rechtzeitig etwas für unsere Eltern zu basteln. Für meinen Vater wollte mein Bruder einmal die Szene der untergehenden Titanic nachbauen, das war der Lieblingsfilm unseres Vaters. Da stand er auf einmal vor meiner Tür, mit einem komisch verzogenen Holzbrett, das er im Keller gefunden hatte und erzählte was von Schiffbruch, sagte meine Großmutter. Sie hatte keine Zeit, sich lange den Kopf zu zerbrechen, der Geburtstag war schon am nächsten Tag. Sie legten los – und am Tag des Geburtstags fand unser Vater auf dem Gabentisch ein großes Modell des Schiffes. Wenn man vorne an einem Faden zog, ging die Titanic langsam im Mondschein unter.
Mit den Jahren wurden unsere Bastelprobleme immer mehr zu politischen Problemen. Wir zogen vom Keller rauf in die Küche, statt darüber zu grübeln, wie der Puppenstuhl verleimt werden kann, diskutierten wir, wie Gesellschaften zusammenhalten, die Wirkung von Artenschutzabkommen oder welche Entscheidungen in der Hamburger Bürgerschaft anstanden.
Unsere Hände hatten nun seltener Farbkleckse und wirbelten durch die Luft. Alte Hände, junge Hände, Haare raufend. Aber denk doch an und Stell dir doch nur mal vor. Ein Hin und Her, von beiden Seiten des Tisches.
Die Themen, mit denen sich meine Großmutter in neunzig Lebensjahren beschäftigt hat, sind nicht mehr zu zählen. Selten habe ich sie sagen hören, dass sie von einer Sache noch nie etwas gehört hätte. Im Gegenteil. Es kam vor, dass Freunde von mir am Kaffeetisch in einem Nebensatz ihre Begeisterung für Flugzeugtechnologien erwähnten und meine Großmutter plötzlich ihre Kuchengabel fallenließ, aufblickte und eine kleinteilige Abhandlung über die wirtschaftliche Unsinnigkeit der Produktionslogistik des Airbus A380 vortrug. Oder bei anderem Anlass über die ökologische Dimension von Friedensfragen. Oder den Menschenrechten in Bangladesch, den Ungerechtigkeiten des deutschen Bildungssystems.
Wenn ich heute zu einer Talkshow gehe, ruft sie danach regelmäßig bei mir an, um zu erklären, dass sie meine Analyse der globalen Abhängigkeiten etwas unterkomplex gefunden hätte, und ich nebenbei etwas langsamer sprechen könnte. Und Luisa, putz doch wenigstens für das Fernsehen deine Schuhe!
Wenn ich heute gefragt werde, wo ich das Reden gelernt habe, die Art zu diskutieren, wenn ich in Talkshows oder auf Podien sitze, dann denke ich an meine Großmutter und die Freitage, an denen wir stundenlang lang die Ereignisse der Welt sezierten, an ihre unermüdliche Energie und Empörung, ihre radikale Zuversicht.
Ich drücke die Klingel.
—
Ich habe mich gerade auf die alte Küchenbank gesetzt, da legt meine Großmutter schon los. »Guck mal«, sagt sie und schiebt ein Stück bedrucktes Papier zu mir herüber. Ich war einigermaßen erschöpft zu ihr gekommen; lange Tage, kurze Nächte. Die Regierung hatte zuletzt einige Klimaversprechen aufgeweicht, die europäische Lobby der Gasindustrie war auf dem Vormarsch, in den französischen Wahlen war die Klimakrise kaum Thema gewesen. Noch schlimmer als die Rückschläge alleine war aber der öffentliche Umgang damit. Von »Rückschlägen für die Klimabewegung« wurde da gesprochen, als sei das alles mehr ein privates Problem von uns Aktivist:innen. Auf der Küchenbank schaue ich zu meiner Großmutter rüber. Sie schenkt mir Kaffee nach, etwas widerwillig, und sagt: »Trink nicht so viel davon, das ist nicht gut für dich.«
Wieder einmal frage ich mich, wie wir uns vor der Verzweiflung schützen können. Meine Großmutter hat nie aufgehört, sich einzusetzen, in all den Jahren nicht. Das heißt nicht, dass sie keine Verzweiflung kennt. Aber die Empörung in ihr ist am Ende immer stärker. Im Großen wie im Kleinen. Empört guckt sie mich auch jetzt an. »Jetzt guck mal«, sagt sie und weist auf einen Flyer vor mir. Darin geht es um die Sache mit dem Laubbläser.
