Gelassenheit durch Auflösung innerer Konflikte - Angelika C. Wagner - E-Book

Gelassenheit durch Auflösung innerer Konflikte E-Book

Angelika C. Wagner

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Beschreibung

Dieses Standardwerk zur Introvision zeigt auf der Basis wissenschaftlicher Ergebnisse detailliert und anhand von vielen Praxisbeispielen, wie man lernen kann, beispielsweise Ängste und Aggressionen ebenso wie mentale Blockaden und innere Konflikte aufzulösen, um so auch in schwierigen Situationen gelassen und handlungsfähig zu bleiben. Die Autorin ist die Leiterin des Langzeitforschungsprogramms, in dem die Introvision als eine neue Methode der mentalen Selbstregulation entwickelt und empirisch untersucht wurde. Dieses Standardwerk wird inzwischen vielfach in Aus- und Weiterbildungsseminaren eingesetzt und wurde - unter Einbeziehung neuester Untersuchungsergebnisse - erneut überarbeitet und aktualisiert.

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Die Autorin

Univ.-Prof. Angelika C. Wagner, Ph.D. (University of Michigan), ist emeritierte Professorin für Pädagogische Psychologie an der Universität Hamburg. Sie ist die Begründerin der Methode der Introvision. Sie leitet seit über 40 Jahren ein Langzeitforschungsprogramm zur Entstehung und Auflösung innerer Konflikte in der mentalen Selbstregulation. Die Introvision ist ihr Lebenswerk. Sie ist außerdem die Erstautorin des Praxisbuchs »Introvision. Problemen gelassen ins Auge schauen. Eine Einführung« (zus. mit R. Kosuch und T.A. Iwers, 2020, 2. Aufl.).

Angelika C. Wagner

Gelassenheit durch Auflösung innerer Konflikte

Mentale Selbstregulation und Introvision

3., überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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3. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034170-8

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-034171-5

epub:     ISBN 978-3-17-034172-2

 

Inhalt

 

 

 

Vorwort zur ersten Auflage

Vorwort zur dritten Auflage

Danksagungen

1     Einleitung

1.1    Zwischen Gelassenheit und Panik: das Psychotonusmodell

1.1.1 Gelassenheit

1.1.2 »Was es zu erklären gilt«: das Psychotonusmodell unterschiedlicher mentaler Zustände

1.1.3 Die einzelnen Stufen der Psychotonusskala (PT)

1.2    Gelassener werden durch Introvision: eine einführende Übersicht

1.2.1 Den Kopf wieder freibekommen: Zur Vorbereitung: »Pakete packen« als Anfänger-Übung

1.2.2 Mentale Entspannung im Alltag: das Konstatierende Aufmerksame Wahrnehmen (KAW)

1.2.3 Die Methode der Introvision

1.2.4 Blitzintrovision

1.3    Forschung zur Introvision

1.3.1 Innere Konflikte

1.3.2 Introvision

1.3.3 Die Entwicklung der Theorie der Mentalen Introferenz

1.3.4 Wirksamkeit von Introvision

1.4    Das »Theorem der dicken Klöpse« und eine Übersicht über den Inhalt des Buchs

1.5    Zusammenfassung

2     »Wie entsteht Gelassenheit?« Die Theorie der Mentalen Introferenz (TMI)

2.1    Zum Stand der Forschung: Theorien zur Entstehung von Gelassenheit und Konflikt

2.2    Eine kurze einführende Übersicht über die Theorie der mentalen Introferenz

2.2.1 Die Entwicklung der Theorie der mentalen Introferenz

2.2.2 Eine kurze Übersicht über Grundbegriffe der TMI

2.3    »Die stille See und das erste leichte Kräuseln der Wasseroberfläche«: der Prozess des primären Eingreifens

2.3.1 Der Wanderer: ein Gedankenexperiment

2.3.2 »Worin introferent eingegriffen wird«: die epistemische Intelligenz des Menschen

2.3.3 »Was beim primären Eingreifen überschrieben wird« kognitive Fehlstellen (Defaults): Leerstellen, Widersprüche, Inkongruenzen, Diskrepanzen

2.3.4 Das »Wie« des primären Eingreifens

2.4    Habitualisierung und Automatisierung des introferenten Eingreifens

2.5    Sekundäre Introferenz, oder »Wie die Wellen größer werden«

2.6    Auswirkungen introferenter Kognitionen auf die menschliche Informationsverarbeitung – ein kurzer Ausblick

2.7    Das »Auge des Wirbelsturms« und wie der Wirbelsturm sich wieder beruhigt: das KAW als die Grundlage der Introvision

2.8    Zusammenfassung

3     Konstatierendes Aufmerksames Wahrnehmen (KAW) – ein Zustand des Nichteingreifens

3.1    Grundlagen und Merkmale des Konstatierenden Aufmerksamen Wahrnehmens

3.2    Vier KAW-Übungen

3.2.1 KAW-Übung I: »Konstatieren«

3.2.2 KAW-Übung II: Weit- und Engstellen

3.2.3 KAW-Übung III: Weitgestellt mit konstantem Fokus

3.2.4 KAW-Übung IV: Das Zentrum des Angenehmen oder des Unangenehmen

3.3    Die Praxis des KAW

3.3.1 Hinweise zum Üben des KAW

3.3.2 Längerfristige Auswirkungen der KAW-Übungen: Erfahrungsberichte

3.4    KAW für Fortgeschrittene: KAW-Anwendungen im Alltag

3.4.1 KAW-Anwendung 1: Den Kopf frei bekommen: integrierendes KAW oder der »mentale Screenshot«

3.4.2 KAW-Anwendung 2: »Und wo, bitte schön, bleibt das Positive?« Sich in etwas Gutes, Angenehmes, Schönes vertiefen ohne Unangenehmes auszublenden

3.4.3 KAW-Anwendung 3: Die Lösung sachlicher Probleme, oder: das epistemische System arbeiten lassen, ohne bewusst introferent einzugreifen

3.4.4 KAW-Anwendung 4: Mehr über den Prozess des introferenten Eingreifens erfahren: sich selbst beim introferenten Eingreifen zuschauen

3.4.5 KAW-Anwendung 5: KAW auf den Prozess des Sich Imperierens

3.4.6 KAW-Anwendung 6: »KAW auf alles« oder multimodales KAW

3.4.7 KAW-Anwendung 7: »KAW auf KAW«

3.4.8 »Choiceless awareness«

3.5    KAW im Vergleich mit anderen Verfahren

3.6    Zusammenfassung

4     Den Kern eines akuten Konflikts finden: die erste Phase der Introvision. Die Theorie Subjektiver Imperative (TSI)

4.1    Allgemeines über Konflikte

4.2    Ausgangspunkt: »Was geht Ihnen in der jeweiligen Situation durch den Kopf?«

4.3    Imperativische Sollvorstellungen – die imperierte Selbstanweisung: »Gib diese Sollvorstellung nicht auf!«

4.4    Imperativverletzungskonflikte (IVK)

4.4.1 Realitätskonflikte: »Die Wirklichkeit ist nicht so, wie sie sein müsste«

4.4.2 Imperativkonflikte: »Es muss sein, es darf nicht sein«

4.4.3 Undurchführbarkeitskonflikte: »Es muss sein, dass …, aber es geht nicht«

4.4.4 Konflikt-Konflikte: »In Konflikt mit dem eigenen Konflikt«

4.4.5 Der gemeinsame Kern des Imperativ-Verletzungskonflikts: eine unauflösbare Diskrepanz

4.4.6 Die Theorie Subjektiver Imperative als Meta-Theorie der mentalen Selbstregulation

4.5    »Was daran ist das Zentrum des Unangenehmen?« Die Tiefenstruktur imperativischer Vorstellungen explorieren

4.5.1 Imperativketten und Kernimperative

4.5.2 Imperativbäume

4.5.3 Fazit: Introvision bedeutet aufzuhören, die epistemische Kern-Subkognition introferent wegzuschieben

4.6    In akute Konflikte sekundär eingreifen: Konfliktumgehungsstrategien (KUS)

4.6.1 Das Kategoriensystem zur Erfassung von Konfliktumgehungsstrategien (KUS-R)

4.6.2 Konfliktumgehungsstrategien als Teillösungsstrategien

4.7    Zusammenfassung

5     Die Durchführung der Introvision zur Auflösung eines Konfliktes

5.1    Der Ablauf eines Introvisionsberatungsgesprächs

5.1.1 Einführung

5.1.2 Phase 1: Die dem Konflikt unterliegende Subkognition (SK) finden

5.1.3 Phase 2: Die Subkognition ein Weilchen aufmerksam konstatierend wahrnehmen

5.1.4 Abschlussphase des Beratungsgesprächs

5.2    Auswirkungen der Introvision

5.2.1 Unmittelbare Auswirkungen während des KAW

5.2.2 Merkmale einer erfolgreichen Konfliktauflösung

5.3    Blitzintrovision

5.4    Zur Wirksamkeit des KAW im Rahmen der Introvision: einige neuere hirnphysiologische Ergebnisse

5.5    Vergleich von KAW und Introvision mit anderen Verfahren

5.6    Zusammenfassung

6     Die Anwendung der Introvision in der Praxis

6.1    Anwendungsfelder

6.1.1 Größere Gelassenheit in Alltagssituationen

6.1.2 Lernen und Lehren

6.1.3 Beruf und Arbeit

6.1.4 Körperliche Beschwerden (Schmerzen, Juckreiz, Tinnitus)

6.1.5 Sucht

6.1.6 Sport und Musik

6.1.7 Spiritualität

6.2    Anwendungsbeispiele

Fazit

6.3    Zusammenfassung

7     Das Introferenzmodell der mentalen Selbstregulation: Grundlagen der TMI, Willensfreiheit und Emotionen

7.1    Philosophische Grundlagen

7.1.1 Was heißt hier mental? Über Materie, Energie und Information

7.1.2 Weshalb ist es notwendig, mentale Prozesse zu regulieren?

7.2    Zusammenfassung: das Introferenzmodell der mentalen Selbstregulation

7.2.1 Der Begriff der Selbstregulation

7.2.2 Das Introferenzmodell der mentalen Selbstregulation

7.3    Das Problem der Willensfreiheit und das Libet-Experiment

7.4    Gefühle und Emotionen als »Farben der Seele«

7.5    Die Entstehung unterschiedlicher psychotonischer Zustände

7.6    Zusammenfassung

8     Zusammenfassung

Anmerkungen

Literatur

Anhang

Grundkurs: Einführung in mentale Selbstregulation durch -Introvision

KAW-Tagebuch

Eine kurze Erläuterung zur Unterscheidung quasi- und kontra-epistemischer introferenter Kognitionen

