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Dieses Buch enthält folgende Gruselgeschichten: (399) Alfred Bekker: Der Käfer-Gott Pete Hackett: Die Stunde des Werwolfs Jonas Herlin: Die Ostsee-Hexe Es war ein düsterer Abend. Im Westen türmten sich bedrohliche Wolkenberge. Die Sonne war an diesem Tag überhaupt nicht zum Vorschein gekommen. Manchmal hatte es geregnet. Es pfiff ein scharfer Wind. Er peitschte die Gewitterwolken schnell nach Osten. Timothy Douglas, der Zweiundzwanzigjährige, schaute besorgt hinter sich. Das Gewitter würde ihn einholen, bis er Grayback erreichte, das kleine Dorf, in dem er wohnte. Er war in der nahen Stadt gewesen und hatte einige Besorgungen gemacht. Er hatte sich auch mit Carolin getroffen. Tim war verliebt in das Mädchen. Allerdings hatte er bisher noch nicht den Mut gefunden, es ihr zu sagen. Außerdem fürchtete er Carolins Vater. Mit dem alten Wolter war nicht gut Kirschen essen. Ein mürrischer Zeitgenosse, den seine Nachbarn mieden. Der Weg war schlammig. Der Regen hatte den knöcheltiefen Staub in Morast verwandelt. Er spritzte unter den Pferdehufen. Das Tier schnaubte mit geblähten Nüstern. Es war ein schwerer Kaltblüter. Es gab nur zwei Fahrspuren, zwischen denen sich ein etwa meterbreiter Streifen Gras und Unkraut zog. Die Achsen des leichten Fuhrwerks quietschten in den Naben. Der Wagen rumpelte und holperte. Tim wurde durch und durch geschüttelt. Zu beiden Seiten des Wagens dehnte sich Wald. Die Bäume standen so dicht, dass sich ihre Äste und Zweige ineinander verflochten hatten und eine Art Dach bildeten, unter dem es selbst bei Sonnenschein düster war. Zwischen den Bäumen wucherten am Waldrand Unterholz und Büsche. Alles war düster und bedrohlich. Tim beschlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Der Ursprung dieses Empfindens entzog sich seinem Verstand. Kaum jemand wagte sich in diese Wälder. Früher sollen hier einmal Werwölfe gehaust haben. Aber die Gesandten der Priesterschaft hatten sie ausgerottet. Das alte, halb verfallene Kloster mitten im Wald war wieder von Mönchen bezogen worden. Das Teufelsgezücht war ausgerottet worden. Immer wieder sagte es sich der junge Mann und versuchte so, seine innere Unruhe zu bekämpfen. Die Hufe des Pferdes stampften. Das Tier peitschte mit dem Schweif. Manchmal prustete es. Tim ließ die Peitsche knallen. Es hörte sich an wie ein Revolverschuss. Das Tier legte sich ins Geschirr. Unruhig irrte der Blick des Burschen über die Front des Waldes. Er war diesen Weg schon einige hundert Male gefahren. Warum war er heute so beunruhigt? Immer wieder schluckte er würgend. Es gelang ihm nicht, die Beklemmung zu überwinden. »Lauf!«, rief er. Der Kaltblüter warf den Kopf in die Höhe und wieherte hell. Erste schwere Regentropfen trafen Tim. Er schaute zum Himmel hinauf. Die schwarzen Wolken waren hinter ihm. Ein Blitz zuckte über den Himmel, Donnergrollen folgte. Die Düsternis nahm zu. Tims Herzschlag beschleunigte sich, er atmete stoßweise. Er war kein ängstlicher Mensch, aber heute war irgendwie alles anders. Er spürte das Unheil tief in der Seele.
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Geister Fantasy Dreierband 1005
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Der Käfer-Gott
Die Stunde des Werwolfs
Die Ostsee-Hexe
Dieses Buch enthält folgende Gruselgeschichten:
Alfred Bekker: Der Käfer-Gott
Pete Hackett: Die Stunde des Werwolfs
Jonas Herlin: Die Ostsee-Hexe
Es war ein düsterer Abend. Im Westen türmten sich bedrohliche Wolkenberge. Die Sonne war an diesem Tag überhaupt nicht zum Vorschein gekommen. Manchmal hatte es geregnet. Es pfiff ein scharfer Wind. Er peitschte die Gewitterwolken schnell nach Osten.
Timothy Douglas, der Zweiundzwanzigjährige, schaute besorgt hinter sich. Das Gewitter würde ihn einholen, bis er Grayback erreichte, das kleine Dorf, in dem er wohnte. Er war in der nahen Stadt gewesen und hatte einige Besorgungen gemacht. Er hatte sich auch mit Carolin getroffen. Tim war verliebt in das Mädchen. Allerdings hatte er bisher noch nicht den Mut gefunden, es ihr zu sagen. Außerdem fürchtete er Carolins Vater. Mit dem alten Wolter war nicht gut Kirschen essen. Ein mürrischer Zeitgenosse, den seine Nachbarn mieden.
Der Weg war schlammig. Der Regen hatte den knöcheltiefen Staub in Morast verwandelt. Er spritzte unter den Pferdehufen. Das Tier schnaubte mit geblähten Nüstern. Es war ein schwerer Kaltblüter. Es gab nur zwei Fahrspuren, zwischen denen sich ein etwa meterbreiter Streifen Gras und Unkraut zog. Die Achsen des leichten Fuhrwerks quietschten in den Naben. Der Wagen rumpelte und holperte. Tim wurde durch und durch geschüttelt.
Zu beiden Seiten des Wagens dehnte sich Wald. Die Bäume standen so dicht, dass sich ihre Äste und Zweige ineinander verflochten hatten und eine Art Dach bildeten, unter dem es selbst bei Sonnenschein düster war. Zwischen den Bäumen wucherten am Waldrand Unterholz und Büsche. Alles war düster und bedrohlich. Tim beschlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Der Ursprung dieses Empfindens entzog sich seinem Verstand. Kaum jemand wagte sich in diese Wälder. Früher sollen hier einmal Werwölfe gehaust haben. Aber die Gesandten der Priesterschaft hatten sie ausgerottet. Das alte, halb verfallene Kloster mitten im Wald war wieder von Mönchen bezogen worden.
Das Teufelsgezücht war ausgerottet worden. Immer wieder sagte es sich der junge Mann und versuchte so, seine innere Unruhe zu bekämpfen. Die Hufe des Pferdes stampften. Das Tier peitschte mit dem Schweif. Manchmal prustete es.