Alles hatte damit angefangen, dass eine Nachbarin einen Gärtner beauftragt hatte, nachmittags regelmäßig mit einem Laubbläser ihren Garten zu bearbeiten. »Laubbläser sind ein Riesenproblem«, sagt meine Großmutter entrüstet. Sie störten die Ökosysteme und schädigten den Boden. Wenn man die Wege freihalten wolle, könne man ja harken und die Blätter im Herbst auf den Beeten verteilen, damit sie dort die Erde wärmen und vor Erosion schützen. Meine Großmutter kann nicht nachvollziehen, wie man auf die Idee kommen kann, einen Laubbläser, der so schlecht für die Umwelt ist und dabei »einen heillosen Krach macht«, einzusetzen, nur um den eigenen Vorgarten etwas aufzuhübschen. Dass ihre Nachbarin einen Laubbläser eingesetzt hatte, hielt meine Großmutter für Unbedarftheit, ja ein Versehen. Da wusste jemand einfach nicht Bescheid, was diese Maschine ökologisch anrichtet, kann ja passieren.
Jetzt, während ich diese Geschichte aufschreibe, fällt mir erst auf, wie weit unsere Perspektiven hier auseinandergehen: Meine Großmutter geht in solchen Situationen kategorisch von gutwilligen Menschen mit einem Mangel an Informationen aus, ich hingegen sehe zuerst mangelnden Willen trotz besseren Wissens.
Meine Großmutter spazierte also die Straße hinunter. Bei der Nachbarin angekommen, folgte ein erstes, freundliches Aufklärungsgespräch am Gartenzaun. Meine Großmutter erklärte, dass der Laubbläser mit 220 Stundenkilometern Blätter und Nährstoffe wegbliese, dass Humusaufbau verhindert würde, dass der Boden so nicht mehr vor Kälte oder Trockenheit geschützt sei und außerdem würden wichtige Kleinstlebewesen getötet. Meine Großmutter ließ auch noch Grüße an den Gärtner ausrichten.
Eine Woche später hörte sie den Laubbläser wieder. Was war da los?, dachte meine Großmutter, und weil die Nachbarin nicht da war, schrieb sie einen Brief. Sie sei »einigermaßen entrüstet«, die Nachbarin wisse doch nun Bescheid. Sie könne wirklich nicht verstehen, was sie sich dabei dächte: Ökologie ginge uns alle an. Den Kleinstlebewesen und dem ausgelaugten Boden sei es schließlich egal, auf welcher Seite des Zauns er misshandelt würde. Das müsse sie einsehen. Sie steckte den Brief in den Briefkasten.
Als mir meine Großmutter von ihrem Disput mit der Nachbarin erzählt, frage ich mich, ob sie sich nicht verkämpft. Ob man die eigene Energie nicht für größere Kämpfe einsetzen müsste, z. B. einzufordern, dass Laubbläser oder andere große, fossile, ersetzbare Maschinen schlichtweg verboten würden. Laubbläser, SUVs in Innenstädten, Privatjets würden mir da etwa einfallen.
Meine Großmutter setzt sehr wohl auf die Notwendigkeit großen politischen Wandels. Aber nicht nur. »Wir haben keine Zeit mehr«, sagt sie, »darauf zu warten, dass es für alles und jeden genug Regeln gibt. Die ökologischen Krisen werden jeden Tag gefährlicher und jeden Tag schwinden unsere Chancen, das Schlimmste noch zu verhindern. Wir müssten schon heute loslegen. Mitdenken und mitmachen. Und da sind diejenigen, die mehr machen können, natürlich auch mehr gefragt.« Gerade letzteres dürfe nicht vergessen werden, das ist meiner Großmutter besonders wichtig. Privilegien spielen hier eine Rolle. Die Nachbarin hat das Privileg, einen Gärtner inklusive Laubbläser engagieren zu können. In der ökologischen Krise geht es nicht nur darum, die eigenen Privilegien zu reflektieren. Es geht auch darum, sie einzusetzen. Oder wie hier: Im Zweifel auch, auf sie zu verzichten lernen. Und zu erkennen, wann wir von Rechten und wann von Privilegien sprechen.
