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Die Welt bereitet sich auf die Weltmeisterschaften der Berufe vor. Die Besten ihres Landes werden in wenigen Wochen bei der größten Veranstaltung ihrer Art in Kolumbien antreten. Doch ausgerechnet im Betrieb des deutschen Meisters geschieht ein grausamer Mord. Der unglückliche Tote ist niemand Geringeres als der Bundestrainer selbst. Kommissar Plodowski taucht im oberschwäbischen Ravensburg in eine Welt der internationalen Mafia und Industriespionage ein, die unglücklicherweise kollidiert mit den Weltmeisterschaften der Berufe und den Vorbereitungen für die Veranstaltung in Kolumbien. Mittendrin Julian, einer der besten Polymechaniker Deutschlands. Die Ermittler sehen in ihm einen der Hauptverdächtigen. Für Plodowski entwickelt sich aus einem Mordfall eine dramatische wirtschaftspolitische Affäre, die ihn selbst in große Gefahr bringt – und sein Leben verändert.
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Inhaltsverzeichnis
Zum Buch
Winterkalt
Undercover
Kampf
Im Trüben
Spurensuche
Was zählt
Unter Verdacht
Gefangenschaft
Gefährliche Netzwerke
Frühling
Wolfegg
Konfrontation
Botschafter Deutschlands
Gangster
Official Observer
Lukas in Not
Big Show
Steven in Not
Die letzte Minute
Das fehlende Teil
WorldSkills-Finale
Sieg
Abschied
Der Autor Paul Steinbeck …
Sparkys Edition
Die Welt bereitet sich auf die Weltmeisterschaften der Berufe vor. Die Besten ihres Landes werden in wenigen Wochen bei der größten Veranstaltung ihrer Art in Kolumbien antreten. Doch ausgerechnet im Betrieb eines der deutschen Teilnehmer geschieht ein grausamer Mord. Der unglückliche Tote ist niemand Geringeres als der Bundestrainer und Ausbilder für die Polymechaniker.
Kommissar Plodowski taucht im oberschwäbischen Ravensburg in eine Welt der internationalen Mafia und Industriespionage ein, die unglücklicherweise kollidiert mit den Weltmeisterschaften der Berufe und den Vorbereitungen für die Veranstaltung in Kolumbien. Mittendrin Julian, einer der besten Polymechaniker Deutschlands. Die Ermittlungen drohen ihm den erhofften Sieg bei den Meisterschaften zu rauben.
Für Plodowski entwickelt sich aus einem Mordfall eine dramatische wirtschaftspolitische Affäre, die ihn selbst in große Gefahr bringt – und sein Leben verändert.
Paul Steinbeck
Geheimcode WorldSkills
Steven Plodowski ermittelt
Alle Handlungen und Personen sind frei erfunden. Zwar ist die WorldSkills-Bewegung eine faszinierende Realität, doch sind Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Unternehmen reiner Zufall.
Alle Rechte liegen beim Autor und unterliegen dem Urheberrecht. Verwendung und Vervielfältigung von Text und Bild nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages.
3. Auflage Mai 2021, überarbeitete, ungekürzte Taschenbuchausgabe. Ursprünglicher Titel: Der Tod kam in der Nachtschicht.
© 2021 Sparkys Edition – Verlag Kommunikation-
Romer, Zu den Schafhofäckern 134, 73230 Kirchheim/Teck
E-Mail: [email protected]
Lektorat: Dorthe Teßarek, Augsburg
Korrektorat: Redaktionsbüro Diana Napolitano, Augsburg
Umschlaggestaltung: Designwerk-Kussmaul,
Weilheim/Teck, www.designwerk-kussmaul.de
Ausschnitt Titelbild: Encaustic-Kunst anlässlich der WorldSkills Leipzig 2013, Monika Romer
ISBN: 978-3-9810604-5-4
Gewidmet allen WorldSkillern dieser Welt,
die mich inspiriert und begeistert haben
Steven Plodowski wunderte sich gewaltig, als ihm die bulligen Sicherheitsleute den Zugang verwehrten.
»Ich darf überallhin!« Er blaffte den Sicherheitsmann missgelaunt an.
Doch die Antwort war knapp und zackig. »Hier nicht! Selbst der Papst gilt bei uns als Sicherheitsrisiko.«
Der Blick des Beamten streifte die hohen Sicherheitszäune, die das Werksgelände umfingen. Gerade mal dreißig Autominuten südlich von Ravensburg lag die massige Ansammlung von strahlendweißen Fabrikhallen an der Gemeindegrenze einer kleinen oberschwäbischen Stadt. Ausgedehnte Fichtenwälder zogen sich hinter dem Gelände die Hänge hoch. Dem Kommissar schien es, abseits von Ravensburg in einer vollkommen anderen Welt gelandet zu sein. Diese harten Kontraste zwischen Industriekultur und reinster Natur entwickelten eine ungewöhnliche Szenerie.
Er wandte sich wieder dem bulligen Wachmann zu. »Und dann gibt es einen Toten? Wie geht das? Sowas dürfte es doch nicht geben, bei so viel Hochsicherheit, könnte man meinen.«
Kalter Nieselregen benetzte an diesem Morgen im März seinen beinahe kahl geschorenen Schädel. Ungeduldig schaute er dem Pförtner hinter der Panzerglasscheibe zu, wie dieser behäbig mehrere Formulare ausfüllte.
»Geht es nicht schneller? Ich muss zum Tatort!«
Ein halbes Dutzend dunkelgekleideter Sicherheitsbeamter tummelte sich an der Eingangspforte. »Best Secure« prangte auf deren gut wattierten Jacken.
Plodowski zog unwillkürlich seinen dünnen Trenchcoat enger zusammen. Es war zu früh gewesen, als der Anruf ihn erreichte, um über korrekte Kleidung an einem jener matschig kalten Wintertage nachzudenken. Tage, an denen man zu vergessen schien, dass es je einen Sommer gegeben hatte. Überraschend für den März. Nebel waberte durchs Schussental. Einfach nur nass grau.
»Gehen Sie nach hinten in Halle 11«, knackte es metallisch aus dem Lautsprecher. In der Luke vor ihm tauchte ein Besucherausweis auf.
Trotzig nahm Steven das zerknitterte Papier heraus und pinnte es sich an seine Jacke. Summend öffnete sich die schwere Sicherheitsschleuse.
»Wartet, euch werde ich es heimzahlen«, schwor sich ein in seiner Ehre gekränkter Beamter. In Ravensburg wäre das nicht passiert. Doch er nickte nur stumm und folgte den zwei bulligen Kerlen, die sich links und rechts von ihm positionierten.
Sie überquerten einen kleinen Platz hinter den Gittern. Ein grünes Schild mit weißen Pfeilen verdeutlichte, dass sich hier in Gefahrensituationen der Sammelplatz befand. Kleine Wasserlachen bildeten sich auf dem frischen Teer. Das Licht der Laternen schimmerte in dem kühlen Nass. Die zu dünnen Lederschuhe sogen die Feuchtigkeit und Kälte in Sekunden in sich auf. Neidvoll schielte Steven auf die dicken Springerstiefel der Wachleute. Mit seinen knapp 1,80 m Größe wirkte Steven Plodowski klein neben den bulligen Typen.