Glossar und Abkürzungen

Personenverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Beispielverzeichnis

 

Vorwort zur ersten Auflage

 

 

 

Wie entsteht Gelassenheit? Wieso drehen sich die Gedanken bei akuten Konflikten endlos im Kreis? Wie lässt sich die Entstehung unterschiedliche Bewusstseinszustände – von tiefer innerer Ruhe bis hin zu Angst, Ärger, Panik – erklären? Und vor allem – was lässt sich praktisch tun, um solche Zustände wieder zu verändern, also beispielsweise einen Konflikt aufzulösen und innerlich wieder zur Ruhe zu kommen?

Um diese Fragen geht es in dem hier vorliegenden Buch. Wann immer wir in den letzten Jahren Bekannten, Freunden, Studierenden und Klienten von unserer Forschungsarbeit erzählt haben, erwiderten diese unisono: »Ja, mehr Gelassenheit könnte ich auch gebrauchen – und wie bekommt man die?«

In diesem Buch geht es um eine – zugegebenermaßen lange – Antwort auf diese kurze Frage. Grundlage dafür sind die Ergebnisse eines Langzeitforschungsprogramms zur Entstehung und Auflösung innerer Konflikte unter der Leitung der Verfasserin; zunächst an der Pädagogischen Hochschule Reutlingen (1976–1985) und seit 1985 an der Universität Hamburg. Ziel war und ist, herauszufinden, wie inner Konflikte (Angst, Ärger, Wut, Enttäuschung) entstehen und wie diese sich wieder auflösen lassen. Die Ergebnisse dieses Langzeitforschungsprogramms mit weit über sechzig empirischen Untersuchungen, werden in diesem Buch zusammenfassend dargestellt.

Beim Schreiben habe ich in erster Linie diese Bekannten, Freunde und Klienten vor Augen gehabt – und versucht, so allgemein verständlich zu schreiben, dass dieses Buch auch ohne größeres psychologisches Fachwissen gelesen werden kann. In zweiter Linie habe ich an Studierende gedacht, die sich, aus verschiedenen Fachdisziplinen kommend, Antworten auf ihre Fragen zur eigenen mentalen Selbstregulation erhoffen. Und drittens ging es mir beim Schreiben natürlich auch darum, innerhalb der gegenwärtigen Fachdiskussionen einen Beitrag zu einer Psychologie der Veränderung (Grawe, 1994) zu leisten.

Die zentrale Frage, die uns und vor allem mich über viele Jahre hinweg beschäftigt hat, lautet: Wie ist es möglich, den eigenen Bewusstseinszustand zu verändern und innerlich (wieder) ruhiger zu werden? Was lässt sich tun, wenn sich die eigenen Gedanken endlos im Kreis drehen, wenn man sich ärgert, Angst hat oder sich nicht entscheiden kann? Und wie lassen sich unangenehme Gewohnheiten verändern – zum Beispiel endlich aufzuhören, Dinge vor sich herzuschieben, sich unnötig aufzuregen oder anzufangen, sich öfter zu entspannen? Während meines Promotionsstudiums in den USA (1967–1971) an der University of Michigan in Ann Arbor lernten wir, dass es wichtig sei, »to make psychology practical to the people«. Mein Doktorvater, Prof. Dr. Ronald Lippitt am Institute of Social Research, führte uns bereits damals im Rahmen eines dreisemestrigen Seminarmoduls in die theoretischen und praktischen Grundlagen einer »Psychology of Change« ein.

Und so steht im Zentrum dieses Buchs die Frage nach der praktischen Anwendung unserer Forschungsergebnisse: Wie lassen sich Konflikte und mentale Blockaden wieder auflösen, was ist nötig, um Gelassenheit und Handlungsfähigkeit im Alltag wiederzugewinnen?

Diese Frage hat uns und vor allem mich nicht mehr losgelassen, seit wir im Rahmen eines von der Verf. geleiteten DFG-Forschungsprojekts (Wagner, Barz et al., 1984) unvermutet darauf stießen, dass sich im beruflichen wie im privaten Alltag die Gedanken sehr viel öfter im Kreis drehen, als kognitive Theoretiker (z. B. Miller, Galanter & Pribram, 1960) damals vermutet hatten.

Unsere Ausgangshypothese damals war, dass dieses Endloskreisen die Folge subjektiver Imperative ist. Dies war das einzige Projekt, das ich kenne, bei dem wir uns regelmäßig vornahmen, über Organisatorisches zu sprechen, um dann doch wieder bei der Theorie zu landen. Die Theorie subjektiver Imperative (Kap. 4) beruht auf der Annahme, dass akute Konflikte im Zusammenhang mit der – tatsächlichen oder antizipierten – Verletzung subjektiver Imperative entstehen. Parallel dazu beschäftige ich mich fast von Anfang an gleichzeitig mit der Frage der praktischen Auflösung solcher Konflikte (Kap. 1, Kap. 5, Kap. 6) sowie mit der Entwicklung von Übungen des Konstatierenden Aufmerksamen Wahrnehmens (Kap. 3).

Als es darum ging, Anfang der 1990er Jahre die Theorie Subjektiver Imperative zusammenfassend darzustellen, waren drei entscheidende Fragen zur Funktion solcher Imperative noch offen. Die erste Frage lautete: Wie entstehen solche Imperative? Als Mitglied des Graduiertenkollegs Kognitionswissenschaft der Universität Hamburg beschäftigte mich die Frage, wie solche subjektiven Imperative – etwas flapsig ausgedrückt – in die menschlichen kognitiven Prozesse hinein, während Computer ohne diese auskommen? Die zweite theoretisch ungeklärte Frage war, wie sich die Wirksamkeit einer nicht-wertenden, freischwebenden Aufmerksamkeit (KAW, Kap. 3) bei der Auflösung von Konflikten theoretisch erklären lässt. Und schließlich lag – dahinter oder auch darunter – als drittes die allgemeinere Frage nach der Wurzel innerer Unruhe: An welchem Punkt, mit welchem internen Prozess beginnt Nicht-Gelassenheit?

Das Ergebnis dieses Nachdenkens war schließlich die Entwicklung der Theorie der Mentalen Introferenz (TMI) durch die Verf., die als eine Psychotherapieschulen-übergreifendeTheorie der Entstehung von Gelassenheit und Konflikt (Wagner, 2019) seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Buchs kontinuierlich weiterentwickelt wurde (Kap. 2). Die grundlegende Annahme der TMI lautet, dass subjektive Imperative ebenso wie auch mentale Blockaden das Resultat des introferenten (wörtlich: »hineintragenden«) Eingreifens in die eigene epistemische Informationsverarbeitung sind – zum Beispiel, wenn wir uns selber etwas vormachen, schön gucken oder einbilden und gleichzeitig anderes ausblenden, ignorieren und hemmen.

»Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie«, pflegte der Doktorvater meines Doktorvaters, Kurt Lewin, zu sagen. Und nichts ist so praktisch bei der Entwicklung einer Theorie wie das ständige Testen der Ideen in der Praxis, d. h. bei der Auflösung realer Konflikte in Seminaren, Einzelberatungen und Forschungsprojekten. Schwierigkeiten bei der praktischen Anwendung machten es notwendig, die theoretischen Annahmen zu verändern; umgekehrt führten neue theoretische Gedanken zur Weiterentwicklung der Praxis. In dieser Zeit wurden weit über sechzig empirische Untersuchungen durchgeführt (Kap. 1.3); dazu gehörten auch Projekte zur Anwendung von Introvision in Feldern, die bislang als schwer oder nicht (psychologisch) behandelbar gelten: so z. B. zur Verbesserung der Hörfähigkeit bei Alters- und Lärmschwerhörigkeit (Wagner, Buth et al., 2005), im Umgang mit Tinnitus (Buth, 2012), zum langfristigen Abbau chronischer Dauerverspannungen im Rücken (Guedes, 2011) und der Verringerung chronischer Kopfschmerzen und Migräne (Empl et al., 2017).

Viele diese Forschungsarbeiten liefen parallel zu anderen, teilweise ebenfalls sehr zeitintensiven Tätigkeiten der Verf – so z. B. als Vizepräsidentin der Universität Hamburg (1988–1990), als langjähriges Mitglied des Vorstands des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), der Deutschen UNESCO-Kommission, des Ständigen Planungsausschusses der Hochschulrektorenkonferenz (WRK/HRK), als Rundfunkrätin der Deutschen Welle, als Vorstandsmitglied und Beiratsvorsitzende der Hamburger Volkshochschule, als Vorstand der Universitäts-Gesellschaft Hamburg, als Herausgeberin der Zeitschrift Gruppendynamik und Organisationsberatung, als Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste, als Evaluationsgutachterin und den vielen übrigen Aufgaben einer Universitätsprofessorin.

