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Dieses Buch enthält folgende Krimis: (399) W.A.Castell: Der Geister-Pate W.A.Castell: Manche Geister werden pampig Alfred Bekker: Ich darf mich nicht verwandeln Darry Pendor hat ein Problem: Er muss dem Drang widerstehen, sich in einen Werwolf zu verwandeln. Er ist ein Gestaltwandler und diese Eigenschaft macht sein Leben kompliziert - egal, ob er eine Frau kennenlernt oder in seinem Job bestehen muss. Er ist ein Mensch, der sich in ein Monster verwandelt - aber in seinem Job als Ermittler jagt er Monster in Menschengestalt und es stellt sich die Frage, wer das größere Monster ist: Ein Werwolf oder ein Serienkiller. Auch der Fall, an dem er gerade arbeitet hat etwas mit einer Verwandlung zu tun - allerdings auf eine ganz andere Art... Und dann sind da noch die selbsternannten Dämonenjäger, die ihm das Leben zur Hölle machen! Darry Pendor schwebt in der dauernden Gefahr, dass das Tier in ihm die Oberhand gewinnt… Und so gilt für ihn der Satz: Ich darf mich nicht verwandeln!
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Seitenzahl: 496
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Geister Fantasy Dreierband 1009
Copyright
Der Geister-Pate
Manche Geister werden pampig
Ich darf mich nicht verwandeln
Dieses Buch enthält folgende Krimis:
W.A.Castell: Der Geister-Pate
W.A.Castell: Manche Geister werden pampig
Alfred Bekker: Ich darf mich nicht verwandeln
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, ALFREDBOOKS und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© by Author /
Verwendung der Romane von W.A.Castell mit freundlicher Genehmigung von Wilfried A. Hary, Hary-Production.
© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
www.AlfredBekker.de
*
Heinz Schiffler ordnete seine Unterlagen. Ein Anflug von Resignation lag auf dem Gesicht des neununddreißigjährigen Mannes. Er konnte seine geschäftliche Bilanz drehen und wenden wie er wollte, immer blieb ein finanzielles Loch, welches von Monat zu Monat größer wurde. Ursache war die allgemeine wirtschaftliche Flaute.
Seit einem halben Jahr gingen die Aufträge für die eigene Autoreparaturwerkstatt kontinuierlich zurück und auch der Verkauf von Neu- und Gebrauchtwagen schleppte sich nur mühsam dahin.
Heinz Schiffler schob den Papierberg zur Seite. Da war doch alles Rechnen und Überlegen vergebliche Mühe. Wenn nicht bald ein Wunder geschah...
Schifflers Blick fiel auf die Tagespost, die sich auf seinem Schreibtisch stapelte.
Missmutig ging der Mann die einzelnen Stücke durch, die meist doch nur aus Reklame und sonstigen Geschäftsempfehlungen bestanden.
Erst das letzte Kuvert des Stapels erweckte Heinz Schifflers Aufmerksamkeit. Es war ein Luftpostbrief aus London.
Mit wenigen Handgriffen war das Schreiben geöffnet. Heinz Schiffler las mit wachsendem Erstaunen:
"Verehrter Freund,
entschuldige bitte, dass ich erst jetzt von mir hören lasse, aber meine Geschäfte ließen mir einfach keine Zeit, um an etwas anderes zu denken. Na, Du weißt schon... Umso mehr habe ich heute Grund, mich an Dich zu wenden. Du erinnerst Dich sicherlich an den Brief, den Du mir vor einigen Monaten geschrieben hast. Darin erwähntest Du unter anderem, dass es Dir im Moment finanziell schlecht gehe.
Auf diesen Punkt möchte ich Dich nun ansprechen. Ich habe für Dich ein lukratives Angebot. Am 30. dieses Monats findet im Crystal Palace die Box-Europameisterschaft im Mittelgewicht statt. Ich kann Dich für fünftausend EURO in einem Vorkampf unterbringen. Reisekosten und Spesen werden zusätzlich vergütet."
Heinz Schiffler ließ das Papier sinken. Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen. Der Mann benötigte Minuten, um das Gelesene in seiner ganzen Tragweite zu begreifen.
War das möglich, was hier schwarz auf weiß geschrieben stand? Oder erlaubte sich vielleicht jemand einen bösen Scherz mit ihm? Heinz Schiffler warf einen Blick auf den Absender des Briefes. Es war die Anschrift seines alten Freundes Klaus Böhme, seines Zeichens Boxpromotor und schon seit Jahren in London ansässig.
Schiffler las den Brief weiter:
"Wenn Du Dich in Form fühlst - wovon ich überzeugt bin -, rufe mich bitte innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden an.
Mit Gruß Klaus Böhme"
Es folgte ein Nachsatz: "Deinen Sohn konnte ich noch nicht ausfindig machen - leider."
Heinz Schiffler überflog diese Zeilen mehrmals. Der Sinn des Briefinhalts blieb bestehen.
Schifflers Gedanken gingen zurück zu dem Tag, an dem Toni - sein Sohn - das Haus für immer verlassen hatte. So jedenfalls hatten Tonis Abschiedsworte gelautet. Nach eigenen Angaben hatte er nicht mehr länger mit ansehen können, wie sein Vater sich für Geld in den Ringstaub legte. Toni war nämlich fest davon überzeugt gewesen, dass Heinz Schiffler als Boxer »käuflich« war.
Heinz Schiffler hatte seinen Sohn nicht aufhalten können noch wollen. Toni war achtzehn Jahre alt und somit imstande, auf eigenen Beinen zu stehen.
»Gibt es eine Nachricht von Toni?«
Inge Friedmann, Heinz Schifflers Haushälterin, hatte die Frage gestellt. Der Mann war so in Gedanken vertieft, dass er die Frau nicht hatte hereinkommen hören.
»Nicht direkt«, antwortete er wahrheitsgetreu. »Klaus Böhme hat sich in London nach Toni umgeschaut. Ergebnislos, bis jetzt jedenfalls.«
»Es musste mit dem Jungen ja so kommen«, resümierte die Haushälterin. »Ein Kind, das ohne Mutter aufwächst, findet im Leben keinen Halt. Sein Vater war sich eben zu schade, in jungen Jahren zu heiraten. Ich...«
»Seien Sie ruhig!« fuhr Heinz Schiffler der Frau dazwischen. »Sie wissen, dass das damals die Entscheidung meiner Eltern war. Die haben mit allen Mitteln die Hochzeit verhindert. Jedenfalls fliege ich in einer Woche nach London. Ich möchte nach drei Jahren meinen Sohn endlich wiedersehen.«
»Sie - Sie...«
Inge Friedmann verschlug es die Sprache. Doch überraschend schnell fasste sich die Frau wieder.
»Das ist ja pure Geldverschwendung«, sprudelte sie hervor. »Wenn Böhme den Jungen nicht aufgetrieben hat, werden Sie ihn erst recht nicht finden. Und denken Sie an unsere Kasse! Sie ist leer und...«
»Gerade deshalb«, konstatierte Heinz Schiffler.
Ohne die Neugierde seiner mit offenem Mund dastehenden Haushälterin zu befriedigen, verließ er sein Büro.
*
Jim Bridges zog die Stehlampe so nahe zu sich heran, dass er im Liegesessel bequem sein Buch weiterlesen konnte.
Die Lektüre, in die er seit Stunden vertieft war, war eine Abhandlung über die Energieversorgung der Britischen Insel. In der augenblicklichen Situation war sie somit für ihn, Jim Bridges, der geeignete Lesestoff.
Vom Nebenraum drang das dumpfe Schlagen der Wanduhr herüber. Jim Bridges zählte mit. Es war eine Stunde vor Mitternacht. Ihm blieb noch eine Weile Zeit, um das Buch zu Ende zu bringen.
Etwas klatschte gegen das Fenster.
Jim Bridges blickte hoch und zog unwillkürlich die Schultern ein. Draußen tobte ein Unwetter über London. Der Sturm trieb unentwegt Regen gegen die Westfront des Hauses. Bridges focht das nicht an; er las weiter. Unwillkürlich musste er lächeln. Die Daten und Fakten, die im Buch standen, zeigten den neuesten Stand der Wissenschaft an. Danach war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Energienachfrage in England das Angebot bei weitem übersteigen würde. Wenn der Autor wüsste, welches geheime Projekt vor Monaten in Angriff genommen worden war - er würde sich mehr als wundern. Der Sturm draußen schien sich zu steigern. Jedenfalls rüttelte er jetzt dermaßen an den Fensterscheiben, dass Jim Bridges beschloss, in den anderen Räumen der Wohnung nachzusehen, ob alles dicht verschlossen war.
Bridges legte das Buch auf eine Ablage. Gerade wollte er das Schlafzimmer betreten, in das sich seine Frau schon vor zwei Stunden zurückgezogen hatte, als die Flurglocke läutete. Jim Bridges schreckte zusammen. Er konnte sich nicht vorstellen, wer um diese Zeit und bei diesem Wetter ihm einen Besuch abstatten wollte. Dazu kam, dass nur ein kleiner Kreis wusste, wo er und seine Frau seit drei Monaten wohnten. Die Regierung hatte aus Sicherheitsgründen auf einem Wohnungswechsel bestanden - und nicht nur darauf.
Jim Bridges betrat den Flur. Vorsichtig lugte er durch den Türspäher. Draußen stand ein Mann, der mit einem Regenmantel bekleidet war. Er war gerade dabei, die Kapuze vom Kopf zu ziehen und das Wasser abtropfen zu lassen.
Jim Bridges legte die Sperrkette zurück und öffnete die Tür.
»Mensch, Katzmann, was führt Sie so spät zu mir? Treten Sie ein, oder wollen Sie sich da draußen den Tod holen?«
Der mit Katzmann Angesprochene zuckte bei dem Wort Tod unmerklich zusammen, hatte sich aber schnell wieder in der Gewalt.
»Dieses Wetter geht einem durch Mark und Bein«, stöhnte er und schlüpfte aus dem Regenmantel. Er reichte ihn Jim Bridges.
Wenig später saßen sich die Männer im Wohnzimmer gegenüber. Jim Bridges hatte seinem Besucher einen heißen Tee aufbrühen wollen, doch Katzmann hatte dankend abgelehnt.
»Jetzt raus mit der Sprache!« forderte Jim Bridges ihn ungeduldig auf. »Was ist so wichtig, dass man dafür eine Erkältung in Kauf nimmt?«
Bridges musterte sein Gegenüber. Paul Katzmann und er waren seit Monaten gemeinsam mit fünf anderen Wissenschaftlern an einem Projekt der Regierung beteiligt. Die Sache war so geheim, dass nur der zuständige Minister und einige Herren von Scotland Yard das Forschungsziel der sieben Wissenschaftler kannten.