Und schließlich läuft es auf die Frage der Macht hinaus: Meine Großmutter und ihre Nachbarin müssten sich nicht streiten, wenn es eine politische Lösung gäbe. Wenn die Produzenten von Laubbläsern angemessene Umweltauflagen hätten oder diese Geräte komplett verboten wären. Wenn diese Dinge aber politisch nicht ausdiskutiert und gelöst werden, verlagert sich der Streit. Vom Parlament an den Gartenzaun. »Dabei müsste es doch andersherum gehen«, sagt meine Großmutter. »Die Gartenzaunthemen sollten im Parlament landen und dort ausgetragen werden.«
Wenn junge Menschen gefragt werden, wie sie ihre Zukunft sehen, sagen viele, laut einer repräsentativen Studie der University of Bath in England, dass sie Angst haben vor dem, was kommt. Dass sie sich betrogen fühlen von den Regierungen. Regierungen hätten die Macht, notwendige Regeln aufzustellen, die ökologische, gesellschaftliche und individuelle Rechte austarieren. Viel öfter aber würde die Macht dazu genutzt, um im Sinne von kleinen, mächtigen Lobbygruppen Entscheidungen zu fällen. In kaum einer Krise ist das so deutlich geworden wie in der Klimakrise. Im ökologischen Kollaps zählen nicht die besseren Argumente, sondern die Macht hinter den Argumenten. Wer hat die Macht zu zerstören, wer hat die Macht, die Zerstörung aufzuhalten?
Dass immer mehr Menschen sich in den Krisen dieser Zeit, insbesondere in der Klimakrise, in einer Ohnmacht wähnen, ist nicht die Folge vieler schlechter Nachrichten. Ohnmacht erwächst auch nicht einfach dort, wo schlechte Dinge passieren, sondern dort, wo diejenigen, die durch Macht Verantwortung haben, dieser Verantwortung nicht gerecht werden. Und diejenigen, die Verantwortung übernehmen würden, nicht die notwendige Macht haben.
Ohnmacht ist eine Machtasymmetrie, wenn man meint, einer Situation, einer bestimmten Dynamik wenig entgegensetzen zu können. Dann kommt sie: Sprachlosigkeit, Entfremdung oder emotionale Flucht. Dann wird getobt, getrauert, gestritten oder geschwiegen. Manchmal alles zusammen.
Ohnmacht sorgt dafür, dass meine Großmutter morgens nicht mehr die Zeitung aufschlagen mag, dass Familien an Weihnachten nicht mehr über das Klima reden, weil alle sonst streiten. Ohnmacht schaltet gleich: lässt kaum Nuancen zu, keine Widersprüche, keine Unebenheiten. Ohnmacht heißt: Alles ist vergebens, die Welt und ich in ihr gleichermaßen. Ohnmacht übersieht, ignoriert, leugnet die Widerstände an anderen Orten, zu anderen Zeiten, von anderen Menschen.
Und so ist Ohnmacht zuweilen auch ein Privileg. Es ist ein Privileg derjenigen, die von Krisen und Katastrophen nur so indirekt betroffen sind, dass sie es sich leisten können, in Verzweiflung oder Gleichgültigkeit zu versinken. Wer vor dem Hurrikan flieht, der Flut oder dem Brand entkommen muss, gegen den Hunger kämpft, der kann sich keine Ohnmacht leisten. Der muss funktionieren.
Um der Ohnmacht zu entkommen, gehen Menschen – wenn sie können – weite Wege. Dann wird die Energie nicht mehr genutzt, um die Krisen möglichst gut zu verstehen und ihnen etwas entgegenzusetzen. Dann wird ebendiese Energie genutzt, um möglichst effizient vor den Krisen zu fliehen. Vor den Nachrichten, in den Urlaub, in andere Themen – in Zynismus.