Hinzu kam ein weiteres umfangreiches Forschungs- und Entwicklungsprojekt unter meiner Leitung zum Thema Mentoring: Die von der Verf. gegründete Arbeitsstelle »Expertinnen-Beratungsnetz/Mentoring« der Universität Hamburg (1989–2019, Wagner, 2009) war, soweit bekannt, die erste universitäre Arbeitsstelle, an der in großem Umfang sowohl Forschung als auch Praxis durchgeführt wurde. Insgesamt wurden in Hamburg über 8000 jüngere Frauen in Fragen des beruflichen Einsteigens, Aufsteigens und Umsteigens durch hochqualifizierte weibliche Führungskräfte als Mentorinnen beraten. Hinzu kommen fünf weitere Expertinnen-Beratungsnetze in der Bundesrepublik nach Hamburger Vorbild. In diesem Zusammenhang gilt mein herzlicher Dank all denjenigen, die es mir möglich gemacht haben, neben diesem Projekt auch das Forschungsprogramm mentale Selbstregulation weiter voranzutreiben, insbesondere den langjährigen hauptamtlichen Mitarbeiterinnen, Dipl. psych. Sabine Podolsky, PD Dr. Dorothea Ritter und Walburga Lübbers sowie Prof. Dr. Ellen Schulz, die die Arbeitsstelle zehn Jahre lang mit mir zusammen geleitet hat.

In diesem Buch wird der besseren Lesbarkeit halber (mit Ausnahme von Fallbeispielen) von »dem Klienten« und »der Beraterin« die Rede sein. Damit sind jeweils ausdrücklich männliche und weibliche Klienten und weibliche wie männliche Berater gemeint.

Angelika C. Wagner

 

Vorwort zur dritten Auflage

 

 

 

Nach dem Erscheinen der ersten Auflage 2007 wurde dieses Buch für die zweite Auflage 2011 volllständig überarbeitet und erweitert, um so ein Lehrbuch zu erstellen, das sich sowohl für das Selbststudium als auch als Grundlage für die Teilnahme an entsprechenden Einführungskursen eignet.

Für die hier vorliegende dritte Auflage wurde die zweite Auflage insgesamt umfassend aktualisiert und teilweise erweitert, um sie so auf den neuesten Stand zu bringen – durch die Einbeziehung neuerer Forschungsergebnisse, durch die Darstellung der inzwischen von der Verf. weiterentwickelten Theorie der mentalen Introferenz in dem fast komplett neu geschriebenen Kapitel 2, durch eine gründliche Überarbeitung der Einführung in das KAW (Kap. 3.1) sowie durch Hinzufügen eines neuen Teilkapitels (Kap. 3.4) mit von der Verf. neu entwickelten »KAW-Anwendungen für Fortgeschrittene« sowie der generellen Aktualisierung der übrigen Kapitel.

Danksagungen

Danksagungen zur ersten Auflage

Dieses Buch enthält viele Fallbeispiele aus der Praxis. Ich danke den folgenden Personen, die mir freundlicherweise erlaubt haben, aus ihren Erfahrungsberichten in anonymisierter Form zu zitieren: Angela Baron, Kerstin Becker, Grit Beecken, Ole Benthien, Anne Binder, Rosanne Erler, Andre Fischer, Raimund Frenster, Andrea Friederichs-du Maire, Anna Hofsäß, Sabine Jaeger, Bente Johannsen, Anna Klaffs, Mareike Kludas, Anna Kludas, Anja Korpys, Sonja Löser, Natalya Marquitan, Manuela Mattwig, Mirjam Mikoleit, Evi Minkus, Anne Mörbitz, Sylvia Naler, geb. Buhr, Judith Oerding, Nicole Pape, Janina Pflugradt, Thore Pinkepank, Sören Reichardt, Jutta Ritter, Markus Ruprecht, Oliver Schmidt, Sonja Schmidt, Kerstin Schuldt, Sebastian Schwake, Norman Schneider, Claudia Steinmeyer, Nur Tiras und Kathrin Ulken. Die Nummern am Ende der Beispielzitate verweisen auf den jeweiligen Autoren.

Das Forschungsprogramm mentale Selbstregulation wäre ohne die Mitwirkung von sehr vielen Personen, Kolleginnen und Kollegen, wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Doktorandinnen und Doktoranden, Diplomandinnen und Diplomanden, studentischen Hilfskräften und Studierenden buchstäblich nicht möglich gewesen. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. Stellvertretend für die vielen sollen im Folgenden einige in alphabetischer Reihenfolge namentlich genannt werden: Matin Alam, Claudia Albrecht, Dagmar Altenkämper, Prof. Dr. Eva Arnold, Prof. Dr. Monika Barz, Grit Beecken, Bettina Below, Ole Benthien, Barbara Berckhan, Karina Lyn Bostemann, Mirjam Bretschneider, Britta Buth, Gunnar Carstensen, Wiebke Dembski-Minden, Gesa Dilling, Prof. Dr. Joachim Dingel, Andrea Ebers, Julia Fast, Prof. Dr. Reinhard Fatke, Sabine Flick, Kathrin Freiwald, Andrea Friedérichs-du Maire, Stephanie Gnadt, Dr. Günter Gorschenek, Jana Guth, Christiane Hahn, Marion Herkenrath, Susanne Hondl, Prof. Dr. Renate Kosuch, Anja Korpys, Carola Krause, Karin Laackmann, Sonja Lampe, Sebastian Lieb, Sonja Löser, Susanne Maier-Störmer, Dr. Katrin Meuche, Mirjam Mikoleit, Anna Möller, Prof. Dr. Patricia Nevers, Judith Oerding, Yasmina Ouakidi, Inken Paulsen, Nicole Pereira Guedes, Nicole Petersen, geb. Lauterbach, Eva Petersitzke, Nicole Reinhardt, Alexandra Reuter, Prof. Dr. Lutz Richter-Bernburg, Annabelle Rittich, Prof. Dr. Peter M. Roeder, Ulrike Röder, Ulf Saure, Gerrit Scheel, S. E. Schöning, Claudia Schönwälder, Kerstin Schuldt, Ulrike Schütze, Maren Simoneit, Petra Spille, Ulrike Staffeldt, Dorina-Maria Struck, Ina Sylvester, Anke Tapken, Ingrid Uttendorfer-Marek, Renate Weidle, Jörg Wetzel, Prof. Dr. Albrecht Wezler und Dr. Bettina Wollesen sowie Dr. Ulrike von Hanffstengel, die das Teilprojekt Lehrerimperative zusammen mit Nicole Petersen unter der Leitung von Prof. Dr. H.-D. Dann im Rahmen des Forschungsprojekts »Gruppenunterricht« an der Universität Erlangen-Nürnberg durchgeführt hat.

Vor allem aber gilt mein ganz besonders herzlicher Dank Prof. Dr. Telse A. Iwers, die seit 1989 mit mir zusammen die theoretische, empirische und praktische Entwicklung der Introvision tatkräftig, ideenreich und engagiert vorangetrieben – und schließlich auch 2001 den Begriff »Introvision« dafür geprägt hat, sowie Prof. Dr. Renate Kosuch, die seit ihrer Zeit als Doktorandin in Hamburg und später als Assistentin und als Kollegin ebenfalls in verschiedenen Phasen Entscheidendes zur Weiterentwicklung der Introvision beigetragen hat.

Mein und unser besonderer Dank gilt darüber hinaus all denjenigen Personen, Institutionen und Organisationen, die die verschiedenen Forschungsprojekte finanziell unterstützt haben: der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Behörde für Wissenschaft und Forschung der Freien und Hansestadt Hamburg, der Bundesanstalt für Arbeit, dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, der Karl-Ditze-Stiftung, der Simon Claussen Stiftung, dem Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft und dem Europäischen Sozialfonds, der Universitäts-Gesellschaft Hamburg sowie unseren Mäzenen, Frau Maren Otto und Herrn Prof. Dr. h.c. Werner Otto, dem Ehrensenator der Universität Hamburg, die unsere Projekte mehrfach großzügig gefördert haben.

Ich danke der Deutschen Bahn für die Gelegenheit zu vielen Stunden ungestörten Arbeitens, Lady Grey für endlose Tassen Tee und Walburga Lübbers, Judith Oerding und Dr. Susanne Güth dafür, dass sie in der Endphase der Erstauflage dieses Buchs tatkräftig dafür gesorgt haben, dass alles richtig aufs Papier kommt.

Danksagungen zur zweiten und dritten Auflage

Seit dem Erscheinen der ersten Auflage haben viele Menschen theoretisch, praktisch und empirisch zur Weiterentwicklung der Introvision beigetragen: Studierende, studentische Hilfskräfte, ExamenskandidatInnen, DoktorandInnen, wissenschaftliche MitarbeiterInnen und KollegInnen. Dazu gehören auch die Mitglieder des 2015 von uns gegründeten Vereins »Introvision e. V., Gesellschaft zur Förderung der Introvision als Methode der mentalen Selbstregulation«.

Ein besonderer Dank gilt dabei meiner langjährigen wissenschaftlichen Hilfskraft Anke Tapken, für ihre unermüdliche Geduld und ihre tatkräftige Unterstützung bei der Erstellung der zweiten Auflage.

Ein weiterer besonderer Dank gilt meinen beiden langjährigen wissenschaftlichen Wegbegleiterinnen und Kolleginnen, Prof. Dr Telse A. Iwers, Universität Hamburg, und Prof. Dr. Renate Kosuch, TU Köln.