»Es handelt sich um ein Telefonat«, gab Paul Katzmann zur Erklärung. »Ein Fremder rief mich vor einer halben Stunde an. Er nannte keinen Namen, sagte nur, dass ich mich genau um Mitternacht bereithalten solle. Er werde mir dann telefonisch eine für mich und Scotland Yard interessante Tatsache mitteilen. Ich wollte natürlich sofort nachhaken, doch da war die Verbindung bereits unterbrochen.«
Jim Bridges lehnte sich im Sessel zurück. Er überdachte das Gehörte noch einmal. Irgend etwas daran gefiel ihm nicht.
»Ich schlage also vor«, fuhr Katzmann fort, »du kommst mit mir und wir hören uns beide an, was der Anrufer zu sagen hat. Ich bin nämlich überzeugt, dass...«
Jim Bridges schüttelte den Kopf. Er stemmte sich im Sessel hoch und durchmaß den Raum mit eiligen Schritten. Eine innere Unruhe hatte ihn ergriffen. Dabei war er sich durchaus darüber im klaren, dass dafür überhaupt kein Grund vorhanden war.
Er stoppte seinen Schritt vor Paul Katzmann. »Haben Sie nach oben Bescheid gegeben? Es ist doch wichtig, dass die...«
Katzmann winkte ab.
»Nicht nötig. Zuerst möchte ich wissen, was der Mann von mir will. Möglicherweise ist das Ganze ein dummer Scherz und ich verursache schon vorher einen Sturm im Wasserglas.«
Jim Bridges runzelte die Stirn. Paul Katzmann hatte recht. Es wäre nicht klug, die Sache aufzubauschen. Er, Jim Bridges, war gewiss nur ein Schwarzseher.
»Gut«, Bridges nickte, »ich komme mit Ihnen. Warten Sie einen Moment, ich hole meinen Mantel.«
Paul Katzmann war zufrieden. Der Kollege hatte keinen Verdacht geschöpft. Auch war ihm entgangen, dass er, Paul Katzmann, ihn mit DU angesprochen hatte. Ein fast unverzeihlicher Fehler, denn den sieben Wissenschaftlern war von oben aufgetragen worden, untereinander keinen privaten Kontakt zu pflegen.
Zehn Minuten später verließen Jim Bridges und Paul Katzmann das Haus.
Das Wetter hatte sich nicht gebessert. Tiefe Wolken hingen immer noch über dem nächtlichen Himmel. Unablässig peitschte eine steife Westbrise Regen über London.
Jim Bridges schlug den Kragen hoch und folgte Paul Katzmann. Dieser lenkte seine Schritte auf einen Wagen zu, der am Straßenrand parkte.
In diesem Augenblick öffnete der Himmel endgültig alle Schleusen.
Trotz der schützenden Regenmäntel und der nur kurzen Wegstrecke, erreichten die beiden Männer völlig durchnässt das parkende Fahrzeug.
Laut vor sich hin schimpfend zwängte Jim Bridges sich in den Beifahrersitz. Er warf einen Seitenblick auf Paul Katzmann. Und diesmal war es Jim, als säße ein ganz anderer Mann neben ihm.
Das war nicht das offene ehrliche Gesicht Paul Katzmanns. Nicht die ausgeglichenen Züge, die auch in schwierigen Situationen nie ihre angenehme Ausstrahlung verloren. Die Person neben ihm im Wagen verbreitete eine eisige Kälte um sich. Seine Erscheinung schien von einem unsichtbaren Schirm umgeben.
Jim Bridges versuchte krampfhaft, die jetzige Situation zu erfassen, sie zu beherrschen. Es gelang ihm nur unvollständig.
Paul Katzmann startete den Motor. Die Scheinwerfer blendeten auf. Ihr Lichtkegel riss den niederprasselnden Regen aus der Dunkelheit. Die einzelnen Tropfen reihten sich zu strichförmigen Wasserstrahlen aneinander.
Von vorn tauchten die Lichter eines entgegenkommenden Wagens auf. Mit quietschenden Bremsen hielt er auf der anderen Seite der Straße. Der Wagenschlag wurde aufgerissen. Ein Mann stieg aus. Mit erhobener Faust taumelte er über die Straße, pflanzte sich direkt vor Paul Katzmanns Rover auf.
Katzmann stieß einen ellenlangen Fluch aus. Wütend kurbelte er das Fenster herunter. Der Regen trieb pfeifend Nässe in das Innere des Wagens.
Paul Katzmann steckte den Kopf aus dem Fenster. »Wenn Sie nicht sofort verschwinden, mache ich Ihnen Beine!«
Der scheinbar Betrunkene schien darauf nur gewartet zu haben. Schneller, als man es annehmen konnte, rannte er um das Fahrzeug und schrie Paul Katzmann entgegen:
»Sie - Sie sind ein Dummkopf! Ein - ein rücksichtsloser Dummkopf! Wenn - wenn Sie noch einmal Ihr Licht aufblenden, achten Sie darauf, dass Ihnen kein Wagen entgegenkommt.«
Paul Katzmann schien für eine Sekunde verwirrt. Dann öffnete er mit einem Ruck die Wagentür.
Die Tür traf den Betrunkenen vor den Bauch. Torkelnd wich er zurück, stützte sich keuchend auf die Motorhaube des Rovers. Wasser rann ihm über das Gesicht, tropfte auf das Metall. Paul Katzmann setzte nach. Er packte den Fremden am Kragen und zog ihn hoch. Es war klar, dass er ihn zu Boden stoßen wollte.
Doch der Betrunkene pendelte den Schlag aus. Er stolperte zurück und schlug der Länge nach hin. Sein Oberkörper rutschte halb unter die Vorderseite des Wagens.
Paul Katzmann wollte der Sache ein Ende bereiten. Breitbeinig trat er vor den Rover. Ein zynisches Grinsen legte sich um Katzmanns Mund. Er bückte sich. Dabei kam sein Gesicht in den Lichtkegel des linken Scheinwerfers.
Jim Bridges, der den ganzen Zwischenfall vom Wagen aus verfolgt hatte, erstarrte! Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen.
Das Licht des Scheinwerfers drang durch Paul Katzmanns Haut! Der Kopf des Wissenschaftlers wurde durchleuchtet wie von Röntgenstrahlen!
Jim Bridges schloss die Augen. Er konnte den grausigen Anblick nicht länger tragen.
Als er die Augen wieder öffnete, war Paul Katzmann dabei, den Betrunkenen unter dem Wagen hervorzuzerren.
Jims Gedanken wirbelten im Kreis. Das Gefühl der Angst kroch in ihm hoch, legte sich wie Blei auf seine Glieder.
Du musst etwas unternehmen! hämmerte es in seinem Kopf. Der da vorn ist nicht Paul Katzmann. Er ist nicht der Mann, den du seit Monaten kennst und der Mitglied der siebenköpfigen Spezialtruppe ist.
Jim Bridges fasste einen Entschluss. Dass er falsch war, konnte er nicht ahnen.
Jim stieg aus dem Wagen. Er packte den knienden Katzmann am Arm und zog ihn hoch.
»Lassen Sie mich das erledigen«, sagte er zu Katzmann. »Ich bin um einiges stärker als Sie und werde mit dem Burschen leicht fertig. Setzen Sie sich in den Wagen!«
Paul Katzmann musterte Jim Bridges misstrauisch.
Dann wandte er sich wortlos um und folgte der Anweisung seines Kollegen.
Bridges atmete auf. Sein Plan schien aufzugehen. Jim bückte sich und stemmte den Betrunkenen auf die Beine. Er führte ihn am Ellenbogen über die Straße auf den dort stehenden Wagen zu.
Nach einigen Mühen hatte er den Fremden auf den Fahrersitz verstaut. Jim Bridges brachte seinen Mund ganz dicht an das Ohr des Mannes.
»Jetzt reißen Sie sich für einige Minuten zusammen«, flüsterte er eindringlich. »Fahren Sie zur nächsten Telefonzelle und rufen Sie Scotland Yard an. Sagen Sie, man solle sofort Paul Katzmann überprüfen.« Jim Bridges wartete die Reaktion des Betrunkenen ab. Dieser hob den Kopf, schien einige Sekunden angestrengt zu überlegen. Dann flog ein breites Lächeln über sein verdrecktes Gesicht.
»In - in Ordnung«, lallte er. »Ich - ich danke Ihnen, dass Sie mich nicht der Polizei übergeben haben. Wenn...«
Jim Bridges hörte sich das Gestotter nicht mehr länger an. Er knallte die Wagentür zu und gab dem Fremden ein Zeichen zum Start.
Der Motor des Fords heulte auf. Ruckartig setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. Sekunden später war es mit singenden Pneus in der Dunkelheit verschwunden.
Jim Bridges starrte dem Wagen hinterher. Das Gesicht des Wissenschaftlers war kreidebleich. Er hätte sonst was dafür gegeben, wenn er sich so schnell hätte von diesem grausigen Ort entfernen können.
Bridges wischte sich mit einer flüchtigen Handbewegung den Regen von der Stirn. Dann lenkte er seine Schritte zurück zu Paul Katzmanns Wagen.
Ein Gefühl der inneren Leere drohte von Jim Bridges Besitz zu ergreifen. Der Mann kämpfte mit Vehemenz dagegen an. Er durfte und wollte sich Paul Katzmann gegenüber nichts anmerken lassen. Nur wenn der Kollege sich völlig in Sicherheit wähnte, konnte er, Jim Bridges, dessen weitere Schritte beobachten.
*
Im fünften Stock des New Scotland Yard-Gebäudes findet jedes Jahr eine Konferenz jener Männer statt, die die höchste Instanz dieser weltbekannten Polizeibehörde bilden.
Obwohl diese Konferenz für heute nicht angesetzt war, befanden sich drei Männer in dem langgestreckten Saal dieser fünften Etage. Sie saßen an einem Tisch, der etwas abseits am Fenster stand und der eigentlich nur als Abstell für leere Getränkeflaschen und dergleichen gedacht war.
Pete Hawkins, Regierungsbeauftragter, blies den Rauch seiner Zigarette bedächtig in die Luft. Der ganze Raum war bereits von Rauchschwaden durchzogen.
»Ich frage Sie...«, wandte sich Pete Hawkins an den Gesprächspartner, der ihm direkt gegenüber saß und der vor sich auf dem Tisch eine aufgeschlagene Akte liegen hatte. »Warum müssen wir ausgerechnet in diesem riesigen, gottverlassenen Raum eine solch wichtige Besprechung abhalten?«
Richard Holden, Superintendent bei Scotland Yard und zuständig für höchst brisante Fälle, lehnte sich weit im Stuhl zurück. Er war der einzige hier im Raum, der Rauchen verabscheute.