Das Tor des nächstgelegenen Gebäudes öffnete sich und nahm die kleine Gruppe in sich auf. Erstaunt blickte der Kommissar im Gewirr der mit haushohen Maschinen vollgestopften Werkshalle umher.
»Wo sind die Menschen?« In Gedanken begann er die gigantischen Roboteranlagen zu zählen. Es mussten mehr als sechzig derer sein, die sich in der zweihundert bis dreihundert Meter langen Halle in exakter Reihenfolge formierten. Das Zischen und Fauchen der Ungetüme konnte einschüchtern, zumal nicht zu sehen war, was sich hinter den Schutzplatten der Maschinen alles abspielte. »Haben die Pause?«
Seine Begleiter lachten. »Pausen gibt es hier nicht. Diese Arbeiter hier brauchen so etwas nicht. Das ist alles voll automatisiert.«
Wie von Geisterhand lösten sich zur Bestätigung aus den riesigen Regalen an den hinteren Wänden überdimensionale Metallstücke, wurden in die Produktionsstraße eingeführt und tauchten nach gut zwanzig Metern wieder als fertige Produkte auf. Dazwischen zischte, funkte und fräste es an eng aufeinanderfolgenden Arbeitsstationen. Roboterarme hoben, schoben, fixierten und platzierten unermüdlich die Werkstücke.
»Selbst die Wartung und kleinere Reparaturen können sie selbst ausführen. Die Menschen werden nur noch für ernste Fälle und als Alibi benötigt.« Konnte Steven neben Stolz genauso Sorge in der Stimme des Wachmannes vernehmen?
»Scheint, dass es mehr Wachleute als Arbeiter auf diesem Gelände gibt. Was wird denn produziert?« Ihm fiel auf, dass er noch gar nicht nach dem Namen des Betriebes geschaut oder sich gefragt hatte, was man hier überhaupt herstellte.
»Geheimsache. Technik vom Rang der nationalen Sicherheit.« Mehr gab es nicht zur Erklärung.
Sie durchquerten die Halle, gelangten durch weitere Schleusen in eine benachbarte, nicht weniger große Produktionseinrichtung. In ihr verriet die mit Lösungsmittel geschwängerte Luft, dass Lack und Farbe verarbeitet wurde. »Hier ist Halle 10, die vorletzte Fertigungsstufe, bevor es in die Qualitätsprüfung in die Elf geht.«
»Dort ist auch der Tatort?« Ihm taten bereits die Füße weh.
Ein lauter Hupton schmetterte durch die Hallen, just als sie endlich an ihr Ziel gelangten. Der Kommissar zuckte unwillkürlich zusammen. Hatten sie einen Alarm ausgelöst? »Es ist das Ende der Nachtschicht. Sie ist um sechs fertig.«
»Ach, gehen die Roboter jetzt mit ihren Produktionsstraßen nach Hause?«, scherzte Steven. Keine Reaktion. Nur wenige Menschen kamen ihnen entgegen, nur wenige überholten sie. Das war also die Fabrik der Zukunft? Kaum mehr Menschen in den Hallen, und die, die da waren, verstarben auf eigentümliche Weise.
»So, hier sind wir. Er liegt noch da, wo wir ihn gefunden haben – schlimm zugerichtet. In einer der großen Roboteranlagen eingequetscht.« Seine Begleiter entließen Steven mit einem kurzen Nicken. Andere Kollegen in der Halle übernahmen die Überwachung. Sie waren so maulfaul wie ihre Vorgänger. Obendrein schienen sie geklont zu sein, mutmaßte Steven beim Anblick der bulligen Typen mit ihrem Kurzhaarschnitt. Das markante Logo »Best Secure« schien nicht nur auf der dunklen Jacke zu prangen, sondern auf deren Gemüt eingeprägt.
»Wo sind wir hier nur gelandet?« Kriminalhauptkommissar Plodowski schüttelte die letzten Tropfen Regen von seiner kahlen Stirn. Seine nassen Schuhe hinterließen hässliche Flecke auf dem glatten Fabrikboden.
Kollegin Kerstin Neumann nickte ihm freundschaftlich zu und nahm ihn beim Arm: »Komm, ich führ dich rüber. Hast du schon was im Magen? Er sieht nicht wirklich appetitlich aus.« Sie scherzte: Wer konnte schon frühstücken, wenn um 4:30 Uhr das Telefon klingelte? Zumindest er war da gewöhnlich noch im Bett. »Wir sind übrigens im Ausbildungs- und Trainingscenter.« Sie zeigte mit einer Hand nach vorn, und wies auf ein überdimensionales, fensterloses Gebäude, das einem Würfel ähnelte. »In diesem Bereich auf der rechten Seite sind Qualitätssicherung, Ausbildung und Training untergebracht – links die Forschung.« Sie sezierte mit ihren Armen die Halle und teilte die einzelnen Abschnitte fachgerecht ein. Einer exakten Symmetrie folgend trennten breite Gänge die Bereiche voneinander ab. Die Decke dieses Gebäudes war deutlich niedriger als in den vorangegangenen Produktionsbereichen. Kleinere Kabinen und mit Raumtrennern errichtete Büros innerhalb der Halle erzeugten einen Eindruck wie bei einem Tetris-Spiel. Alles irgendwie ineinander und miteinander verschachtelt. Die ersten Ingenieure erschienen in weißen Kitteln gekleidet und verschwanden in den Boxen. Sie nahmen keine Notiz von dem, was hinter dem Absperrband geschah. Steven sog die Stimmung auf. Der erste Eindruck war bei einem Kriminalfall besonders wichtig. Und hier drängte sich unweigerlich das Gefühl von Sterilität und menschenfeindlicher Kälte auf.
»Tobias Strecker.«
»Was?«
»Na, das war sein Name. Der Tote.« Mit einer ausladenden Bewegung zeigte Kerstin zu einer etwas entfernt stehenden Maschine, die von einem weiteren Absperrband umgeben war.
»Ah, verstehe.« Sein Blick betrachtete unwillig die Silhouette des vermeintlichen Leichnams, der aus der Ferne eher einem geschredderten Fleischberg glich.
Sie gingen langsam auf die Anlage zu. Die zerfetzten Überreste des Toten befanden sich in einer durch einen Metallkäfig geschützten silbergrau lackierten Ansammlung mehrerer Maschinen. Die Walzen, Fräsen, Schneidwerkzeuge und Pressen waren dabei kreisförmig im Käfig aufgebaut. Im Zentrum aber herrschte ein gut drei Meter hoher, mit zahlreichen Gelenken ausgestatteter orangefarbener Roboterarm, der drei kräftige Greifzangen besaß. Steven erinnerte das Ungetüm an ein urzeitliches Hollywoodmonster. Druckluftschläuche schmiegten sich an seinen stählernen Torso und verschwanden im Boden in Versorgungsschächten. Gelbschwarze Warnschilder prangten an allen Seiten der Anlage, für jeden gut sichtbar. Bei Betreten im Arbeitsbetrieb drohte Lebensgefahr. Ein rotes Signallicht blinkte im Alarmmodus an der Vorderfront des Gitters, dort, wo sich die Eingangstür in die Monsteranlage befand.