Neben allem anderen, was die beiden für die Entwicklung der Introvision getan haben und weiterhin tun, hat Prof. Dr. Telse Iwers 2020 die Leitung der Weiterbildungskurse für Selbstanwender und angehende IntrovisionsberaterInnen an der Universität Hamburg übernommen, zusammen mit dem jetzigen Team Dipl.-theol. Ulla Evers, Prof. Dr. Angela Rohde und Dipl.-Psych. Joachim Wolf. Dafür danke ich ihr und ihrem Team von ganzem Herzen. Prof. Dr. Renate Kosuch hat 2013 die Initiative ergriffen, ein gemeinsames mehrjähriges Praxisprojekt zwischen der Universität Köln und der TH (jetzt TU) Köln zu begründen und zu leiten mit dem Ziel, die Praxis der Introvision voranzutreiben. Dafür danke ich ihr von Herzen. Ein zentrales Ergebnis dieses Projekts ist das gemeinsame Praxis-Buch »Introvision. Problemen gelassen ins Auge schauen. Ein Einführungsbuch«, das inzwischen in der zweiten Auflage vorliegt (Wagner, Kosuch & Iwers, 2020).

Last but not least möchte ich mich sehr herzlich bei meiner langjährigen studentischen und späteren wissenschaftlichen Mitarbeiterin Alina Laskowski, M.Sc., bedanken. Sie hat entscheidend und tatkräftig, u. a. durch sorgfältige und umfangreiche Literaturrecherchen zu Aktualisierung der hier vorliegenden dritten Auflage beigetragen. Ein ebenso herzlicher Dank gilt Frau Kathrin Kastl und Herrn Dr. Rupert Poensgen vom Kohlhammer Verlag für ihre Unterstützung bei der Entstehung dieser dritten Auflage.

Außderdem danke ich aus tiefstem Herzen meiner Familie und meinen Freunden, ohne deren Verständnis, liebevolle Zuwendung und große Geduld diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Ihnen allen widme ich dieses Buch.

 

Hamburg, im März 2021

Angelika C. Wagner

 

1          Einleitung

 

 

 

Übersicht

Wie lässt sich die Entstehung unterschiedlicher Bewusstseinszustände im Alltag erklären – zwischen Gelassenheit und Panik? Und was lässt sich praktisch tun, um gelassener zu werden? Um diese beiden Fragen geht es in dem hier vorliegenden Buch.

Wie entsteht Gelassenheit? Es wird zunächst eine neue, grundlegende Theorie der mentalen Selbstregulation vorgestellt, die zum Ziel hat, die Entstehung von innerer Unruhe und Konflikten theorieübergreifend zu erklären (Kap. 2, Kap. 4 und Kap. 7).

Auf dieser Grundlage wird dann die Methode der Introvision als eine Form der praktischen Anwendung dieser Theorie im Alltag ausführlich und anhand von vielen Beispielen beschrieben. Ziel der Introvision ist es, innere Konflikte und mentale Blockaden aufzulösen und so Gelassenheit und Handlungsfähigkeit wiederzugewinnen.

Die Methode der Introvision ist eine von der Verfasserin (Wagner, 1984b, 1988, 2004) in Zusammenarbeit mit anderen entwickelte Methode der mentalen Selbstregulation, die in früheren Veröffentlichungen zunächst als Methode der Konfliktauflösungsberatung (Wagner, 1984b) und dann als imperativzentriertes Focusing (z. B. Iwers-Stelljes, 1997) bezeichnet wurde. 2001 haben wir dafür den Begriff der Introvision eingeführt. Die Introvision und die ihr zugrunde liegenden Theorien sind das Ergebnis eines umfangreichen und langjährigen Forschungsprogramms zur mentalen Selbstregulation unter der Leitung der Verfasserin an der Universität Hamburg.

Die Wirksamkeit der Introvision ist inzwischen vielfach praktisch erprobt und in einer Reihe von empirischen Untersuchungen belegt worden. Introvision ist eine Methode des Selbstmanagements, die man erlernen und dann im Alltag selbstständig anwenden kann. Wie das geschieht, wird in diesem Buch anhand von vielen Beispielen erläutert werden. »Wer Tore schießen will, muss frei sein im Kopf«, so ein alter Fußballerspruch. Ziel der Introvision ist es, den Kopf wieder freizubekommen. Introvision bedeutet wörtlich genommen »Hineinschauen« in das, was im Kopf vor sich geht. Wie das praktisch funktioniert, wohin dabei zu schauen ist und warum der Kopf dadurch wieder frei wird, wird in diesem Buch ausführlich erläutert werden.

1.1       Zwischen Gelassenheit und Panik: das Psychotonusmodell

Ziel der Introvision ist es, die innere Gelassenheit in schwierigen Situationen zurückzugewinnen. Deshalb stellt sich als Erstes die Frage, was es bedeutet, gelassener zu werden.

1.1.1     Gelassenheit

Gelassenheit bedeutet einen Zustand innerer Ruhe, verbunden mit Wohlbefinden, Heiterkeit, Besonnenheit und innerem Gleichmut.

Gelassenheit ist damit etwas grundlegend anderes als aufgesetzte, vorgeschobene oder gespielte Gleichgültigkeit im Sinne von »Das ist mir doch egal!«. Der Unterschied liegt darin, dass wirkliche Gelassenheit einhergeht mit innerer Ruhe und Offenheit für die Umwelt, mit tiefer Empfindungsfähigkeit und Einfühlungsfähigkeit in andere Menschen, während die oben gemeinte »Gleichgültigkeit« das Resultat von Konfliktumgehungsstrategien ist (z. B. Abwerten, Ausblenden oder Rationalisieren; mehr dazu Kap. 4). Im Alltag lassen sich unterschiedliche Ausprägungen von Gelassenheit unterscheiden, wie im Folgenden zunächst anhand von drei Beispielen gezeigt werden soll.

Beispiel 1: Gelassenheit inmitten von Hektik

Die vermutlich häufigste Form der Gelassenheit im Alltag besteht darin, dass jemand inmitten von Hektik unaufgeregt bleibt, die innere Ruhe bewahrt und ausgeglichen reagiert.

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür, dass es auch in Krisensituationen möglich ist, gelassen zu bleiben, gibt der folgende Bericht, den einer der Passagiere geschrieben hat, der 1977 bei der Entführung der »Landshut« zusammen mit 90 weiteren Personen in Mogadischu fünf Tage lang von vier arabischen Terroristen als Geisel festgehalten wurde. Während dieser Zeit wurden die Passagiere und Besatzungsmitglieder rund um die Uhr von den bewaffneten Geiselnehmern bedroht; der Flugkapitän Jürgen Schumann wurde vor aller Augen erschossen, es gab Schein-Exekutionen und wiederholt wurden Geiseln misshandelt.

Fünf Tage als Geisel

»Sechs Monate sind vergangen, seit ich aus Mogadischu zurück bin. Was sich damals in den fünf Tagen und fünf Nächten an Ereignissen zutrug, kommt mir immer nur in einzelnen Episoden oder Gedankenkomplexen in Erinnerung. (…)

Gewisse Erfahrungen sind eben nur ganz selten und in ganz besonderen Situationen möglich. Und wer hat schon fünf Tage und fünf Nächte rund um die Uhr einen Pistolenlauf, zwei Handgranaten und – bei den Ultimaten zwei Sprengladungen vor Augen gehabt, brutale Misshandlungen von Frauen, Schein-Exekutionen und die Erschießung eines mit erhobenen Händen knieenden Menschen aus zwei Metern Entfernung miterlebt! Dem Mitempfinden derer, die nicht dabei waren, sind eben Grenzen gesetzt. (…) Es gibt etwas, das der Vermittlung an andere verschlossen bleibt, wenn sie nicht selbst schon einmal von der Grenze zwischen Leben und Tod zurückgekehrt sind:

Wie man – das unabwendbare Ende vor sich – an seine Angehörigen denkt (was war, was wird sein?); wie man – den Tod unmittelbar vor Augen – sein Leben überblickt (wie ist es gewesen?); was man – im Angesicht des Todes – über den Tod denkt (was mag wohl kommen?). Fragen in die Vergangenheit – Fragen in die Zukunft…

Doch bevor es zu diesen Fragen kam, war da zunächst die akute Gegenwart. Schon nach wenigen Sekunden ist mir klar, was hier vorgeht. Nachdem dann über den Bordlautsprecher die In-Gewaltnahme der Maschine verkündet ist und die Nichtbeachtung eines der gegebenen Befehle mit sofortiger Erschießung bedroht worden ist (»will be executed immediately«), nachdem die Stewardessen und die Passagiere aus der ersten Reihe der Touristenklasse ins Heck der Maschine getrieben worden sind, nachdem sie einzeln nach vorne befohlen, nach Waffen gefilzt und dann auf einen der freien Plätze dirigiert sind (die Maschine ist nicht voll ausgebucht), und nachdem wir nun alle angegurtet mit Händen über dem Kopf dasitzen, da besteht nun erstmals Gelegenheit, ruhige Gedanken zu fassen. Und ich denke nach.

Für die Beendigung dieses Abenteuers gibt es verschiedene Vermutungsvariationen, die aber im Wesentlichen auf zwei Möglichkeiten zusammenschrumpfen: glücklicher oder tödlicher Ausgang.