»Es gibt kaum eine Gruppe, die so viel Einfluss auf die Weltgeschichte hat wie die Gleichgültigen«, schreibt Rafik Schami. »Und das Bemerkenswerte daran ist, niemand spricht von ihnen. Ihre Passivität hat die radikalsten Umbrüche ermöglicht. Die Gleichgültigen nehmen alles hin, wie es kommt. Sie sind weder dafür noch dagegen. Engagement ist für sie ein rotes Tuch; mit der Zeit stumpfen sie ab.«
Ohnmacht ist ein Zustand, Gleichgültigkeit ist eine Verlockung. Eine Verlockung, nicht hinzugucken, nicht nachzufragen. Lieber den Blickwinkel zu ändern als die eigenen Umstände. Ja, es ist einfacher, das Gefühl der Ohnmacht als Tatsache zu verstehen, als zu erkennen, dass Ohnmacht Ursprünge hat, die jederzeit veränderbar sind. Gleichgültigkeit leugnet, wie viel schon erstritten und errungen und verbessert wurde, weil Menschen sich gegen ihre Ohnmacht gewehrt haben.
Als wir mit Fridays for Future 2019 auf die Straße gingen, haben wir nicht daraufgesetzt, die Regierung mit besseren Argumenten zum Handeln zu bringen. Es ging uns darum, gesellschaftliche Macht hinter unseren Argumenten zu versammeln. Wir wollten zeigen, dass sich Machtverhältnisse verschieben lassen und dass man das Gefühl der Sprachlosigkeit überwinden kann. Wir waren kein Einzelfall. Wir reihten uns ein in die lange Geschichte sozialer Bewegungen.
Meine Großmutter lässt Gleichgültigkeit nicht gelten, weder im Großen noch im Kleinen. Wenn sie etwas sagen kann, sagt sie was, bewegt sie was. Selbst wenn es lediglich ein Gespräch mit der Nachbarin ist. Auch die hat sie noch nicht aufgegeben.
»Müssen wir vermuten«, fragt sie mich, »dass der Nachbarin die ästhetische Reinheit ihres Vorgartens wichtiger ist als der Schutz der Ökosysteme, der Arten und des gemeinsamen Bodens?« Sie hat bunt bedruckte Info-Flyer vom BUND für den Gärtner besorgt. Vielleicht muss man sich an ihn wenden.
»Natürlich könnte man entgegenhalten«, sage ich, »dass dieser Mann einfach sein Geld verdient.«
»Er könnte doch auch für’s Harken bezahlt werden«, erwidert meine Großmutter.
»Was wirst du tun, wenn sie nicht aufhören?«, frage ich.
Meine Großmutter schaut aus dem Fenster, ihre Fingerspitzen trippeln auf der Tischplatte, die Augen blitzen. »Dann versuche ich es im Herbst wieder«, sagt sie, »wenn die Blätter der Birke da hinten gelb werden.«
Meine Großmutter lacht laut. »Luisa, was waren das für schöne Sommer.« Wir schauen alte Videokassetten an, von einem Sommerurlaub in Dänemark. Damals hatte meine Großmutter uns besucht, also meine Eltern – ihre Tochter und ihren Schwiegersohn – und meine Geschwister und mich.
Videokassetten zu schauen, das machen wir nicht einfach zwischendurch, nein, es ist eine nachmittagfüllende Aktivität. Der große, alte Fernseher und seine unzähligen Kabel, Bedienungen und Schalter müssen dafür umständlich angeschlossen und aktiviert werden. Wenn wir mit der ersten Kassette durch sind, gucken wir immer noch eine weitere.
Meine Großmutter filmt, solange ich denken kann. Länger, genau genommen. Bevor meine Großmutter gefilmt hat, hat ihre Mutter gefilmt. Ab 1934 begleitete sie bereits die Familie mit der Kamera, später filmte meine Großmutter die Aufnahmen ab.
Unsere beiden Kindheiten sind so in weiten Teilen auf Kassette konserviert.
Auf dem Fernseher sehen wir meine Brüder und mich am Strand: Wir graben lachend die Füße meines Vaters im Sand ein. Es ist heiß, mein Vater hat ein Halstuch um den Kopf gewickelt. Nächste Szene: Meine Mutter zeigt meinem Bruder, wie man Lenkdrachen steigen lässt, dann schwenkt die Kamera zu mir. Ich winke meiner Großmutter hinter der Kamera zu und beiße in einen Pfirsich.
Einen anderen Nachmittag hatten wir ganz ähnliche Szenen aus der Kindheit meiner Großmutter angeschaut, sie und ihre Brüder toben im Sommer im Garten auf einer riesengroßen Holzrutsche. Die kleine Schwester schläft im Kinderwagen daneben, die Jungs haben kurzärmlige Hemden an, meine Großmutter eine lange Hose mit bunten Fransen.