»Die haben eine Mordskraft, diese Dinger – und wenig Sensibilität, wenn es um Menschen geht.« Kerstin zeigte auf den Roboter, der trotz seiner aktuellen Starre das Zentrum beherrschte.
»Wie konntet ihr ihn überhaupt identifizieren? Da ist ja nicht wirklich viel übrig geblieben, was noch an eine menschliche Kreatur erinnern könnte.« Blässe machte sich auf Stevens Gesicht breit.
Kerstin beobachtete besorgt die Wandlung bei ihrem Chef, wies dann aber auf einige Stofffetzen am Boden: »An seiner Arbeitskleidung. Alles personalisiert hier. Sein Name stand drauf. Näheres bringt die Obduktion.«
Plodowski spürte seine Knie nun doch weich werden. Solch ein Anblick auf nüchternem Magen tat nicht gut. Der Geruch stieg in seine Nase. Ein typischer Geruch, der solchen Tatorten eigen war. Und wenn man im idyllischen Oberschwaben ohnehin nicht oft damit konfrontiert wurde, dann …
»Gibt es hier einen Kaffee?«
»Jepp, komm mit. Dann können wir auch gleich den Spind prüfen.«
Sie staksten vorsichtig durch das Labyrinth umhergeschleuderter Metallteile und Körperreste in Richtung Kantine.
»Was liegt denn hier überall herum?« Steven blieb stehen. »Na, Reste vom Toten.« Kerstin blickte ihn verständnislos an. »Nein, ich meine dieses Metall. Kommt das aus der Maschine?« Er blickte sich um.
Seine Kollegin zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Sie wollte ihren Weg fortsetzen, doch Steven deutete auf eine benachbarte Anlage: »Habt ihr diese schon untersucht? Die Teile scheinen von hier zu stammen.« Zielstrebig bewegte er sich auf die besagte Maschine zu. Offenbar eine Lackieranlage, wie farbige Sprühköpfe in ihrem Inneren vermuten ließen.
»Nein, haben wir noch nicht. Wie kommst du darauf?« Kerstin gesellte sich zu ihm.
Er deutete auf herunterhängende Schläuche, aus denen noch immer Farbe tropfte. »Abgerissene Ventile, Diffuser und Kompressoren. Eingedellte Abdeckplatten an der Anlage, siehst du? Dann hier die Kratzspuren auf dem Boden. Die Farbtanks dieser Lackieranlage wurden kräftig verschoben. Da ist was mächtig dagegen geknallt und hat ordentlich Schäden angerichtet. Hat hier eventuell ein Kampf stattgefunden?«
Sie beobachtete fasziniert, wie er mit seinem für ihn typisch schräg gestellten Kopf und der fahrig über den glatten Schädel streichenden Hand dastand und jedes Detail musterte. Unentwegt wanderten seine tiefbraunen Augen von der Lackieranlage hinüber zum Käfig und zurück. »Die KTU soll das hier auch prüfen, sprichst du bitte mit den Kollegen?« Und schon marschierte er, Kerstin im Gefolge, zur Kantine.
Deren Tür öffnete sich mit einem sanften Surren von selbst und empfing die beiden Kriminalbeamten mit feinstem Weiß, möbliert mit modischem Holzinterieur. Schick, modern.
»Mit einer echten WMF-Maschine. Unfassbar. Warum haben wir die nicht auf der Dienststelle?« Steven inspizierte aufmerksam die Einrichtung.
»Ganz einfach, weil ein zufriedener Arbeiter auch ein effizienter ist. Die Investitionen in diese Bereiche erzeugen Mehrwert in den Produktionsbereichen. Scheint bei uns auf dem Revier nicht ganz so wichtig zu sein …« Kerstin streckte sich nach zwei weißen Porzellantassen und drückte auf »Latte Macchiato«. Die Maschine summte, als sie das Mahlwerk startete. Der Duft von Kaffee erfüllte den Raum. Die Kommissarin lächelte, als sie ihrem Chef die erste Tasse rüberschob: »Du siehst nicht wirklich gut aus. Alles okay zu Hause?«
Der Schluck tat gut, beruhigte den Magen. Beide lehnten sich gemütlich gegen den Tresen. Stevens rechte Hand wanderte heimlich nach hinten zu einem Körbchen mit Keksen.
»Wo ist eigentlich Kollege Valmir?«, entgegnete er, darauf bedacht, ihre Frage zu ignorieren.
»Chef, Kekse muss man nicht heimlich klauen! Gehört hier zum Hausservice.« Verschämt schob er sich das ergatterte Stück in den Mund, während sie lächelnd fortfuhr. »Valmir ist auf dem Weg hierher. Wir mussten erst in einem seiner Clubs nach ihm suchen.«
Ein Lebemann und Kripobeamter, wie mochte das zusammengehen? Offenbar gut. Beide lachten sich an, keiner musste ein weiteres Wort verlieren. Der junge Kerl galt als großes Talent in der Abteilung. Aber auch als Hallodri.
»Lass uns die Tassen mit zu den Umkleideräumen nehmen, damit wir keine Zeit verlieren, Steven.«
Er nickte und grabschte nach einem Stapel weiterer Schokokekse. »Auch einen?«
»Nein – meine Gluten-Geschichte! Geht nicht.«
Auf dem Weg zu den Aufenthaltsräumen der Mitarbeiter roch er wieder jenen Duft nach Arbeit, wie er ihn schon als Kind geliebt hatte. Dieser Geruch nach Schmieröl und gefrästen Metallen. Sein Vater war Arbeiter in einer Fabrik für Schiffsmotoren gewesen. Damals, im letzten Jahrtausend, was ja eigentlich noch nicht einmal zwanzig Jahre zurücklag. Maschinenschlosser nannte sich sein Beruf. Dies klang so magisch in Stevens Ohren. Sein Vater war für ihn noch immer der Held, mit dem blauen Arbeiteranzug und den überdimensionalen Werkzeugen, mit denen er hantiert hatte. Er war der Herr der großen, lauten, schnaufenden und manches Mal gefährlich kreischenden Maschinen. Ein echter Dompteur eben. Ein Einwanderer, der in den Siebzigerjahren hart hatte kämpfen müssen, um sich gegen grobschlächtige deutsche Kollegen durchzusetzen. Doch der stolze Pole schaffte es im tiefsten Schwaben und sollte am Ende zum Abteilungsleiter in seiner Fabrik aufsteigen.