Tim ließ die Peitsche knallen. Es hörte sich an wie ein Revolverschuss. Das Tier legte sich ins Geschirr. Unruhig irrte der Blick des Burschen über die Front des Waldes. Er war diesen Weg schon einige hundert Male gefahren. Warum war er heute so beunruhigt? Immer wieder schluckte er würgend. Es gelang ihm nicht, die Beklemmung zu überwinden. »Lauf!«, rief er. Der Kaltblüter warf den Kopf in die Höhe und wieherte hell. Erste schwere Regentropfen trafen Tim. Er schaute zum Himmel hinauf. Die schwarzen Wolken waren hinter ihm. Ein Blitz zuckte über den Himmel, Donnergrollen folgte. Die Düsternis nahm zu. Tims Herzschlag beschleunigte sich, er atmete stoßweise. Er war kein ängstlicher Mensch, aber heute war irgendwie alles anders. Er spürte das Unheil tief in der Seele.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
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Nebelschwaden hingen tief über der verwitterten Kirche von Dunbury. Das graue, windschiefe Gemäuer bildete das Zentrum der kleinen südenglischen Ortschaft. Um die Kirche herum befanden sich knorrige, grotesk verwachsene Bäume, deren Kronen die Gräber des örtlichen Friedhofs überspannten.
Eine durchdringende feuchte Kühle herrschte an diesem Morgen. Das gesamte Gelände war mit Flatterband abgesperrt und ein einzelner uniformierter Polizist hielt Wache. Sein Name war Constable Kenneth Jones.
Er stand noch ganz unter dem Eindruck des Grauens, das er hatte mit ansehen müssen. Jones war 45 und hatte Jahrzehnte Diensterfahrung hinter sich. Aber als der völlig verängstige Kirchendiener ihn gerufen und zu der furchtbar zugerichteten Leiche geführt hatte, war der Anblick selbst für Jones ein Schock gewesen.
Ein Motorengeräusch drang durch den Nebel.
Zwei Scheinwerfer tauchten als verwaschener Lichtflecken auf.
Jones atmete schwer. Seine Haltung straffte sich etwas.
Ein blauer Ford hielt vor der Kirche. Die Türen öffneten sich. Zwei Männer stiegen aus. Der Größere war dunkelhaarig und hatte den Kragen seiner Lederjacke hochgeklappt. Jones schätzte ihn auf Ende dreißig. Der Kleinere war jünger. Das blonde Haar war kurzgeschoren.
Jones ging den beiden entgegen.
“Sind Sie die Leute von Scotland Yard, auf die ich gewartet habe?”, fragte der Uniformierte.
Der Größere zog seinen Ausweis hervor. “Ich bin Chief Inspector Mike Brady und dies ist mein Kollege Jim Allistair. Constable Jones?”
“Der bin ich.”
“Ich nehme an, die Kollegen vom Erkennungsdienst und der Gerichtsmedizin sind noch nicht hier.”
“Sie sind die Ersten. Ich hoffe nicht, dass Ihre Kollegen sich im Nebel verfahren haben.”
“Führen Sie uns bitte zur Leiche, Constable”, forderte Brady.
Jones nickte. Es war ihm anzusehen, welche Überwindung es ihn kostete, zum Tatort zurückzukehren. “Machen Sie sich auf einiges gefasst, Gentlemen.”
Jones führte sie über einen mit vermoosten Steinplatten gepflasterten Weg zwischen den Gräbern hindurch. Der Boden musste sich im Laufe der Jahre an manchen Stellen abgesenkt haben, sodass einige der Steine ziemlich schief standen.
Hinter einem der knorrigen Bäume fanden sie dann den Toten --- oder das, was noch von ihm übrig war.
Die Kleidung war zerrissen.
Darunter kamen blanke Knochen zum Vorschein.
Die Leiche war bis auf einen Arm regelrecht skelettiert worden.
Das Schlimmste war der Anblick des Gesichts.
Die leeren Augenhöhlen...
Dazu der bestialische, scharfe Geruch, der in der Luft hing und nichts mit dem normalen Leichengeruch zu tun hatte.
Chief Inspector Mike Brady musste unwillkürlich schlucken.
“Wer hat den Toten gefunden?”, fragte Brady knapp.
“George McCoy, der Kirchendiener”, antwortete Constable Jones mit tonloser Stimme. Er vermied es sichtlich, zu dem Toten hinzusehen.
“Ich möchte mit ihm sprechen.”
“Er ist in die Kirche gegangen. Ich fürchte, er steht unter Schock, Chief Inspector.”
Brady nickte leicht.
Etwas hielt seinen Blick plötzlich gefangen. In der Leiche bewegte sich etwa. Ein Käfer, etwa so groß wie ein Daumennagel kletterte zwischen Rippenknochen und Kleiderfetzen hindurch. Er schimmerte golden. Sein Chitin-Panzer hatte schwarze Streifen. Er rieb die Beißwerkzeuge gegeneinander und begann damit, an dem blanken Rippenknochen zu nagen.
“Hast du den Käfer gesehen, Jim?”, wandte sich Brady an seinen Assistenten Jim Allistair.
“Welchen Käfer, Chief?”
Brady ging in die Hocke.
Der Käfer verschwand im Inneren des Leichnams.
In diesem Augenblick waren die Geräusche mehrerer Wagen zu hören. Türen klappten.
“Das müssen die Kollegen sein”, meldete sich Allistair zu Wort.
*
Wenig später tummelte sich etwa ein Dutzend Beamte auf dem Friedhof. Ein Team des Erkennungsdienstes von Scotland Yard war ebenso dabei wie ein Gerichtsmediziner.
Unter den zerfetzten Kleidern des Toten wurden Reste seiner Papiere gefunden, die eine Identifizierung gestatten. Der Name des Unglücklichen war Roger Thompson. Er stammte aus Dunbury und war vierzig Jahre alt.
Chief Inspector Mike Brady betrat die Kirche, um mit dem Mann zu sprechen, der den Toten gefunden hatte.
George McCoy saß in der ersten Kirchenbank. Er starrte auf das große Kreuz über dem Steinaltar. Seine Augen waren weit aufgerissen, das Gesicht bleich wie die Wand.
Er murmelte fortwährend vor sich hin.
Brady verstand nur Bruchstücke davon.
“Erlöse uns von dem Bösen... Herr, lass es nicht zu, dass das Grauen wieder erwacht... ist Dunbury nicht genug gestraft worden?”
Wie in einer Litanei ging das immerfort so weiter.
McCoy schien völlig entrückt zu sein.
Brady fragte sich einen Augenblick, ob es überhaupt Sinn hatte, ihn jetzt anzusprechen. Aber dann entschied er sich trotz allem dafür. McCoy war der wichtigste Zeuge.
“Mr. McCoy?”
