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Mia und Lilly sind Schwestern und beste Freundinnen. Die Beiden leben auf dem Argentaler-Hof im Allgäu und müssen damit klarkommen, dass sie im Leben schon mehr als einmal neu anfangen mussten. Neue Freunde, neue Schule, neues Umfeld. Die Tiere auf dem Hof und die wunderbare Landschaft des Allgäus helfen ihnen, besser in ihrem neuen Zuhause anzukommen. Doch dieses ist bedroht. Ihre Eltern stecken in ernsthaften finanziellen Schwierigkeiten. In ihrer Not fallen ihre Eltern auf die Täuschung von Tierdieben rein. Lilly und Mia erkennen den Betrug, werden aber verdächtigt, einen schlimmen Dieb stahl begangen zu haben. Die Eltern stellen sie unter Hausarrest. Wer kann die Tiere überhaupt noch befreien? Mit Pascals Hilfe, der noch jungen, großen Liebe von Lilly, schaffen sie es, heimlich zu entkommen und die Rettung selbst in die Hand zu nehmen. Die Zeit läuft gegen ihren Plan. Sie beginnen zu kämpfen und bringen sich selbst in Gefahr.
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Inhaltsverzeichnis
Zum Buch
Impressum
Warten auf die Ferien
Pascal
Kirchenraub
Wolf im Schafspelz
Abgrund
Der Plan
Rettungsaktion
Im Verlies
Vermisst
Verloren im Dunkel
Rückkehr des Sommers
Wiedergutmachung
Das Hoffest
Abschied
Nachtrag des Autors: Die Landschaften und die Menschen
Der Autor Paul Steinbeck
Sparkys Edition
Mia und Lilly sind Schwestern und beste Freun dinnen.
Die Beiden leben auf dem Argentaler Hof im Allgäu und müssen damit klarkommen, dass sie im Leben schon mehr als einmal neu anfangen mussten. Neue Freunde, neue Schule, neues Umfeld. Die Tiere auf dem Hof und die wunderbare Landschaft des Allgäus helfen ihnen, besser in ihrem neuen Zuhause anzukommen. Doch dieses ist bedroht. Ihre Eltern stecken in ernsthaften finanziellen Schwierigkeiten. In ihrer Not fallen ihre Eltern auf die Täuschung von Tierdieben rein. Lilly und Mia erkennen den Betrug, werden aber verdächtigt, einen schlimmen Dieb stahl begangen zu haben. Die Eltern stellen sie unter Hausarrest. Wer kann die Tiere überhaupt noch befreien?
Mit Pascals Hilfe, der noch jungen, großen Liebe von Lilly, schaffen sie es, heimlich zu entkommen und die Rettung selbst in die Hand zu nehmen. Die Zeit läuft gegen ihren Plan. Sie beginnen zu kämpfen und bringen sich selbst in Gefahr.
Paul Steinbeck
Sommer im Argental
- Erste Liebe
Alle Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Institutionen sind reiner Zufall.
Alle Rechte liegen beim Autor und unterliegen dem Urheberrecht. Verwendung und Vervielfältigung von Text und Bild nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.
Ungekürzte Taschenbuchausgabe
2. Auflage Juni 2024 – Ursprünglicher Titel Lilly und Mia in gefährlicher Mission
© 2024
Sparkys Edition – Verlag Kommunikation-Romer, Zu den Schafhofäckern 134, 73230 Kirchheim/Teck
E-Mail: [email protected]
Lektorat: Dorthe Teßarek, Augsburg
Korrektorat: Susanna Kando, Stuttgart
Umschlaggestaltung: Fred Muenzmaier Design, [email protected]
Credits: © Maggie McCall / Trevillion Images
ISBN: 978-3-949768-25-5
„Oh man, ich will auch endlich Ferien!“ Mia stöhnte kräftig auf, während sie sich neben ihre Schwester Lilly ins hohe Gras fallen ließ. „Alle anderen in Deutschland haben Ferien, nur wir nicht. Das ist echt fies.“ Ihre blonden Locken tanzten wild um ihren Kopf, während sie mit den Fersen auf den Boden stampfte.
„Nur die Bundesländer im Norden“, korrigierte ihre Schwester lakonisch. „Und außerdem haben wir dann Ferien, wenn alle anderen schon wieder in die Schule müssen, ist doch auch cool.“ Sie lächelte und steckte sich einen Grashalm in den Mund, während ihr Blick eine eifrige Biene verfolgte, die von Blüte zu Blüte flog. Die Hinterbeine des Tierchens waren voller Blütenstaub. Ihr Flug wirkte träge und schwer. „Hoffentlich stürzt sie nicht ab“, sorgte sich Lilly. Doch das kleine Tierchen war stärker, als man zunächst denken mochte und summte in tiefem Flug zu seinem Bienenstock, der sich am schattigen Waldrand in einer verwitterten Holzkiste befand. Die knallig gelbe Farbe blätterte an einigen Stellen bereits ab. Doch das störte die Bewohnerinnen des Bienenstocks nicht. Geschäftig drängten sie sich am Eingang ihres Hauses, um die Pollen abzuliefern oder um wieder abzufliegen.
Der heiße Sommertag schickte warme Windböen über die Hänge des Allgäus.
Rauschend zogen sie durch die hohen Tannen des angrenzenden Waldes, um in Richtung Wangen davonzueilen. Dort hätte Lilly eigentlich das Sportgymnasium besuchen sollen. Doch sie hatte es mit viel Beharrlichkeit gegenüber ihrer Mutter und den Lehrern geschafft, auf die Gemeinschaftsschule in Argental gehen zu dürfen. Dort war ihre Schule auf dem gleichen Gelände wie die von Mia. Sie hätte es nicht ertragen, auch noch von ihrer geliebten Schwester getrennt zu werden, nachdem sie vor zwei Jahren schon all ihre Freunde in Brandenburg hatte zurücklassen müssen. Doof, was sich die Erwachsenen da so manchmal ausdachten! Sie schüttelte bei der Erinnerung daran den Kopf und griff in ihre Umhängetasche, aus der sie zwei Capri-Sonnen hervorzauberte. Eine davon legte sie ihrer Schwester auf den nackten Bauch, sodass Mia vor Schreck quietschte. „Trink! Habe ich vorhin aus der Küche geklaut“, forderte Lilly sie auf.
„Hmmm“, brummte Mia und setzte sich hin. „Super, danke Lilly.“ Stumm saßen sie nebeneinander und beobachteten das rege Treiben der Bienen, Fliegen, Schmetterlinge und Vögel um sie herum, während sie die Röhrchen in das kleine Loch im Aluminiumbeutel steckten und genüsslich daran sogen.
