Gegen Morgen - Walther von Hollander - E-Book

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Walther von Hollander

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Beschreibung

"Der Prozeß Karl Rasta gehört der Kriminalgeschichte an. Sein spannungsvoller Verlauf hat wochenlang die Spalten der Zeitungen gefüllt. Man weiß, daß Karl Rasta wegen Doppelmordes zweifach zum Tode verurteilt wurde, man weiß auch, daß heute noch, nach seinem freiwilligen Ende, die Kriminalisten verschiedener Meinung sind, ob er schuldig, mitschuldig oder unschuldig war, und ich bekenne offen, daß ich, trotzdem ich unter allen Lebenden Karl am besten kenne, nicht weiß, ob ich ihn als Mörder, als tödlichen Verführer oder nur als unerbittlichen Menschen bezeichnen soll." So beschreibt der "Oberlehrer Eberhart Weßler" auf den Einleitungsseiten, die Karl Rastas Lebensbeichte vorangestellt sind, den Charakter seines Freundes. Hier kündigt sich bereits die unbarmherzige psychologische Dichte dieses Romans aus dem Jahre 1924 über einen Mörder an. Dem folgen dann die "Dokumente zu meinem Leben" aus Karl Rastas eigener Hand, die er vor seinem Freitod in der Todeszelle verfasst hat. Ein bewegender, ein aufrüttelnder und im besten Sinne verstörender Roman von einem großen deutschen Schriftsteller, den es nun wiederzuentdecken gilt.-

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Walther von Hollander

Gegen Morgen

Der Romandes Mörders Karl Rasta

Saga

Gegen Morgen

© 1924 Walther von Hollander

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711474594

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Ich widme diesen Roman

Lili Turel

Die Vorgeschichte

dargestelltdurch Karl Rastas letzten Freund,den OberlehrerEberhart Weßler

Die Mutter Karl Rastas, Frau Amtsgerichtsrat Rasta, geborene Gräfin Laschka, starb in diesem Frühling. Damit sank der letzte Mitspieler der totenreichen Tragödie, die Karls Namen trägt, ins Grab, der letzte Mensch, der Mitwisser und Handelnder zugleich, noch manches Dunkle hätte aufhellen können.

In den zwei Jahren seit Karls Ende, hat außer der Dienerschaft niemand die „Gräfin“ — wie man sie allgemein nannte — zu Gesicht bekommen. Man wußte nur, daß sie das Gut Willstetten, dieses bluttriefende Erbe, das ihr auf gräßlichen Umwegen zugefallen war, so umsichtig und tatkräftig verwaltete, als gelte es, für Generationen vorzusorgen und aufzubauen. Ob sie selbst ihre letzten Tage heiter oder traurig zugebracht hat oder (was wahrscheinlicher ist), mit dem undurchdringlichen Gleichmut, den sie vor den letzten Teil ihres Lebens gestellt hatte, das weiß niemand.

Die Rastas, die gewissermaßen die Eckbohms ausgetilgt haben, in einem Geschlechterkampf von mittelalterlicher Düsterkeit, sind nun selbst ausgestorben. Das Gut ist an den Staat gefallen. Es ist beinahe, als seien alle diese Menschen nie gewesen. Jegliche Spur ist ausgetilgt.

Der Tod der Gräfin hat mich nun endlich gezwungen, Vollstrecker des letzten Willens Karl Rastas zu sein. Ich habe mich lange dagegen gewehrt, die Dokumente des Mörders, der sich mein Freund nannte, und dessen letzte Tat die Zerstörung meines Lebens war, herauszugeben, und man wird nach Kenntnisnahme dieser Vorgeschichte verstehen, daß es für mich mehr Hemmungen als Sporne gab, den letzten Willen zu ehren. Ich füge mich — auch das wird man am Ende besser verstehen — als nach allen Erklärungen, die ich geben könnte. Ich habe mich entschlossen, meine bitteren Gefühle auszuschalten und nur das hierherzusetzen, was zum Verständnis der folgenden Dokumente notwendig und wichtig ist.