Heute Morgen entdeckte Steven außer des Geruchs jedoch nichts mehr von dem, was er als Erinnerung an jene Zeit in sich barg. »Alles so sauber hier. Man könnte ja ohne Weiteres auf dem spiegelglatten Boden frühstücken.« Er blickte den langen Gang hinunter. Kerstin konnte sich ihr Lächeln nicht verkneifen. »Nein, ehrlich. Kein Gestank, kein Rauch, kein Lärm, wie man sich eine Fabrik sonst vorstellt.« Stattdessen beobachteten sie Roboterarme, deren Bewegungen so unfassbar schnell waren, dass man sie mit bloßem Auge nicht mehr wahrnehmen konnte. »Früher konnte man noch erkennen, was die ganzen Maschinen herstellten. Irgendwie waren damals die einzelnen Bauteile größer, und Menschen montierten die fertigen Produkte zusammen. Heute aber ist alles so winzig klein und hinter irgendwelchen Abdeckungen versteckt. Man sieht gar nicht, wie das alles geschieht. Ist am Ende einfach fertig. Wie von Geisterhand.« Steven kam aus dem Staunen nicht heraus.
Seine Kollegin nickte zustimmend: »Es ist wie bei Raumschiff Enterprise. Die Dinge kommen fertig aus dem Zauberapparat. Aus diesem, diesem …«
»Replikator?«
»Ja! Stimmt, Replikator. Scheinbar sind wir nicht mehr weit davon entfernt.« Sie fasste Steven beim Arm und zog ihn mit sich fort: »Wie geht es denn nun zu Hause?«
»Was?« Steven blickte irritiert zu seiner Kollegin.
»Na, wie geht es mit eurem Kunsthappening weiter? Wirst du nun in das Hasenkostüm klettern?«
Steven Plodowski wandte unwillkürlich den Blick ab. Kein gutes Thema! »Nie in diesem Leben – und nie in einem der folgenden!« Die Kunsteskapaden seiner Frau sollten andere Verrückte mitmachen, nur nicht er selbst. Kerstin gluckste vor Freude. »Der Anblick mitten in der Fußgängerzone hätte mir schon ganz gut gefallen. Den Kollegen sicherlich auch.«
Ein solcher erschien gerade in Begleitung zweier Personen, in deren Gesichtern sich das triste Winterwetter zu spiegeln schien. »Guten Morgen, Valmir. Kann man schon wach sein?«
Der Angesprochene fuhr sich verlegen mit der Hand durch die zerzausten Haare. Sein leichtes Nicken war lediglich eine Andeutung. Schwerfällig lotste er seine beiden Kollegen von ihrer geplanten Route weg hinüber zum Tatort, wo einige unruhige Gestalten warteten.
»Dies sind die Herren Schichtleiter und Standortleiter. Herr …« Er kam nicht mehr zum Weiterreden.
Der kleinere, etwas dickliche Mann schoss mit schneidender Stimme heraus: »Wie lange werden Sie brauchen? Wir müssen die Produktion schnellstens wieder anlaufen lassen!«
»Oh, … ich weiß nicht. Hauptkommissar Plodowski vom Kommissariat Ravensburg – so nebenbei. Und das ist meine Kollegin, Frau …«
»Neumann, ich weiß. Wir haben die Besucherprotokolle.« Verblüfft wandte sich Steven an den etwas hinter der Gruppe stehenden Herrn. Offenbar der Betriebsleiter. »Sind die Kollegen hier immer so forsch?« Dessen verständnisvolles Lächeln war Antwort genug.
»Es ist der Menschenschlag hier, Herr Plodowski«, erklärte der Schichtleiter selbst sein Verhalten. »Wir sind klar und direkt. Und wenn jemand seinen Tod selbst provoziert hat, dann erst recht.«
Kerstin blickte auf. »Wie meinen Sie das?«
»Nichts meine ich! Ich sage ja nur, manche Menschen haben sich eben auch Feinde geschaffen und stolpern am Ende über ihren Ehrgeiz!«
Der Betriebsleiter machte einen Schritt nach vorn und drückte seinen Mitarbeiter kräftig zur Seite. »Guten Morgen, Karl-Heinz Hepp, ich leite hier die Produktion. Wissen Sie schon, wer der Mörder ist? Es müssen Fremde gewesen sein. Wir haben Einbruchsspuren sichergestellt.« Das wurde ja immer wunderwitziger hier. »Sie haben was?« Steven wurde langsam ungehalten. Durcheinander und sich androhendes Chaos konnte er ganz und gar nicht ertragen. Vor allem wenn andere meinten, seine Arbeit machen zu müssen.
»Na, der Wachschutz. Unser Wachschutz. Sie haben das Gelände abgesucht. An der Südseite der Fabrik. Dort, wo früher einmal das Militärgelände war. Da haben sie was entdeckt.«
Ruhig bleiben und sammeln, sprach die innere Stimme in Steven. Den Bienenschwarm im Kopf erst einmal bändigen. »Wir werden jetzt eins ums andere machen, meine Herren.« Er wies auf seine Kollegen. »Können Sie bitte mit meinen beiden Partnern in die Kantine gehen und dort Ihr wertvolles Wissen zu Protokoll geben? Ich komme dann gleich zu Ihnen. Wo sind denn die Umkleideräume?«
Gleichzeitig hoben beide Manager ihren Arm und zeigten auf eine doppelflügelige Stahltür hinter ihm.
»Dort. Gleich nach der Tür rechts. Die Männer.« Der Schichtleiter gab per Hand noch ein paar Befehle an einen der umstehenden Mitarbeiter, und schon marschierte Steven mit diesem zum Ausgang. »Und dass mir niemand hier umherläuft. Verstanden? Bleiben Sie vom Tatort und dem ganzen Bereich fern!«
»Aber die Produktion …«
»Nichts ›die Produktion‹! Herrschaftszeiten. Es geht hier um einen Todesfall. Mord womöglich! Verstanden? Wenn ich will, dann lass ich die ganze Fabrik sperren!« Heftig stampfte Plodowski auf den Boden und stieß die Tür auf, gefolgt von weiteren Aufpassern. Die kühle frische Luft, die sie dort empfing, ließ ihn wieder ein wenig ruhiger werden.
»Kannten Sie den Toten?« Er wandte sich einem seiner neuen Bewacher zu.
Der jedoch schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich gut. So, wie man sich eben bei der Arbeit kennenlernt. Privat gab es keinen Kontakt.«
»Das heißt? Wissen Sie nun etwas, oder wissen Sie nichts?«
»Nichts, was die anderen nicht auch wüssten.« Warum mussten diese Schwaben immer so wortkarg sein? Arbeitsam, aber wortkarg. Auffordernd blickte er ihn an. »Ein Spieler soll er gewesen sein. Alles Geld, was er verdient hat, soll er verspielt haben, in Lindau im Casino. Und …«
»Und?«
»Ja, mit den Frauen soll er es gehabt haben. Alle, die da so unterwegs waren. Auch die von Kollegen – sagt man.«
»So, sagt man.« Steven versuchte, so teilnahmslos wie möglich zu wirken. Vielleicht hielt das den Redefluss aufrecht. »Aber ein hervorragender Fachmann war er – trotz allem.«
Sie kamen vor einem Schrank mit der Aufschrift »Tobias Strecker« zum Stehen. Steven rüttelte an der Tür, ohne Erfolg.