“Herr, erlöse uns und bewahre uns vor dem Schrecken dieser Nacht.”
Tränen rannen ihm über das Gesicht. Ein Zittern durchlief seinen gesamten Körper. Dieser Mann brauchte dringend psychologische Hilfe. Aber andererseits war er für Brady der wichtigste und bislang einzige Zeuge in diesem besonders grausigen Mordfall. Einem Fall, der nicht der erste seiner Art war...
Alle äußeren Umstände sprachen dafür, dass er in eine Serie von rätselhaften Todesfällen in der Gegend um Dunbury gehörte. Die Opfer waren allesamt beinahe vollständig skelettiert worden, so als hätten Tiere die Toten ausgeweidet und ihre Knochen regelrecht abgenagt. Außerdem waren jedes Mal bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung Spuren einer sehr starken Säure gefunden worden, nach deren Herkunft nun schon seit drei Jahren vergeblich gefahndet wurde. Es handelte sich um eine Substanz, die chemisch gesehen der Ameisensäure sehr ähnlich war, aber eine sehr viel stärkere zersetzende Wirkung aufwies.
Chief Inspector Nolan O’Leary hatte den Fall mit großer Akribie bearbeitet, hatte die Umstände dieser Todesfälle aber letztlich nicht aufklären können. Vor einigen Wochen war O'Leary in Pension gegangen. Mike Brady hatte den Fall der skelettierten Leichname gewissermaßen von O'Leary geerbt.
Brady war nicht besonders glücklich darüber.
An diesem Fall konnte man sich eigentlich nur die Finger verbrennen und am Ende als unfähiger Ermittler dastehen. Es gab Aktenordner voller Ermittlungsergebnisse, aber keine Antworten auf die bohrenden Fragen. Woher kam die Säure? Was hatte sich wirklich am jeweiligen Tatort ereignet? Die Theorie eines Boulevardblattes, wonach die Opfer von einem Wahnsinnigen bei lebendigem Leib in ein Piranha-Bad geworfen worden waren, ehe ihre sterblichen Überreste dann irgendwo in der Gegend um Dunbury abgelegt wurden, würde jetzt erneut durch die Medien geistern.
Brady musterte seinen bislang einzigen Zeugen.
Vielleicht muss ich mehr Geduld haben!, ging es ihm durch den Kopf. Du hast nur einen Zeugen! Behandle ihn also so behutsam, wie irgend möglich!
McCoy atmete schwer.
Brady sprach McCoy an.
“Ich bin Inspector Brady von Scotland Yard. Ich weiß, dass es Ihnen schwer fallen wird, über das zu reden, was Sie gesehen haben, aber vielleicht könnten Sie mir trotzdem ein paar Angaben machen. Je mehr Informationen wir..."
“Das Grauen...", flüsterte McCoy plötzlich. Brady war sich nicht sicher, ob ihn der Kirchendiener überhaupt verstanden hatte. Zu entrückt wirkte der hagere Mann. “Das Grauen kehrt zurück nach Dunbury... Wir sind gestraft für unsere Sünden. Mein Gott, welche Schuld mögen wir nur auf uns geladen haben, um diesen Fluch zu verdienen!”
“Von welchem Fluch sprechen Sie?”, erkundigte sich Brady.
Ein Ruck ging durch den hageren Kirchendiener.
Brady glaubte schon, jetzt den richtigen Dreh gefunden zu haben, um diesen völlig aus der Bahn geworfenen Mann richtig anzusprechen.
Aber er täuschte sich.
“Gehen Sie, Inspector. Es ist besser, wenn Sie Dunbury so schnell wie möglich wieder verlassen. Das Böse lauert hier! Dies ist eine Stadt Satans!”
Brady blieb ruhig.
Er versuchte Verständnis zu signalisieren. “Was Sie mit ansehen mussten, als Sie den Toten fanden, war furchtbar. Ich bin hier, um aufzuklären, was passiert ist. Also helfen Sie mir bitte.”
McCoy presste die Lippen aufeinander und nickte. “Entschuldigen Sie, Chief Inspector...”
“Dafür brauchen Sie sich nicht zu entschuldigen. Mir hat sich bei dem Anblick auch der Magen umgedreht. Der Mann hieß Roger Thompson. Wir haben seine Papiere gefunden – oder besser gesagt das, was dieser unheimliche Killer davon übrig gelassen hat!”
“Die Schreie haben mich geweckt”, berichtete der Kirchendiener. Sein Blick war starr. Er sah auf einen imaginären Punkt auf dem Boden. “Es waren so furchtbare Schreie... Sie können sich das nicht vorstellen. Ich ging zum Fenster und sah Roger Thompson auf den Friedhof zu rennen.” McCoy schluckte. Ein erneutes Zittern durchlief seinen gesamten Körper.
“Was geschah dann?”, hakte Brady nach.
“Wie gesagt, Roger lief auf den Friedhof zu, als ob der Teufel hinter ihm her wäre. Mein Gott, und das war er auch! Etwas war hinter ihm her und...” McCoy stockte. Kalter Angstschweiß brach ihm aus. Er schüttelte stumm den Kopf. Seine Lippen krampften sich zusammen. Tränen rannen über sein Gesicht.
“Reden Sie weiter, McCoy?!”, forderte Brady eine Spur zu ungeduldig. “Was haben Sie gesehen?”
“Roger verschwand hinter den Bäumen”, fuhr der Kirchendiener stockend fort. “Ich konnte ihn nicht mehr sehen, aber nur Augenblicke später hatte es ihn eingeholt. Die Schreie... mein Gott... Ich hätte hinausgehen und Roger helfen müssen. Wir waren befreundet und kennen uns seit unserer Kindheit!” Der Mann weinte jetzt wie ein Kind. Schließlich setzte er seinen Bericht stockend fort. “Ich... ich konnte nichts für ihn tun! Als ich die Schreie hörte, war ich wie gelähmt.”
“Sie sprachen eben von einem Verfolger...”, erinnerte Brady den Kirchendiener.
George McCoy sprang auf, wich mehrere Schritte von Brady fort und hob die Hand, als müsste er sich gegen den Chief Inspector schützen.
“Gehen Sie!”, keuchte er. “Oder auch Sie werden dem Bösen zum Opfer fallen...”
“Was ist dieses Böse, von dem Sie sprechen, McCoy?”, schrie Brady den Kirchendiener an. “Stehen Sie nicht so wie das Kaninchen vor der Schlange, sondern reden Sie endlich!”
Brady erhob sich.
Er trat entschlossen auf den völlig orientierungslosen McCoy zu und fasste ihn bei den Schultern.