Beide hatten dieselben langen, blonden Haare, deren Locken nur schwer zu bändigen waren. Doch sie liebten das. Wild und ungezähmt. Man hätte sie für Zwillinge halten können, wenn sie nicht etwas mehr als ein Jahr voneinander trennen würde. „Irische Zwillinge seid ihr“, pflegte ihre Mutter immer zu sagen, wenn darauf die Sprache kam: „Wenn man weniger als eineinhalb Jahre auseinander liegt, dann ist man ein irischer Zwilling, so sagt man. Und ihr beide seht auch noch so aus.“ Neben den blonden Haaren hatten sowohl Mia als auch Lilly tiefblaue, strahlende Augen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatten.
Beide ließen sich wieder ins Gras fallen und beobachteten einen Milan, wie er seine Kreise am Himmel zog und zählten träge die Schäfchen in den Wolken.
„Würden wir noch in Brandenburg wohnen, hätten wir jetzt Ferien. Da will ich wieder hin. Ich vermisse meine Freundinnen“, schimpfte Mia zwischen zwei genussvollen Schlucken. Mit dem stolzen Vogel am Himmel flogen ihre Gedanken weit weg in das flache Land im hohen Norden. Sie hatten nur drei Jahre in Brandenburg gelebt, in dem zauberhaften Dorf an dem großen See, doch die Erinnerungen waren noch immer präsent. Die schönen Tage am Wasser. Mit ihren Freundinnen waren sie in einem alten Holzboot weit raus auf den blauen See gerudert. Sie waren durch Wälder getobt, über Stock und Stein gerannt und hatten sich in langen Sommernächten viele wilde Geschichten im Garten ihres alten Landhauses erzählt. Darin tauchten Elfen, Nymphen und kleine Monster aus dem Dunkel der Nacht auf. Gruselig und fantastisch zugleich.
Doch Mama und Papa waren im Gegensatz zu Lilly und Mia nicht glücklich in diesem Dorf. Mama war oft einsam gewesen, weil sie keinen Anschluss fand und viel allein war. Ihr Vater aber kam täglich traurig nach Hause, wenn er als Tierarzt erleben musste, wie die Großbauern ihr Vieh rücksichtslos behandelten. Nur der Profit zählte. Nicht bei allen, aber bei vielen. Lilly und Mia litten dann oft mit ihren Eltern mit. Wie erlösend war es deshalb für die Familie, als sie weit weg zogen. In den Süden, ins Allgäu mit den hohen Bergen, den Wiesen und Tälern. Dann dieser schöne Bauernhof, den die Eltern gekauft hatten. Man nannte ihn den Argentaler Hof. Lilly und Mia waren sofort in das alte, verwinkelte Haus verliebt. Groß und schön war das Anwesen, mit zahlreichen Ställen, Anbauten und Schuppen. Vaters Plan war, dort seine Tierarztpraxis aufzumachen und die Tiere der ganzen Region zu behandeln. Es sah gut aus, denn der alte Tierarzt war kurz zuvor in Rente gegangen und ein Neuer war nicht in Sicht. Franziska Becker, die Mutter von Lilly und Mia, wollte sich um den Hof kümmern. Mit Hilfe eines Fördervereins und Spenden sollten hilfsbedürftige Tiere eine Bleibe erhalten.
In den Nebengebäuden des Hofes befanden sich schicke Ferienappartements. Diese wollte die Mutter für Feriengäste nutzen, auch wenn es dem Vorgänger leider nicht gelungen war. Zusätzlich zu all diesen Dingen gab es die besondere Idee, quasi als Schmankerl, einen feinen Hofladen aufzubauen: Mit Seifen, Kerzen, Marmeladen, Käse, Säften, Kräutern und was sonst noch so Besonderes auf dem Hof, den Wiesen oder im Wald zu entdecken und zu verarbeiten war.
Ja, die Eltern waren begeistert und voller Tatendrang, als sie auf dem Argentaler Hof ankamen.
Inzwischen waren die Ställe voll mit Pferden, seltenen Rindern, Schafen, Ziegen und vielen anderen Tieren, die ihren Lebensabend bei ihnen verbringen durften. Tiere, die vor dem Schlachter gerettet wurden, aber sehr viel fressen konnten und viel Geld kosteten, das die Familie leider nicht hatte. Denn auch nach zwei Jahren lief die Tierarztpraxis vom Vater nur schleppend und auch aus dem Hofladen war bisher nichts geworden.
Lilly und Mia kümmerte das alles nicht. Sie liebten jedes einzelne Tier und kannten dessen Geschichte. Kein Tag durfte vergehen, bevor sie nicht bei jedem einzelnen Mitbewohner vorbeigeschaut hatten.
Mia schwirrte immer der Kopf, wenn sie die großen und kleinen Mitbewohner zählen wollte. Es mussten deutlich über einhundertzwanzig sein. Angefangen bei den Küken über die Kaninchen, Ziegen, Schafe, Gänse, bis hin zu den Eseln, Kühen, Pferden und Hund ohne Namen. Selbst Lamas gehörten seit einiger Zeit zur großen Familie der Beckers. Martin, ihr Vater, sagte immer, dass die lieben Viecher ihm die Haare vom Kopf fressen würden. Das wäre schade um seine braunen Locken, fand Mia.
Und dann diese saftigen Weiden voller bunter Blumen. Es gab nichts Schöneres, als an einem Sonnentag wie heute barfuß über die Wiese zu toben und sich die Beine kitzeln zu lassen. Bis zum Horizont schien das grüne Meer zu gehen. Bis dorthin, wo die hohen grauen Felsen der Alpen majestätisch in den Himmel ragten.
Plötzlich fragte Lilly laut: „Ob wir auf dem Argentaler Hof bleiben dürfen? Oder müssen wir auch bald von hier weg?“ Sie wollte es sich nicht ausmalen. Neue Freunde zu gewinnen war nicht einfach und langwierig. Das wollte sie nicht. Doch die Schulden lasteten schwer auf dem Hof und auf Familie Becker. Nichts hatte sich so entwickelt, wie sie sich das vorgestellt hatten. Der Vater bekam keine Aufträge durch die Bauern, warum auch immer. Die Feriengäste fuhren lieber direkt in die großen Berge oder an den See und die Spenden für die bedürftigen Tiere flossen nur spärlich. Doch das konnte ja nicht ewig so schlecht weiterlaufen, oder?
Entschieden schüttelte auch Mia den Kopf: „Nein, wir werden nicht von hier weggehen! Dafür müssen wir einfach sorgen.“ Sie schlug ihre Faust in die andere, offene Hand: „Gleich beim Hoffest nächste Woche fangen wir damit an! Wir müssen Geld sammeln, um die Schulden bezahlen zu können.“
Lilly nickte. Es stimmte, das große Hoffest stand ja kurz bevor. Eine gute Chance, um etwas für den Hof und die Tiere tun zu können.
Sie kamen nicht mehr dazu, sich weitere Gedanken darüber zu machen. Denn hinter ihnen entstand ein Tumult. Erschrocken drehten sich die Schwestern um und spähten in Richtung des Lärms. Eine meckernde Ziege und ein kleines Knäuel, das sich als aufgeregt bellender Hundewelpe entpuppte, rannten im Wettlauf auf sie zu. Lilly und Mia lächelten, was aber in ein Schimpfen überging, als die beiden, ohne zu bremsen, in sie hineinrasten.