Karl Rasta entstammte einer angesehenen Juristenfamilie. Sein Großvater war der berühmte Rechtslehrer und Forscher Eugen Rasta, sein Vater, Hermann Rasta, war Amtsrichter in meiner Heimatstadt. Er war ein Mann von ungeheurem Wissen, glänzender Dialektik, scharfsinniger Logik und beißender Ironie, zu der sich im Verlaufe der Jahre eine immer wachsende Verbitterung gesellte. Diese Verbitterung war berechtigt. Nach Urteilen von Fachleuten überragte Hermann Rasta nicht nur die Fakultätsgrößen seiner Generation, sondern auch seinen berühmten Vater Eugen um Haupteslänge, und es war sicher eine Ungerechtigkeit, daß diese Kraft als Amtsrichter unserer norddeutschen Mittelstadt verkümmerte. Woran diese offensichtliche Zurücksetzung lag, habe ich nie ganz begriffen. Vielleicht war es wirklich die Schuld seiner Frau, eben jener geborenen Gräfin Laschka, einer sehr kleinen, zierlichen, unendlich hochmütigen Polin, die man nur selten zu Gesicht bekam, und die hinter einer Wolke von geheimnisvollem Klatsch und Tratsch ein Dasein führte, dessen Äußerlichkeiten vielleicht nur ihrem Mann, deren innerstes Geheimnis — wie ich aus Karls Aufzeichnungen entnahm — nur ihrem Sohn bekannt war.

Jedenfalls soll sie es gewesen sein, die ihren Mann bestimmte, den Ruf an verschiedene kleinere Universitäten abzulehnen, weil sie seine Berufung nach Wien mit Energie und scheinbar sicherem Erfolg betrieb. Woran dann diese Berufung scheiterte — ob wirklich, wie die Klatschmäuler behaupteten, an dem Bekanntwerden schwerer sexueller Jugendirrungen der Gräfin oder, wie ich eher annehme, an der schließlich versagenden Energie Hermann Rastas —, das weiß ich nicht.

Aus der Ehe stammten zwei Söhne, Eugen und Karl. An den etwa fünf Jahre älteren Eugen erinnere ich mich nur dunkel. Er starb bereits mit vierzehn Jahren in einer Irrenanstalt, an unheilbarer Melancholie, sagen die Einen, an Auszehrung infolge Hypertrophie des Gehirns, die Anderen.

Karl war mein Freund, sozusagen von den Windeln her. Mein Vater war Präsident des Oberlandesgerichts, an dem Karls Vater Amtsrichter war. Er war also gewissermaßen der Vorgesetzte Hermann Rastas und mag es mit diesem bedeutenden Untergebenen nicht leicht gehabt haben. Jedenfalls gab es zwischen den Familien unter der weiten Decke des konventionellen Verkehrs Spannungen, die einige Male fast zum Zerreißen der Decke führten. Bei mir zu Hause kam es dann immer zu erregten Gesprächen meiner Eltern, die immer wieder in den Satz gipfelten, daß „bei aller anerkannten Tüchtigkeit doch wohl vieles mit dem Mantel der christlichen Nächstenliebe zuzudecken sei“.

Ich habe mich um die Eltern Karls im Grunde nie viel gekümmert und habe sie auch nicht oft zu Gesicht bekommen. Der Vater Rasta war mir gleichgültig, für die Gräfin hatte ich eine mit Gespensterfurcht untermischte leidenschaftliche Verehrung, die der Anlaß zum ersten Streit mit Karl war.