Wenn man einzelne Momente unserer Kindheit nebeneinander stellt, sehen sie sich erstaunlich ähnlich, es wirkt selbstverständlich, dass wir Jahrzehnte später zusammen auf dem Sofa sitzen und diese Aufnahmen anschauen.
Dabei hätten die Zeiten, in die wir hineingeboren sind, unterschiedlicher kaum sein können.
Meine Großmutter ist als Dagmar von Hänisch geboren worden, in Ragnit an der Memel. Dort kam ich 1933 auf die Welt, in diesem Schicksalsjahr, praktisch direkt nach der Machtergreifung von Hitler. Jetzt sagt sie manchmal: Was habe ich mir bloß dabei gedacht?
Bis heute erzählt sie gern die Geschichte, wie ihre Eltern sich ausgerechnet an einer Tankstelle kennengelernt haben. Friedrich Martin Joachim von Hänisch, man nannte ihn »Jo«, und Ilse Bauermeister heirateten 1929 und zogen später von Altona nach Lüneburg. 1930 wurde dort ihr erstes Kind geboren, Dagmars großer Bruder Hans-Erich.
Im Winter 1932 wurde Jo nach Ragnit an der Memel versetzt (ein Kaff!), wo er die Leitung einer Sperrholzfabrik übernehmen sollte. Meine Mutter ist dann, mit mir hochschwanger, von Lüneburg dorthin nachgezogen. Ostpreußen – das war für sie so, als ob man heute sagen würde, du musst nach Sibirien. Oder in die Walachei! Es schien sehr weit weg und gruselig kalt. Ohne Umschweife schiebt meine Großmutter mit einem Seufzer hinterher: Da haben wir eine wunderbare Kindheit gehabt.
Drei Jahre nach der Geburt von Dagmar von Hänisch zieht die Familie von Ragnit in die nahe Kreisstadt Tilsit. Später suche ich den Ort vergeblich auf der Karte. Tilsit heißt seit 1946 »Sowetsk« und liegt in der russischen Oblast Kaliningrad, an der Grenze zu Litauen. Für meine Großmutter, die 1944 von dort geflüchtet ist, bleibt ihre Kindheit immer die Kindheit in Tilsit.
Wenn sie von ihrer Kindheit in Tilsit spricht, dann spricht sie nicht von einer bestimmten Zeitspanne, sie sagt nie: Das waren sieben schöne Jahre. Sie erzählt von dieser Kindheit als einer abgeschlossenen Entität, einer Insel, losgelöst von Zeit und Raum. Vielleicht liegt das auch daran, dass mit dem Ende ihrer Kindheit auch die Orte der Kindheit für sie verloren waren. Sie konnte im Laufe ihres Lebens nicht mehr zurückkehren in das Tilsit, das sie kannte. Ihr Elternhaus gibt es zwar noch, aber die Welt drumherum ist eine andere.
Wir lebten ja damals in Ostpreußen, in Tilsit, bis ich elf war, so beginnt jede ihrer Geschichten von damals. Dabei baut sie »Ostpreußen« so selbstverständlich in Sätze ein wie Frankreich oder Italien. Als ich klein war, dachte ich, Ostpreußen müsse so etwas Ähnliches wie Brandenburg sein, weit im Osten, aber nah genug, dass man noch mit dem Zug hinfahren konnte. Von den Zugfahrten erzählte meine Großmutter nämlich auch und, dass man zu der Zeit praktisch jede erdenkliche Distanz mit dem Zug gefahren war.
Meine Großmutter liest die Beschriftungen der Videokassetten vor, Tilsit Sommer 36, Weihnachten 39. Als wir das letzte Mal Kassetten aus ihrer Kindheit anschauten, bemerkte sie davor: »Es fällt mir nicht leicht, in diesen schweren Zeiten von meiner Kindheit zu schwärmen.«
Was sie über die Erinnerung an ihre Kindheit sagt, könnte ich genauso gut über meine sagen. Auf den ersten Blick sieht es so sehr nach einer heilen Welt aus, dass es fast etwas Unwirkliches hat, sich daran zu erinnern.