Sein Blick schweifte durch den Saal.
»Wir befinden uns an einem Platz«, sagte er mit Nachdruck, »der absolut garantiert, dass wir vor unliebsamen Lauschern sicher sind. Kann ich nun Inspektor Santis herein bitten?«
Dan Burke, Wissenschaftler und Leiter des Projektes, das die Regierung vor einem Vierteljahr gestartet hatte, mischte sich ein:
»Warum hat sich Joe Santis nicht direkt an mich gewandt? Schließlich geht es um meine Leute und ich muss...«
Pete Hawkins winkte ab. Dabei fächelte er den Rauch direkt vor Richard Holdens Nase, der von einem Hustenreiz befallen wurde.
»Sie irren, Sie irren«, tönte Hawkins. »Sie sind zwar Team-Chef, aber nur zuständig, was das Fortschreiten der Forschungsarbeit anbetrifft. Es war von Anfang an klar gestellt, dass jede Ungereimtheit - und scheine sie noch so unbedeutend - nach oben zu melden sei.«
»Hören wir uns an, was Inspektor Santis zu berichten hat«, entschied Richard Holden.
Er betätigte einen Knopf, der am äußersten Rand des Tisches angebracht war.
Wenig später stand jener Mann vor ihnen, der am Abend zuvor einen Betrunkenen gemimt und in diesem Zustand einen gewissen Mr. Paul Katzmann und dessen Kollegen Jim Bridges belästigt hatte. Joe Santis berichtete: »Ich hatte von Ihnen, Mr. Holden, den Auftrag, Paul Katzmann routinemäßig zu überprüfen. Als ich Katzmann am Abend nicht in seiner Wohnung vorfand, machte ich mich auf die Suche nach ihm. Ich fuhr die Adressen seiner sechs an dem Geheimprojekt beteiligten Kollegen ab.« Der Inspektor warf einen Seitenblick auf Dan Burke. Dann fuhr er fort: »Mr. Burke - den ich ebenfalls aufsuchte - war über mein Erscheinen sehr ungehalten. Er nannte es eine Unterstellung.« Für einen Moment herrschte Stille, die nur unterbrochen wurde vom wütenden Schnauben des Wissenschaftlers. Er enthielt sich aber eines Kommentars. »Kurz nach dreiundzwanzig Uhr erreichte ich Jim Bridges Wohnung«, setzte Inspektor Santis nach einer Weile seinen Bericht fort. »Er und Paul Katzmann waren gerade dabei, in Katzmanns Wagen wegzufahren. Da die beiden Wissenschaftler mich nicht kennen, beschloss ich, den Betrunkenen zu mimen, um so unbemerkt an Katzmanns Wagen einen Minisender anzubringen. Das ist mir auch gelungen. Ich folgte dem Wagen anschließend mit Hilfe der Peilsignale, die ich empfangen konnte.«
Joe Santis zögerte.
»Und weiter?« Richard Holden stellte ungeduldig die Frage.
Santis trat von einem Bein auf das andere. »Das war alles«, antwortete er leise und vermied dabei, den Super anzusehen. »Ich geriet - bedingt durch das Unwetter - in einen Verkehrsstau und da...«
Holdens Faust, die auf den Tisch donnerte, stoppte den Inspektor mitten im Wort.
»Das darf nicht wahr sein«, dröhnte der Superintendent.
»Da hat einer meiner Inspektoren sämtliche Vollmachten. Er könnte praktisch jeden motorisierten Beamten, der in London zur Zeit im Dienst ist, aufbringen. Aber was tut der Inspektor? Er irrt allein durch Nacht und Wind, um schließlich vor einem ganz alltäglichen Verkehrsstau kapitulieren zu müssen.«
Die harten Worte Richard Holdens wirkten. Man hätte das Fallen einer Nadel hören können, so still war es plötzlich am Tisch. Selbst Pete Hawkins hatte erschreckt seine Zigarette ausgedrückt.
Joe Santis lief zuerst gelb, dann rot an. Er suchte krampfhaft nach den richtigen Worten.
Dan Burke schob die Lippen nach vorn. Er blinzelte dem Superintendenten zu.
»Sie nehmen die Sache zu ernst, Mr. Holden«, versuchte der Wissenschaftler einzulenken. »Es ist nichts passiert, was unreparabel wäre. Am Nachmittag treffe ich Paul Katzmann und Jim Bridges im Labor. Dort werde ich bestimmt erfahren, was es mit dem nächtlichen Ausflug der beiden auf sich hatte. Ich glaube nicht, dass Grund zur Aufregung vorhanden ist.«
Dan Burkes ruhig gesprochenen Worte glätteten etwas die Wogen. Von Hawkins und Joe Santis war Zustimmung zu vernehmen. Der Inspektor war heilfroh, von Seiten des Wissenschaftlers Aufwind zu bekommen.
Superintendent Richard Holden runzelte die Stirn. Dann schlug er den Aktendeckel zu und stemmte sich am Tisch hoch.
»In Ordnung, meine Herren«, knurrte er, sich der Mehrheit beugend. »Ich schaue mir Katzmann und Bridges heute Mittag persönlich an. Danach sehen wir weiter.«
*
Das flache unscheinbare Gebäude war leicht zu übersehen. Man erreichte es, wenn man London über die Kensington High Street in Richtung Hampton verließ. »Spezial-Labor« konnte man auf dem simplen Holz-Schild lesen, das im Vorplatz des von einem verrosteten Drahtzaun umfriedeten Gemäuers stand. Niemand hätte auch nur ahnen können, dass die ganze Aufmachung eine einzige Tarnung war. Eine Tarnung, die verdeckte, welche Bedeutung das Labor tatsächlich für informierte Kreise innerhalb der Regierung hatte. Auch war nur einer Handvoll Personen bekannt, dass sich unter dem Labor ein ausgedehnter Gebäudetrakt befand, der noch von Kriegszeiten her stammte und nur den Erfordernissen nach ausgebaut zu werden brauchte.
Richard Holden ließ zwei Identitätskontrollen über sich ergehen, ehe er die unteren Räume des Labors betreten durfte. Erst als der Superintendent ein bestimmtes Codewort in ein Mikrofon gesprochen hatte, glitt die Tür des Fahrstuhls zur Seite. Vor Richard Holden lag ein breiter Gang, dessen Betonwände grün getüncht waren. Dan Burke trat aus einer Seitentür und begrüßte den Yard-Mann per Handschlag.
»Sind Bridges und Katzmann anwesend?« erkundigte sich Richard Holden.
Der Wissenschaftler nickte. Er deutete mit dem Daumen zur anderen Seite.
»Beide haben vor einer Stunde wie üblich ihren Dienst angetreten. Wie Ihnen bekannt ist, arbeiten wir in zwei Schichten. Bridges und Katzmann werden heute bis zweiundzwanzig Uhr im Haus sein.«
»Welche Erklärung haben die beiden Ihnen für den gestrigen Ausflug gegeben?« wollte der Superintendent wissen.
Ein Schatten überzog Dan Burkes Gericht. Er presste die Lippen zusammen, dass sie einen schmalen Strich bildeten. Dann antwortete er gedehnt: »Fragen Sie sie selbst. Sie werden sich wundern.«
Paul Katzmann und Jim Bridges waren mit Reagenzgläsern beschäftigt, in denen eine undefinierbare Masse brodelte. Verwundert schauten beide Wissenschaftler auf, als Dan Burke zusammen mit Richard Holden den Raum betrat.
Jim Bridges wischte seine Hand am Laborkittel ab und streckte sie dem Superintendenten hin.
»Welch seltene Ehre«, griente Bridges. »Der Mann, der für unser aller Sicherheit verantwortlich ist. Können wir etwas für Sie tun?«
Richard Holden verschlug es für den ersten Augenblick die Sprache. Mit einem Seitenblick auf Dan Burke erkannte er, dass dieser weit weniger überrascht war.
Nur zögernd ergriff Holden Jim Bridges Hand. »Hatten Sie gestern Abend größere Schwierigkeiten mit dem Sturm, der über London tobte?« fragte der Yard-Beamte unvermittelt. Nur ein guter Beobachter hätte erkennen können, dass Jim Bridges leicht zusammenzuckte. Richard Holden war ein guter Beobachter. Er ließ Bridges keine Zeit, nachzudenken.
»Sie und Katzmann waren doch mit dem Wagen unterwegs. Darf ich fragen, wohin die Fahrt führte?«
Jim Bridges zog eine beleidigte Miene. Dann warf er Paul Katzmann einen vielsagenden Blick zu, drehte sich abrupt um und machte sich weiter an einem Reagenzglas zu schaffen. Richard Holden und Dan Burke schienen für ihn nicht mehr anwesend zu sein.
Dem Superintendent platzte der Kragen. Mit ein paar Schritten war er bei Bridges und packte ihn am Arm.
»Ich habe Sie etwas gefragt! Wie Sie schon erwähnten, bin ich hier für die Sicherheit verantwortlich. Also raus mit der Sprache!«
»Paul Katzmann und ich haben eine gemeinsame Freundin«, entgegnete Jim Bridges in heftigem Ton. »Ihr haben wir gestern Abend einen Besuch abgestattet. Die Adresse der Dame werden Sie von uns nicht erfahren. Das ist alles, was Sie von mir zu hören bekommen und bei Paul wird es Ihnen ebenso ergehen.«
Jim Bridges hob den Kopf und blickte Richard Holden in die Augen.
Der Superintendent prallte zurück, als hätte ihn ein Faustschlag getroffen. Auch sein Kopf fuhr instinktiv zur Seite. Dann wandte er sich an Dan Burke.
»Ich denke, wir vergessen die Geschichte. Wir können unseren Mitarbeitern nicht verwehren, sich eine Freundin zu halten.«
Minuten später auf dem Flur war Dan Burke ungehalten.
»Sie waren sehr großzügig. Wenn das Benehmen der beiden Schule macht...«
»Nicht doch«, unterbrach Richard Holden den Wissenschaftler. »Ich bin alles andere als großzügig. Haben Sie Jim Bridges' Augen gesehen? Es sind die Augen eines Fanatikers! Der Mann ist nicht klar bei Sinnen. Ich schätze, jemand interessiert sich für unsere Arbeit...«
*
Heinz Schiffler warf einen Blick zur Wanduhr, die in der drei mal drei Yards großen Kabine hing. Neunzehn Uhr. Noch eine Stunde bis zu seinem Kampf.
Ab und zu konnte man das laute Schreien und Grölen der Leute vernehmen, die schon um diese Zeit draußen um den Ring Platz genommen hatten und die ersten Vorkämpfe verfolgten.