„Autsch, Stubsi. Du Tollpatsch!“ Mia versuchte, sich die weiß-schwarz gescheckte Ziege vom Leib zu halten.
Gerade einmal sechs Monate war sie alt und schon so groß. Das hätte damals niemand gedacht, nachdem die Ziegenmama ihr Kind verstoßen hatte und es so aussah, als ob das kleine Tierchen keine Chance auf ein Überleben hätte. Doch Mia war schnell zur Ersatzmutter für das Tierbaby geworden und hatte dem Zicklein mehrmals täglich die Flasche gegeben. Wann immer es ging, trug sie das Kleine mit sich herum, um es warm zu halten. Am liebsten hätte sie die kleine Ziege sogar mit in die Schule genommen.
Das zweite Tier in der Runde, der kleine Hund, welcher es sich gerade auf Lillys Schoß bequem machte, war ihnen erst vor etwa acht Wochen zugelaufen. Abgemagert, verlaust und voller Dreck, so stand er plötzlich in der Hofeinfahrt und wäre an dem Morgen im Mai beinahe vom Milchauto überfahren worden. Nur mit einem beherzten Hechtsprung konnte ihn Lilly in letzter Sekunde retten. Jetzt war sie seine Heldin und er wich ihr Tag und Nacht nicht mehr von der Seite.
„Willst du ihm denn nicht mal einen Namen geben?“, fragte Mia, nachdem sie sich wieder aufgerappelt hatte.
Lilly schüttelte den Kopf. „Hund ohne Namen passt doch ganz gut.“ Sie streichelte dem Tierchen liebevoll das Fell. „Mir fehlt noch die richtige Eingebung. Findling ist doof. Da hat Mama keine gute Idee gehabt.“
Wenigstens durften sie den Kleinen behalten. Das war doch schon mal was, denn ihr Papa hatte bereits wieder Sorge um seine Haare gehabt.
Die vier schwelgten in Glückseligkeit, wie sie so gemeinsam dasaßen und sich von der Sonne verwöhnen ließen. Schnell waren die Tage in Brandenburg und die Sehnsucht nach Ferien vergessen. Perfekter konnte ein Sommernachmittag nicht sein. Später würden sie noch mit den Eltern in die kühle Argen springen. Dort, wo die Wasserfälle schöne, blaufarbige Gumpen ausgespült hatten.
Lilly riss sich und ihre Schwester aus ihren Träumereien heraus: „Bald werden wieder neue Gäste kommen, hast du schon gehört?“
Mia zog die Augenbrauen zusammen. Das war jedes Mal eine besondere Situation für sie alle, wenn fremde Menschen auf den Hof kamen und so eng bei ihnen wohnten. Auch wenn in letzter Zeit wegen dieser komischen Epidemie recht wenig Gäste gekommen waren.
Wie würden sie sein? Brachten sie Kinder mit? Also Kinder, die man auch zum Spielen gebrauchen konnte. Keine zarten Püppchen, die nur an ihrem Handy rumtippten und auf der Terrasse in ihren Liegen abhingen. Echte Kinder, mit denen man das Argentobel hinunterhechten und mit den Ponys über die Wiesen und Felder reiten konnte. Da hatten Mia und Lilly mit ihren dreizehn beziehungsweise vierzehn Jahren schon klare Erwartungen.
Lilly erhob sich: „Lass uns für Mutter einen schönen Blumenstrauß pflücken.“ Sie wollte ihre Schwester von den Sorgen um den Hof ablenken und ihrer Mama eine Freude machen. Franziska war heute Morgen so nachdenklich gewesen. Auch etwas traurig. Wie damals in Brandenburg.
„Au ja“, rief Mia freudig und sprang ebenfalls auf. Fleißig begannen sie, Butterblumen, Löwenzahn, Wiesenkerbel, Margeriten, Storchschnabel, Wiesenschaumkraut und viele andere bunte Blumen, die sie nicht kannten, zu pflücken. Stubsi freute sich darüber und knabberte von hinten heimlich die eine oder andere Blüte weg.
„Kuck mal, die dürfen wir sogar essen, das ist Sauerampfer, hat Papa gesagt.“ Lilly zeigte ihrer Schwester die lang gezogenen Blätter und steckte sie sich in den Mund. Sie hatten einen grausigen, bitteren Geschmack. Doch Mia war zu sehr beschäftigt, sich gegen die Blumendiebin Stubsi zu wehren, als dass sie Zeit fürs Essen gehabt hätte.
Plötzlich hielt Lilly inne und schaute in Richtung des Waldes: „Hast du das auch gehört?“
Wie angewurzelt standen alle vier inmitten der Wiese und lauschten. Stimmen drangen zu ihnen herüber.
„Dort drüben am Waldrand, da sind Fremde“, flüsterte Lilly. „Duck dich“, zischte sie Mia leise zu und warf sich auf den Boden. Etwas ließ ihre inneren Alarmglocken schrillen.
Vorsichtig streckten die Mädchen ihre Köpfe aus dem halbhohen Gras. Gerade so weit, dass sie einen Blick von dem erhaschen konnten, was dort passierte. Stubsi und der Hund ohne Namen taten es ihnen gleich.
Nicht weit entfernt standen zwei Männer und eine Frau. Die drei Personen stritten sich lautstark.
„Sie tragen große Rucksäcke auf ihren Schultern. Siehst du das?“ Mia nickte. Das Schreien ging ihr durch Mark und Bein. Sie zitterte plötzlich am ganzen Körper. Gebannt beobachteten sie die Szene. Die Rucksäcke mussten sehr schwer sein. Denn, als die Frau einem der Männer mit beiden Händen gegen die Brust schlug und ihn von sich wegdrückte, taumelte dieser nach hinten und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren.
Sie schrie ihn an: „Jeder bekommt den Anteil, der ihm zusteht. Ich hatte die Idee und habe auch alles ausgekundschaftet. Mir gehört der größte Anteil!“ Zum Zeichen, dass sie es ernst meinte, zog sie mit beiden Händen einen zweiten Rucksack, der auf dem Boden lag, zu sich heran.
Die zwei Männer wollten das aber nicht akzeptieren, wie es schien. Mit geballten Fäusten gingen sie auf die Frau los und versuchten, ihr beide Rucksäcke zu entreißen. Mit schnellen Rückwärtsbewegungen wich diese den Attacken aus und biss einem der Männer fest in die Hand. Wütend schrie er auf. Doch sie ließ nicht locker und gab ihm einen Tritt gegen sein Schienbein. Dem zweiten knallte sie einen silbernen Gegenstand, den sie aus dem am Boden liegenden Rucksack gezogen hatte, gegen sein Knie. Jaulend ging auch dieser zu Boden und rieb die schmerzende Stelle. „Du Biest! Das zahlen wir dir zurück.“ Doch sie hörte nicht mehr zu, sondern packte den zweiten Rucksack und schleppte sich damit in Richtung Wald, hinunter zum Flusstobel.