Hinter der palazzoimitierenden Villa der Rastas, die an dem ziemlich steilen Südhang der Stadt lag, kletterte ein sehr gepflegter, zierlicher Garten herauf, zwischen dessen wunderbaren Rosenbeeten, Rosenhecken, Rosenbüschen man an Sommerabenden die Gräfin leise und ruhelos stundenlang einhertrippeln sehen konnte. Das waren dann die Abende, an denen wir lautlos und bedrückt in einer Ecke saßen, gelangweilt Blätter zerpflückten, Stöcke zerschnitzten oder höchstens auf einem Grashalm zu fiepen wagten. Oder ganz leise über den Zaun kletterten und uns den Abhang hinabrutschen ließen, in den verwitterten, zerfallenden Sandsteinbruch, der mit Höhlen und Hecken, Teichen und Tümpeln der eigentliche Schauplatz unserer Jungenspiele war. Hier auch hat mir Karl Rasta anvertraut, wie sehr sein Leben unter dem unruhigen Schatten der Mutter stand und daß nach ihren Wanderabenden im Garten immer „irgendwas Furchtbares“ im Hause geschah.

Was dieses Furchtbare war, hat er mir nie gesagt. Es muß auch verschieden gewesen sein. Ein Zank zwischen den Eltern, ein klägliches Winseln der Mutter, das man — so sagte er — durch zwei Stockwerke hörte, ein unheimliches Geräusch von der im Zimmer fortgesetzten Wanderung. „Sie ist wie eine Fledermaus,“ sagte mir Karl, „tags siehst du sie kaum, nachts aber flattert sie umher und trinkt Blut, um ihr kaltes Blut warm zu machen. Ich hasse sie. Sie ist ekelhaft, dumm und unheimlich.“

Das Urteil des Zwölfjährigen mag richtig gewesen sein. Mich hat es damals maßlos entsetzt und führte zu der ersten Entfremdung zwischen uns, die indes nicht lange andauerte. Es blieb lediglich das Gefühl des Unheimlichen, ich spürte immer die Fledermaus um Karls breiten Kopf. Auf die Dauer aber konnte ich mich seinem Einfluß nie ganz entziehen. Er war in unserer Freundschaft immer der Führer, zuweilen der Verführer, stets der Überlegene. Ich mußte stets um seine Freundschaft werben, war seiner nie ganz sicher und weiß auch heute nicht, warum er eigentlich mit mir befreundet war.

Er war klüger und entschiedener als ich. Er hatte bei kältester Berechnung ein erstaunliches Temperament (eine mir ganz fremde Charaktermischung) und wußte seine Selsamkeiten immer so zu drapieren, daß der Wind der Anerkennung von allen Seiten segelfüllend ihn vorwärtstrieb. Er wußte alle Arten von Menschen zu nehmen und hatte bei einer an Biederkeit grenzenden Schwerfälligkeit eine erstaunliche innere Wandelbarkeit und Verwandlungsfähigkeit. Er war bei aller Faulheit ein glänzender Schüler — ich konnte nur mit eisernem Fleiße ihm nachkommen —, bei aller Frechheit äußerst beliebt bei den Lehrern. Er hatte ein phänomenales Gedächtnis, war trotz seines zur Fülle neigenden Körpers äußerst gewandt in allen Leibesübungen, war interessiert für alles zwischen Himmel und Erde. Mit einem stierartigen Willen ging er immer neue Gebiete des Wissens und Könnens an, verbiß sich nacheinander in Mathematik, Botanik, Astronomie, Militärwissenschaften, in Tennis, Skilauf, Schwimmen, Tischlern. Ließ binnen kurzem fast auf jedem Gebiet seine Lehrer weit hinter sich, ruhte nicht eher, bis er der Erste im Fach war, um es dann achtlos beiseite zu stellen. Kurz: er war in seinen Eigenschaften der bestechendste und bedeutendste Mensch, den ich gekannt habe. Ich hätte ihm auf jedem Gebiete die glänzendste Laufbahn prophezeit und auch jetzt noch, da ich weit über seinen Tod hinaus sein Feind bin, ist mir sein Ende unbegreiflich und schmerzvoll.