Heinz Schiffler fühlte sich fit. Er hatte in den letzten Wochen viel und hart trainiert. Heute Abend wollte er noch einmal beweisen, dass mit ihm immer noch zu rechnen war.
»Heinz, ich habe mit dir zu reden.« Klaus Böhme war auf ihn zugetreten und zog ihn zur Seite. Der Boxpromotor druckste etwas herum.
»Was ist?« Schiffler kannte seinen Freund. »Hast du Sorge, ich könnte dich blamieren?«
»Das nicht«, rückte Böhme mit der Sprache heraus. »Es geht ganz einfach um eine Tatsache. Du bist schließlich nicht mehr der Jüngste und es war äußerst schwierig für mich, dich heute Abend einzubauen... Nun ja, fünftausend EURO sind kein Pappenstiel...«
»Stopp!« Heinz Schiffler zog Klaus Böhme zu sich heran. Er musterte den Freund misstrauisch. »Du hast doch was in petto? Kann ich erfahren...?«
Klaus Böhme versuchte vergeblich, dem festen Blick des Boxers auszuweichen. »Du musst es erfahren«, würgte Böhme hervor. Dann sagte er schnell: »Es ist wichtig, dass du in der vierten Runde zu Boden gehst - k.o., du verstehst...«
Heinz Schiffler war bleich geworden. Er ballte die Hand zur Faust. Für einen Moment sah es aus, als wollte er zuschlagen. Doch dann beherrschte er sich. Er ließ Klaus Böhme so plötzlich los, dass dieser zurück taumelte.
Böhme breitete die Arme aus. »Was sollte ich tun? Ich benötigte jemanden, der im internationalen Geschäft schon einen Namen hat und auf den Verlass ist - aus meiner Sicht. Du bist in Geldschwierigkeiten... Also, was soll dein Benehmen?«
Heinz Schiffler konnte sich nur mühsam beherrschen. Am liebsten hätte er seinem allerliebsten Freund eine tüchtige Tracht Prügel verabreicht, aber irgend etwas hielt ihn davor zurück. Schiffler brauchte nicht lange zu überlegen - es waren die fünftausend EURO, die die infame Geschichte versüßten.
Ohne den Freund dabei anzusehen, sagte Schiffler:
»Und wenn ich deinen >Rat< nicht befolge und den Kampf gewinne?«
Klaus Böhme rümpfte die Nase. Im stillen triumphierte er, denn er war lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass er gewonnen hatte. Er hatte richtig auf Schifflers finanzielle Schwierigkeiten spekuliert, sonst...
»Du kennst das ungeschriebene Gesetz unserer Branche, Klaus. Entweder man fügt sich, oder...«
Heinz Schiffler nickte. Er wusste, wie es anderen vor ihm ergangen war. Es war nicht gerade ein angenehmer Gedanke.
»Also gut«, stimmte er zu. »Ich verlange aber von dir, dass die Presse nicht allzu viel Wirbel um meine Niederlage macht. Ich habe zu Hause Freunde...«
»Ist schon versprochen«, atmete Klaus Böhme auf.
Die Anspielung, die Heinz Schiffler gemacht hatte, störte ihn weiter nicht. Der Begriff Freund war im harten Boxgeschäft ein ziemlich unstabiler Faktor.
*
Die Halle war gut besetzt. Im Ring standen sich zwei Vorkämpfer gegenüber. Zwei junge Burschen, die überhaupt kein Talent besaßen. Mit Klammern und Schieben quälten sie sich über die Runden. Die Halle zeigte ihren Unmut mit einem gellenden Pfeifkonzert.
Der Gong beendete die letzte Runde. Die Leute tobten. Stimmen wurden laut: »Die beiden sollen sich als Babysitter anheuern lassen... Schickt beide ins Kloster... Eine Amme muss her, sie muss ihnen Boxunterricht erteilen!« Alles schrie wild durcheinander.
»Ich bitte jetzt um Ihre Aufmerksamkeit für unseren ersten Hauptkampf.« Der Sprecher im Ring brachte Ruhe in die Halle. Er bat Heinz Schiffler zur Mitte. »Sie sehen hier in der roten Ecke den ehemaligen Europameister im Mittelgewicht Heinz Schiffler aus Deutschland.«
Das Pfeifkonzert bedeutete diesmal Beifall. Der Ringsprecher wartete huldvoll ab, bis wieder Ruhe eingekehrt war. Dann stellte er den Gegner des Deutschen als einen hoffnungsvollen Nachwuchsboxer vor, der den Titel Europameister als erklärtes Ziel habe.
Nach der üblichen Zeremonie gab der Ringrichter den Kampf frei. Der Gong tönte zum ersten Mal.
Heinz Schiffler taxierte seinen Gegner. Ein junger Mann von einundzwanzig Jahren, der nach Angaben von Klaus Böhme fünf erfolgreich geführte Kämpfe auf seinem Pluskonto zu verzeichnen hatte.
Und heute hast du dir den ehemaligen Europameister gekauft - und das im wahrsten Sinne des Wortes, dachte Heinz Schiffler und wich einer gestochenen Geraden seines Gegners aus.
Die erste Runde verlief ausgeglichen. Beide Gegner tasteten sich gegenseitig ab. Schiffler ging bewusst kein Risiko ein. Seine Gedanken waren schon in der vierten Runde. Dort würde das passieren, was er in seiner Boxerkarriere hatte stets vermeiden können - bisher jedenfalls: Der Mitwisser, ja, faktisch der Urheber eines Betruges zu sein. Ein Betrug, der jene am meisten traf, die ihr Geld, unwissend des abgesprochenen Kampfausganges, chancenlos verwetteten. Heinz Schiffler hätte sich selbst, ob dieser Tatsachen, ins Gesicht spucken können. Aber fünftausend EURO...
Der Gong zur zweiten Runde riss Heinz Schiffler aus seinen Gedanken. Erneut tat sich nichts Besonderes im Ring. Dennoch spürte Schiffler, dass er seinem jungen Gegner überlegen war. Überlegen in so vielen Belangen, dass er den Kampf hätte leicht für sich entscheiden können.
Schiffler suchte den Blick seines Kontrahenten. Der Deutsche zuckte unwillkürlich zusammen. Da stand unmissverständlich zu lesen: Natürlich bist du der bessere Boxer - aber denke an die vierte Runde...
Die dritte Runde schleppte sich dahin. Die ersten Pfiffe wurden laut. Man war mit dem Kampfgeschehen nicht zufrieden, hatte sich mehr versprochen.
Heinz Schiffler mochte an nichts mehr denken. Er hatte einfach abgeschaltet und vermied so, dass sein Gewissen sich regte.
Der Gong zur vierten Runde. Im Saal klangen die ersten abfälligen Bemerkungen auf.
Der junge Engländer, in der Erkenntnis, den Kampf sowieso gewonnen zu haben, griff stürmisch an. Heinz Schiffler fühlte die schwere Rechte seines Gegners. Sie kam mehrmals voll durch.
Schiffler steppte zur Seite - und lief in einen linken Aufwärtshaken. Vor Heinz Schifflers Augen tanzten Sterne. Er überlegte blitzschnell: Sollte er sich zu Boden fallen lassen? Dann war der Kampf vorbei und er hatte einen Abgang, wie sein Gegner ihn sich gewünscht hatte.
Heinz Schiffler taumelte. Dann sank er wie in Zeitlupe zu Boden.
Die Halle tobte. Sie hatte ihre Sensation. Der Favorit war geschlagen. Mehr konnte man für sein Eintrittsgeld nicht verlangen.
Der Ringrichter zählte monoton. An seinen zu Fäusten geballten Händen öffnete sich ein Finger nach dem anderen.
Heinz Schiffler hob den Kopf und blickte sich im Saal um. Die Menschen waren aufgesprungen, standen mit hochgerissenen Armen auf den Stühlen.
Schiffler war einen Moment lang verwirrt. Wo waren seine Freunde? Wo waren die, die immer zu ihm gehalten hatten? Auch dann, wenn er mal ganz unten war. Du bist ein Narr! Niemand steht hier auf deiner Seite.
Du befindest dich in London, nicht daheim und bist ganz allein auf dich angewiesen!
Die Gedanken schossen blitzschnell durch Heinz Schifflers Kopf. Der Boxer wollte resigniert das Aus des Ringrichters über sich ergehen lassen, als er im Saal einen Menschen erblickte, der ganz ruhig auf seinem Stuhl saß. Ein junger Mann, dessen Gesichtsausdruck Bedauern und Schmerz ausdrückte.
Heinz Schiffler kniff die Augen zusammen. Ein Schmerz durchraste seinen Körper. Dort in der dritten Reihe saß Toni, sein Sohn!
»...7...8...« Der Ringrichter wollte die Arme ausbreiten, um den Kampf abzubrechen, da stand Heinz Schiffler wieder auf den Beinen. Er konnte hier nicht k.o. gehen - nicht vor seinem Sohn! Sollte Klaus Böhme und Konsorten nachher reagieren wie sie wollten. Sollten sie doch die fünftausend EURO der Heilsarmee übergeben. Ihm, Heinz Schiffler, war das im Augenblick völlig egal!
Ohne Deckung ging Schiffler zum Angriff über. Beidhändig schlug er auf den jungen Engländer ein.
Dieser war durch die plötzliche Gegenwehr so überrascht, dass er völlig falsch reagierte. Er wollte mitmischen, wollte dem Deutschen zeigen, dass er einen würdigen Gegner abgab, auch wenn sich Schiffler nicht an die Absprache hielt.
Doch Heinz Schiffler spielte all das aus, was er sich in jahrelanger harter Trainingsarbeit erworben und was ihm schließlich auch die Europameisterschaft gebracht hatte.
Der junge Gegner konnte nur eine knappe Minute lang die gezielt geführten Schläge abblocken, dann erwischte er eine gestochene Gerade, die genau auf den Punkt traf. Wie vom Blitz gefällt stürzte das Nachwuchstalent in den Ringstaub.
Heinz Schiffler schaute in die dritte Reihe. Sein Sohn war aufgesprungen und führte einen regelrechten Freudentanz auf. Auch die übrige Halle war aus dem Häuschen. Es gehört zur Mentalität der Briten, echte Leistung anzuerkennen.
Jene, die vor Sekunden noch von ihrem Mann begeistert waren, schrieen sich jetzt wegen Heinz Schiffler die Kehle heiser.
»...8...9... aus!« Der Ringrichter, halb über den am Boden Liegenden gebeugt, breitete die Arme aus und erklärte somit den Kampf für beendet.