Über die Möglichkeiten des Überlebens nachzudenken, bringt jetzt nicht viel; auf welche Weise es auch immer gelingen mag, entscheidend ist dabei nur das Überleben, später kann man weiterdenken. Das ist bei der zweiten Möglichkeit anders, dann ist das Denken vorbei. Ob diese zweite Lösung, das physische Ende, durch Pistolenkugeln, Handgranaten, Sprengstoff, Bruchlandung, Absturz, Explosion oder durch Feuer erfolgt oder durch eine Kombination dieser Möglichkeiten, ist im Endresultat gleich: Es ist der Tod. Nur er, der über alle diese Variationen Dominierende, ist erwägenswert. Ich kann morgen durch einen Autounfall oder durch eine Krankheit sterben. Einen solchen Tod müßte ich hinnehmen. Was ist anders bei diesem Tod? Nichts, ich muß auch diesen akzeptieren.Daheim hatten sich alle meine Kinder – sonst vom Norden bis Süden in der Bundesrepublik verstreut – zu einem Krisenstab zusammengefunden und kurz vor Ablauf des allerletzten Ultimatums in einem Telegramm an den Bundeskanzler zur Rettung der Geiseln die Freilassung der Gefangenen gefordert. (…)

Mich jedenfalls hat dieses Akzeptieren meines möglichen Todes in den Stand gesetzt, diese fünf Tage und fünf Nächte durchzustehen, ohne auch nur ein einziges Mal – (hier sehe ich die verständnislosen, wenn nicht gar ungläubigen Blicke vieler meiner Zuhörer vor mir) – ohne auch wirklich nur ein einziges Mal Angst zu haben oder gar in Panik zu verfallen. In einer Zuhörerrunde wurde mir vorgehalten, es sei doch unmöglich, dass ich keine Angst gehabt hätte; ich bildete mir das wohl im Rückblick bloß ein. Ich kann mir zwar vorstellen, dass man bei gewissen Situationen erst nachher erkennt, dass man Angst gehabt hat. Völlig undenkbar hingegen erscheint mir, dass man eine ausgestandene Angst vergessen könnte.

Es mag schwierig und für manchen unmöglich sein, zu erkennen, wie meine Entscheidung, mich mit meinem möglichen Tod abzufinden, mich für die ganze folgende Zeit verändert hat. Ich habe damit eine feste Basis gewonnen und vor mir eine undurchdringliche Schutzwand errichtet – wie eine Panzerplatte aus hochfestem Stahl –, hinter der ich mit meinem Ich und seinen Emotionen geborgen bin. Das gibt mir eine unvorstellbare Ruhe und Sicherheit. Kein Selbstmitleid, keine weiteren Betrachtungen über mich persönlich stören meinen Blick über diese Schutzwand hinweg; ich kann völlig nüchtern die Situation von einem Ereignis zum andern klar erkennen, analysieren, emotionslos beurteilen und mich so auf die jeweils gegebene Sachlage einstellen. Auch jede Möglichkeit, mein Leben doch noch zu retten, kann ich in jeder Situation sachlich durchdenken, ohne meine Basis, die Akzeptierung meines möglichen Todes, aufzugeben. Es ist ein mir neuer, meinem bisherigen Gefühlsleben entrückter Zustand. Ich kann sogar diesen vier Menschen, von denen jeder bereit ist, mir den Tod zu bringen, ruhig ins Auge sehen.

Zweites Ergebnis meines Nachdenkens: Aktivität ist zur Zeit ausgeschlossen, also Kräfte sammeln. Die für zwei Tage reichenden Herz- und Kreislaufdragees strecken, einfach statt je drei nur je eine pro Tag nehmen. Vor allem aber jede sich bietende Gelegenheit zu schlafen wahrnehmen. Ich lockere meine Muskeln (soweit die enge Sitzweise das zulässt), wende mein autogenes Einschlaftraining an und schlafe. Abgesehen von einer kurzen Unterbrechung durch Machmud wurde ich erst kurz vor der Landung in Rom durch im Bordlautsprecher verkündete Befehle geweckt. Geschlafen habe ich auch im folgenden immer wieder einmal, sofern nicht irgend etwas befohlen wurde oder der hasswahnsinnige Machmud irgendeine seiner Eskapaden ritt. Bis auf einen Schwächeanfall aus Sauerstoffmangel (die Klimaanlage war zum zweitenmal bei einer Außentemperatur von 50 Grad sieben Stunden lang ausgefallen) habe ich die Zeiten, in denen ich wach war, ›fit‹ durchgestanden. Und wie gesagt, ich konnte denen, die Herr über unser aller Leben und Tod waren, ruhig ins Auge sehen.« (aus: Die Zeit, 5. Mai 1978).

Dieses Beispiel veranschaulicht in eindrucksvoller Weise, was Gelassenheit auch in schwierigsten Situationen bewirken kann: nämlich große innere Ruhe, Wohlbefinden, Besonnenheit und körperliche Leistungsfähigkeit – gepaart mit der Fähigkeit zu nüchterner Analyse, differenzierter Wahrnehmung und optimaler Handlungsfähigkeit, wie der Rest des Berichts belegt. Grundlage dieser Gelassenheit ist es, »dem Schlimmen ins Gesicht zu schauen«, hier der Möglichkeit, bei dieser Geiselnahme zu sterben. Was das bedeutet, warum sich das so auswirkt, und vor allem, was sich tun lässt, wenn dies schwerfällt, darum geht es in diesem Buch.

Beispiel 2: Gelassenheit und Flow-Erleben: Versunkensein im Tun

Eine zweite Form der Gelassenheit stellt das Flow-Erleben dar – ein Zustand, der gekennzeichnet ist durch das Gefühl des »Einsseins«. Beim Flow-Erleben versinkt man gewissermaßen im eigenen Tun (Csikszentmihaly, 1985, 1992; Nakamura & Csikszentmihaly, 2014), wie das folgende Beispiel beim Klettern im Felsen zeigt.

»Man taucht sozusagen ein in das, was um einen vorgeht, in die Felsen, in die notwendigen Bewegungen … die Suche nach Haltepunkten im Fels … nach der richtigen Lage des Körpers – man ist dermaßen absorbiert davon, dass man das Bewusstsein der eigenen Identität verlieren und mit dem Fels verschmelzen könnte. (…) Es geschieht einfach … und doch ist man außerordentlich konzentriert. (…) Es ist angenehm. Da ist ein Gefühl der totalen Beteiligung … Man fühlt sich wie ein Panther, der sich mit Kraft den Felsen hinaufarbeitet.« (Csikszentmihalyi, 1985, S. 68).

Das Flow-Erleben ist ein Zustand der inneren Freude, der Selbstvergessenheit, erhöhter Wahrnehmungsfähigkeit, hoher Energie und Mühelosigkeit des Tuns (Csikszentmihalyi & Csikszentmihalyi, 1991, S. 11). Csikszentmihalyi und andere (1985, 1991; Nakamura & Csikszentmihaly, 2014) haben den »Flow« während des aktiven Tuns untersucht, beim Tanzen, Schachspielen oder Lernen. Derselbe Zustand kann auch beim körperlichen »Nichtstun« (Albrecht, 1990) eintreten, z. B. bei der Meditation, bei der Betrachtung von Kunst, beim Lesen oder Nachdenken (Benson, 1997; Petermann & Vaitl, 2014).

Beispiel 3: Gelassenheit als außergewöhnlicher Bewusstseinszustand: »Die leere Unendlichkeit«

Daneben gibt es eine noch tiefere Form der Gelassenheit, so wie sie manche Menschen etwa während der Meditation erleben.

Ein Beispiel dafür findet sich in folgenden Bericht eines Neuseeländers, der im Urlaub in der Schweiz während eines Vortrags über Meditation unerwartet einen solchen Zustand erlebte:

»Plötzlich wurde mein herumwandernder Geist im wahrsten Sinne des Wortes ruhig. (…) Alle meine Sinne waren sehr wach und registrierten alles, was um mich herum geschah. Es war, als ob mein »Selbst« an einen entfernten Ort gegangen war, aber da war ein großes Gefühl der Lebendigkeit, der (räumlichen) Weite, aber vor allem ein großes Gefühl innerer Ruhe und Ordnung. Mein Körper war still und blieb so. Ich kann mich daran erinnern, dass ich eine Zeit lang nur zweidimensional sah, dann jedoch gelang es mir, das Bild wieder dreidimensional zu machen, und ich hatte das Gefühl, dass ich nicht wollte, dass mich irgendjemand ansprach (als ob der magische Zauber dadurch gebrochen werden könnte) und ich war mir auch nicht sicher, dass ich die Worte finden könnte, um zu antworten, falls irgendjemand auf mich zukäme. Ich fragte mich innerlich, wer ich war und mein Geburtstag und stellte so fest, dass mein Geist in gewissem Umfang noch intakt war. Da war dieses große Gefühl von Klarheit und Präzision, und später beschloss ich, einen Spaziergang zu machen. (…)

Als ich die Wiese am Fuß des Bergpfades betrat, war es, als ob ich im Wunderland war. Da war diese außerordentliche Vielfalt von Geräuschen, die die Insekten im Gras von sich gaben, da war eine erstaunliche Vista von Aussichten und Farben. Ich konnte alle möglichen Arten von Insekten, Fliegen, Bienen usw. identifizieren, die im Gras herumflogen, und ich konnte die wunderbarsten Ansichten sehen und die wunderbarsten Töne hören. Es war wie der Himmel auf Erden. Ich wusste in dem Moment, was Schönheit ist und ich wusste auch, was Liebe ist. Ich war in einem außerordentlichen Zustand der Zeitlosigkeit (obwohl ich mir durchaus auch der chronologischen Zeit bewusst war, so wie sie die Uhr anzeigt). Meine Bewegungen kamen mir weder schnell noch langsam vor, sondern alles schien genau in der richtigen Geschwindigkeit zu geschehen. Da war kein Gefühl des Vergleichens, während ich alle diese wunderbaren Dinge sich vor mir entfalten sah. Ich kam an einem kleinen Baum vorbei und ich empfand eine außergewöhnliche Zärtlichkeit für diesen Baum, so wie Eltern gegenüber ihrem Kind. Ich berührte ihn und liebkoste die Blätter dieses Baums. Ich sah den Wald und ich war außerordentlich emotional bewegt (aber kontrolliert) in Bezug auf den Wald und die Bäume da drin. Ich staunte über die Struktur der Baumrinde, ich berührte sie, ich streichelte sie, ich sah das Moos auf der Rinde und ich berührte und streichelte sie. Es war überwältigend wundervoll.« (K. W., persönliche Kommunikation; Übersetzung durch die Verfasserin).