“McCoy, jetzt packen Sie schon aus! Sagen Sie mir, was mit Roger Thompson geschehen ist! Finden Sie nicht, dass Sie das einem Mann schuldig sind, den Sie von Kindesbeinen an kennen?”
McCoy hob den Blick.
“Sie würden mir ja doch nicht glauben!”, behauptete er. Er riss sich los und rannte in Richtung der Kirchentür. Jim Allistair kam ihm entgegen. Der Scotland Yard-Beamte schickte sich an, ihn aufzuhalten, aber Bradys Ruf hielt ihn davon ab.
“Lass ihn, Jim!”
Allistair wich zur Seite.
Wie von Furien gehetzt rannte McCoy auf die Kirchentür zu, riss sie knarrend auf und stürzte hinaus ins Freie.
“Was war denn mit dem los?”, erkundigte sich Allistair, nachdem Brady seinen Kollegen erreicht hatte.
Der Chief Inspector zuckte die Achseln. “Ich blicke da noch nicht durch”, bekannte er.
*
Wenig später verließen Brady und Allistair die Kirche. Die Kollegen des Erkennungsdienstes suchten das gesamte Gelände nach Spuren ab. Zentimeter für Zentimeter.
Gleichzeitig bemühte sich das Team des Gerichtsmediziners darum, Roger Thompsons sterbliche Überreste in einen Metallsarg zu schaffen.
Brady verspürte nicht die geringste Lust dazu, sich das genauer anzusehen. Von dem Anblick der skelettierten Leiche war ihm ohnehin schon jeglicher Appetit vergangen.
Aber er hatte keine Wahl.
Dr. Johnson, ein schlaksiger Mann Anfang dreißig, winkte Brady herbei. “Kommen Sie!”, rief der Gerichtsmediziner.
Als Brady ihn erreichte, hielt er ihm eine kleine, durchsichtige Plastiktüte hin. “Das haben wir in der Leiche gefunden!”, erklärte Dr. Johnson.
Brady zog die Augenbrauen zusammen. Eine tiefe Furche bildete sich mitten auf seiner Stirn. “Ein Käfer!”, entfuhr es ihm.
Dr. Johnson nickte.
“Ein Käfer, dem der Kopf fehlt, um genau zu sein!” Johnson hob die Augenbrauen. “Wahrscheinlich hat ihm ein Artgenosse das Futter missgönnt!”, kicherte er.
Brady konnte Johnsons Humor nicht teilen.
Er gab Johnson den Käfer zurück.
“Warum zeigen Sie mir das?”
“Weil es ein enorm wichtiger Fund sein könnte, Chief Inspector. Was er letztlich bedeutet, kann ich Ihnen natürlich erst nach einer eingehenden Untersuchung sagen. Von einer Obduktion kann man angesichts des Zustandes der Leiche ja wohl nicht mehr wirklich sprechen. Aber eines steht fest: Einen Parasiten wie diesen Käfer habe ich noch in einer Leiche gesehen! Noch nie!”
“Ich konnte nicht viel aus dem Kirchendiener herausquetschen, aber immerhin so viel, dass Thompson offenbar die Straße entlang lief, den Friedhof erreichte und erst hier getötet wurde. Wenig später will McCoy dann hier aufgetaucht sein.”
“Hat Ihr Zeuge Ihnen auch gesagt, wie lange er bis zum Fundort der Leiche gebraucht hat?”
“Nein, er war nicht sehr gesprächig.”
“Was er Ihnen gesagt hat, ist Unsinn, Chief Inspector. Es ist vollkommen unmöglich, einen Menschen innerhalb so kurzer Zeit das Fleisch beinahe komplett von den Knochen zu trennen.”
“Das ist mir auch klar, Dr. Johnson. Andererseits sprach McCoy immer wieder von den entsetzlichen Schreien, die er vom Friedhof hörte...”
“Der Kerl ist doch völlig durch den Wind!”, gab Dr. Johnson zu bedenken. “Ich habe ihn wie einen Wahnsinnigen aus der Kirche stürmen sehen. Mein Rat: Nehmen Sie ihn fest und sorgen Sie dafür, dass er seine Gummizelle bekommt!”
“McCoy mag verwirrt sein”, gestand Brady zu. “Aber gerade in diesem Punkt halte ich ihn für glaubwürdig. Gerade diese Schreie müssen sich auf entsetzliche Weise in sein Bewusstsein gebrannt haben!” Brady machte eine Pause. Schließlich fuhr er in gedämpftem Tonfall fort: “Halten Sie es für möglich, dass ein Tier für Thompsons Tod verantwortlich ist?”
“In dem Fall reden wir von einem Monster!”, erwiderte Dr. Johnson.
*
Einer der Erkennungsdienstler kam auf Brady und Allistair zu. Es handelte sich um einen rundlichen Mann namens Harry Smith. Er hielt etwas in der Hand.
“Hier, ich habe etwas für Sie, Brady!”
“So?”
“Die Wohnungsschlüssel des Toten. Verwertbare Spuren waren nicht zu finden, aber vielleicht sehen wir uns Mr. Thompsons Zuhause mal genauer an!”
“Nichts dagegen”, nickte Brady.
Roger Thompsons Adresse lag kaum zweihundert Yards von dem Ort entfernt, an dem seine Leiche aufgefunden worden war. Die drei Scotland Yard-Beamten gingen die kurze Stecke zu Fuß.
Rechts und links an den Fenstern bewegte sich hin und wieder eine Gardine. Die Bewohner von Dunbury bedachten Brady und sein Team mit scheuen, misstrauischen Blicken.
Harry Smith blieb plötzlich stehen. Er zog einen Latexhandschuh über und hob einen blutigen Stofffetzen vom Boden auf.
“Um was solle wir wetten, dass dies hier von Roger Thompsons Sachen stammt?”, fragte Harry Smith düster. “Dieser Fetzen muss ihm regelrecht aus den Sachen herausgerissen worden sein!”
“Verdammt, ich möchte wissen wer oder was hinter dem armen Kerl her gewesen ist!”, stieß Jim Allistair hervor, dessen Hände sich unwillkürlich Fäusten ballten.
“McCoy sprach von etwas, das er einfach nur das Böse nannte”, murmelte Brady. “Aber er weiß garantiert mehr...”
“Genauso wie all die Leute, die uns jetzt beobachten!”, ergänzte Jim Allistair.
Wenig später erreichten sie das Haus, das zu Thompsons Adresse gehörte.
Es stand etwas abseits. Die Wände waren grau. Moos wuchs die Fugen entlang. Die Tür stand sperrangelweit offen.
Brady trat als Erster ein.
Der Flur war völlig verwüstet. Eine Kommode lag auf dem Boden und versperrte den Weg.