Erst jetzt wurde Heinz Schiffler die Tragweite seiner eigenen Handlung bewusst. Er warf einen Blick auf Klaus Böhme.
Böhme stand mit hochrotem Kopf am Ring. Mit einer Handbewegung gab er Schiffler zu verstehen, den Ring zu verlassen.
Heinz Schiffler drängte sich durch die in den Ring gekletterten Menschen. Der Deutsche wusste, was ihn erwartete!
*
Wenige Minuten später in der Kabine. Klaus Böhme hatte einige Helfershelfer mitgebracht. Finstere Typen, die für den Part, der ihnen bevorstand, bestens geeignet waren. Einen Halbkreis bildend, standen sie um den Boxer.
»Was hast du dir dabei gedacht?« hub Klaus Böhme an. In seinen Augen war eine Mischung aus Enttäuschung und Wut zu lesen. »Durch dich haben wir eine schöne Stange Geld verloren. Gibt es wenigstens eine vernünftige Erklärung für dein Verhalten?«
Das geht dich einen Dreck an, dachte Heinz Schiffler. Krampfhaft suchte er nach einem Ausweg, da der Ring um sich immer enger zog. In den Mienen der Schläger spiegelte sich satanische Freude. Solchen Kerlen bedeutete es eine Freude, einen ihnen überlegenen Mann mit ihrer Übermacht zu besiegen.
»Ich werde eure Verluste bis auf das letzte Pfund ersetzen.«
Heinz Schiffler wollte mit diesem Zugeständnis Zeit gewinnen.
Klaus Böhme lachte spöttisch.
»Sehr großzügig von dir. Aber da stehen einige zigtausend Pfund im Raum. Ein Betrag, der wohl über deine jetzigen Verhältnisse geht. - Kommen wir zur Sache!«
Böhme gab den anderen einen Wink. Geschlossen drangen sie auf Heinz Schiffler ein.
Schiffler wehrte sich mit dem Mut der Verzweiflung. Obwohl der vorausgegangene Kampf sehr viel Kraft gekostet hatte, gelang es ihm, zwei der fünf Gegner mit gezielten Schlägen auszuschalten. Dann aber waren sie über ihm! Der Rest war das brutale Zusammenschlagen eines wehrlosen Mannes. Das Ganze dauerte fünf Minuten, dann war Heinz Schiffler nur noch ein hilfloses Bündel Mensch, dem man Schmerzen zugefügt hatte. Zufrieden betrachteten die »Sieger« ihr Werk.
Einer wandte sich an Klaus Böhme.
»Der ist für die nächsten Stunden bedient. Wenn er zu sich kommt, werfen wir ihn in die Themse. Im bewusstlosen Zustand hat das für ihn und uns wenig Reiz.«
Der Sprecher ließ ein hässliches Lachen folgen, in das seine Kumpanen einstimmten. Klaus Böhme wandte sich von dem wenig erquicklichen Anblick des ehemaligen Freundes ab.
»In Ordnung«, knurrte er. »Der Kerl gehört euch. Tut mit ihm, was ihr wollt.«
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen. Ein breitschultriger Mann erschien. Wie angewurzelt blieb er stehen und erfasste die Szene, die sich vor ihm abspielte. Seine Halsschlagader schwoll an.
Die fünf Schläger wichen respektvoll zur Seite. Klaus Böhme war anzusehen, dass ihn das Auftauchen des Breitschultrigen nicht gerade erfreute.
»Seid ihr denn wahnsinnig?« dröhnte dieser mit Bassstimme. »Heinz Schiffler ist für mich ein Vermögen wert. Wenn er eure Behandlung nicht überlebt, befinden wir uns ab heute auf dem Kriegsfuß.« Klaus Böhme baute sich vor dem am Boden liegenden Boxer auf.
»Was willst du von ihm?« Böhmes Stimme überschlug sich. »Er ist mein Mann! Und er hat sich nicht an die Regeln gehalten. Was mit ihm geschieht, ist ganz allein meine Angelegenheit.«
Der Kräftige hob beschwichtigend die Hand. Mit einem Blick vergewisserte er sich, dass Heinz Schiffler noch unter den Lebenden weilte.
»Deine Aufregung ist umsonst, Böhme. Ich bin hier der Chef, vergiss das bitte nicht. Schiffler hat sich halt daneben benommen, was dich einen Batzen Geld kostet. Wenn du aber den Deutschen jetzt tot schlägst, ist dadurch nichts gewonnen. Überlass Heinz Schiffler mir! Du kannst dir durch diese Tat zehntausend Pfund verdienen.«
Klaus Böhmes Unterkiefer klappte nach unten. Fassungslos starrte er Stuart Freeman, den Veranstalter des Boxabends, an.
»Können Sie mir erklären, warum Sie so viel Geld für einen zusammengeschlagenen Boxer zum Fenster hinauswerfen? Jeder kennt Sie als einen finanzbewussten Mann. Und nun zehntausend Pfund... Wo steckt da der Pferdefuß?«
Stuart Freeman gab zu verstehen, dass Böhmes fünf "Assistenten" im Raum überflüssig waren.
Als die fünf gegangen waren, kümmerte sich Freeman um Heinz Schiffler, der gerade wieder das Bewusstsein erlangte.
»Sehr schön«, nickte der Veranstalter zufrieden. Er wandte sich an Böhme. »Ich kann Ihnen Ihre Frage beantworten. Mit den zehntausend Pfund ist alles abgegolten, was Sie investiert haben und was Schiffler Ihnen somit schuldet. Außerdem nehme ich Ihnen das Versprechen ab, dass Sie sich niemals mehr um Heinz Schiffler kümmern - egal was geschieht. Wie finden Sie mein Angebot?«
Klaus Böhme runzelte die Stirn. Seine Gedanken jagten sich. Er wusste mit Bestimmtheit, dass Stuart Freeman keine zehntausend Pfund sinnlos verschwendete - und schon gar nicht als wohltätigen Zweck für einen lebensbedrohten Boxer. Irgend etwas war an Heinz Schiffler, das diese zehntausend Pfund aufwog. Vielleicht benötigte Freeman einen schlagkräftigen Mann, den er als Leibwächter anstellte? Es war eine bekannte Tatsache, dass Freeman in dunklen Geschäften seine Finger hatte und dadurch manchen persönlichen Feind besaß. Böhme entschloss sich, nur zum Schein Freemans Angebot anzunehmen. Man würde schon weitersehen...
»Gut, ich bin einverstanden.« Der Boxpromotor tat, als fiele ihm die Entscheidung schwer. »Nehmen Sie sich Heinz Schiffler und verschwinden Sie mit ihm! Das Geld überweisen Sie auf mein Konto. Sie wissen...«
Damit war die Unterredung beendet. Sie hinterließ einen sehr nachdenklichen Klaus Böhme und einen Boxer, der sich aus guten Gründen nicht wohl in seiner zerschundenen Haut fühlte.
*
Er verließ das Gebäude kurz vor Mitternacht. Unentschlossen blieb er in der Tür stehen. Er lehnte sich gegen die Wand. Sein Blick wanderte die Straße entlang.
Nebel hatte sich gebildet. Die milchige Masse deckte alles zu. Nur hier und da durchbrach das helle Licht eines beleuchteten Schaufensters den weißen Dunst.
Heinz Schiffler griff sich an die Brust. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihn. Stöhnend ging der Mann zu Boden und setzte sich auf den Rand der Treppe. Er wollte seine Jacke aufknöpfen, um den Sitz des Verbandes zu überprüfen, als er Schritte vernahm. Sie näherten sich aus dem Nebel, strebten direkt auf ihn zu.
»Vater...?«
Heinz Schiffler hätte sich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen. Doch die Schmerzen, die seinen zerschundenen Körper peinigten, verhinderten sogar ein schnelles Aufstehen von der Treppe.
»Vater? Du brauchst dich nicht zu verstecken. Ich weiß, dass du hier bist.«
In Heinz Schiffler krampfte sich etwas zusammen, schnürte ihm die Brust zu, raubte ihm fast den Atem. Eine hohe Gestalt tauchte auf. Für die Zeit eines Lidschlages stockte ihr Schritt, dann trat sie zögernd näher. In der nächsten Sekunde lagen sich die Männer wortlos in den Armen. Keiner schämte sich seiner Tränen.
Toni Schiffler löste sich von seinem Vater. Seine Hände verkrampften sich. In seine Augen trat ein gefährliches Feuer.
»Wer hat dich so zugerichtet, Vater?« Die Frage war kurz und Heinz Schiffler zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Er kannte seinen Sohn. Viele Worte waren noch nie seine Stärke gewesen. Bei ihm lag Handeln an erster Stelle. Und genau das konnte er, Heinz Schiffler, im Moment überhaupt nicht gebrauchen.
»Es ist nichts«, versuchte Heinz Schiffler seinen Sohn zu beschwichtigen. »Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit Klaus Böhme - du kennst ihn. Es ging um meine Gage. Ich wollte zweitausend Pfund mehr für den Kampf. Du musst selbst zugeben, dass ich mich in hervorragender Verfassung vorgestellt habe und da sind zweitausend Pfund...«
Schweig, Vater!« fuhr Toni Schiffler dazwischen. »Ich erwarte von dir keine lange Geschichte, die im übrigen gelogen ist. Nenne mir die Namen derer, die dich zusammengeschlagen halben. Alles andere überlass mir.«
Heinz Schiffler lächelte schwach.
»Du bist schon in Ordnung, Toni. Aber das ist zu groß für dich. Ein einzelner Mann kämpft da gegen Windmühlen.«
Toni Schiffler zog seine Brieftasche hervor und reichte seinem Vater ein kleines Kärtchen.
»Du bist also Angestellter in einer Detektei«, stellte Heinz Schiffler nach einer Weile fest. »Ich freue mich zwar, dass du in London Fuß gefasst hast, aber auf mich bezogen nützt dir das sehr wenig.«
»Warten wir es ab«, entgegnete Toni und gab seinem Vater Hilfestellung, damit er sich besser von der Stelle fortbewegen konnte. »Ich bringe dich jetzt auf dein Hotelzimmer. Morgen früh bedarf es zwischen uns einer längeren Unterhaltung.«
*
Die Nacht hatte Toni Schiffler in seinem kleinen Apartment verbracht. Jetzt zeigte die Uhr auf sieben und der junge Mann war gerade dabei, das Frühstück einzunehmen.