Die Männer fluchten noch immer und überlegten, ob sie die Frau verfolgen sollten. Schließlich gaben sie das aber auf, schnappten sich die zwei deutlich kleineren Rucksäcke und humpelten in die andere Richtung davon.
Die Mädchen trauten sich nicht aufzustehen. Oh, waren die aber wütend aufeinander gewesen! Und diese fremde Frau erst. Die hatte ganz schön Temperament, wie Lilly fand. Sie war begeistert von deren Frisur, lange Rastazöpfe, die ihr beim Kampf wild um den Kopf geflogen waren. Lilly meinte auch, Nasenringe in ihrem Gesicht entdeckt zu haben. Die dunkelgrüne Hose und das olivfarbene Shirt erinnerten das Mädchen an eine Schauspielerin aus einem Soldatenfilm, den sie mal abends angeschaut hatte. „Was hatten die in den Rucksäcken?“, wollte Mia wissen.
Lilly zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber sie haben sich ganz schön darum gestritten. Hast du gesehen, dass die Frau was auf den Boden geworfen hat? Irgendwas Silbriges.“ Sie zeigte in Richtung des Waldes.
Schnell waren sie aufgesprungen und rannten zu der Stelle hin. „Ein Kerzenständer?“ Lilly war irritiert. Das große silberne Ding war noch voller Wachs. Aber es schien alt und vielleicht auch wertvoll zu sein, vermutete sie. Auf dem unteren runden Teil des Kerzenständers waren bunte Steine eingelassen. Lilly kannte sich damit nicht gut aus. Aber vielleicht waren es ja Edelsteine!
„Waren das etwa Diebe?“ Sie blickte ihre jüngere Schwester an, um dann gleich in die Richtung zu spähen, in die die Männer verschwunden waren. Dann dorthin, wo die Frau hingerannt war. Mia zuckte nun ebenfalls mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen“, murmelte sie. Ihre Knie zitterten vor Aufregung. „Das kann schon sein.“
Abrupt packte Lilly ihre Schwester am Arm und zog sie energisch in das dichte Unterholz am Waldrand.
„Autsch, du tust mir weh, blöde Kuh“, schimpfte Mia.
Doch Lilly gab ihr ein Zeichen, still zu sein. Leise schnalzte sie mit der Zunge und winkte den Tieren, damit sie zu ihnen kamen. „Sie kommen zurück.“ Mia hielt sich fest die Faust vor den Mund und biss beinahe hinein.
Tatsächlich tauchte am unteren Rand des Waldes einer der Männer auf, lief auf sie zu, zögerte kurz, blieb stehen und horchte. Seine Augen waren fest auf die Stelle geheftet, wo die Mädchen eben noch gestanden hatten. Zögerlich machte er einen Schritt auf sie zu. Dann noch einen. Hatte er sie entdeckt? Hund ohne Namen knurrte leise.
„Psst“, flüsterte Lilly und hielt ihm die Schnauze zu. Sie ließ den Mann vor ihr nicht aus den Augen. Nur wenige Schritte trennten ihn von ihrem Versteck.
Auch er spähte zu ihnen herüber. Seine Augen waren zusammengekniffen. Eine tiefe Furche zeigte sich zwischen diesen. Er hob die Faust: „Wenn ich dich erwische, mach ich dich kalt! Saudoofe Kuh.“
Seine Drohung ließ den Mädchen das Blut in den Adern gefrieren. Er drehte sich weg und verschwand wieder zwischen den Bäumen.
„Puh“, entfuhr es den Mädchen beinahe gleichzeitig. Sie trauten sich vor Angst nicht mehr aus ihrem Versteck und lehnten sich an einen dicken, alten Baum. Lilly legte Mia den Arm um die Schultern und hielt sie fest.
„Wir müssen warten, bis es dunkel wird. Ich habe Angst, dass sie irgendwo lauern. Hältst du das so lange aus?“ Ihre Schwester nickte tapfer. Die Tiere legten sich stumm neben sie, als ob sie verstanden hätten, um was es ging. Mit ihrer freien Hand fuhr Lilly über den silbernen Kerzenständer und dachte intensiv nach, wo sie den schon einmal gesehen hatte.
***
Es fühlte sich für Mia an, als hätten sie bereits eine Ewigkeit hinter dem Baum gekauert, während ihre große Schwester endlich den Kopf in die Höhe streckte, um zu prüfen, ob die Luft rein war. „Komm, lass uns gehen, es ist spät“, flüsterte Lilly ganz leise. Die Tiere verstanden sofort und sprangen auf, um auf die Wiese zu rasen. Irgendwann war es auch mal genug, mit dem Nichtstun.
Stumm spähten die beiden Mädels in alle Richtungen, während sie auf dem kleinen Pfad die Wiese hinunter schlichen. Ihr Hof lag nicht weit weg. Aber einmal mussten sie noch durch den Streifen dunklen Waldes, bevor sie die Landstraße und dann ihr sicheres Zuhause erreichten. Es war ziemlich düster zwischen den Bäumen. Sie konnten nur langsam gehen und tasteten sich mit den Händen Meter um Meter vorwärts. Jedes Knistern und Knacken im Dickicht ließ die beiden zusammenzucken. Inständig hofften sie, dass keiner der Diebe hinter einem Baum hervorschoss und sie am Kragen packte. Suchten sie den zurückgelassenen Kerzenständer?
Als Lilly und Mia nach bangen Minuten endlich den Wald mit seinen großen Tannen hinter sich hatten, hielt sie nichts mehr und sie rannten los. Stubsi und der Hund ohne Namen schossen hinterher. Die Mädchen mussten heftig schnaufen. Lilly wurde die Hand, mit der sie den massiven Kerzenständer festhielt, schwer. Doch das gute Stück wollte sie nicht mehr loslassen.
Als sie keuchend um die Kurve rannten, stand zu ihrem Erstaunen das große Gatter offen. Das musste doch immer geschlossen sein, damit keine Tiere vom Hof abhauen konnten! Verdutzt verlangsamten die Mädchen ihre Schritte. Ein graues Auto versperrte ihnen den Blick zum Innenhof mit der großen, alten Linde. Zögerlich zwängten sie sich an dem Wagen vorbei. Lilly stieß dabei unglücklicherweise mit dem Kerzenständer gegen den hinteren Kotflügel und verursachte eine Delle. Erschrocken blickte sie auf das Unglück. O weh, das würde Ärger geben. Stubsi toppte das aber noch, als das kleine Zicklein mit einem kräftigen Satz auf den hinteren Kofferraumdeckel des Autos sprang und dann aufs Dach kletterte. Stolz meckerte sie von oben herunter. Das Klackern ihrer Klauen tönte über den ganzen Hof. „He, was macht das Viech da auf meinem Auto?“ Ein Mann mit Anzug und Aktentasche zeigte anklagend auf Stubsi. Die Mutter von Lilly und Mia hielt erschrocken die Hand vor den Mund.