Ich glaube nicht, daß ich nachträglich ungerecht sein Bild verzerre, wenn ich sage, daß vielleicht in seinem Äußeren, genauer gesagt: in seinem Gesicht, Züge waren, die in jene verhängnisvolle Richtung wiesen. Ich sagte schon, daß sein Körper sehr groß und breit war und nur durch dauerndes Training davor bewahrt wurde, ungeschlacht zu sein. Auf diesem Körper, an dem die ganz überraschenden feinnervigen Frauenhände teils lächerlich, teils erschreckend wirkten, — saß auf einem breiten, kurzen Hals ein etwas zu kleiner, ganz runder Kopf, dessen breite, weiche Backen, dessen winziger, glutroter Mund, dessen dünnes, überaus gepflegtes blondes Kraushaar seltsam abstoßend wirken konnten, besonders in Augenblicken der garnicht seltenen Depressionen, die ihn die Augen halb schließen ließen, oder auch im Schlaf, der seinem Gesicht etwas durchaus Ochsenartiges verlieh.

Der Reiz des Gesichtes lag allein in den Augen, die gewissermaßen alle Schlaffheit des übrigen Gesichtes in sich einsogen, die in einem unbeugsamen Glanz schienen, die ein glühendes Gefühl ausstrahlen und übertragen konnten. Mächtige, tiefe blaue Augen, Augen, wirklich bald magisch und flimmernd wie Wintersterne, bald benachbart wie niedrige Südsterne, und die Unsterne meines Lebens, die unheimlich durch meine Nächte brennen.

Aber ich greife vor. Ich spreche von dem Karl Rasta, der mein Leben entschied. Vor dem Vierzehnjährigen steht der Dreißigjährige, und sie erscheinen mir oft ein und derselbe. Und doch kann das nicht sein. Nur etwas Entsetzliches kann diesen glänzenden, meteorischen Menschen aus seiner Bahn geworfen haben. Obgleich ...

Obgleich: ich sprach ausführlich von seiner Mutter. Ich weiß, wie sehr Karl seine Mutter haßte, weiß aber andererseits, daß während des Prozesses so ungewöhnlich innige Beziehungen zwischen Mutter und Sohn festgestellt wurden, daß die greise Gräfin um ein Geringes von der Zeugenbank auf die Anklagebank hätte übersiedeln müssen. Da steckt schon ein Rätsel. Haßte er sie, wie er mir damals versicherte, oder liebte er sie, wie später festgestellt wurde? Klar erscheint mir jedenfalls, daß die Mutter, wenn nicht durch Taten der böse Geist, so durch ihr Blut das verderbende Feuer dieses Lebens war.

Mir ist das alles erst später klar geworden. In meiner Vierzehnjährigkeit fühlte ich eigentlich nur, daß im Rastaschen Hause sich nicht das einfache, gesetzmäßige Familienleben abrollte, wie bei mir, im Allgemeinen aber waren unserer Freundschaft diese Dinge ganz gleichgültig, und wir wuchsen miteinander als echte Bengels über Äpfelstehlen, Molchefangen, Drachenkleben, Indianerhüttenbauen, Teschingschießen, erste Zigarette und ersten Rausch ziemlich reibungslos in die Zeit des ersten Romans, der ersten Liebe, der Tanzstunde hinein.

In der Tanzstundenzeit kam es zum ersten Bruch, und hätte ich damals meiner inneren Stimme gehorcht, wäre es zum endgültigen Bruch gekommen. Es handelte sich scheinbar um eine einfache Primanerliebe, und wäre diese Liebe zu Dorothea Gerbers nicht die Liebe meines Lebens geworden, so würde diese Episode in all dem leichten Sand und Flußtang versunken sein, in den vielerlei im Erleben Wichtiges und in der Wirkung Unwichtiges herabsinkt, und über die der Fluß des Lebens bis zur Unkenntlichkeit glättend hinwegfließt. So aber ...

Wir waren Rivalen. Ich kann mich nicht entschließen, ein Bild meiner nachmaligen Frau zu zeichnen. Teils weil sie zu lebendig und schmerzvoll in mir wohnt, teils, weil sie in all ihrer Lieblichkeit und Tiefe, in ihrer Sonnigkeit und Melancholie, in ihrer heiteren und doch verschleierten Schönheit nur mir bekannt ist. Für Karl Rasta — und hier schnürt mir der Zorn die Kehle — war sie eine unter Vielen, und darum ist ihr Wesen für den Verlauf der Sache unwesentlich.