Tonis Gedanken kreisten um seinen Vater. Vor einigen Wochen waren die Plakate aufgetaucht, die den Kampf um die Box-Europameisterschaft ankündigten. Den Namen Heinz Schiffler bei den Vorkämpfen zu finden, hatte bei Toni zuerst nur Freude ausgelöst. Dann aber waren ihm Bedenken gekommen. Man konnte es sich an den Fingern abzählen, das die Verpflichtung eines neununddreißigjährigen ehemaligen Box-Europameisters gewichtige Hintergründe hatte. Zumal der jugendliche Gegner kein großes boxerisches Talent besaß und seinen bisherigen Werdegang nur einem gewissen Klaus Böhme zu verdanken hatte.
Toni Schiffler schob bei dem Gedanken an den Boxpromotor wütend die Tasse zur Seite. Es war höchste Zeit, dass dem Ganeff bald jemand sein schmutziges Handwerk legte.
Toni Schiffler verließ sein Apartment eine halbe Stunde später. Bis zu dem Hotel, in dem sich sein Vater ein Zimmer genommen hatte, waren es mit dem Wagen keine fünf Minuten.
Toni zwängte sich in seinen Mini-Cooper. Um die Morgenstunde war der Verkehr noch nicht so dicht. So erreichte er schnell das City-Hotel und stellte seinen Wagen auf dem geräumigen Parkplatz ab, der sich neben dem sechsstöckigen Gebäude anschloss. Der Portier war in die Morgenzeitung vertieft. Erst nachdem sich Toni Schiffler mehrmals geräuspert hatte, senkte der Mann das Blatt. Missmutig schob er die Brille auf die Nase und musterte den jungen Mann durchdringend.
»Was wünschen Sie in aller Frühe? Die Dame in der Anmeldung kommt erst in einer Stunde. Sie können sich so lange in den Frühstücksraum setzen.«
Damit schien für den Portier die Angelegenheit abgeschlossen. Er vertiefte sich wieder in seine Zeitung.
Toni Schiffler kannte diese Art Menschen. Selbstverständlich hätte der Pförtner selbst eine Aufnahme machen können. Doch das würde Arbeit bedeuten - und das so früh am Morgen?
»Ich möchte Mr. Schiffler sprechen«, fasste Toni also nach. »Er hat vor zwei Tagen bei Ihnen ein Zimmer gebucht. Der Herr ist Deutscher und ich bin sein...«
»Ah!« Der Portier ließ die Arme so blitzschnell fallen, dass das Zeitungsblatt an einem Ende zerriss. Der Mann fluchte wie ein Reisender, dem der Zug vor der Nase weggefahren war. »Mr. Schiffler, Heinz Schiffler!« giftete der Portier. »Der war schon vor Stunden auf den Beinen. Er bestand darauf, dass ich ihm die Rechnung machen sollte - und das um fünf Uhr in der Nacht!«
Toni Schiffler erbleichte. Die Innenflächen seiner Hände wurden feucht. Was hatte das zu bedeuten? Log der Portier? Wenn nicht...
»Kann ich das Zimmer meines Vaters sehen?« Toni Schiffler versuchte, seine Stimme ruhig klingen zu lassen.
»Ihres Vaters?« echote der Portier. Er legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Dann heißen Sie Toni Schiffler?«
Der Deutsche nickte und reichte dem Portier seinen Ausweis. Der Mann prüfte ihn sorgfältig. Dann gab er ihn nieder zurück.
»Ihr Vater hat für Sie einen Brief hinterlassen. Einen Moment bitte.«
Der Portier drehte sich im Stuhl um und griff seitlich in ein Wandregal. Er benötigte einige Sekunden, dann hatte er scheinbar das Richtige gefunden. Er reichte Toni einen verschlossenen Umschlag.
Mit fliegenden Fingern öffnete der junge Mann das Kuvert. Ein mit Handschrift beschriebenes Blatt kam zum Vorschein. Toni Schiffler erkannte auf den ersten Blick, dass es die Schrift seines Vaters war.
"Lieber Toni, Du wirst mich am Morgen nicht mehr antreffen. Ich habe mich entschlossen, mit der ersten Maschine nach Hause zu fliegen. Es war die beste Lösung - für uns beide. Bitte setz Dich mit mir in den nächsten Wochen nicht in Verbindung. Zu gegebener Zeit werde ich mich an Dich wenden. Heinz Schiffler."
Toni las den Brief mehrmals. Er verstand den Sinn nicht. Warum hatte sich sein Vater so plötzlich zur Abreise entschlossen? Und wenn, wäre immer noch Zeit geblieben, ihn, Toni, zu verständigen.
»Welchen Eindruck hat mein Vater auf Sie gemacht, als er weg wollte?« fragte er den Portier.
Dieser kratzte sich am Kinn, was ein schabendes Geräusch ergab; eine Rasur hätte dem Gesicht des Portiers nicht geschadet.
»Etwas merkwürdig war das schon«, antwortete der Hotelangestellte in der Erinnerung. »Etwa gegen vier Uhr kam ein Anruf für Ihren Vater. Eine Viertelstunde später bat er mich, ihm die Rechnung zusammenzustellen.«
»Wissen Sie, wer meinen Vater anrief?«
Der Portier hob entrüstet die Hände.
»Was denken Sie von mir? Es ist mein oberstes Gebot...«
»Ist schon in Ordnung«, unterbrach Toni Schiffler die Beteuerung des Mannes. »Ich danke Ihnen für den Brief.«
Als Toni Schiffler an diesem Morgen zum zweiten Mal seinen Mini-Cooper bestieg, spürte er ein flaues Gefühl im Magen. Der junge Mann war fest davon überzeugt, dass die übereilte Abreise seines Vaters von irgendwoher gesteuert worden war. Toni dachte dabei an Klaus Böhme und wusste sogleich, dass es jetzt, nach Heinz Schifflers Abreise, für ihn noch schwerer, ja fast unmöglich, sein würde, an den Boxpromotor heranzukommen.
Toni Schiffler konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, was und wer alles im Spiel war. Noch weniger konnte der junge Mann wissen, dass er eine Schlüsselfigur in einem der schwierigsten Kriminalfälle werden würde, die Scotland Yard je beschäftigt hatte.
*
Inspektor Joe Santis nahm den Hörer ab und meldete sich. Sein Gesicht hellte sich auf.
»...Moment, ich nehme mir was zum Schreiben.« Santis klemmte die Muschel zwischen Kinn und Schulter und fischte sich Bleistift und Papier. Tex Harris, Sergeant bei Scotland Yard, musste über das Verhalten seines Chefs grienen. In der linken Hand balancierte der Inspektor einen Sandwich, daher dieses umständliche Getue.
Joe Santis machte sich einige Notizen. Dann legte er den Hörer zurück. Seine Miene spiegelte Zufriedenheit. »Wir..., das heißt ich habe die Möglichkeit, mich zu rehabilitieren«, wandte er sich an den Sergeanten. »Und damit ich nicht allein durch Nacht und Wind eile, hat man mir einen guten Mann zugeteilt - dich.«
Das Grinsen des Sergeanten gefror. Als müsste er in dem kleinen Büro des Inspektors die Befürchtung hegen, belauscht zu werden, blickte er sich sichernd um.
»Alle reden schon davon«, flüsterte er. »Man munkelt, Ihr dienstlicher Einsatz in den letzten Monaten sei von höchster Geheimhaltung. Haben Sie einen Bock geschossen, dass Sie ab heute in mir einen Aufpasser haben?« In Tex Harris' Augen blitzte der Schalk.
Joe Santis kannte den Sergeanten schon seit Jahren und wusste, was er von dem manchmal skurrilen Humor des Mannes zu halten hatte.
»Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen«, lachte der Inspektor. Ernster fuhr er fort: »Man hat deine Personalakte durchleuchtet bis zum Geht-nicht-mehr. Erst dann hat man dich auf meine dringende Bitte hin mir zugeteilt. Den Grad der Geheimhaltung kannst du dir an Hand dieser Fakten selbst ausrechnen.«
»Hm.« Tex Harris fand für den Moment keine Worte, was bei ihm absolut selten vorkam. Dann hatte er sich wieder gefasst. Er warf dem Inspektor einen dankbaren Blick zu.
»Ich weiß zwar nicht, womit ich solches Vertrauen verdient habe... Doch kann ich jetzt Einzelheiten erfahren?«
Inspektor Santis beglückwünschte sich im stillen für diesen Assistenten. Tex Harris war zwar mit einem gotterbärmlichen Mundwerk gesegnet, aber ansonsten ein Beamter, auf den man sich hundertprozentig verlassen konnte - und das auch in brenzligen Situationen.
Joe Santis warf dem Sergeanten den Dienstwagenschlüssel zu.
»Einzelheiten hörst du unterwegs. Du wirfst dich jetzt in deine Zivilklamotten. Bei dem Job, den wir beide ab heute ausüben, sind Uniformen verpönt. Ich erwarte dich in einer halben Stunde.« Der Inspektor deutete auf die Wagenschlüssel. »Sieh bitte unseren fahrbaren Untersatz vorher gründlich durch. Eine zweite Panne kann ich mir nicht leisten.«
Tex Harris kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wortlos wandte er sich um und wollte das Büro verlassen, als ihn sein Chef noch einmal zurückhielt.
»Tex, noch eine Frage. Wie lange arbeiten wir schon zusammen?«
Der Sergeant schürzte die Lippen.
»Ich denke so ungefähr zehn Jahre. Es könnten auch einige mehr sein.«
»Und um wie viel bist du älter als ich?«
Tex Harris wiegte mit dem Kopf.
»Um einiges. Was soll das Geschwafel?«
»Ab sofort unterlasse die förmliche Anrede. Meinen Vornamen kennst du ja wohl. - Keine Widerrede, das ist ein Befehl!«
Der Sergeant lief rot an wie ein kleiner Junge. Mit einigen Schritten war er bei seinem Chef und drückte ihm stumm die Hand.
Bevor Tex Harris die Tür hinter sich zudrückte, wandte er sich noch einmal um. Eine treffende Bemerkung konnte er sich zum Abschluss des Gesprächs nicht verkneifen:
»Das sind so die Methoden beim Yard. Man umschmeichelt seine Untergebenen im richtigen Moment, um sie dann bei Gelegenheit die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen.«
Eine vorbeieilende Sekretärin wunderte sich über das schallende Gelächter der beiden Männer.
*
Sie saßen im Wagen. Schon seit einer Stunde warteten sie auf Paul Katzmann. Wie sie von Dan Burke wussten, hatte Katzmann um siebzehn Uhr Feierabend. Burke hatte aber vorsorglich eingeräumt, dass es etwas später werden könnte; das Tagespensum eines Wissenschaftlers sei nicht in ein zeitliches Schema zu pressen.
Inspektor Santis schob sich die wievielte Zigarette zwischen die Lippen. Seine Finger zitterten leicht, als er sie anzündete.