»Wie gehen die Spinde auf?« Er ärgerte sich über die Passivität des Herrn, der ihn begleitete. Langsam und wortlos öffnete der Angesprochene mit einem Transponder den Schrank des Toten. »Wie konnten Sie den jetzt öffnen?« Misstrauen lag in des Kommissars Stimme.
»Na, weil ich der Facilitymanager bin, also der Hausmeister. Ich dachte schon, dass sie an den Schrank wollen.« Der Angesprochene lächelte ihn unverbindlich und distanziert an. »Bitte, hier der Spind von Herrn Strecker, schauen Sie sich gern um.« Sprach’s und trat zu Seite.
Steven zog Latexhandschuhe aus seiner Jackentasche, um sie umständlich über die Hände zu stülpen. Zunächst ziellos wanderten diese von Fach zu Fach. Strecker hatte nicht viel in seinem Schrank deponiert. Die Alltagskleider hingen fein säuberlich auf den Bügeln. Schicke Lederschuhe standen unten auf dem Boden. Oben befanden sich eine teure Schweizer Uhr, ein Ring, Smartphone, Geldbeutel und einzelne Papiere.
»Was ist das denn für eine komische Urkunde?« Er zog einen dicken Karton im Format A4 heraus. Ein fächerartiges Logo zierte oben rechts das Dokument. »Ernennungsurkunde« prangte groß im oberen Drittel. »Was ist denn bitte schön ›WorldSkills‹?« Fragend blickte er den Hausmeister an. Doch dieser zuckte mit den Schultern. Eine Loge? Ein Arbeitergeheimbund? Oder ein Geheim-Code?
»Ich weiß es wirklich nicht. Strecker machte einige eigenartige Dinge. Hing hier immer bis spät in die Nacht mit seinen Lehrlingen rum – alles möglich.« Der Hausmeister zog theatralisch die Schultern hoch.
Plodowski nahm das Dokument an sich. Auch die Metall-Anstecker mit demselben Logo. Mit einem Dank verabschiedete er sich vom Hausmeister und marschierte mit den Fundstücken in die Kantine.
Bei aller Professionalität, die Steven als Ermittler auszeichnete, so emotional konnte er auch reagieren, wenn etwas am Tatort nicht zusammenpasste. Und das tat es hier mitnichten. All das hier war so perfekt, so klinisch rein – oberflächlich gesehen. Aber unter der Oberfläche, da schien was faul. Diese Menschen spielten ihm etwas vor, da war er sich sicher.
Kerstin und Valmir befanden sich noch in der Zeugenbefragung. Steven nickte ihnen zu, holte sich einen frischen Kaffee und setzte sich an einen freien Platz am Fenster. Nur wenige Mitarbeiter hielten sich im Raum auf. Sie tuschelten leise miteinander und beobachteten den Kripobeamten, wie er die Gegenstände aus dem Spind fein säuberlich vor sich ausbreitete. Steven stierte gedankenverloren das fächerartige Logo von »WorldSkills« an. Schick sah die Urkunde aus und wichtig. »Ernennung zum Bundestrainer« war zu lesen. Steven verlor sich in seinen Überlegungen. Worin mochte denn Strecker Bundestrainer gewesen sein? Der Kommissar nippte an seinem Kaffee. Seine Kollegen wurden lauter und energischer. Ihre Stimmen drangen über die Tische hinweg zu ihm. Störrische Zeugen offenbar. Steven wandte den Blick zum Fenster hinaus. Er kannte keine Bundesligamannschaft aus der Region, mit Ausnahme der Volleyballer aus Friedrichshafen. Was mochte Strecker also trainiert haben? Sollte sich mal der Praktikant im Büro um dieses Thema kümmern.
Die Tür öffnete sich, und der zweite Trupp der KTU erschien. Sie sollten die Spuren an der Einbruchsstelle am Zaun untersuchen, zumindest das, was noch davon übrig war. Steven grüßte aus der Ferne, erhob sich rasch und gesellte sich zu ihnen. »Grüß euch, Kollegen, ich komme mit, um mir das auch mal anzuschauen.«
Lukas staunte nicht schlecht, als er an der Pforte seiner Firma, in der er seine Ausbildung machte, das inzwischen auf gut ein halbes Dutzend Fahrzeuge angewachsene Polizeiaufgebot sah. Die Autos standen allesamt außerhalb des Betriebsgeländes und versperrten ihm den Zugang zum Tor. Offenbar ein Verkehrsunfall auf der Umgehungsstraße, auch wenn Lukas nichts erkennen konnte. So grüßte er kurz die Kollegen im Pförtnerhäuschen und hielt seine Chipkarte vor den Sensor, um durch die Drehtür ins Innere des Betriebes zu gelangen, ganz in seine eigenen Gedanken versunken. Ihn beschäftigten die Erlebnisse der vergangenen Wochen. Sie nahmen seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Warum hatte ihn sein Ausbilder gestern überhaupt noch gezwungen, die ganzen Filmaufnahmen im Unternehmensmuseum zu machen? Wahrscheinlich nur deshalb, damit die Arbeitsgruppe der anderen Azubis ihren Produktionsplan für ihr Abschlussprojekt erfüllen konnte. Jede Ausbildungsgruppe hatte ihre eigenen Abschlussprojekte zusätzlich zur staatlichen Prüfung zu absolvieren. Die blöde Abschlussprüfung. Sie stand ihm auch noch bevor. Doch das Training für die Weltmeisterschaften fraß ihn beinahe auf, ließ keine Luft zum Atmen. Als Deutscher Meister der Polymechaniker lastete ein enormer Druck auf ihm. Wer hätte je gedacht, dass das Training für die Weltmeisterschaften der Berufe einem Leistungssport gleichkam? Er nicht im Leben! Dabei konnte sich Lukas nicht des Gefühls erwehren, dass er gar nicht auf diese Position gehörte, die die Teilnahme bei der WM ermöglichte. Dieser Rang gebührte eigentlich jemand anderem. Doch seinen Ausbilder störte kein ›eigentlich‹. Ihn interessierten nur die Schwächen der Gegner, die es auszunutzen galt, und die absolute Befriedigung seines unbändigen Ehrgeizes.
Lukas grüßte die Wachmannschaft am Eingang und ließ die Sicherheitsprüfung geduldig über sich ergehen. Wie ferngelenkt ging er seines Weges. Exakt auf derselben Route wie zwei Stunden zuvor der Kommissar. Seine schweren Arbeitsschuhe pressten mit jedem Schritt das Wasser aus den kleinen Pfützen.
Endlich raus hier aus diesem engen Tal, das war sein Plan gewesen, als er sich bereit erklärt hatte, bei diesem Trainingswahnsinn mitzumachen. Mit den Weltmeisterschaften den Absprung schaffen – und nicht mehr zurückkommen. Raus in die Welt.