„Stubsi, komm sofort da runter“, zischte Mia und versuchte, das freche Tier vom Autodach zu scheuchen. Doch die kleine Ziege tanzte nur noch wilder auf dem Blech herum.
„O weh“, stammelte Lilly erneut. Das war nicht gut.
Schnell versteckte sie, so gut es ging, den Kerzenständer in ihrem Stoffbeutel mit den Capri-Sonnen und bewegte sich langsam vom Auto weg. Mit einem Schlag war die Geschichte mit den Räubern im Wald vergessen. Wer war dieser Mann dort? Was machte er so spät auf ihrem Hof?
Ihre Mutter war nicht sehr glücklich über den Besucher, das erkannten die Mädchen sofort. Mit versteinertem Blick beobachtete sie das Geschehen.
„Mein Auto ist ruiniert. Schauen Sie sich das nur an! Das werden Sie mir bezahlen!“, schimpfte der Gast und stürmte los, um Stubsi selbst vom Dach zu jagen. Sein zerknitterter Anzug blieb dabei an einer Holzbank hängen. Mit einem hässlichen Ratsch riss eines der Hosenbeine auf. Laut fluchend kam er bei seinem Auto an und griff nach einem Stecken, um Stubsi herunter zu scheuchen. Doch das kluge Tierchen machte einen großen Satz über den Mann hinweg und landete mitten in einem hohen Heuhaufen, der auf dem Hof lagerte. Ihr Meckern klang empört, als sie sich herauswühlte und ohne allzu große Eile hinter einer Ecke verschwand.
Lilly und Mia schauten sich an und konnten nur mühsam ein Kichern unterdrücken.
Böse blickte der Anzugträger dem Tier hinterher und öffnete die Fahrertür. „Ich komme wieder, darauf können Sie wetten! Machen Sie sich darauf gefasst, dass ich dann nicht mehr so nett bin. Bezahlen Sie endlich Ihre Rechnungen. Verflucht, das darf doch wohl nicht wahr sein.“ Verärgert hob er sein rechtes Bein hoch. Es war feucht. Hund ohne Namen hatte mal schnell dagegen gepinkelt. „Mein Lieber, das ist doch kein Baumstamm“, wollte Mia einen Witz machen. Doch sie konnte gerade noch im letzten Moment den Mund halten und kicherte nur.
Der Mann sprang in sein Auto und zurrte den Sicherheitsgurt fest. „Was für ein irrer Haufen hier!“, hörten sie ihn durch das geschlossene Fenster schimpfen, bevor er den Motor anließ und rückwärts aus dem Hof fuhr. Laut prustete der Vater der beiden Mädchen los, als das Fahrzeug in der Ferne verschwunden war. „Das war ja ein perfektes Timing, Kinder. Ihr seid genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen.“
Er ging auf die Mädchen zu und nahm sie in den Arm. Noch immer stand seine Frau reglos da und hielt sich die Hand vor den Mund.
„O Gott“, sagte sie nur. „Jetzt ist es also soweit. Der Schuldenberg wird dazu führen, dass sie uns vom Hof jagen. Martin, ich will hier nicht weg! Bitte!“ Tränen drangen ihr in die Augen.
Zärtlich strich ihr Mann ihr durch die Haare und versuchte sie zu trösten. Mia und Lilly standen daneben und beobachteten die Unterhaltung der Eltern. Ihre Mutter wischte sich die Tränen ab und blickte ihren Mann dankbar an, der unentwegt beruhigende Worte flüsterte. „Wir schaffen das“, wiederholte er gerade.
Seine Frau lächelte zaghaft und richtete sich wieder zu der stolzen Frau auf, die ihre Kinder kannten. Franziska hatte lange, dunkelbraune Locken, nicht so hell wie die der beiden Mädchen. Ein ebenmäßiges, ovales Gesicht wurde von diesen Locken umrahmt. Schlank war sie – und groß. Etwas größer als Martin selbst. Man konnte noch immer gut erkennen, dass sie in jungen Jahren eine Profi-Leichtathletin gewesen war.
„Mein Schatz“, flüsterte er „es wird alles gut werden, glaub mir. Wir schaffen das.“ Immer noch strich er tröstend mit den Händen durch ihr schönes Haar. Sein Blick streifte die beiden Mädchen, die weiterhin stumm und reglos dabeistanden. Er versuchte zu lächeln: „Na ihr beiden Streunerinnen, auch endlich da?“
Franziska löste sich aus seiner Umarmung, wischte sich mit dem Handrücken über ihre tropfende Nase und blickte ebenfalls auf ihre Töchter. „Woher kommt ihr denn? Wir warten schon lange mit dem Abendessen auf euch. Kommt rein in die Küche. Alles ist fertig. Unglaublich, dass dieser ungehobelte Kerl so spät am Abend auftaucht.“
Stumm folgten die Mädchen ihren Eltern ins Haus. Der schwere Kerzenständer schlug Lilly bei jedem Schritt gegen die Beine. Neben dem alten Holzherd blieb sie stehen, holte ihn aus dem Stoffbeutel und schob das sperrige Ding heimlich in die Öffnung des Ofens. Der würde vor dem Winter nicht mehr angeheizt werden.
„Wer war denn der Mann, Mama?“ Mia schaute ihre Mutter an, während sie sich langsam auf die Holzbank in der alten Bauernstube setzte. Sie beobachtete genau, wie ihre Eltern schnelle Blicke miteinander tauschten, bevor die Mutter antwortete: „Ach nichts. Nur jemand, der uns mit jemand anderem verwechselt hat.“
Zufrieden nickte der Vater und lehnte sich auf seinem knarrenden Stuhl zurück.