Tex Harris durchbohrte seinen Chef mit einem missfallenden Blick.
»Ich komme mir vor wie in einer Räucherkammer«, brummte er. »Wenn ich gegart und genießbar bin, gebe ich Ihnen, äh dir, Bescheid.«
Joe Santis ließ einen ellenlangen Fluch vom Stapel. Dann drückte er den Glimmstängel im Ascher aus.
»Du hast gut reden, als Nichtraucher«, raunzte er. »Wenn dein Nervenkostüm meins wäre, könnte ich auf den blauen Dunst leichter verzichten.«
»Warum so nervös, Inspektor?« tönte Harris. »Irgendwann wird unser Kunde schon auftauchen. Der Mann ist schließlich stark beschäftigt. Wer täglich nach dem Stein der Weisen sucht...«
»Halt den Mund«, stoppte Joe Santis die wiedergewonnene Schlagfertigkeit seines Assistenten. »Vielleicht hat Paul Katzmann Verdacht geschöpft? Wir müssen mit allem rechnen.«
Tex Harris ließ sich in den Sitz zurückfallen. Nachdenklich schüttelte er den Kopf.
»Ich begreife dich nicht ganz. Es gibt keinen einzigen handfesten Beweis dafür, dass Katzmann und Bridges mit einem Außenstehenden Verbindung aufgenommen haben und somit einen unberechenbaren Sicherheitsfaktor bilden.«
»Denke bitte an den Abend, an dem beide ihre sogenannte Freundin besuchten. Meinen Bericht darüber hast du gehört«, warf der Inspektor ein.
Harris wehrte ab.
»Das ist eine Woche her. Inzwischen wissen wir, dass weder Katzmann noch Bridges einen Einwand erhoben, als man ihnen mitteilte, dass sich der gesamte siebenköpfige Forscherstab aus Sicherheitsgründen einer einwöchigen Quarantäne in den unteren Laborräumen unterziehen müsse.«
Joe Santis hob die Schulter.
»Ich stimme dir voll und ganz zu, Tex. Aber ich habe meine Befehle. Die oben sind ganz aus dem Häuschen geraten. Ich bin sicher, da im Labor läuft ein dickes Ding, von dem wir nur einen winzigen Zipfel mitbekommen.«
Der Inspektor deutete mit der Hand nach vorn. »Da sind Paul Katzmann und Jim Bridges. Wir warten, bis beide in ihren Wagen sitzen und heften uns dann an Katzmanns Fersen. Diesmal entwischt mir der Mann nicht.« Das klang wie ein Schwur.
Tex Harris, der den Dienstwagen lenkte, wedelte den letzten Rest Zigarettenrauch zum Fenster hinaus und kurbelte es hoch.
»Die beiden Wissenschaftler scheinen sich während der Quarantäne prächtig erholt zu haben«, stellte Harris mit einem Blick auf Katzmann und dessen Kollegen fest.
Die Wissenschaftler verabschiedeten sich voneinander.
Die Dunkelheit brach bereits herein, als Tex Harris und Inspektor Santis die Verfolgung von Paul Katzmann aufnahmen.
Der Rover vor ihnen fuhr zuerst die Kensington High Street entlang in Richtung City. Dann bog er plötzlich ab und erreichte über einige Nebenstraßen das Nordende der Stadt.
Tex hatte einige Mühe, es mit Katzmanns zügiger Fahrweise aufzunehmen. Jetzt lag vor ihnen die Nationalstraße A1. Sie war zwar um diese Zeit ziemlich befahren, doch kamen sie gut voran.
Das Licht der Scheinwerfer zerrte den vor ihnen fahrenden Rover aus der Dunkelheit. Der Abstand betrug kontinuierlich etwa zwanzig Yards.
Joe Santis registrierte die Geschehnisse der letzten Stunde mit offensichtlicher Genugtuung. Er hatte die Entscheidung getroffen, dass am heutigen Tag Paul Katzmann zu überwachen sei. Und bisher hatte das Verhalten des Wissenschaftlers des Inspektors Misstrauen begründet. Die Richtung, in die Katzmann fuhr, war alles andere als die zu seiner Wohnung, welche sich im Westend befand.
Das Fahrzeug vor ihnen beschleunigte. Der Abstand vergrößerte sich zusehends.
Tex Harris trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch.
Die Tachonadel kletterte auf neunzig Meilen, blieb dort zitternd stehen.
»Schneller!« forderte der Inspektor.
Seine Augen bohrten sich in die Finsternis, um die beiden Rücklichter vor ihnen nicht aus der Sicht zu verlieren.
»Du hast gut reden«, knurrte sein Sergeant, ohne den Blick von der Fahrbahn zu wenden. »Unser Ford gibt schon sein Letztes her. Mit einem Rennwagen wäre uns halt im Moment besser gedient. Glaubst du, der Bursche vor uns hat mitgekriegt, dass wir hinter ihm her sind?«
»Mit Sicherheit!« Joe Santis zog sein Taschentuch und wischte sich über die schweißnasse Stirn. »Gnade uns der Himmel, wenn uns Katzmann durch die Lappen geht.«
»Meine Worte«, pflichtete ihm der Sergeant bei. »Ein schrecklicher Gedanke. Joe Santis und Tex Harris als Verkehrspolizisten bei der Stadtpolizei...!«
Mittlerweile führte die Jagd immer weiter aus London hinaus. Da um diese frühe Abendstunde meistens Pendler unterwegs waren, die nach Feierabend ihre Wohnung am Rande der Stadt aufsuchten, wurde die Verkehrsdichte immer geringer, je weiter sie sich von der Stadt entfernten.
Stellenweise kam Nebel auf. Mit unverminderter Geschwindigkeit rasten die beiden Fahrzeuge in die weißen Dunstbänke hinein, wurden von ihnen verschluckt und nach einigen Yards wieder ausgespieen.
»Wahnsinn«, raunte der Inspektor. »Absoluter Wahnsinn!«
Joe Santis' Gesicht glich einer Kalkmaske. Mit vorgeschobenem Oberkörper, die Hände um den Haltegriff am Handschuhkasten verkrampft, hockte er neben Harris.
Den Sergeanten ritt der Teufel. In einem Irrsinnstempo hatte er den Rover des Wissenschaftlers eingeholt und setzte zum Überholmanöver an.
Der Gegenverkehr bewegte sich zwar auf der Nebenspur; sie war jedoch durch einen Grünstreifen von dieser Bahn getrennt. Dennoch war die Handlungsweise des Sergeanten mehr als gefährlich. Ein Hindernis hätte fatale Folgen gehabt.
»In Ordnung«, billigte der Inspektor die Fahrweise seines Assistenten. »Stopp diesen Irrsinnigen! Ich bin gespannt, wie sich der Mann aus der Affäre ziehen will. Um eine Ausrede ist Katzmann bestimmt nicht verlegen. Außerdem würde er uns doch nicht an sein ursprüngliches Ziel führen, da er uns schon seit einiger Zeit hinter sich weiß.«
Langsam schob sich Tex Harris immer dichter an den Rover heran. Nebelfetzen wirbelten vor der Windschutzscheibe. Das Licht der Scheinwerfer verpuffte fast gänzlich in der weißen Masse, die über der Straße lagerte.
Jetzt lagen die Fahrzeuge auf gleicher Höhe. Joe Santis wischte mit der Handfläche die Nässe von der Scheibe und lugte hinüber zum Rover.
Es durchzuckte den Inspektor, als hätte ihm jemand einen elektrischen Schlag versetzt.
Paul Katzmann saß mit vorgebeugtem Oberkörper am Lenkrad. Sein Gesicht war zu einer entsetzlichen Fratze verzerrt. Die Augen...!
Sie starrten den Inspektor an. Etwas ungeheuer Böses glomm in ihnen auf. Und jetzt - Santis registrierte es mit Schrecken - begannen sie zu glühen.
In diesem Augenblick geschah etwas Unvorhergesehenes. Katzmanns Wagen scherte plötzlich aus.
Joe Santis erkannte, wie Paul Katzmann am Lenkrad arbeitete. Das Gesicht des Wissenschaftlers hatte sich zu einem höhnischen Grinsen verzogen. Dann lachte der Mann. Lachte so laut, dass der Yard-Mann vermeinte, es in seinen Ohren schallen zu hören.
Tex Harris reagierte ohne Schrecksekunde auf Paul Katzmanns Wahnsinnstat. Der Sergeant brachte den Wagen nach rechts, ganz dicht an den Mittelstreifen heran.
Sekundenlang rasten die Fahrzeuge nebeneinander her, wobei Paul Katzmanns Stoßstange sich unaufhörlich, mit nervenaufreibender Präzision, dem linken Kotflügel des Yard-Wagens näherte.
»Der Kerl ist verrückt!« schrie der Inspektor seine Angst hinaus. »Er bringt uns um!«
Tex Harris dagegen war die Ruhe in Person. Über das Gesicht des Sergeanten huschte sogar der Anflug eines Lächelns.
Er nahm den Fuß vom Gaspedal und betätigte vorsichtig die Bremse. Der Wagen verringerte geringfügig seine Geschwindigkeit.
In diesem Augenblick riss der Nebel auf. Die Sicht wurde frei. Das Folgende spielte sich innerhalb weniger Sekunden ab.
Paul Katzmann riskierte zuviel. Mit einem schnellen Rammmanöver wollte er den zurückweichenden Wagen der Yard-Beamten erwischen. Doch der Lenkradeinschlag war zu extrem. Der Rover brach mit quietschenden Reifen aus.
Verzweifelt versuchte Katzmann, die Herrschaft über das Fahrzeug zurückzugewinnen. Es gelang ihm nicht.
Der Wagen schlitterte quer über die Fahrbahn.
Aus der Dunkelheit tauchten die Umrisse einer Brücke auf. Wie ein Geschoss raste der Rover auf einen Betonpfeiler zu.
Ein letztes Drehen des Wagens.
Der Aufprall.
Eine Bombe schien zu detonieren. Metall barst. Glas splitterte. Einzelne Wagenteile wurden weggerissen, landeten weitab im freien Feld.
Dann, nach Sekunden, herrschte Stille. Eine Stille, die in den Ohren schmerzte.
Doch noch war das Chaos nicht beendet.
Eine Stichflamme schoss aus den Überresten des Rovers. Gierig fraßen sich die Flammen weiter. Nicht lange und die Luft über dem Wrack war rauchgeschwängert.
In den Gesichtern von Joe Santis und Tex Harris spie gelte sich das Grauen. Erst jetzt wurde den Yard-Beamten bewusst, was eigentlich geschehen war: Paul Katzmann hatte sich mit voller Absicht überholen lassen, um sich dann mit beispielloser Rücksichtslosigkeit seiner Verfolger zu entledigen. Dass der Wissenschaftler dabei selbst den Tod gefunden hatte, mochte man nun als eine Art Fügung ansehen.