Brady stieg über das Möbelstück hinweg.
Er bemerkte Kratzspuren. “Wofür halten Sie das?”, fragte er an Smith gewandt.
Der Erkennungsdienstler zuckte die Achseln.
“Keine Ahnung. Könnte auch schon vorher dran gewesen sein.”
“ Könnte! Aber daran glaube ich nicht!”
“So? Woran denken Sie denn?”, fragte Smith gereizt.
“Ich denke an die anderen Fälle von skelettierten Leichen in dieser Gegend”, erklärte Brady ruhig. “Es gab im Gegensatz zum Fall Thompson nie Zeugen. Aber Spuren, die von einem sehr großen Tier kommen könnten.”
“Ich habe die betreffenden Berichte auch gelesen”, erwiderte Smith kühl.
Brady hob die Augenbrauen. “Und? Was ist Ihre Schlussfolgerung?”
“Ich weiß nur, dass es in ganz England kein Tier gibt, dass so große Krallen hat! Von einem aus dem Zoo entlaufenen Grizzly-Bären habe ich jedenfalls nichts gehört!”
Das Wohnzimmer sah aus, wie nach einem Kampf. Es gab Spuren von frischem Blut. Labortests würden erweisen, ob es sich um Thompsons Blut oder das seines Mörders handelte. Aus der Küche roch es verbrannt. Thompson hatte sich offenbar ein Omelette zum Frühstück machen wollen. Es war vollkommen verschmort. Die Herdplatte glühte. Allistair stellte den Strom ab.
Das Küchenfenster war zur Rückfront des Hauses ausgerichtet. Das Glas war zersprungen. Überall lagen Scherben. Die wenigen größeren Stücke wirkten milchig und seltsam verformt.
Smith nahm eines dieser Stücke an sich und hielt es ins Licht. “Das sieht mir nach der Einwirkung einer starken Säure aus!”, stellte er fest. “Und dieser beißende Geruch...”
“Wie am Fundort der Leiche!”, ergänzte Brady.
Smith nickte und deutete auf das Fenster. “Hier muss es hereingekommen sein.”
“ Es?”, hakte Brady nach.
Smith zuckte die Achseln. “Was immer Roger Thompson umgebracht haben mag!”
Er spricht von diesem Es, als ob er sicher wäre, dass Roger Thompsons Mörder kein Mensch gewesen sein kann!, ging es Brady durch den Kopf.
*
Den Rest des Morgens verbrachten Chief Inspector Brady und sein Team damit, Thompsons Haus nach Spuren zu durchsuchen und die Anwohner zu befragen. Eigenartigerweise schien niemand aus Dunbury etwas gesehen zu haben. Die Bewohner des kleinen Ortes gaben sich wortkarg. Selbst diejenigen, deren Fenster so ausgerichtet waren, dass sie von Thompsons verzweifelter Flucht etwas mitbekommen haben mussten, behaupteten, erst hingesehen zu haben, als schon alles geschehen war.
“Die lügen doch alle wie gedruckt!”, ereiferte sich Allistair später gegenüber Brady. “Irgendjemand muss doch etwas gesehen haben! Warum schweigen diese Leute?”
“Weil sie Angst haben, Jim.”
“Und wovor bitte schön?”
“Wenn wir das wüssten, wären wir schon ein ganzes Stück weiter in unseren Ermittlungen”, war Brady überzeugt.
Allistair atmete schwer.
Gegen Mittag waren die Beamten des Erkennungsdienstes aus Dunbury abgereist.
Nur Brady und Allistair blieben noch im Ort, um sich weiter umzuhören.
Die meisten Bewohner von Dunbury schienen sich angesichts dessen, was sich in ihrem Ort ereignet hatte, kaum vor die Türen ihrer grauen Steinhäuser zu trauen. Und wenn doch, so mieden sie den Blickkontakt mit den Scotland Yard-Beamten, wichen vor ihnen zurück und wechselten teilweise sogar die Straßenseite. Die Worte des Kirchendieners gingen Brady immer wider durch den Kopf. Er hatte von einem Fluch gesprochen. McCoy wusste auf jeden Fall mehr, als er zugegeben hatte, aber Brady war überzeugt davon, das es keinen Sinn hatte, ihn unter Druck zu setzen.
Dabei würde nichts herauskommen!, dachte Brady. Aber er kann unmöglich der Einzige sein, der dazu etwas sagen könnte!
Zur Lunchzeit betraten Mike Brady und Jim Allistair den DUNBURY INN, das einzige Lokal im Ort. Es war eine Mischung aus rustikalem Pub und Landhotel. Ein verwittertes, zweistöckiges Haus, in dessen Mauerwerk eine Steintafel eingelassen worden war, auf dem auf die erste urkundliche Erwähnung dieses Lokals im Jahre 1666 hingewiesen wurde.
An der Tür aus dunklem Holz fielen die teils grotesken Schnitzereien auf. Totenköpfe und Geistergestalten waren da von einem hoch begabten Schnitzer ins Holz gearbeitet worden. Darunter eine Zeile mit sich wiederholenden Zeichen, die auf Brady wie magische Runen wirkten.
“Der Wirt scheint 'ne okkulte Ader zu haben!”, kommentierte Jim Allistair diesen Anblick. Er deutete auf die Tafel mit der Jahreszahl. “Ich dachte eigentlich immer, dass damals Leute auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, die sich offen zu magischen Praktiken bekannten.”
“Diese Schnitzereien sind mit Sicherheit sehr viel jüngeren Datums”, stellte Brady fest.
Er öffnete die Tür.
Sie betraten den Schankraum.
Lautes, zänkisches Stimmengewirr schlug ihnen entgegen.
Eine Handvoll Männer saßen am Tresen und an den Tischen.
Sie verstummten, als die beiden Fremden eintraten.
Der Wirt war ein großer, fülliger Mann mit rotstichigem Bart und Halbglatze.
Brady sah sich um. Sein Blick musterte die Gesichter der Männer. Er sah blankes Entsetzen in ihren Zügen. “Mein Name ist Chief Inspector Mike Brady. Ich komme von Scotland Yard um den Tod von Roger Thompson aufzuklären.” Brady deutete auf Allistair. “Dies ist mein Kollege Jim Allistair. An ihn können Sie sich genau wie an mich jederzeit wenden, wenn Sie etwas Sachdienliches zur Aufklärung von Roger Thompsons Tod beizutragen haben.” Brady trat an den Tresen heran. Er griff in seine Jackentasche und holte ein Päckchen mit etwa zwei Dutzend Visitenkarten hervor und legte sie auf den Schanktisch. “Da steht unsere Nummer drauf.”