Lilly stampfte mit den Füßen auf den Boden: „Wollt ihr uns für dumm verkaufen?“ Sie war empört. „Für wie alt haltet ihr uns eigentlich? Wir sind doch keine Babys mehr. Also, wer war das?!“
Ihr Vater griff nach der Gabel und spießte eine dampfende Kartoffel auf, die in einer weißen Porzellanschüssel vor ihnen auf dem Tisch lag. „Jemand der meint, viel Geld von uns zu bekommen. Und zwar jetzt und sofort! Man nennt diese Menschen Gerichtsvollzieher. Doch das haben wir ihm ausgetrieben. Ich erzähle euch morgen mehr dazu, okay? Er roch an der Kartoffel und biss dann herzhaft in sie hinein. „Hmmm, lecker.“
Franziska stöhnte und blickte zu ihm herüber. „Wir werden nicht drumherum kommen. Er wird wieder kommen.“
Schweigen erfüllte den Raum. Eine bleierne Schwere legte sich auf ihre Stimmung. „Ist es wirklich so schlimm?“ Lillys Stimme zitterte. Sie spürte eine schwere Last auf der Brust, die ihr das Atmen schwer machte. „Ihr müsst uns nicht schonen. Bitte!“
Der Vater nickte und legte die Gabel weg. „Also gut. Ja, es ist schlimm. Wir haben sehr viele Schulden. Sie haben sich die letzten zwei Jahre aufgetürmt. Weil wir glaubten, dass es eines Tages besser wird und wir das Geld zurückzahlen könnten.“ Franziska schnaufte bei diesen Worten. „Weil wir Träumen hinterhergehangen sind. Viel zu lange! Unrealistischen Träumen.“
Ein Streit lag in der Luft. Martins Stimme klang jetzt trotzig. „Ja, Träume! Aber Realistische! Einen Tierarzt braucht man immer. Nur diese verbohrten Bauern offenbar nicht!“
„Mit Sicherheit doch. Aber nicht jeden beliebigen Tierarzt“, dachte Franziska. Auch wenn sie es nicht sagte, stand es ihr ins Gesicht geschrieben. Beiden Mädchen war zum Weinen zumute. Diese Wortgefechte der Eltern kannten sie so noch nicht. Mia brauchte ein paar Sekunden, fasste sich dann aber ein Herz und brach das Schweigen: „Ein Vorschlag: Heute können wir eh nichts mehr machen. Richtig? Lasst uns doch morgen nach der Schule darüber sprechen. Ihr müsst uns da miteinbeziehen. Denn uns wird es auch treffen, wenn wir wieder umziehen müssen. Einverstanden?“
Tapfer blickte sie ihre Eltern an. Der Mutter schossen die Tränen in die Augen, fasste dann aber gerührt die Hand ihrer Tochter. „Einverstanden“, versprach sie und versuchte zu lächeln. Der Vater nickte.
Lilly stach in eine große, dampfende Kartoffel und hievte diese auf ihren Teller. „Gute Idee, ich habe nämlich einen Bärenhunger.“
Dafür musste sie nicht einmal lügen. Es war tatsächlich so. Das half auch, nicht mehr an die unschönen Bilder eines Umzugswagens denken zu müssen.
Die Schwestern aßen fleißig und merkten erst jetzt, was für einen großen Kohldampf sie hatten. Eifrig stapelten sie die Erdäpfel, wie man die Kartoffeln hier nannte, auf ihre Teller, verteilten frische Butter darüber und schnitten sich dicke Streifen Käse ab, um diese ebenfalls oben drauf zu legen. Jetzt noch etwas Salz und Pfeffer und die zweite Runde konnte beginnen. Niemand dachte mehr an die Ereignisse auf dem Hof und in dem Wald. Sie versanken in weiter Ferne und alle genossen die traute Gemeinschaft der Familie.
„Oh, wie ich das liebe. Ich wünsche mir, dass das für immer und ewig so bleibt“, schoss es Lilly durch den Kopf und sie drückte unterm Tisch fest die Hand ihrer Schwester. Freundinnen fürs Leben dachten sich beide und lächelten einander zu. Egal, was kommt.
Lilly und Mia hatten Glück, dass die neuen Gäste am nächsten Morgen schon so früh anreisten. Dann konnten sie diese noch vor dem Schulbeginn beäugen. Sie lauerten auf dem Dachboden des großen Geräteschuppens und spähten aus der offenen Luke hinunter zum Hofplatz, wo gerade ein schwarzer Audi mit dem „F“ auf dem Nummernschild geparkt hatte. „Frankfurt muss das sein“, schätzte Lilly und trug das Kennzeichen in ihr kleines Büchlein ein.
Eine Frau, ein Mann, ein kleines Mädchen, ein braunhaariger Spaniel und ein Junge mit Brille verließen nacheinander das Auto. Franziska und Martin eilten aus dem Haus und begrüßten freudig die neuen Gäste.
„Wetten, es dauert keine Minute, bis Paps mit seinem Vortrag beginnt?“ Beide Schwestern nickten sich wissend zu. Und tatsächlich, schon ertönte die Stimme des Vaters, während der Junge sich zu dem Hund hinunter beugte und ihm eine kleine Schale Wasser gab, die ihm Franziska gerade gereicht hatte.
„Er liebt Tiere“, registrierte Lilly zufrieden, während sie ihn beobachtete.
Martins kräftige Stimme drang bis zu ihnen in den Schuppen hoch.
Seine braunen Augen strahlten, während er den Gästen zur Begrüßung eine Einführung gab: „Sie befinden sich mitten auf einer paradiesischen Hochebene, mit den für das Allgäu typischen sanften Hügeln und Wiesen. Wir sind umschlungen von der oberen und unteren Argen, zwei Wildwasserflüssen von einmaliger Schönheit, sowie einigen anderen wilden Bergbächen, die sich tief in die Erde hineingegraben haben. Achtung, da kann man schnell abstürzen, so steil ist das.“ Er zeigte mit beiden Armen in alle möglichen Richtungen, so als ob man sehen könnte, wo die Bäche und Flüsse wären. Vaters wirre Locken tanzten auf seinem Kopf herum, während er sich einmal um sich selbst drehte: „Und das hier, das ist unser schöner Argentaler Hof. Er ist stolze siebeneinhalb Hektar groß. Dieses Anwesen war einmal ein Gestüt mit seltenen Pferden. Heute bieten wir Heimat, Schutz und Geborgenheit für über einhundert kleine und große Tiere. Was für eine unglaubliche Zahl, oder?“
Martin Becker war in seinem Element. Er strahlte und tippelte von einem Bein auf das andere. Lilly und Mia mussten spontan auflachen. Ihr lieber Paps war manchmal wie ein großer Junge. Aber es stimmte: Geschundene Tiere kamen mehrmals wöchentlich auf dem Hof an. Tiere, die von fiesen Menschen schlecht behandelt worden waren. Tiere, die wegen ihres Alters niemand mehr wollte und die man oft nur mit großer Mühe vor dem Schlachter retten konnte. Mia und Lilly lief jedes Mal ein Schauer den Rücken herunter, beim Gedanken an den Schlachter, der Salami aus den Tieren machen wollte.
Leider kosteten diese Rettungsaktionen sehr viel Geld, was ihnen aber meistens fehlte. Deshalb war es eine gute Sache, wenn endlich wieder Gäste auf den Hof kamen. Das brachte Einnahmen, die sie dringend benötigten. Und heute reisten gleich für alle drei Appartements die Gäste an! Gut so. Sie waren ausgebucht. Das bedeutete jetzt allerdings auch mehr Arbeit für die ganze Familie. Sie mussten darauf achten, dass den unerfahrenen Gästen auf dem Hof nichts passierte – zum Beispiel. Oder, dass die Tiere ihre Ruhe hatten und so weiter. Hin und wieder mussten Mia und Lilly mit den Kindern der Gäste auf den Ponys reiten gehen oder sie zu den kleinen Tieren des Hofes bringen. Das war aber schon okay. Sie verbrachten ohnehin sehr viel Zeit mit ihren Lieblingen.