Es begann sehr jungenshaft damit, daß wir auf einem Spaziergang in die herbstlichen Berge uns gegenseitig unsere Liebe zu Dorothea gestanden und im Überschwange unserer Freundschaft jeder sich anbot, vor dem anderen zurückzutreten. Wir kamen schließlich dahin überein, daß jeder getrennt um Dorothea werben solle und nur verpflichtet sei, den Anderen über den Erfolg auf dem Laufenden zu erhalten.

Dieses Versprechen hat Karl gebrochen. Ich will diese Kindergeschichten, so bedeutungsvoll sie mir erscheinen, nicht ausspinnen. Tatsache war, daß Dorothea an einem Abend mir ihre Liebe mit Hand und Mund versicherte, und daß ich am anderen Abend, als ich zu Karl gehen wollte, ihm dieses mitzuteilen, sie und ihn in einem Gebüsch in inniger Umarmung stehen sah. Noch heute erinnere ich mich des entsetzlichen Schmerzes, den ich damals empfand, und habe in meinem ganzen Leben, selbst in den glücklichsten Jahren meiner Ehe, nie über diesen Jugendschmerz lächeln können, gleich als ob ich immer geahnt hätte, daß aus diesem Augenblick die Vernichtung meines Lebens emporwachsen würde, wie der Tod aus einem winzigen Bazillus. Zum Streit kam es dann, als mir Karl nach achtundvierzigstündigem qualvollen Warten noch immer nichts mitgeteilt hatte und ich ihm mein Wissen ins Gesicht schrie. Damals zeigte Karl sein Geschick, die schwierigsten Situationen zu meistern. Er sagte nur ganz ruhig, daß noch nichts entschieden sei. Und hat es dann fertiggebracht, in einer Unterredung zwischen ihm, Dorothea und mir scheinbar chevaleresk zurückzutreten und Dorothea — wie ich jetzt glaube, in einer vorausgegangenen Rücksprache — dahin zu bringen, daß sie sich weinend an meinen Hals warf, mit der Versicherung, sie habe immer nur mich geliebt, für Karl nur Freundschaft empfunden und habe eine Verirrung begangen, als sie Karl küßte.

Mein Argwohn, der noch eine Zeitlang rege war, wurde durch eine merkwürdige Wandlung Karls beseitigt. Er war — frühreif in allem — ein Verhältnis mit einem Dienstmädchen des elterlichen Hauses eingegangen und fürchtete, daß sie ein Kind bekommen würde. Er machte mich zum Mitwisser und erklärte, daß er das Mädchen in diesem Falle heiraten würde, was ich damals durchaus billigte. Gleichzeitig geriet er unter dem Einfluß der Tolstoischen Sexualethik, und aus allerlei Angst, Reue, Einsicht und mit der ganzen Vehemenz seines Charakters grub er sich in eine Askese hinein, die sicherlich zunächst echt war, später mehr und mehr ausgehöhlt wurde und schließlich ganz verständlicherweise ins Gegenteil umschlug. Zunächst jedenfalls fiel er als Mitbewerber bei Dorothea aus, und obgleich noch vielerlei Wechselfälle eintraten, ist in jener Zeit der Grundstein meiner Ehe gelegt worden. Ob Dorotheas Zuneigung zu Karl echt und dauernd war, oder ob sie, wie ich glaube, lediglich unter dem Zwang seiner bestrickenden Gegenwart jeweils bestand, das halte ich fern von mir und will es nicht wissen.