»Sieh dir die Unfallstelle genau an«, sagte Inspektor Santis nach einer Weile mit belegter Stimme. »Ich verständige inzwischen über Funk die Kollegen.«
Tex Harris nickte. Er öffnete die Wagentür. »Ich werde versuchen, zu löschen. Allerdings...«
Der Sergeant näherte sich dem brennenden Rover. Als er nahe genug heran war, setzte er den Feuerlöscher ein. Die Schaumfontäne ergoss sich in die Glut. Sie verpuffte fast wirkungslos. Man hätte genauso gut versuchen können, eine brennende Scheune mit einem Eimer Wasser zu löschen. Der Effekt wäre der gleiche.
Eine unerträgliche Hitze schlug dem Sergeanten entgegen. Sie raubte ihm fast den Atem. Er wandte den Kopf, um frische Luft in seine Lungen zu pumpen.
Da!
Ein schepperndes Geräusch drang aus den Flammen. Es hörte sich an, als läge jemand eingeklemmt und versuchte nun, sich mit Gewalt frei zu arbeiten.
Dem Sergeanten sträubten sich die Nackenhaare. Was er hörte, konnte nicht sein! Aus diesem Inferno gab es kein Entrinnen!
Tex wich zurück, obwohl es seine verdammte Pflicht gewesen wäre, dem Menschen zu helfen, der da versuchte, der Hölle zu entrinnen.
Mensch?
Der Sergeant fühlte ein würgendes Gefühl im Magen.
Niemand konnte einen solchen Unfall überleben. Da gab es keine Zweifel. War Paul Katzmann vielleicht...?
Harris schalt sich einen Narren. Anstatt seine Arbeit zu verrichten, sah er hier Gespenster. Das Geräusch war ganz natürlichen Ursprungs. Er war einer Einbildung erlegen.
Tex wollte erneut den Feuerlöscher einsetzen.
Er erstarrte. Eine Hand hatte sich auf seine Schulter gelegt! Eine Hand, die eine ungeheure Hitze ausstrahlte. Tex Harris verspürte es durch die Jacke auf der Haut.
Wie in Trance drehte sich der Yard-Beamte um. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Der Feuerlöscher in seiner Hand polterte auf den Ackerboden. Zischend entwich ein Strahl Löschschaum dem Ventil.
Der Sergeant hatte keine Augen dafür. Für ihn drehte sich in diesem Augenblick die Welt im Kreise. Sie wirbelte um ihn herum. Bislang hatte er nie an übernatürliche Dinge geglaubt. Sie waren ihm nicht einmal eine Diskussion wert. Und nun stand - Paul Katzmann - völlig unbeschadet vor ihm!
Nur die Kleider des Wissenschaftlers waren verbrannt. Die Haut, die durchschimmerte, war unversehrt.
»Ist Ihnen nicht gut, Sergeant? Sie schauen verstört drein.«
Paul Katzmanns Stimme klang unnatürlich hell, jedenfalls kam es Tex Harris so vor.
Tex deutete mit einer hilflos anmutenden Geste auf den brennenden Wagen.
»Ich - ich dachte...«
Dann fiel ihm ein, wie es zu dem Unfall gekommen war. Empörung und Wut über Paul Katzmann verdrängten das ungute Gefühl in ihm. Tex Harris war jetzt nur noch Polizist, dessen Aufgabe es war, den Mann vor ihm zu verhaften.
»Ich stehe Ihnen selbstverständlich zur Verfügung.« Paul Katzmann schien die Gedanken seines Gegenüber erraten zu haben. Ein spöttisches Lächeln spielte um seinen Mund.
Tex Harris machte eine unwirsche Handbewegung.
»Warten Sie hier!« befahl er. »Ich werde den Inspektor holen. Er wird sich mit Ihnen befassen.«
*
Joe Santis war gerade dabei, den Dienstwagen etwas abseits ins Gelände zu fahren. Als er den atemlosen Bericht seines Assistenten vernommen hatte, schüttelte er ungläubig den Kopf. Er starrte den Sergeanten an, als zweifelte er an dessen Verstand.
»Bist du sicher, dass es Paul Katzmann ist? Nach den Ereignissen der letzten Stunde wäre es doch möglich, dass du...«
Die Skepsis seines Chefs machte Tex Harris ganz unwirsch. Er wandte sich kurz entschlossen um und ging zurück zu der Unfallstelle. Der Inspektor folgte ihm neugierig.
Was sie dort erwartete, traf vor allem den Sergeanten wie ein Schlag. Paul Katzmann war spurlos verschwunden! Auch die sofort gestartete Suchaktion, an der sich später auch die eintreffenden Verkehrspolizisten beteiligten, blieb erfolglos.
Erst spät in der Nacht kamen Joe Santis und Tex Harris zurück zum Yard. In den Gesichtern der beiden Männer zeichneten sich die Strapazen des Tages ab. Außerdem stand beiden schon jetzt das Donnerwetter bevor, das ihnen der morgige Tag bringen würde.
*
Superintendent Richard Holden betrachtete schweigend die Bilder von der Unfallstelle. Die steile Falte auf der Stirn des Mannes vertiefte sich immer bedrohlicher. Nachdem er die Fotos auf den Schreibtisch zurückgelegt hatte, musterte er Tex Harris mit einem durchdringenden Blick.
»Tex, ich kenne Sie nicht erst seit gestern«, grollte Richard Holden. »Wenn mir ein anderer ein solches Märchen aufgetischt hätte..., ich würde ihn zum Teufel jagen. Bei Ihnen aber muss ich mich ernsthaft fragen, ob ich Sie nicht zum nächsten Psychiater schicken soll.« Holden hob die Stimme. »Der könnte Ihnen vielleicht klarmachen, dass es auf unserer Erde keine Gespenster gibt! Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«
Im Büro des Superintendenten herrschte betretenes Schweigen. Anwesend waren Inspektor Santis und Dan Burke, der Wissenschaftler.
Der Sergeant starrte auf einen imaginären Punkt, der irgendwo hinter Richard Holden lag - offensichtlich, um innerlich zur Ruhe zu kommen. Dann sagte er beherrscht und gelassen:
»Ich habe Sie sehr gut verstanden, Mr. Holden. Aber es tut mir leid. Ich kann nur berichten, was ich selbst gesehen habe. Paul Katzmann stand quicklebendig vor mir. Wenn Sie aus meiner Schilderung einen falschen Schluss ziehen, ist das Ihre Sache.«
Das saß. Superintendent Richard Holden musste dreimal schlucken, um die Pille zu verdauen. Gleichzeitig sah er sich wieder einmal in seiner Meinung über den Sergeanten bestätigt. Tex Harris war ein Beamter, der auch dann zu seinem Wort stand, wenn es für ihn einmal unangenehm wurde. Mit anderen Worten, Harris war ein hervorragender Mann. Nur musste man sich als Vorgesetzter hüten, ihm das zu sagen.
»Gut«, lenkte der Super ein und schaute auf seine Armbanduhr. »Warten wir, bis Pete Hawkins eingetroffen ist. Der Regierungsmann hat darauf bestanden, über jeden unserer Schritte sofort informiert zu werden.« Richard Holden stieß einen Seufzer aus. »Ganz oben müsste man sein. Während uns in der letzten Woche die Köpfe rauchten, hat sich Pete Hawkins derweilen einen Skiurlaub gegönnt. Und nun brennt es ihm natürlich auf den Fingern - äh, unter den Nägeln...«
Nach einer Stunde war auf Anraten von Hawkins - er war inzwischen eingetroffen - eine Entscheidung gefallen. Jeder zur Verfügung stehende Polizist in London sollte eingesetzt werden, um nach Paul Katzmann zu suchen.
*
Es war dunkel. Vor ihm tauchte eine belebte Straße auf. Der Mann schritt darauf zu, ließ so den Waldweg hinter sich, dem er seit einer halben Stunde gefolgt war. Oft war er über herumliegende Äste gestolpert, hatte sich fast in der Finsternis in einem Schlagloch die Knochen gebrochen. Glücklicherweise hatte er den Marsch heil überstanden. Wenn nur nicht...
Er erreichte die Straße. Autos mit abgeblendeten Scheinwerfern rasten an ihm vorbei. Motorengeräusch schwoll an, wurde schwächer, verlor sich in der Dunkelheit.
Die Gedanken des Mannes bewegten sich im Kreis. Er versuchte, einen Anhaltspunkt zu finden. Aber so sehr er auch überlegte, er wusste nicht, wie er in diesen Wald gekommen war. In seinem Kopf war Leere. Er konnte sich absolut nicht darauf besinnen, wie er in diese Situation geraten war.
Es war grotesk. Man erwacht wie aus einem Traum und findet sich in einer Gegend wieder, die man zuvor noch nie betreten hatte. Jedenfalls soweit das sich in der Nacht feststellen ließ. Damit aber nicht genug, man hat auch noch das unbestimmte Gefühl, dass irgend etwas Schreckliches passiert sei, etwas, das nicht wieder gutzumachen wäre.
Am Straßenrand näherte sich der suchende Schein einer Stablampe. Schritte wurden laut. Ein Hund bellte. Der Mann wich unwillkürlich zurück. Angst bemächtigte sich seiner. Angst, die ihn fast lähmte. Was wollten die von ihm? War denen bekannt, dass er sich hier aufhielt? Fragen, auf die er keine Antwort fand.
Aus der Dunkelheit tauchte ein mächtiger Schatten auf. Eine englische Dogge. Ein Befehl an das Tier klang auf. Der Hund gehorchte sofort. Hechelnd setzte er sich nieder, ließ dabei den Fremden keinen Lidschlag lang aus den Augen.
Der Fremde wagte sich nicht zu bewegen. Eine tiefe Resignation erfüllte ihn. Sollten sie mit ihm doch tun, was sie wollten. Er hatte nicht die Kraft, sich zu wehren.
»Sie wollten mich sprechen? Was kann ich für Sie tun?«
Die Lampe leuchtete dem Mann ins Gesicht. Er schloss geblendet die Augen. Er verstand gar nichts mehr. Wen wollte er sprechen? Er kannte hier niemanden. Irgend jemand musste sich einen makabren Scherz mit ihm erlaubt haben.
»Ich - ich kenne Sie nicht. Können Sie mir sagen, wo wir uns befinden? Und nehmen Sie bitte den Hund an die Leine.«
Sein Gegenüber brummte etwas von Unverschämtheit, dann gab er der Dogge einen Befehl. Sie erhob sich und trottete zur Seite.