»Halt, Sie können hier nicht durch. Dieser Hallenbereich ist gesperrt.«
Lukas blickte ungläubig die Polizistin an. Die Hoheit auf diesem großen Gelände oblag sonst dem Wachschutz. Hier befand man sich in einer anderen Welt mit eigenen Gesetzen und Regeln. »Was ist denn los? Was machen Sie hier?« Er musste sich erst sortieren, um aus seinen Tagträumen zurück in die Gegenwart zu gelangen.
»Hi, Luc, ein Toter – hinten in eurer Halle.« Sensationsgierig rannte eine junge Ausbildungskollegin von ihrer Anlage zu ihm rüber. »Die Roboter müssen ihn zerfetzt haben. Glaub mir, die killen uns alle. Wie in meinem Game. Ich sag’s dir.«
Er wandte sich genervt von ihr ab und blickte die Polizistin an. »Wer ist der Tote? Gibt es einen Namen?« Doch die schüttelte den Kopf. »Ich muss aber da durch. Dort ist mein Ausbildungsplatz, und mein Ausbilder wartet sicher schon auf mich.« Lukas unternahm einen letzten Versuch durchzukommen.
»Vergiss es, Luc. Sie lassen niemanden mehr in euren Bereich rein. Wahrscheinlich liefern sie sich einen Schusswechsel mit den Maschinen.«
»Sarah, du hast einen an der Waffel. Echt!« Er boxte sie in die Schulter und marschierte eilig in Richtung Ausgang.
Plodowski stieß mit ihm unmittelbar zusammen, als er gerade von der Einbruchstelle am Außenzaun zurückkam. »Nanu, warum so ungestüm der junge Herr?« Aufmerksam musterte er den auf ihn zustürmenden Azubi. »Gehören Sie auch zu den Auszubildenden in Halle 11, zu Herrn Strecker?«
Lukas nickte verärgert: »Ja, das tue ich, und ich will nun verdammt noch mal wissen, was hier los ist.«
Plodowski freute sich über diesen willensstarken jungen Kerl. Eine erfrischende Begegnung in diesem für den Kommissar so ungewöhnlichen Betrieb der Sterilität, der Kälte und dem sehr eigenmächtigen Wachschutz. Eifrig rieb er sich die taubgefrorenen Hände: »Kommen Sie mit. Reden wir bei mir im warmen Büro weiter«, lud er ihn ein und ging voraus, ohne sich umzuschauen, ob Lukas folgte. Steven wusste selbst nicht, warum er ihn zu sich ins Büro mitnehmen wollte. Vielleicht lag es daran, zu vermeiden, dass der junge Mann von anderen vom Tod seines Ausbilders erfuhr. Vielleicht war ihm auch einfach nur danach, weg von hier und ins Warme zu kommen.
***
Lukas schwitzte vor Eifer. In voller Arbeitsmontur saß er auf der Vorderkante des alten metallenen Stuhls im Büro des Kommissars. Seine Hände fuhren wild gestikulierend durch die leicht abgestandene Luft des Präsidiums. Er konnte noch immer nicht voll erfassen, was ihm gesagt worden war.
Seine Stimme überschlug sich mehrfach, als er dem Kommissar vom Vorabend berichtete. »… dann habe ich ihn verärgert allein gelassen.« Er stieß mit dem Fuß gegen den Tisch. »Ich war einfach nur sauer. Es ging doch nur darum, dass er es selbst nie geschafft hatte, und deshalb sollte ich seinen verhinderten Wunsch erfüllen.« Lukas zitterte vor Erregung, sein Herz raste. Erst allmählich drang in sein Bewusstsein, dass sein Ausbilder tot sein sollte. War er etwa der Letzte, der ihn lebend gesehen hatte?
Steven ließ ihn reden und setzte sich auf die abgewetzte Platte seines Schreibtisches. Mühsam versuchte er, seine nassen Schuhe auf dem Heizkörper zu platzieren. Er balancierte dabei gefährlich über dem grauen, verbeulten Papierkorb unter ihm. Sie auszuziehen traute Steven sich nicht.
»Was genau macht ihr denn da? Ich verstehe es noch immer nicht.« Schwerfällig drehte er seinen Kopf Lukas zu, der schräg hinter ihm saß.
»Wir sind eine der führenden Firmen weltweit in Sachen Future-Factory! Verstehen Sie?«
Steven schüttelte den Kopf. »Nein, verstehe ich nicht. Wahrscheinlich bin ich zu dumm – oder habe einfach keine Ahnung. Was in Gottes Namen ist eine Future-Factory?« Lukas blickte ihn ungläubig an. »Nee, oder?« Er beugte sich nach vorn.
»Doch, mein Ernst. Ich habe keinen blassen Schimmer, so, wie bestimmt achtzig Prozent aller Menschen in diesem Lande. Erzähl’s mir.«
Lukas räusperte sich. »Nun, was ist eine Future-Factory? Eine Produktionsstätte, in der die Maschinen immer mehr das Sagen haben. Sie bestimmen die Produktionsgeschwindigkeit, sie lenken vollautomatisch die Produktion, sie geben den Menschen den Takt vor, wenn überhaupt noch Menschen beim Produktionsablauf benötigt werden. Und in Firmen wie der unseren produzieren eben diese Roboter Produkte wie Sensoren, also intelligente Apparate, um noch intelligentere Systeme zu entwickeln.«
Steven legte die Stirn in Falten: »Und der Mensch? Wo findet der statt?«
»Die Frage stellen die Leute immer. Keine Sorge, die Menschen finden immer ihren Platz. Es gibt auch in der Zukunft Bedarf an guten Fachkräften. In der Forschung, Entwicklung, in neuen Arbeitsbereichen, die wir heute noch gar nicht kennen. Alles ist im Fluss. Es ist eine spannende Zeit, in der wir leben.«
»Macht dir das keine Angst?« Steven versuchte, sich in die Welt von Lukas hineinzudenken.