Dieser Zustand dauerte mehrere Stunden an und wurde dann schwächer, bis er sich nach einigen Wochen allmählich verlor.

Interessanterweise berichtet der Autor, dass dieser außergewöhnliche Bewusstseinszustand in dem Moment begann, als er »Introspektion auf die Introspektion« machte (»introspecting on introspection«). Ähnliches findet sich auch bei Carl Albrecht (1990): Nach ihm liegt der Weg zur absoluten inneren Ruhe darin, den Zustand der Versunkenheit selber zum Gegenstand der Innenschau zu machen. Ähnliche Berichte finden sich in unterschiedlichen Meditationstraditionen ebenso wie im Alltag, bei religiösen Menschen ebenso wie bei Agnostikern und Atheisten, zum Teil auch im Kontext sogenannter mystischer Erfahrungen (Bock, 1991; Benson, 1997; Kapleau, 1965; Roberts, 1982; Wren-Lewis, 1988). Herausragendes Kennzeichen ist das Erleben von innerer Leere, Ichlosigkeit und Zeitlosigkeit.

Eine vorläufige Definition von Gelassenheit

Diese drei Beispiele veranschaulichen unterschiedliche Formen von Gelassenheit: Gelassenheit im Alltag, Versunkenheit und Flow-Erleben und absolute innere Ruhe; Letzteres ist ein außergewöhnlicher Bewusstseinszustand wie ihn manche Menschen zeitweise erleben.

Die Gemeinsamkeit liegt dabei in dem – mehr oder weniger stark ausgeprägten – Erleben innerer Ruhe, verbunden mit einem Gefühl der Mühelosigkeit und des Wohlbefindens (z. B. Abele & Becker, 1994; Dodge, Daly, Huyton, & Sanders, 2012; Huppert, Keverne & Balis, 2006). Auf der mentalen Ebene ist Gelassenheit durch die »Einheitlichkeit« (Albrecht, 1990) der bewussten Gedanken, Gefühle und Empfindungen gekennzeichnet – also das Fehlen von bewussten Widersprüchen und Konflikten. Dies ermöglicht es, auch in schwierigen Situationen einen klaren Kopf zu behalten und handlungsfähig zu bleiben.

Eine pragmatische Defintion von Gelassenheit

Gelassenheit wird hier definiert als ein Zustand innerer Ruhe, verbunden mit einem Gefühl der Mühelosigkeit und des Wohlbefindens – sowie der Abwesenheit von Konflikten in den bewussten mentalen Prozessen (Gedanken, Gefühlen und Empfindungen).

Da Gelassenheit hier als ein situativer Zustand (state) verstanden wird, grenzt sich diese Definition von Konzepten ab, in denen Gelassenheit in Richtung einer überdauernden Lebenseinstellung (trait) definiert wird. In einem solchen, breiteren Konzepten von Gelassenheit werden Komponenten wie der Glaube an höhere Mächte, das Erreichen von Lebenszielen und ähnliches mehr höher gewichtet.

Das Gegenteil von Gelassenheit: der Zustand des akuten Konflikts

Am anderen Ende des breiten Spektrums von Bewusstseinszuständen finden sich drei verschiedene Zustände zunehmender Konflikthaftigkeit – in verschiedener Hinsicht gewissermaßen das Gegenteil von Gelassenheit.

Im Stadium des bewussten, akuten Konflikts (Wagner et al., 1984) drehen sich die Gedanken eine Zeit lang im Kreis, verbunden mit innerer Unruhe, Erregung und Anspannung. Herausragendes Kennzeichnen dieses Zustands ist die kognitive und emotionale »innere Zerrissenheit«: unaufgelöste Widersprüche, fehlende Lösungen, Diskrepanzen und Dilemmata, gekoppelt mit einem Gefühl der Ausweglosigkeit. Ein akuter Konflikt kann einerseits eskalieren – bis hin zu Panik. Andererseits können akute Konflikte auch mehr oder weniger erfolgreich beherrscht, überschrieben oder ausgeblendet werden – ein Zustand erhöhter Anstrengung, Volition oder Impulsivität ist die Folge.

Eine kleine pragmatische Typologie innerer Konflikte

Pragmatisch gesehen lassen sich drei Typen von Bewusstseinskonflikten (Wagner, 2004) unterscheiden: Entscheidungskonflikte, Umsetzungskonflikte und Konflikte mit der Umwelt.

Entscheidungskonflikte: »Was soll ich nur tun?«

Bei Entscheidungskonflikten kreisen die Gedanken um die Frage, was zu tun ist. Dies können große Lebenskonflikte sein: zusammenbleiben oder sich trennen, kündigen oder weiterarbeiten, sich operieren lassen oder nicht (z. B. Filipp, 1995; Feger & Sorembe, 1983; Kuhl, 1995; Lehr & Thomae, 1965; Pongratz, 1961). Im Drama werden solche Entscheidungen – z. B. zwischen Pflicht und Liebe – auf der Bühne ausagiert. In anderen Fällen handelt es sich um kleinere Probleme: diesen oder jenen Toaster kaufen, Ärger aussprechen oder lieber herunterschlucken, pflichtgemäß handeln oder über die Stränge schlagen oder z. B. als Versuchsperson in einem Reaktionszeitexperiment diese oder jene Taste drücken (Berlyne, 1960; Prinz, 1998).

Umsetzungskonflikte: »Ich weiß schon, was ich tun sollte – aber ich schaffe es nicht!«

Umsetzungskonflikte entstehen dann, wenn das Individuum sehr wohl weiß, was es tun sollte oder will – und es dennoch nicht tut: endlich aufräumen, mehr Sport treiben, sich um eine Gehaltserhöhung kümmern. Oder aber das Individuum schafft es nicht, endlich damit aufzuhören, z. B. den Schlüssel zu verlegen, Dinge vor sich herzuschieben oder bei der kleinsten Gelegenheit den Mut zu verlieren.

In Konflikt mit der Umwelt: »Die Welt ist nicht so, wie sie sein sollte!«

Hier kreisen die Gedanken darum, dass die Umwelt nicht so ist, wie sie sein sollte. Bei diesen Konflikten liegt aus Sicht des Individuums die Ursache des Problems in erster Linie bei anderen: den Mitmenschen, der Gesellschaft, der Natur oder dem Schicksal. Diese drei Arten von inneren Konflikten können natürlich auch gemeinsam auftreten.

Drei grundlegende Fragen

Schaut man sich das breite Spektrum möglicher Bewusstseinszustände – von Gelassenheit bis Panik – an, so ergeben sich daraus drei grundlegende Fragen:

•  Wie lässt sich die Entstehung unterschiedlicher mentaler Zustände theoretisch erklären?

Weshalb ändert sich der mentale Zustand überhaupt? Warum befinden wir uns eigentlich nicht andauernd in ein und demselben mentalen Zustand – z. B. dem Zustand tiefer Seelenruhe? Dieser Frage wird hier auf der Grundlage einer allgemeinen Theorie der mentalen Selbstregulation, nämlich der Theorie der Mentalen Introferenz (Wagner, 2003b, 2004) nachgegangen. Am Beispiel der Fabel von Buridans Esel wird argumentiert werden, dass die Veränderung des mentalen Zustands Folge des introferenten Eingreifens in vorhandene Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen ist, das ursprünglich dazu diente, das Hängenbleiben kognitiver Prozesse zu beenden (Kap. 2).

•  Weshalb ist es oft schwierig, sich selber zu verändern?

In vielen Situationen fällt es uns im Alltag leicht, uns zu verändern: Wir nehmen uns vor, etwas zu tun und tun es einfach. In anderen Situationen ist dies schwierig und manchmal anscheinend unmöglich. Die Frage ist: wieso? Wie lässt es sich erklären, dass es manchmal schwer ist, sich z. B. zu einer Entscheidung durchzuringen oder eine unliebsame Gewohnheit aufzugeben? Diese Schwierigkeiten werden hier auf dem Hintergrund der Theorie Subjektiver Imperative erläutert (Kap. 4).

•  Und was lässt sich dann praktisch tun?

Im Zentrum dieses Buchs steht die Frage, was sich daraus für die praktische Anwendung ergibt. Das Grundprinzip der Introvision lässt sich stark vereinfacht formulieren als »dem Schlimmstmöglichen ins Auge sehen«. In der ersten Phase geht es darum, den Kern des Konflikts zu finden und in der zweiten Phase diesen Kern – d. h. die betreffende Kognition (Gedanke, Bild, Vorstellung) mit Hilfe des konstatierenden aufmerksamen Wahrnehmens von der damit verbundenen automatisierten Introferenz (d. h. Erregung, Anspannung, Hemmung) dauerhaft zu entkoppeln (Kap. 4–6).