Noch immer herrschte Schweigen.
Man hätte in diesem Augenblick eine Stecknadel fallen hören können.
Sie wollen, dass wir möglichst schnell verschwinden und sie in Ruhe lassen!, überlegte Brady. Aber diesen Gefallen werden wir ihnen nicht tun...
“Roger Thompsons Leiche wurde skelettiert. Wenn es stimmt, was der Kirchendiener uns gesagt hat, dann muss dies innerhalb von wenigen Augenblicken geschehen sein. Auf welche Weise wissen wir nicht. Selbst ein geübter Schlachter oder Chirurg wäre dazu in dieser Geschwindigkeit nicht in der Lage. Außerdem muss das Fleisch irgendwo geblieben sein... Wenn jemand von Ihnen etwas dazu sagen kann, sollte er es jetzt tun. Wir sind auf Ihre Hilfe angewiesen.”
Wieder bestand die Antwort lediglich aus abweisendem Schweigen.
“Ist es Ihnen allen wirklich gleichgültig, was mit Roger Thompson geschehen ist?”, rief Brady nach einigen Augenblicken unbehaglicher Stille. “Er war einer von Ihnen – und nicht der Erste, der auf diese grausame Weise ums Leben gekommen ist. Es gab bereits mehrere Fälle dieser Art in der Umgebung von Dunbury. Menschen verschwanden und wurden später in diesem grässlich zugerichteten Zustand aufgefunden. Ich bin überzeugt davon, dass diese Fälle in Zusammenhang stehen.”
Ein Mann trat jetzt aus dem Schatten heraus.
Er trug den dunklen Anzug eines Reverends.
“Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als der Mensch zu begreifen vermag!”, erklärte er. “Sie sind es gewohnt, das Böse zu bekämpfen, Chief Inspector Brady. Das ist Ihr Beruf – so wie es auf andere Art auch mein Beruf ist. Aber es gibt Formen des Bösen, gegen die auch Scotland Yard machtlos ist. Sie verschwenden hier Ihre Zeit. Vielleicht gewöhnen Sie sich einfach an den Gedanken, dass Sie hier nichts auszurichten vermögen.”
“Sie haben die Worte von Reverend Davis gehört”, mischte sich jetzt der Wirt ein. “Er hat für uns alle gesprochen. Wenn Sie ein Bier bestellen wollen, dann tun Sie es jetzt. Ansonsten...”
Der Wirt sprach nicht weiter.
Ein Ruck war durch Bradys Körper gegangen.
Er starrte an einen bestimmten Punkt knapp unterhalb eines der massiven Deckenbalken.
Ein kleines Mobilé hing dort.
Ein Luftzug aus der Tür zur benachbarten Küche des DUNBURY INN bewegte etwa ein Dutzend präparierter Käfer, deren goldfarbene Rücken von schwarzen Streifen gekennzeichnet wurden.
Brady deutete mit der Hand darauf und wandte sich an den Wirt. “Was ist das?”
“Nichts, was mit Ihrem Fall zu tun hat, Chief Inspector”, erwiderte der Wirt.
“Oh, doch, das hat es!”, erwiderte Brady. “In Thompsons Körper wurde ein derartiger Käfer gefunden. Und der kommt da nicht aus purem Zufall hin! Also reden Sie endlich! Oder ich nehme Sie fest und vernehme Sie im Yard!”
Reverend Davis ergriff das Wort, ehe der Wirt etwas sagen konnte.
“Wenn Sie Sam McLaughlin wegen dieses Käfer-Mobilés festnehmen, dann müssen Sie wohl oder übel mit der halben Bevölkerung Dunburys auf dieselbe Weise verfahren.”
Brady hob die Augenbrauen.
“So?”
“In Dutzenden von Häusern hängen diese Mobilés, Mr. Brady.”
“Eine regionale Besonderheit also?”
“Kann man so sagen”, murmelte der Reverend.
Brady ließ nicht locker. Er wandte sich erneut an den Wirt.
“Woher haben Sie das Ding?”
“Es handelt sich um das Geschenk eines Gastes”, antwortete McLaughlin. “Sein Name ist Eric Naismith, dem Neffen vom alten Donahue.”
“Wo finde ich den?”
Der Wirt verzog das Gesicht. “Sprechen Sie von Donahue?”, fragte er. “Sie waren schon dort. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof. Er verstarb vor ein paar Jahren. Eric Naismith hat sein Anwesen geerbt.”
Brady kochte innerlich. Aber er ließ sich nichts anmerken. Er deutete erneut auf das Mobilé. “Wie auch immer, Mr. McLaughlin. Das Ding da ist zur kriminaltechnischen Untersuchung beschlagnahmt.”
Der Wirt erbleichte.
“Nein bitte nicht!”, stammelte er. “Sie dürfen mir das Mobilé nicht wegnehmen!”
Die Heftigkeit, mit der der Wirt reagiert hatte, überraschte Brady.
“Sie bekommen es ja wieder!”, versuchte er ihn zu beruhigen.
*
Am nächsten Morgen suchten Brady und Allistair Dr.Johnson im gerichtsmedizinischen Institut von Scotland Yard auf. Dr. Johnson hatte dunkle Ringe unter den Augen. “Ich habe für Sie die Nacht durchgearbeitet”, erklärte er. “Dieser Fall lässt mich einfach nicht los. Ich habe mir die Obduktionsberichte der vorherigen Opfer dieser gespenstischen Todesserie kommen lassen. Leider haben meine Kollegen nicht allzuviel herausbekommen. Ein paar interessante Details gibt es aber dennoch.” Er machte eine Handbewegung. “Wenn Sie mir bitte folgen wollen...”
“Ich glaube nicht, dass es nötig ist, dass wir uns das Skelett noch einmal ansehen”, meinte Jim Allistair, dem allein bei der Erinnerung an das, was er am Vortag gesehen hatte, schon speiübel wurde.
Dr. Johnson lächelte geschäftsmäßig. “Keine Sorge, Mr. Allistair. Ich wollte Sie in mein Büro bitten, damit wir nicht hier im Flur stehen bleiben müssen. Meine Füße tun mir weh von der dauernden Steherei am Seziertisch.”
Johnson führte sie in sein spartanisch eingerichtetes Büro.
“Schießen Sie los”, forderte Brady.
“Erstens: In allen drei bisher aufgefundenen skelettierten Leichen wurden Spuren derselben Säure gefunden. Sie erinnern sich an den Käfer ohne Kopf, den ich Ihnen zeigte...”
“Ja.”