Doch der schüttelte den Kopf. »Nein, absolut nicht. Ich bin sicher, je besser wir ausgebildet sind, desto besser wird die Zukunft. Unsere Firma ist jetzt schon eine Pilgerstätte für Industrietouristen. Aber auch ein Anziehungspunkt für Gegner der Digitalisierung und Automatisierung. Menschen, die nicht nur Angst haben, sondern die Zukunft verteufeln. Radikale, verstehen Sie? Haben die Tobias umgebracht?«
Steven zuckte mit den Schultern. »Gut möglich. Aber wenn wir schon dabei sind: Was ich ebenfalls nicht verstehe, sind eure komischen Trainingsprogramme und Wettbewerbe. Was ist das?«
»Ach die! Darüber grüble ich selbst die ganze Zeit nach.« Lukas schnaufte tief durch. »Manches Mal weiß ich es selbst nicht: eine Anleitung zum Masochismus? Zum sich Quälen?«
Ungeduldig wandte sich Plodowski Lukas gänzlich zu. Erst jetzt nahm er dessen etwas eigentümliche Figur wahr. Schlaksig, dürr; eine Bohnenstange, wie man hier so sagte. Dennoch drahtig. Dünnes Haar schmiegte sich in Strähnen glatt am Kopf an. Das kantige Kinn wurde von spitzen Backenknochen flankiert. War dieser junge Mann willens, gewalttätig zu werden? Steven stellte seinen Kaffeebecher ab und fragte unvermittelt: »Jetzt erzähl doch endlich, Lukas. Was habt ihr da immer spätabends noch angestellt?«
»Er war mein Trainer für die WorldSkills. Ich bin aussichtsreicher Kandidat. Aber glauben Sie, der Mord hat was mit dem Wettbewerb zu tun?«
»Das kann ich dir noch nicht sagen. Wir stehen ganz am Anfang dieser Geschichte. Erzähl mir einfach, was du und Strecker genau gemacht habt, oder haben sie dir auch einen Maulkorb verpasst wie allen dort in eurer Firma?«
Lukas lächelte verlegen. »Nein, keine Sorge. Ich erzähl ja schon.« Er setzte sich aufrecht hin und blickte über das mittelalterliche Ravensburg hinweg hinüber zum großen Turm, »Mehlsack« genannt. Petra, seine Freundin, kam aus Ravensburg. Oder besser gesagt, das Mädchen, das er gern zur Freundin hätte. »WorldSkills, das sind die Weltmeisterschaften der Berufe. Da triffst du junge Talente aus der ganzen Welt. Die Besten der Besten, sag ich nur – wenn du es wirklich geschafft hast, auf nationaler Ebene der Beste zu werden. Das ist wie im Leistungssport. Du musst wirklich fit sein in deinem Beruf. Und wer es auf die internationale Ebene geschafft hat, dessen beruflicher Karriere steht dann nichts mehr im Wege.« Seine Augen verengten sich. »Doch das hat nicht immer nur etwas mit fachlichem Talent zu tun. Da kommt so viel zusammen.« Zum Beispiel die Kollegen, die einen unentwegt hänselten, gar mobbten, weil sie das so gar nicht verstanden, warum er privilegiert sein sollte.
»Bekommt man denn da auch Medaillen und Preisgelder?« Steven versuchte, sich das alles im Geiste vorzustellen. »Ja sicher. Medaillen, Urkunden und in manchen Ländern richtig viel Geld vom Staat. Nur in Deutschland nicht. Aber, wie gesagt, es ist gut für die eigene Karriere. Strecker – Tobias, meine ich, war mein Trainer. Er war selbst einmal Teilnehmer an diesen Weltmeisterschaften, wurde damals aber leider nur Vierter, was er nie wirklich verwunden hat.«
Die Tür öffnete sich, und ein junger Kollege überreichte Steven Dokumente aus der Autopsie.
»Tod durch brachiale externe Gewaltanwendung, na so was. Wer hätte das beim Anblick des Fleischberges gedacht?«
Lukas spürte, wie sich sein Magen umdrehte. Das Würgen trieb in Wellen das Frühstück nach oben.
»Oh, entschuldige.« Der Kommissar legte die Unterlagen weg, nicht ohne messerscharf jede Reaktion seines Gegenübers zu registrieren.
Der Beamte zeigte auf die Akte. »Es lohnt sich weiterzulesen, Steven. Sind weitere interessante Details zu finden.« Der Kommissar nickte ihm freundlich zu, gab aber mit einem Augenzwinkern zu verstehen, dass das nicht der richtige Zeitpunkt war. Er wandte sich wieder Lukas zu. »Erzähl weiter.«
»Nun, ich sollte halt zu Ende führen, was er nie geschafft hatte: die Goldmedaille nach Deutschland holen für die Polymechaniker.«
»Was offenbar keine einfache Sache ist, wie ich vermute?«
Ein tiefer Seufzer entfuhr Lukas. »Nein, wahrlich nicht. Man muss trainieren, trainieren und nochmals trainieren. Doch Tobias wollte immer noch eins mehr. Nichts reichte ihm. Ich musste alle Aufgaben und Projekte einmal mehr durchgehen als die anderen. In kürzerer Zeit, noch genauer arbeiten und überall besser werden.«
»Und deine Eltern?«
»Die stehen voll hinter dem Gedanken. Wenn schon der Junge nicht studiert, dann soll er wenigstens in seinem Ausbildungsberuf der Beste werden.«
»Arbeiter-Eltern?«, fragte Steven mitleidig. Er kannte das.
»Ja, beide. Und beide wollten, dass ich auf die Uni gehe. Doch das liegt mir nicht. Ich will anpacken, was Handfestes machen. Später kann ich ja immer noch studieren.«
Nun blickte auch der Kommissar zum großen Turm hinüber. Der Märztag entschied sich gerade, ein paar Schneeflocken ins Tal zu schicken.
»Ich will sie nicht enttäuschen. Deshalb tue ich mehr als alle anderen. Und ich bin gut. Verdammt gut. Alle Vorentscheide habe ich gewonnen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ich die Nominierung in die Nationalmannschaft erhalten hätte. Nur einer war hin und wieder besser als ich.«
»Ist mir irgendwie noch zu abstrakt, ehrlich gesagt! Wie muss man sich das konkret vorstellen?«
Lukas gratulierte ihm symbolisch mit einem Handschlag durch die Luft. »Willkommen im Club. Auch ich kannte das zuvor nicht. Erst über Tobias kam ich dazu. Er erzählte mir von WorldSkills, wollte mich zu den regionalen Wettbewerben anmelden, aber ich fand das alles komisch und wollte zunächst nicht. Doch wenn man sich mal die Bilder und Videos anschaut, dann haut es dich um! 2013 waren die Weltmeisterschaften in Leipzig. Mehr als tausend Wettkämpfer aus aller Welt. Mehr als zweihunderttausend Besucher und Politiker; Journalisten ohne Ende. Wie man da eigentlich einen Wettkampf machen kann bei all dem Rummel, weiß ich noch nicht. YouTube ist aber voll davon.«
»Aber was macht ihr denn da genau? Ich glaube, ich bin einfach zu weit weg von eurer Welt, um das zu verstehen.« Wie die meisten Bürger in Deutschland wahrscheinlich auch, setzte der Kommissar in Gedanken noch dazu.
»Vielleicht stellen Sie sich einfach die Olympischen Spiele vor. Das ist immer ein guter Vergleich. Nur sieht man bei WorldSkills keine Speerwerfer, Leichtathleten oder Ruderer, sondern Wettkämpferinnen und Wettkämpfer, die in ihren Berufen wetteifern. Sie müssen Projekte realisieren, Probleme lösen, kreativ sein, schnell und vor allem sehr exakt vor Publikum arbeiten. Und während ein 100-Meter-Läufer nach wenigen Sekunden schon seine Medaille bekommt und ein Fußballspieler nach neunzig Minuten in die Kabine darf, müssen wir eben vier Tage kämpfen und arbeiten wie die Wilden. Und glauben Sie mal ja nicht, dass man nachts im Bett nicht weiterarbeitet – in Gedanken. Da kann man nicht abschalten.«
Steven beobachtete den klaren, aber auch knallharten Blick des jungen Mannes. In ihm steckten so viele unterschiedliche Emotionen. Sicherlich auch eine typische Erscheinung in diesem Alter und der damit einhergehenden Umbruchphase.