1.1.2     »Was es zu erklären gilt«: das Psychotonusmodell unterschiedlicher mentaler Zustände

Im Folgenden geht es nun darum, die unterschiedlichen psychischen und mentalen Zustände »zwischen Gelassenheit und Konflikt« systematischer zu betrachten. Zu diesem Zweck wurde auf dem Hintergrund umfangreicher Literaturrecherchen sowie theoretischer Überlegungen von der Verfasserin das Psychotonusmodell entwickelt.

Ziel war es, verschiedene mentale Zustände gewissermaßen holzschnittartig voneinander abzugrenzen. Grundannahme ist dabei, dass sich sieben verschiedene mentale Zustände voneinander unterscheiden lassen. Diese unterschiedlichen mentalen Zustände werden als Ergebnis unterschiedlicher Zustände der Binnen- (Grawe, 1998) bzw. Selbstregulation (Kanfer, Reinecker & Schmelzer, 2012) aufgefasst.

Binnenregulation

Was unterschiedliche Zustände der Binnenregulation bedeuten, lässt sich anhand einer alten Metapher von Sokrates erläutern.

Sokrates’ Wagen – Verschiedene Zustände der Binnenregulation

Als Sokrates gefragt wurde, was die Seele sei, verglich er sie mit einem Wagen, der von zwei geflügelten Pferden gezogen und von einem Lenker gesteuert wird. Der Lenker des Wagens möchte – den Göttern folgend – zu den »himmlischen Weiden« kutschieren, hat aber Schwierigkeiten, den Wagen entsprechend zu steuern, weil eines der beiden Pferde sich nur schwer lenken lässt. Deshalb ist die Lenkung des Wagens »schwierig und verdrießlich« (Platon, Phaidros, 246). Je nachdem, wie er mit den Pferden zurechtkommt, verläuft die Reise unterschiedlich gut. Manche Wagenlenker kommen mit diesem Pferd einigermaßen zurecht, wenn auch voller Angst »und deshalb das Seiende kaum sehend« (Phaidros, 248).

Abb. 1.1: Unterschiedliche Zustände der Binnenregulation am Beispiel des sokratischen Wagens

Anderen Wagenlenkern »fehlt die Kraft, und sie werden unter der Oberfläche herumgetrieben, wobei sie einander schlagen und stoßen und jede sich der anderen vorzudrängen versucht. So entsteht denn Verwirrung und Streit und bitterer Schweiß, wobei infolge der Untüchtigkeit der Wagenlenker viele Seelen lahm geschlagen werden und viele sich die Federn zerbrechen. Sämtliche aber ziehen nach allen Anstrengungen von dannen, ohne dass ihnen der Anblick des Seienden zuteil geworden ist, und nach ihrem Weggang halten sie sich an eine Nahrung, die aus bloßen Meinungen besteht.« (Phaidros, 248).

Die unterschiedlichen Zustände der Binnenregulation sind – diesem Bild zufolge – das unterschiedliche Ausmaß des Schlingerns des Wagens – zwischen einigermaßen ruhiger Fahrt bis hin zum Umstürzen. Sokrates interpretierte dies als Folge der Schwierigkeiten, die die Wagenlenker im Umgang mit dem »schlechten« Pferd haben. Übrigens hat Platon selbst die drei Teile des Wagens (Lenker, gutes Pferd, schlechtes Pferd) als drei »Teile einer Seele« interpretiert: Vernunft (»der Teil, vermöge dessen der Mensch lernt«), Mut (der Teil, »durch den er sich ereifert«) und Begierde (der »begehrliche« Teil) (Staat, 9, 580).

Der Begriff des Psychotonus

Als Psychotonus wird hier der jeweilige psychische Zustand eines Individuums im Gesamtzusammenhang seiner jeweiligen kognitiven, affektiven und körperlichen Verfassung bezeichnet. Im Zentrum der Betrachtung steht dabei der jeweilige Bewusstseinszustand – von absoluter innerer Ruhe bis hin zur Panik.

Das Wort »Tonus« kommt aus dem Griechischen und bedeutet »Ton, Spannung«. (In der Medizin wird der Begriff des Tonus als Bezeichnung für den Spannungszustand des Gewebes, insbesondere von Muskeln verwendet.) Der Begriff des Psychotonus wird hier als Oberbegriff für so unterschiedliche Bewusstseinszustände wie z. B. Angst und Glück und Konflikt verwendet. So wie der Oberbegriff »Wetter« so unterschiedliche Zustände wie Regen, Hagel oder Sonnenschein umfasst, so beinhaltet der Begriff »Psychotonus« eine Vielzahl unterschiedlicher psychischer und mentaler Zustände des Bewusstseins.

Die Entwicklung der Psychotonusskala

Ausgangspunkt für die Entwicklung des Psychotonusmodells waren zunächst theoretische Überlegungen sowie umfangreiche Literaturrecherchen, z. B. im Bereich der Willens- oder Volitionsforschung (z. B. Achtziger & Gollwitzer, 2018; Gollwitzer, 1991; Gollwitzer & Bargh, 1996; Gollwitzer & Oettingen, 2016; Heckhausen, Gollwitzer & Weinert, 1987; Kuhl, 1995; Prinz, 1998), der Stress- und Emotionsforschung (z. B. Lazarus, 1999), der Entspannungs- und Meditationsforschung (z. B. Petermann & Vaitl, 2014) und der Konfliktforschung (z. B. Feger & Sorembe, 1983).

Der Begriff der Stufe wurde verwendet, um deutlich zu machen, dass es sich um theoretisch voneinander abgrenzbare Zustände handelt, auch wenn empirisch gesehen die Übergänge zwischen diesen Stufen vermutlich eher fließend sind. Bei der Definition der unterschiedlichen Stufen galt es als Erstes, gewissermaßen einen »Nullpunkt« zu definieren, also einen Zustand, der im Alltagsverständnis als weder außergewöhnlich gelassen noch als besonders konflikthaft gilt – vergleichbar mit dem Wasserpegel, der an der Küste als »Normalnull« bezeichnet wird: weder Hochwasser noch Niedrigwasser. Hierfür wurde der Zustand gewählt, den sich Psychologen idealerweise bei ihren Versuchspersonen und Chefs bei ihren Mitarbeitern wünschen: Diese sollen wach sein, ausgeruht und dazu in der Lage, »einfach so« willentlich zu handeln. Dieser Zustand wird hier als »Alltagswachbewusstsein« bezeichnet (PT-Stufe 4). Die Abgrenzung der drei Stufen zunehmender Gelassenheit wurde auf der Grundlage der Untersuchung von Carl Albrecht (1990) vorgenommen, unter Einbeziehung weiterer Ergebnisse, z. B. zu Entspannung (Petermann & Vaitl, 2014), Flow-Erleben (Csikszentmihalyi, 1992) und Trance (Revenstorff, 2001). Die Stufen zunehmender Anspannung, Erregung und Konflikthaftigkeit wurden auf der Grundlage von Ergebnissen aus der Stressforschung (Dantzer, 2016; Lazarus & Folkman, 1984), Volitionsforschung (Achtziger & Gollwitzer, 2018; Heckhausen, Gollwitzer & Weinert, 1987) und Selbstkontrollforschung von Emotionen (Baumeister & Vohs, 2016; Kanfer et al., 2012; Wegner & Pennebaker, 1993) unterteilt in Stufe 5 (erfolgreiche Selbstkontrolle, Volition –»post-Rubikon« –, Coping), Stufe 6 (im Bewusstsein präsenter, d. h. akuter Konflikt) und Stufe 7 (eskalierender Konflikt).

1.1.3     Die einzelnen Stufen der Psychotonusskala (PT)

Tab. 1.1: Psychotonus-Skala

StufeTonuszustand

Im Folgenden werden diese sieben unterschiedlichen psychotonischen Zustände einzeln dargestellt. Im Zentrum der Beschreibung steht dabei der jeweilige Bewusstseinszustand, d. h. die Qualität des bewussten Denkens, Erlebens und Fühlens.

Die Psychotonusskala beginnt am oberen Ende mit der Kategorie der größtmöglichen Un-Gelassenheit: dem Zustand des eskalierenden inneren Konflikts.

PT-7:         Eskalierender Konflikt: Panik, Blackout, »Durchdrehen«

In diesem Zustand eskaliert der akut erlebte innere Konflikt: Die Gedanken drehen sich zunehmend schneller im Kreis, Verzweiflung, Angst oder Ärger steigern sich, Anspannung und Erregung nehmen zu. Ein solches – absichtliches oder unwillkürliches – Eskalieren kann bis zu Panik, zum »Durchdrehen«, zum »Ausrasten« oder auch zu plötzlichem Erstarren, zu »Black-out« oder Ohnmacht führen.

PT-6:         Akute Konflikte, Emotionen, Stress

Der mentale Zustand ist bei einem akuten (d. h. im Bewusstsein präsenten) Konflikt durch Widersprüche und Diskrepanzen gekennzeichnet, verbunden mit akutem Stress und Emotionen (Lazarus, 1991, 1993, 1999) – Angst, Ärger, Eifersucht, Kränkung, Depression etc. Häufig drehen sich in diesem Zustand die Gedanken im Kreis, verbunden mit einem Gefühl der Ausweglosigkeit; in anderen Situationen bleiben die Gedanken plötzlich stecken (»Da fiel mir nichts mehr ein!«), verbunden z. B. mit Erschrecken.