“Ich habe inzwischen herausgefunden, dass es sich um den afrikanischen Skelettkäfer handelt. Den lateinischen Namen möchte ich Ihnen ersparen. Diese Art kommt im Hochland Äthiopiens sowie in einigen abgelegenen Regionen des Sudans vor. Sie ernähren sich von Aas und nagen ihre Beute bis zum Skelett ab. Dabei verspritzen sie eine sehr aggressive Säure, deren chemische Zusammensetzung genau der Säure gleicht, die an den Skeletten nachgewiesen werden konnte.”
Brady hob staunend die Augenbrauen.
“Alle Achtung. Sind Sie im Nebenfach Insektologe?”
“Ich verfüge einfach nur über einen funktionierenden Internetzugang. Als Gerichtsmediziner sollte man sich allerdings mit Insekten einigermaßen auskennen, weil die Untersuchung der in einer Leiche befindlichen Parasiten wertvolle Erkenntnisse liefern kann. Übrigens sind diese Käfer untereinander sehr aggressiv und verspeisen sich mitunter sogar gegenseitig. Der Kopf des Exemplars, das wir in Thompsons Leiche gefunden haben, befindet sich vermutlich im Bauch eines Artgenossen!”
“Können Sie sich vorstellen, weshalb Einwohner eines englischen Dorfes sich Mobilés mit präparierten afrikanischen Käfern aufhängen?”, fragte Brady.
Johnson runzelte die Stirn.
“Das klingt in der Tat sehr eigenartig. Aber bei der Gelegenheit noch etwas anderes: Der Entdecker und Namensgeber dieser Käferart hieß Miles Donahue. Er lebte bis zu seinem frühen Tod in Dunbury und verfasste einige wichtige Werke über diese Krabbler.”
“Wer glaubt da noch an Zufall!”, murmelte Brady.
Johnson trat etwas näher an Brady heran. “Sie fragten mich gestern, ob Thompson durch ein Tier gestorben sein könnte. Was halten Sie denn von dem Gedanken, dass es vielleicht viele Tiere waren, die den armen Thompson zum Skelett abgenagt haben?”
*
Es war später Nachmittag, als Brady und Allistair nach Dunbury zurückkehrten. Miles Donahue’s Anwesen lag einige Meilen außerhalb des eigentlichen Ortes. Es handelte sich um ein herrschaftliches Landhaus im viktorianischen Stil. Schon von weitem ragten die grauen Mauern des Hauptgebäudes auf.
Wie Brady inzwischen herausgefunden hatte, war Donahue als Afrika-Forscher hervorgetreten und hatte sich insbesondere mit der kultischen Bedeutung von Insekten im alten Ägypten und im antiken Nubien befasst.
Vor wenigen Jahren war Donahue an einem Asthmaanfall gestorben und hatte das gesamte Anwesen seinem Neffen Eric Naismith vermacht.
Naismith war Ende zwanzig und für Scotland Yard keineswegs ein unbeschriebenes Blatt. Brady war auf mehrere Verurteilungen wegen Grabschändung gestoßen. Naismith hatte Grabsteine mit magischen Zeichen bemalt und zusammen mit anderen Mitgliedern einer okkulten Sekte immer wieder satanische Rituale auf Friedhöfen durchgeführt. In den letzten Jahren schien es jedoch ruhiger um ihn geworden zu sein.
“Naismith wird uns ein paar Fragen beantworten müssen!”, meinte Brady. “Allerdings habe ich noch immer nicht den blassesten Schimmer, wie das alles zusammenhängt!”
“Glaubst du vielleicht, dass ein ganzer Schwarm dieser afrikanischen Käfer über Thompson hergefallen ist? Das ist doch alles absurd! Johnson hat gesagt, dass die Skelettkäfer normalerweise Aasfresser sind.”
“Ich weiß, dass das alles ziemlich absurd zu sein scheint. Wir haben ein paar Verbindungslinien, das ist auch schon alles.”
“Allein bei dem Gedanken, dass Thompson von diesen Krabblern zerlegt wurde, dreht sich mir der Magen um!”, meinte Allistair. “Allerdings glaube ich nicht, dass diese Biester eine Leiche in der kurzen Zeit zerlegt haben können, die zwischen Thompsons letzten Schreien und dem Auffinden der Leiche liegt.”
“Möglichkeit eins wäre, dass unser Zeuge sich geirrt oder gelogen hat, was den zeitlichen Ablauf angeht. Thompson könnte schon in seinem Haus umgebracht und skelettiert worden und dann zum Friedhof gebracht worden sein.”
“Und was ist Möglichkeit Nummer zwei?”
“Schon mal was von Piranhas gehört?”
“Sicher.”
“Die skelettieren ein Rind innerhalb von ein oder zwei Minuten, während es durch einen Fluss watet.”
“Und so etwas Ähnliches stellst du dir bei diesen Käfern vor?” Allistairs Tonfall klang zweifelnd.
“Warum nicht?”
“Das bedeutet, dass Hunderte – nein, Tausende! – dieser Biester koordiniert angegriffen haben müssten!”
“Über diese Käferart ist außer den Fakten, die Johnson zusammengetragen, hat, recht wenig bekannt.”
“Trotzdem...”
“Und absurder als die Hypothese von irgendeinem Monster oder dergleichen klingt es in meinen Ohren auch nicht!”
*
Der Himmel hatte sich mit einer dunkelgrauen Wolkendecke zugezogen, die sich wie ein Leichentuch über das Land zu legen schien.
Als Brady seinen Ford vor das Portal des Hauptgebäudes fuhr, begann es zu regnen. Blitze zuckten aus dem düsteren Himmel heraus. Donnergrollen folgte.
Brady und Allistair stiegen aus. Der Regen wurde stärker. Die beiden Scotland Yard-Beamten beeilten sich, die Stufen des Portals hinauf zu gelangen. Augenblicke später standen sie vor der großen Tür mit den messingfarbenen Klopfringen. Es gab allerdings auch eine Klingel. Allistair betätigte sie ungeduldig.
Wenig später öffnete ein Mann in den Sechzigern die Tür. Sein Haar war grau, der Gang leicht gebeugt. Er trug die Uniform eines Butlers. Seine Handschuh waren so blütenweiß, dass er sie mindestens einmal am Tag wechseln musste.
“Sie wünschen?”, frage der Butler.
Allistair hielt ihm den Dienstausweis von Scotland Yard unter die Nase. “Wir hätten ein paar Fragen an Mr. Naismith.”
“Mr. Naismith lebt sehr zurückgezogen. Er empfängt für gewöhnlich keinen Besuch”, erwiderte der Butler.
“Uns wird er empfangen müssen!”, erwiderte Allistair ziemlich schroff.