Karl und ich bezogen etwa zwei Jahre nach diesen Erlebnissen getrennte Universitäten, und da er auch für die Ferienzeiten niemals ins Elternhaus zurückkehrte, habe ich ihn viele Jahre lang nicht zu Gesicht bekommen und bin für diese Zeiten fast ausschließlich auf Hörensagen, auf Klatsch und Gerücht über ihn angewiesen. Er galt in den Kreisen der alten Tanten beiderlei Geschlechts sehr bald als verbummelter Student, und das wohl nur deshalb, weil er launisch und exzentrisch und in seinen Entschlüssen abrupt uud fast brutal war. Zuerst hatte er Offizier werden wollen, hatte aber nach einem halben Jahre Dienst bereits seinen Abschied genommen, ging als Student nach Paris, Berlin, Cambridge und München in buntem Durcheinander durch fast alle Fakultäten, betätigte sich journalistisch, gab einen Band mäßiger Gedichte heraus, den er nach kurzer Zeit zurückzog und einstampfen ließ, war Reporter bei den Friedenskonferenz im Haag, Berichterstatter rechtsstehender Blätter während der mexikanischen Wirren, und Vertreter sozialistischer Zeitungen in den Balkankriegen. Er führte eine überaus scharfe Feder, seine Fähigkeit, Menschen zu behandeln, sein glänzendes Gedächtnis, seine an Frechheit grenzende Unerschrockenheit, machten ihn in kurzer Zeit bekannt. Aber nach dieser kurzen, erfolgreichen Laufbahn warf er alles Erreichte über den Haufen, wurde erst Bankbeamter und endlich Landwirt.

Im zweiten oder dritten Jahr seiner Abwesenheit war der alte Rasta gestorben. Karl erschien, wie ich hörte, überaus elegant gekleidet und scheinbar im Besitze größerer Geldmittel, in seiner Vaterstadt, verkaufte das Haus und beinahe sämtliches Mobiliar (wobei Dorotheas Eltern einige sehr schöne Stücke für unseren künftigen Haushalt erwarben), brachte seine Mutter in der Nähe der Stadt auf dem Gute seiner Verwandten unter und reiste ab, ohne irgendwie alte Beziehungen neu angeknüpft zu haben. Die Verwandten, bei denen nunmehr die Gräfin wohnte, habe ich nie gesehen Sie spielen aber im Leben Karl Rastas so sehr die entscheidende Rolle, daß ich ganz kurz wenigstens das hierher setze, was ich im Laufe der Zeit über sie in Erfahrung bringen konnte.

Ferdinand Eckbohm, ein Vetter zweiten Grades von Hermann Rasta, war Großfarmer in Argentinien gewesen und kam ein Jahr, nachdem ich die Universität bezogen hatte, in meine Heimatstadt. Er war verheiratet mit Clarissa Eckbohm, die gleichfalls eine Deutsch-Argentinierin war, und hatte mit ihr eine zur Zeit der Entscheidung vierzehnjährige Tochter mit Namen Sylvia. Clarissa soll eine Dame von ungewöhnlicher Schönheit gewesen sein. Ihr Temperament allerdings wird als so jäh und ungezügelt, so launenhaft und ziellos geschildert, daß ich sie kaum für eine reinrassige Deutsche halten kann, sondern eher für eine jener reizvollen, aber gefährlichen Mischlinge, wie sie häufiger aus jenen buntblütigen Kolonistengegenden herkommen. Karls Aufzeichnungen enthalten nähere Schilderungen über sie, die ich allerdings zum Teil für übertrieben halte und als charakteristischer für Karls bizarre Art zu sehen erachte als der Wahrheit entsprechend, obgleich es für Karl natürlich entscheidender ist, wie er sie sah, als wie sie in Wirklichkeit war.