Der kleine Spaniel aus Frankfurt schleckte unten auf dem Hof gerade voller Zuneigung das Gesicht des Jungen ab. Die dunkle Hornbrille verrutschte ihm auf der Nase, während er lachend versuchte, den Hund abzuwehren.
„Typisch Jungs. Siehst du? Der kann nicht mit Hunden umgehen. Siehst du, Lilly?“ Mia schüttelte verständnislos den Kopf und stupste ihre Schwester mit dem Ellbogen an. „Siehst du das denn nicht? Wieder solch ein Stadtjunge, der keine Ahnung hat.“
Ihre Schwester nickte zwar zögerlich, empfand das aber irgendwie anders. Der Junge ging doch sehr nett mit dem Tier um. Die verstanden sich doch ganz gut. Was meinte denn Mia damit? Lilly hörte nicht mehr zu, was die Erwachsenen im Weiteren besprachen. Ihr Blick gehörte dem Jungen. Braune wellige Haare, eine Brille, schlank, schätzungsweise einen halben Kopf größer als Lilly. Aber eindeutig ein Großstadtkind, dessen Motorik nicht ganz dem Land angepasst schien. Das sah man schnell. Spätestens, als er direkt über den kleinen Misthaufen stolperte, der beim Ausmisten zwischengelagert worden war. Rücklings fiel er mitten in das alte Stroh und blieb hilflos wie ein Käfer liegen.
Mia lachte laut auf, während Lilly erschrocken die Hand vor den Mund hielt. Armer Kerl. Er tat ihr leid. Das musste ihm doch sehr peinlich sein.
„O Gott, wir kommen zu spät zur Schule“, stieß Mia erschrocken hervor, als sie auf ihre Uhr schaute.
Lilly bekam große Augen, als sie es ihr nachtat. In der ersten Stunde hatte sie einen ihrer strengsten Lehrer. Das konnte Ärger geben. Schnell sprangen beide Mädels auf, stürmten die Holztreppe hinunter zum Stall, rannten durch die Hintertür hinaus, um schnell ihre Räder zu schnappen. Es war ein langer Weg zur Schule in Argental. Sie mussten jetzt echt strampeln, um noch einigermaßen pünktlich zu sein.
Lilly aber ging dieser Junge nicht mehr aus dem Kopf. Auch in der Schule nicht. Immer musste sie an ihn denken. Selbst, als ihre Freunde Max und Marlene in der Pause die neuesten Geschichten aus dem Dorf erzählten. Immer hatte sie das Bild vor Augen, wie der kleine Spaniel den Jungen aus Frankfurt so herzlich abschleckte.
Wer war er? Lilly sollte noch am selben Abend Gelegenheit bekommen, das herauszufinden.
***
Es waren gefühlt unendlich viele Stunden später, als Lilly und Mia endlich auf dem Argentaler Hof ankamen. Sie waren vollkommen außer Puste. Dieser Sommertag im Juli war einer der heißesten Tage des Jahres. Lilly wäre beinahe vor Hitze verdurstet, als sie auf dem Schulhof wartete, bis Mia endlich aus ihrem Unterricht kam. Nicht immer hatten sie zur gleichen Zeit aus und dann wartete die eine Schwester tapfer und treu auf die Andere. So konnten sie zumindest gemeinsam nach Hause fahren und sich gegenseitig trösten, wenn mal wieder in der Schule nicht alles so lief, wie man sich das wünschte. Oft fuhren die Mädchen in solchen Momenten noch kurz beim Bäcker vorbei. Dort kauften sie sich von ihrem Taschengeld einen leckeren Saft und eine kleine Süßigkeit. Das vesperten sie dann genüsslich auf einer kleinen Anhöhe direkt unter einem großen hölzernen Wegekreuz, das nach Süden hin zu den großen Bergen zeigte. Die Aussicht nahm den beiden immer wieder den Atem und sie versanken in die schönsten Träume von der großen, weiten und fremdartigen Welt, die direkt hinter den Alpen beginnen musste. Diese Sehnsucht hatten sie sicherlich von ihrer Mutter geerbt. Denn Franziska erzählte immer wieder, wie sehr sie davon träumte, mit Rucksack und Familie rauszufahren in die fernsten Länder und für immer dortzubleiben. Dort, wo die großen Wellen des Meeres gegen den goldenen Sandstrand brandeten und wo sie unter den Palmen lagen. Die Surfbretter griffbereit, um immer die besten Wellen abpassen zu können. In solchen Momenten fiel die Traurigkeit von ihnen ab, wie Staub, den man abschütteln konnte. „Los, wer zuerst auf dem Hof ist, hat gewonnen.“ Lilly trat in die Pedale und schoss davon. Mia hinterher. Gleich würden sie aus dem Wald herauskommen und ihren Hof sehen können.
Es herrschte dort reges Treiben, als sie um die Ecke bogen und ihre Räder an die Hauswand lehnten. Ihre Mutter hatte gerade einige Tiere aus dem Stall getrieben, um dort sauber machen zu können. Dazwischen bewegten sich die Frankfurter und schleppten schwere Tüten vom Auto ins Haus. Während Mia und Lilly in der Schule waren, hatten sie wohl die Lebensmittelgeschäfte in der Gegend geplündert.
Die Frankfurter wohnten im unteren Familienappartement, das auch die größte Wohnung in dem frisch renovierten Altbau darstellte. Ihr Vater selbst stieg gerade mit einem anderen Gästepaar über eine Balkontreppe ins obere Appartement des Gästehauses hoch. Die Frau war ein paar Jahre jünger als ihre Mutter. Ihre dunklen, langen Haare und ihre gebräunte Haut ließen sie südländisch aussehen. Sie hieß wohl Andrea-Domenica, wenn sie den Mann richtig verstanden hatten, der ihr gerade was zurief und dann der Frau und ihrem Vater folgte.
„Er ist wohl ein echter Kriminalbeamter“, flüsterte ihre Mutter den Mädchen zu, die auf dem Hof stehen geblieben waren und inmitten des Getümmels das Geschehen beobachteten.
Auf der Terrasse neben dem Gästehaus saß ein aus ihrer Sicht älterer Herr, bestimmt schon über dreißig, der leicht nach vorn gebeugt am Gartentisch angestrengt auf den Bildschirm seines Laptops stierte. Eine dicke Hornbrille tanzte auf seiner Nase, die vor Anstrengung immer wieder zuckte.
„Wer ist denn das da?“ Lilly zeigte zu ihm hinüber.
„Der kommt aus München. Euer Vater sagt, er ist ein Drehbuchautor. Also so eine Art Künstler, der Geschichten fürs Fernsehen schreibt.“ Während die Mutter ergänzte, dass er viel Ruhe brauche, Allergien habe und noch mehr, blickten sie und ihre beiden Töchter neugierig zu dem Mann hinüber, wie man exotische Tiere im Zoo beobachten würde. Lilly und Mia wussten nun also Bescheid. Dann hatte der das dritte und kleinste Appartement im oberen Stock bezogen.