“Die Alternative wäre, ihn zwangsweise zum Verhör abzuführen”, ergänzte Brady. “Ich glaube kaum, dass ihm das wirklich lieber wäre!”
Das Gesicht des Butlers blieb vollkommen unbeweglich. Wie eine Maske!, durchfuhr es Brady.
Der Butler richtete sich etwas auf. Seine Augenbrauen hoben sich ebenfalls. “Warten Sie einen Augenblick!”, forderte er dann und schlug die Tür wieder zu.
“Hey, so etwas lässt du dir bieten, Mike?”, fragte Allistair ziemlich gereizt.
Wenig später kehrte der Butler zurück, öffnete erneut die Tür und forderte die beiden Scotland Yard-Männer auf, ihm zu folgen. Sie betraten die Eingangshalle.
Die Wände waren behängt mit archaischen Geistermasken, deren afrikanischer Ursprung unverkennbar war. Totenschädel hingen an beinahe unsichtbaren Fäden von der Decke. Mobilés aus Schrumpfköpfen begannen durch den beim Öffnen der Tür entstandenen Luftzug ihren gespenstischen Tanz.
Und Käfer!
Genau wie an der Decke des DUNBURY INN waren sie präpariert und in kunstvoll gestalteten Mobilés aufgehängt worden. Es mussten Tausende sein... Der Luftzug sorgte dafür, dass man den Eindruck eines wimmelnden Schwarms hatte.
“Scheint, als wären wir hier tatsächlich an der richtigen Adressen”, raunte Jim Allistair dem Chief Inspector zu.
Brady nickte leicht.
Die beiden Männer folgten dem Butler die Freitreppe hinauf, über die man ins Obergeschoss gelangen konnte.
Sie passierten einen Korridor.
Ach hier waren die Wände mit grotesken Kultgegenständen aus aller Welt bedeckt.
Eric Naismith empfing die Scotlansd Yard-Beamten in der Bibliothek.
Die dicht mit Büchern gefüllten Regale reichten bis zur Decke. Uralte, in Leder gebundene Folianten reihten sich hier aneinander. Staub hatte sich auf den Buchrücken abgesetzt. Brady überflog einige der Titel. Okkulte Themen schienen vorherrschend zu sein.
Naismith war von schlaksiger Gestalt. Er trug einen dunklen Rollkragenpullover. Er klappte das Buch, in dem er gerade gelesen hatte, zusammen und legte es auf einen der zierlich wirkenden runden Tische, die unregelmäßig im Raum verteilt standen. Anschließend erhob er sich aus seinem Sessel und trat seinen Gästen mit einem spöttischen Lächeln um die Lippen entgegen.
“So, Sie wollten mich also notfalls verhaften!”, sagte Naismith mit einem ziemlich überheblichen Unterton, der ihn Brady sogleich unsympathisch erscheinen ließ.
Er hielt dem Erben des großen Afrika-Forschers Miles Donahue den Ausweis hin und stellte sich und seinen Kollegen vor. “Wir haben ein paar Fragen im Hinblick auf den Tod von Mr. Roger Thompson.”
“Ich habe davon gehört”, sagte Naismith. “In einem Ort wie Dunbury verbreiten sich Neuigkeiten ziemlich rasch.” Naismith trat ein paar Schritte vor und wandte sich an den Butler. “Lassen Sie uns bitte allein, Charles.”
“Sehr wohl, Sir!”, gab der Butler zurück und neigte leicht den Kopf. Er verließ mit schleppendem Gang den Raum.
Brady hatte inzwischen bemerkt, dass es auch an der Decke der Bibliothek Dutzende von Käfer-Mobilés gab.
Der Chief Inspector deutete mit der Rechten dorthin. “Sie scheinen eine Vorliebe für bizarren Wandschmuck zu haben, Mr. Naismith.”
“Oh, diese zugegebenermaßen recht eigenwilligen Dekorationen stammen von meinem verstorbenen Onkel.”
“Skelettkäfer nennt man diese Krabbler, nicht wahr?”
“Das ist korrekt. Aber Sie werden kaum hier her gekommen sein, um mit mir über Insekten zu sprechen – seien sie nun präpariert oder nicht!”
“Doch, genau darüber möchte ich mit Ihnen reden”, widersprach Brady. “In Thompsons Leiche wurde einer dieser Käfer gefunden.”
Von draußen war Donnergrollen zu hören. Blitze zuckten in rascher Folge. Das Gewitter schien noch mehrere Meilen entfernt zu sein.
Naismith wandte sich ab. Brady hatte das Gefühl, dass er seinem Blick auswich.
Die Anspannung war dem Neffen des Afrika-Forschers Miles Donahue dennoch sehr deutlich an der Körperhaltung anzusehen.
“Nun, was Sie sagen ist durchaus möglich – und es gibt eine einfache Erklärung dafür.”
“Ich bin gespannt!”, sagte Brady.
“Mein Onkel Miles brachte seinerzeit einige Exemplare dieser Käferart nach England mit und begann sie zu züchten. Es ist durchaus möglich, dass einige von ihnen entwichen sind und in freier Wildbahn überlebt haben, auch wenn die klimatischen Bedingungen sicherlich nicht optimal sein dürften! Ist Ihre Frage damit zufriedenstellend beantwortet?”
“Halten Sie es für möglich, dass die Käfer einen Menschen umbringen und skelettieren?”, fragte Brady.
Eric Naismith verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln.
“Besser Sie gehen jetzt. Wenn Sie sich mit einem Insektologen unterhalten wollen, sind Sie bei mir an der falschen Adresse!”
“Vielleicht könnten Sie mir noch sagen, was diese Käfer-Mobilés zu bedeuten haben, die hier überall hängen!”
“Vor vielen Zeitaltern hatten Skelettkäfer magische Bedeutung”, erläuterte Naismith. “Im 18. vorchristlichen Jahrhundert gelangte der Kult des Käfergottes Nam-Re aus Nubien nach Ägypten, blieb dort jedoch auf kleine Zirkel beschränkt und konnte sich bis zur Islamisierung im 8.Jahrhundert halten. Mein Onkel hatte sich insbesondere der Erforschung dieses Geheimkultes gewidmet, wie man an seinen zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema sehen kann.” Naismith deutete auf einen bestimmten Bereich der Bücherwand, der offenbar den Werken von Miles Donahue vorbehalten war.
“Haben Sie ein derartiges Mobilé dem Wirt des DUNBURY INN geschenkt?”, hakte Brady nach.
“Stellen Geschenke jetzt schon eine Straftat dar, Chief Inspector?”
Draußen grollte erneut der Donner. Prasselnder Regen schlug gegen die Scheiben. Aber da war noch ein anderes Geräusch, dass beides übertönte.