So oder so: die Tatsachen waren jedenfalls, daß die Eckbohms, die sehr reich waren, sich das wunderschöne Gut Willstetten, kaum zwei Stunden von unserer Stadt, kauften und diese Besitzung zu einem weithin bekannten, scheinbar äußerst anziehenden Herrensitz gestalteten. Wirklich muß ja die Mischung von alter Feudalkultur — die Eckbohms hatten Willstetten mit allem lebenden und toten Inventar übernommen — und argentinischer Buntheit (es sollen ganze Wagenzüge exotischer und südlicher Merkwürdigkeiten nachgezogen sein) sehr überraschend und anregend gewirkt haben. Besonders da in Ferdinand Eckbohm, dem blonden, baßbegabten heiteren Germanen, und Clarissa, der zwitschernden, schillernden, bunten Argentinierin, da in diesem merkwürdig zusammengefügten Ehepaar das reizvolle Durcheinander der Einrichtung ein gleichsam lebendiges Widerbild hatte. In einem kleinem Seitenflügel des Herrenhauses residierte nun die Gräfin, und obgleich sie ganz auf Kosten der Eckbohms gelebt haben soll, scheint sie sich durchaus am Platze und wohl gefühlt zu haben. Der plötzliche Tod Ferdinand Eckbohms im November 1918, durch den Clarissa Eckbohm Besitzerin eines Riesenvermögens in inländischen und ausländischen Besitztiteln wurde, bildet den Auftakt zu den letzten Ereignissen auf Willstetten, und der Prozeß, der sich an diesen Tod knüpfte, setzte den Schlußpunkt hinter das Leben Karls. Ich habe zwar immer am Leben Karls den lebhaftesten inneren Anteil genommen; unsere Verbindung aber, die nie ganz abbrach, bestand meist in einigen kurzen Briefen und Postkarten, in denen ich Karl stets über die Stationen meines Lebens auf dem Laufenden hielt, während Karls wenige Zeilen in aphoristischer Kürze und oft schlagender Absurdität über sein inneres Wachsen und Werden berichteten. Unser Briefwechsel bestand, wie Karl es einmal sehr treffend ausdrückte, darin, daß ich meine Stellung im Leben, er seine Stellung zum Leben berichtete. Für mich waren Karls Briefe stets Ereignisse, Nötigungen immer wieder zu erneuter Prüfung, und ich bekenne offen, daß ich viele entscheidende Erkenntnisse nur ihm verdanke. Und wiederum stelle ich mir die Frage: was eigentlich veranlaßte ihn, die Verbindung mit mir aufrecht zu erhalten? Oder sollte die Verbindung eigentlich nur Dorothea gegolten haben? Nicht wahrscheinlich — aber möglich. Denn jetzt kenne ich Karls Fähigkeit, neben vielerlei großen Plänen eine Unzahl kleiner Nebenpläne zu fördern, in einer Art Doppel- ja Vielfachleben gleichzeitig auf einer Hauptstraße und vielen Nebenstraßen zu marschieren und neben Wichtigem auch das Unwichtigste nicht aus dem Auge zu lassen.

So mag er auch ein Jahrzehnt lang den Willen gehabt haben, sich Dorotheas auf dem Umweg über mich zu bemächtigen. Dieser Umweg war nötig, denn Dorothea und ich heirateten im Mai 1914 und lebten in denkbar glücklichster Ehe, bis der Krieg kam.

Karl und ich fanden uns im gleichen Regiment und der gleichen Kompanie wieder und erlebten unter dem Zwange des gemeinsamen Schicksals die tiefsten Stunden unserer Freundschaft, Stunden, an denen während der Garnisonzeit Dorothea oft schweigend und ergriffen teilnahm. Irgendeine weitergehende Verständigung zwischen den beiden entdeckte ich nicht. Wir zogen gemeinsam ins Feld — ich gefaßt und bedrückt, Karl begeistert und tatendurstig, allerdings mehr um des Abenteuers als um des Vaterlandes willen, das ihm nie etwas bedeutete.