Enttäuscht, dass sie den Jungen nicht entdecken konnte, wandte sich Lilly ab und folgte ihrer Schwester ins Haus. Sie wollten ganz schnell die Schulklamotten loswerden und in ihre bequemen Latzhosen mit den abgeschnittenen Hosenbeinen steigen. Das war viel praktischer auf dem Hof. Sie verstanden eh nicht, warum sie die nicht in der Schule tragen durften. Lilly unterbrach kurz den Kleiderwechsel. Sie fragte sich, ob sie in Latzhosen überhaupt gut aussah? Wirkte sie darin hübsch oder sollte sie besser eine andere Hose und ein schönes T-Shirt anziehen?
„Mia, Lilly. Halloooo ...!“ Die Rufe klangen vom Stall herüber. „Woooo seid ihr?“
Das war ihre Mutter. Schnell sprangen die beiden Schwestern ans Fenster und öffneten die hölzernen Fensterläden, die zum Schutz gegen die Sommerhitze zugeklappt waren.
„Ja?“ Sie nestelten beide noch umständlich an den Trägern ihrer Latzhosen herum, während sie antworteten.
„Eure kleinen Tierchen haben Sehnsucht nach euch. Wann kommt ihr denn?“
Ein kurzes Aufstöhnen erklang aus dem Fenster. Das hatten sie doch komplett vergessen! Heute war ja Ausmist-Tag. Und sie mussten die Kleintiere versorgen. Das war ihr Job! Die Meerschweinchen, die Kaninchen, die kleinen Ziegen, die Gänse, die Hühner und den zickigen Hahn. Und natürlich die Hütte von Hund ohne Namen.
„O weh, vor lauter Gästen habe ich nicht mehr daran gedacht“, murmelte Lilly zu Mia. Und zu ihrer Mutter, die neugierig zu ihnen hochschaute, rief sie: „Wir kommen sofort. Versprochen. Habens nicht vergessen.“ Sie winkte ihr noch kurz zu und verschwand schon im Treppenhaus, Mia im Schlepptau.
Als Lilly mit halbhohen Gummistiefeln, Handschuhen und ihrer Latzhose aus dem Haus trat, rannte Hund ohne Namen ohne Vorwarnung los. Der freche Kerl raste schnurstracks in Richtung Gästehaus und mit einem rekordverdächtigen Hakenschlag, bei dem seine Hinterläufe nur so durch die Luft flogen, um das Haus herum.
Lilly schimpfte wie ein Rohrspatz, doch der kleine Kerl schien keine Ohren zu haben. Zumindest wollte er nicht hören. Schnell rannte sie hinterher, was mit den Gummistiefeln nicht so einfach war. Mutter hatte sie ja bereits gewarnt, dass der Schreibkünstler aus München ein lärmempfindlicher Gast war, samt Allergie auf Tierhaare. Warum der dann ausgerechnet auf einen Bauernhof mit so vielen Tieren kam, um Urlaub zu machen, das verstand dann aber auch gar niemand. Egal. Lilly musste den Bösewicht von Hund schnappen, bevor einer der Feriengäste auch noch vergrault wurde.
Die blonden Locken tanzten wild um ihren Kopf, als Lilly um die hintere Hausecke raste, wo sie beinahe mit dem Jungen aus Frankfurt zusammenstieß.
„Ups,“ rief sie erschrocken und sah aus den Augenwinkeln, dass der Drehbuchautor genervt von seinem Computer aufsah.
„Hallo“, sprach der junge Gast aus Frankfurt und lächelte sie an.
„Oh, braune Augen, schöne braune Augen“, flüsterte Lilly in sich hinein und vergaß, etwas zu sagen.
Der Junge lachte los, als er den Blick des Mädchens mit ihren verstrubbelten Haaren sah. Seine Augen wanderten hinunter zu ihren Gummistiefeln. Lilly bemerkte es und tippelte verschämt von einem Fuß auf den anderen. So, als wollte sie die Stiefel verstecken.
„Ich bin Pascal und du?“ Er hielt ihr die Hand hin.
„Ja, ähm, tja, ich bin Lilly“, stammelte sie und drückte zögerlich die angebotene Hand. Wie förmlich er doch war. Oder höflich? Sie fühlte sich so klein und schämte sich, dass sie rot im Gesicht wurde. Manno. Das kannte sie so gar nicht von sich. Warum war ihr denn plötzlich so heiß?
Verlegen blickte sie umher und entdeckte Hund ohne Namen, wie er mit dem Spaniel von Pascal spielte. Die beiden beschnupperten sich, wedelten aufgeregt mit ihren Schwänzen und tänzelten freudig umeinander herum. Die Freundschaft war innerhalb von wenigen Augenblicken geschlossen und schon tobten sie gemeinsam über die große Wiese, die direkt hinter dem Ferienhaus begann und bis zum Wald reichte. Die Blumen und Gräser standen dort kniehoch, sodass man nur noch die Hundeköpfe sehen konnte.
Lilly lächelte, als sie die beiden Tiere beobachtete. Ihr Blick traf Pascals und verlegen schaute sie schnell wieder weg.
„Was machst du denn hier?“ Lilly versuchte, ihn wieder anzusehen. Das klappte aber nur für den Bruchteil einer Sekunde.
Da erblickte sie die kleine Schwester des Jungen, die auf einer Decke im Gras saß und beide aufmerksam betrachtete. Puppen, Sandkastenspielzeug, Plüschtiere und kleine Modellautos lagen wild verstreut um sie herum. Eines der Autos hielt sie in der Hand und wollte es gerade in den Mund stecken. Als sie sah, dass die beiden Großen zu ihr herunterschauten, begann sie, von einem Ohr zum anderen zu strahlen.
„Ich muss auf mein kleines Schwesterchen aufpassen. Unsere Eltern sind vorhin losgefahren, in die Berge zum Klettern, glaube ich – und ihre Ehe retten.“
Ehe retten? Lilly schaute ihn fragend an. Doch Pascal machte keine Anstalten weiterzureden. Offenbar wollte er nicht mehr dazu sagen. Sie entdeckte aber die Traurigkeit, die sich wie ein Schatten über sein Gesicht legte.
„Oh. Wie alt ist denn deine Schwester?“, sagte sie nur, um die Stille zu brechen. Sie lächelte der Kleinen am Boden zu.
Pascal bückte sich zu seiner Schwester und nahm ihr vorsichtig das Auto aus der Hand. „Dieser kleine Goldschatz wird bald zwei Jahre alt. Ein echter Sonnenschein.“ Er nahm sie auf den Arm und hielt sie Lilly entgegen.
Gerade, als sie die Kleine, die auch schon die Hände nach ihr ausgestreckt hatte, entgegennehmen wollte, stampfte Mia um die Ecke. Ihr Schimpfen eilte ihr voraus. „Muss ich jetzt die ganze Arbeit alleine machen, Lilly Becker? Meinst du denn, der ganze Mist schafft sich von alleine weg, während du hier Siesta hältst?