»Im Vergleich zum Leistungssport sind für mich die Weltmeisterschaften aber die wahren Wettkämpfe. Hier wird wirklich Großes und Sinnvolles geleistet.«
Der junge Auszubildende stolzierte inzwischen durch den Raum und referierte wie ein Professor im Hörsaal. Der Kommissar und die hinzugekommenen Kollegen lauschten aufmerksam noch einige weitere Minuten seinen Ausführungen zu den Weltmeisterschaften der Berufe, die aus jungen Fachkräften aus der ganzen Welt offenbar Helden und Stars machten.
Erst nachdem Plodowski Lukas an der Tür verabschiedet hatte und dieser aufgekratzt den Gang hinunterschritt, bemerkte er, dass er vergessen hatte, nochmals im Detail nachzufragen, warum Lukas mit seinem Trainer Streit gehabt hatte. War es wirklich nur, weil dieser den Jungen zum Sieg hatte treiben wollen oder steckte ein anderer Grund dahinter?
Steven goss den letzten Rest Kaffee aus der Kanne in seinen Becher und beschäftigte sich mit den Unterlagen der KTU. »Farbflecken auf Haut und Textilresten. Ein eingeritztes Symbol auf einem Hautstück, das wohl zum rechten Oberarm gehörte.«
Steven inspizierte aufmerksam das Foto, das dem Bericht beigelegt war. Ein Geräusch im Nebenzimmer ließ ihn aufblicken. Durch die offene Glastür beobachtete der Kommissar, wie Kerstin und Valmir dort an der großen weißen Pinnwand die ersten Bilder aufhängten, mit unterschiedlichen Farbmarkern Verbindungsstriche zogen, in Rot Ausrufungszeichen setzten, mit Grün Fragezeichen positionierten oder in Schwarz Namen und Kommentare niederschrieben.
»Was haben wir denn bisher?« Er hielt die Mappe der KTU weiter in der Hand und stakste mit etwas steifen Beinen zu ihnen hinüber.
Kerstin schüttelte den Kopf. »Noch nicht viel Konkretes. Die Chefs dieser Firma FuSchKa blockieren gewaltig. Ihnen passt das gar nicht, dass wir im Haus ermitteln. Der Wachschutz saß uns unentwegt im Nacken und überwachte jeden Schritt den wir machten. Doch wir sortieren.«
Sie beobachteten schweigend die sich füllende Wand.
»Apropos überwachen, was geben die Kameraaufnahmen in der Halle her?«
Wieder ein Kopfschütteln beider Kollegen. »Erst beriefen sie sich auf oberste Geheimhaltung, dann als wir hartnäckig blieben, gab es die Information, dass die Festplatte mit den Aufnahmen verschwunden wäre. Geklaut scheinbar.« Valmir deutete mit dem Finger auf die Wand, dort, wo mit roter Farbe umrandet »Rolle der Unternehmensführung?!« geschrieben stand. »Sie behindern uns ganz offensichtlich, und ich denke, denen müssen wir gewaltig auf den Zahn fühlen.«
Immer wieder durchzogen lange Pausen das Gespräch, in denen sie sich an der langen weißen Notizwand hin- und herbewegten, die Köpfe mal nach rechts, mal nach links kippten und in den Fall hineinsanken. In Gedanken schwebten sie durch die Fabrikhalle zum Zeitpunkt, als Strecker noch lebte, gingen in ihrer Fantasie die Szene entlang, bis zu seinem Tod. Jede und jeder in einer anderen Version dieser Gedankenwelt.
»Was noch nicht ganz reinpasst, ist die Farbe an den Kleidungsresten. Vermutlich stammt diese von der kaputten Lackieranlage, die nebenan stand. Meint ihr, es könnte vorher ein Kampf stattgefunden haben? Aber mit wem?« Steven zeigte auf den Erstbericht der KTU. »Das würde dann darauf hindeuten, dass jemand nachhalf und der Tod Streckers kein Unfall war.«
Valmir schüttelte den Kopf. »Wir dürfen nicht zu früh solche Vermutungen anstellen. Aber die Tendenz in Richtung Fremdverschulden ist auch bei mir gegeben.«
Steven folgte ihm nicht mit voller Aufmerksamkeit. Ihn beschäftigte noch das Bild in der Akte. »Seht ihr das Zeichen auf dem Teil des Oberarms? Scheint reingeritzt zu sein. Die Blutkrusten zeigen, dass er wohl noch gelebt hat, als das gemacht wurde.« Er betrachtete lange die Aufnahme und hielt sie seinen Kollegen hin. »Was könnte das sein? Ein schräg gestelltes Z in einem Dreieck?« Sie schwiegen einige Minuten und betrachteten das Bild aus allen möglichen Winkeln.
»Gut möglich«, erwiderte Kerstin schließlich. »Wir müssen das recherchieren. Der Praktikant soll im Internet danach schauen.«
Eine kleine Figur erschien im hinteren Bereich des Raumes über mehreren dort aufgereihten Bildschirmen und nickte. »Wird gemacht.«
»Und wir prüfen, welcher Zusammenhang zwischen dem Schaden an der Lackiermaschine und dem Toten besteht. Valmir, kannst du nochmals bei der KTU nachfragen, was sie wissen und gegebenenfalls zu dieser Firma fahren – wie hieß sie noch? Ach ja, FuSchKa. Kann jemand zu ihr rausfahren? Kerstin, lass uns beide mal die Gruppen der Verdächtigen sortieren, wenn es wirklich Mord gewesen sein sollte. Da wartet einiges an Arbeit auf uns.«
Wie konnte er auch glauben, der Idee seiner Frau zu entkommen, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte? Keine Chance. Wenigstens würde ihn niemand erkennen in diesem affigen Hasenkostüm inmitten der Kälte. Und gut auch, dass sie vor der Basilika in Weingarten ihr Unwesen trieben und nicht in Ravensburg. Er und noch elf andere Hasen: »Die apostolischen Hasen«, wie seine geliebte Frau bedeutungsschwanger meinte.
In Weingarten sah man keine Ravensburger. Normalerweise. Und somit auch nicht Freunde und Bekannte. Oder noch schlimmer: Kollegen! Der einzige positive Aspekt an dieser Verkleidung war, dass das grauweiße Kostüm sehr gut wärmte und die eigenen Ohren gut geschützt wurden, während die großen Hasenohren stolz auf seinem Kopf prangten. Zumindest das eine. Das rechte, das wollte bei ihm nicht so richtig in die Luft ragen, sondern hing etwas traurig direkt ab dem Kostümansatz nach unten. Als besonderer Akzent wurde jedes der Kostüme mit einem kleinen Rehgeweih ergänzt.