Karl wurde sehr früh auf einem Patrouillengang schwer verwundet. Ein Auge wurde ihm herausgeschossen. (Es wurde übrigens sehr geschickt operiert, und es war später oft nur, als habe sich die Gespanntheit seines Blickes durch das Glasauge nur verschärft.) Er kam dann ins Kriegspressequartier und von dort zwei Jahre in geheimer Mission nach Zürich. Es hieß, er habe dem deutschen Gesandten große Dienste geleistet. Ich mußte den Krieg bis zum bitteren Ende durchmachen, kam aber unverletzt davon. Es hätte mich gewundert, wenn Karl nicht während der Revolution eine Rolle gespielt hätte, und in der Tat tauchte er als kommunistischer Minister eines thüringischen Staates auf, machte durch seine geistvollen Organisationspläne viel von sich reden, verschwand aber bald wieder, als er sah, daß er sich nicht durchsetzen konnte. Immerhin spielte diese Zeit im Prozeß keine unwesentliche Rolle, und ich muß zugeben, daß die Argumente in Karls Verteidigung aus einer Ethik stammten, die aus kommunistischen Doktrinen abgeleitet jenseits jeder staatenfügenden, ja jeder gemeinschaftsbildenden Ethik waren und insofern vielleicht wirklich Impulse seiner Taten bildeten, der Taten, mit denen er sich selbst ausgelöscht hat.

Kurz nach seiner Ministerzeit sah ich Karl zum letztenmal vor jenem verhängnisvollen Prozeß wieder. Er schien seltsam ernüchtert, unruhig, gealtert und gehetzt. Auch hatte sich eine Verbitterung in seine Worte, ja in sein Gesicht gegraben, die einen erschreckenden Gegensatz zu Karls sonst unbekümmerten Wesen bildete. Wir stritten uns damals heftig, d. h. eigentlich stritt nur ich, und Karl saß mit dem starren Blick, der durch die Leblosigkeit des Glasauges etwas Bedrückendes erhielt, nur immer zwischen Dorothea und mir hin und her. Es handelte sich um die Möglichkeit der Stabilisierung allgemeingültiger Gesetze, und ich erinnere mich genau der letzten Worte Karls, Worte, die mir rückwärtsleuchtend seine Tat zu erhellen scheinen: „Ich bin über die Grenze hinaus und kann darum Wort, Meinung und Tat beliebig wechseln, es kommt darauf nicht an.“ Worauf es ankäme, hat er mir nicht gesagt. Ich weiß aber noch, daß ich mich ärgerte, weil Dorothea, die unmöglich die Konsequenzen dieser Worte ergreifen konnte, zustimmend nickte. Äußerlich — berichtete er — ginge es ihm sehr schlecht. Er habe Pläne, wisse aber nicht, ob er sie ausführen könne. Im Augenblick habe er nichts, als was er auf dem Leibe trage, und werde zunächst Zuflucht in Willstetten suchen.

Das war unser letztes Zusammensein vor den entscheidenden Ereignissen. Eine Zeitlang hörte ich nichts. Dann brach alles Schlag auf Schlag herein.

Das erste Gerücht über Karl, das auch in unser abseitiges Heim drang, war, er bemühe sich in Willstetten sehr energisch und nicht aussichtslos um die Hand der Clarissa Eckbohm, er mache aber gleichzeitig und gewissermaßen in Reserve der fünfzehnjährigen Tochter Sylvia den Hof. Fest stünde, daß er Willstetten unbedingt in seinen Besitz bringen wolle, es sei nur ungewiß, ob er sein Ziel auf dem Umweg über die Mutter oder die Tochter erreichen wolle. Die materielle Seite dieser Gerüchte erschien mir kleinstädtischer Klatsch. Eher glaubte ich, daß auf Willstetten sich eines jener zahlreichen Liebesabenteuer Karls abspielte, und ich hielt es auch schon damals nicht für unmöglich, daß er — ein Casanova redivivus — sich gleichzeitig um die Gunst einer Mutter und Tochter erfolgreich bemühe. Ich hielt das um so eher für möglich, als er mir mit wirklichem Feuer diese beiden Frauen als in sich vollendete Vertreterinnen ihres Geschlechts geschildert hatte.

Ich hielt mir im allgemeinen die Gerüchte fern, trat aber äußerlich für ihn ein und wurde immer wieder gezwungen, für ihn einzutreten. Denn merkwürdigerweise bildete Karls Leben fast in jeder Gesellschaft das Gesprächsthema und ich gestehe