Eine anschauliche Schilderung eines solchen akuten Konfliktzustands findet sich in dem Roman »Die Leiden des jungen Werther« von Goethe. Die Heldin Lotte verbringt eine schlaflose Nacht, nachdem sie von dem unsterblich in sie verliebten Werther am Abend zuvor heftig bedrängt und gegen ihren Willen geküsst worden war. Sie hatte Werther danach von sich gestoßen und ihm gesagt, sie wolle ihn nie wieder sehen. Nun weiß sie nicht, ob sie das ihrem Ehemann erzählen soll.

»[Sie] hatte die letzte Nacht wenig geschlafen (…). Ihr sonst so rein und leicht fließendes Blut war in einer fieberhaften Empörung, tausenderlei Empfindungen zerrütteten das schöne Herz. Wie sollte sie ihrem Mann entgegengehen? Wie ihm eine Szene bekennen, die sie so gestehen durfte und die sie sich doch nicht zu gestehen getraute? (…) Konnte sie wohl hoffen, dass ihr Mann sie ganz im rechten Licht sehen, ganz ohne Vorurteil aufnehmen würde? Und konnte sie sich wünschen, dass er in ihrer Seele lesen möchte? Und doch wieder, konnte sie sich verstellen gegen den Mann, vor dem sie immer wie ein kristallhelles Glas offen und frei gestanden war, und dem sie keine ihrer Empfindungen jemals verheimlicht noch verheimlichen können? Eins und das andere machte ihr Sorgen und setzte sie in Verlegenheit.« (Goethe, 1789/1960, S. 118).

Dieser Entscheidungskonflikt macht sie am nächsten Tag handlungsunfähig. Als ihr Ehemann Albert von seiner Dienstreise zurückkommt, begrüßt sie ihn »mit einer verlegenen Hastigkeit« (S. 119). Auf seine Frage, was in der Zwischenzeit geschehen sei, antwortet sie »mit Übereilung« nur, dass Werther da gewesen sei. Danach verfällt sie in eine tiefe Niedergeschlagenheit. Es wurde

»immer dunkler in Lottens Gemüt. Sie fühlte, wie schwer es ihr werden würde, ihrem Mann, auch wenn er bei bestem Humor wäre, das zu entdecken, was ihr auf dem Herzen lag; sie verfiel in eine Wehmut, die ihr umso ängstlicher ward, als sie solche zu verbergen und ihre Tränen zu verschlucken suchte.« (Goethe, 1789/1960), S. 129).

Die Merkmale eines akuten Konfliktzustands sind:

•  unaufgelöste Diskrepanzen, Widersprüche, Inkonsistenzen (Grawe, 1998) in den bewussten Kognitionen,

•  endlos kreisende Gedanken verbunden mit einem Gefühl der Ausweglosigkeit,

•  Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeitreduzierte Wahrnehmungs- und Problemlösefähigkeit bis hin zum »Tunnelblick« (Dörner, 1999).

Ein akuter Konflikt ist zugleich mit Stress und Emotionen verbunden.

»Historically, the inability to control conflict has been linked with a multitude of negative affective states and processes, including tension, uncertainty, confusion, and vacillation … as well as anxiety, depression, hostility, delusions, and hallucinations.« (Powers, 1973 in Emmons, King & Sheldon, 1993, S. 546)

Die Auswirkungen von Stress und Emotionen auf das Verhalten und das Erleben sind inzwischen vielfach empirisch belegt (z. B. Benthien, 2011; Birbaumer & Schmidt, 2006; Grawe, 2004; Schwarzer, 2000).

PT-5:         Anstrengung, Volition, Impulsivität

Im Zustand der Anstrengung, Volition bzw. Impulsivität ist das bewusste Erleben – im Unterschied zum akuten Konflikt – durch die Dominanz einer Kognition geprägt: ein Gedanke, ein Gefühl, eine Handlungsabsicht setzen sich (zumindest momentan) gegen konkurrierende Gedanken, Gefühle oder Absichten durch, und zwar gegen merklichen inneren Widerstand.

Bei Anstrengung (»effort«) bzw. Volition (Willenshandlung) ist es im Allgemeinen die »vernünftige« Seite, die sich durchsetzt: z. B. etwas willentlich tun, angestrengt nachdenken, sich beherrschen. Von Impulsivität wird in der Regel dann gesprochen, wenn eher die »unvernünftige« Seite die Oberhand gewinnt: z. B. sich zu etwas hinreißen lassen, etwas wider besseres Wissen tun, einer Versuchung nachgeben, unüberlegt handeln. Auf physiologischer Ebene ist dieser Zustand mit deutlich erhöhter Erregung und motorischer Anspannung verbunden (vgl. Birbaumer & Schmid, 1996, S. 518; vgl. dazu auch Neumann, 1996; Pribram & McGuinness, 1992).

PT-4:         Alltagswachbewusstsein

Als Alltagswachbewusstsein wird hier ein Zustand bezeichnet, wie wir ihn uns idealerweise bei uns selbst und bei anderen wünschen: wach, ausgeruht, relativ gelassen, offen, aufnahmefähig und in der Lage, sich zu entscheiden und willentlich zu handeln, ohne merklichen inneren Widerstand.

Im Unterschied zu PT-Stufe 5 erfolgt die willentliche (volitionale) Steuerung des eigenen Handelns (Berlyne, 1960) auf der Stufe PT-4 ohne (spürbare) innere Blockaden.

Drei Stufen zunehmender Entspannung: PT-3 bis PT-1

Die folgenden drei Stufen sind nach Albrecht (1990) durch das Fehlen bewusster Willensakte gekennzeichnet. (Freilich mit einer Ausnahme – ggf. erfolgt zu Beginn der willentliche Entschluss, sich jetzt z. B. zu entspannen.)

PT-3:         Beginnende mentale Entspannung

Im Zustand beginnender Entspannung tauchen noch unterschiedliche, potentiell störende Gedanken, Bilder, Gefühle und Erinnerungen im Bewusstsein auf, ohne dass das Individuum dadurch aus diesem Zustand beginnender Versenkung (Albrecht, 1990) herausgerissen wird. Mit der Zunahme der Entspannung wird dieser »Bewusstseinsstrom« (James, 1890/1981) allmählich langsamer und ruhiger, so wie dies beispielsweise bei Entspannung, Meditation oder auch vor dem Einschlafen geschieht. Physiologisch gesehen ist dieser Zustand durch eine Zunahme von Alpha-Wellen gekennzeichnet (Vaitl & Petermann, 2000).

PT-2:         Versunkenheit und Flow-Erleben

Versunkenheit und Flow-Erleben sind gekennzeichnet durch innere Ruhe, Selbstvergessenheit und einem Gefühl des Einsseins mit sich und der Welt. Dies geht einher mit erhöhter Klarheit, innerem Wohlbefinden, mit hoher Wahrnehmungsfähigkeit sowie mit großer Energie und Mühelosigkeit des Tuns. Ein Beispiel für Flow-Erleben findet sich in dem folgenden Bericht eines Seglers:

»Das Boot lief wie an der Schnur. Trotz sehr starker und abrupt einfallender Böen hatte ich es vollkommen unter Kontrolle, ich war wie verwachsen mit ihm. Die Grenze zwischen meiner Haut und dem Boot war aufgehoben, wir waren eine Einheit. Jeder Handgriff passte, fühlte sich gut an und machte das Boot schneller und schneller. Kein Fehler, kein ungutes Gefühl, es war, als ob ich mit dem Boot den Wind spüren konnte und meine Sinne so erweitert waren, dass ich alles Geschehen auf dem Wasser schon im Voraus wahrnehmen konnte. Obwohl ich in diesem Geschehen vollkommen aufgegangen war, zeichnete sich jeder Moment durch außergewöhnliche Ruhe, Klarheit und Einfachheit aus.« (29)

Herausragendes Merkmal der Versunkenheit sind die Abwesenheit von Sorgen und Zweifeln. Die innere Ruhe bildet den »tragenden Hintergrund« (Albrecht 1990, S. 142) für die Kognitionen, auf die sich »der Scheinwerfer der Aufmerksamkeit« gerade richtet: das Erleben von Wind und Wellen, das Eintauchen in die Musik (Jacoby, 1994), das Verschmelzen mit der Umwelt.

Der Zustand der Versunkenheit beinhaltet (nach Albrecht, 1990):

•  erhöhte Klarheit (»Überklarheit«) des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens;

•  Erleben des Im-Fluss-Seins (Flow), das durch keine aktive Willensfunktion unterbrochen wird;

•  subjektiv verlangsamtes Zeiterleben (Zeit steht gleichsam still);

•  der »Bewusstseinsraum«(Albrecht) ist entleert; das bedeutet im Sinne der Theaterbühnenmetapher, dass die »Bühne des Bewusstseins« leer ist, mit Ausnahme des einen Protagonisten, der sich im Scheinwerferlicht (der Aufmerksamkeit) befindet;

•  die bewussten Kognitionen (das »Bewusstseinsgefüge« sensu Albrecht) bilden eine Einheit (»vollständig integriert«).

Carl Albrecht schreibt dazu:

»Zusammenfassend muß gesagt werden: Der Bewusstseinszustand der Versunkenheit ist in seiner restlosen Integration, in seiner durchgehenden Einheitlichkeit, in seiner Entleerung und in der hochgradigen Verlangsamung alles Erlebnisgeschehens der klarste und hellste Bewusstseinszustand, den wir kennen« (1990, S. 73). Ähnliche Beschreibungen finden sich in der Literatur über Entspannung (Jacobson, 1996; Schultz, 1991), Hypnose (Revenstorf, 2001) und Meditation (z. B. Bock, 1991; Kapleau, 1965; Shapiro, 1981; Varela & Thompson, 1992; Vaitl & Petermann, 2000). Csikszentmihalyi und andere haben denselben Zustand während des aktiven Handelns untersucht (Csikszentmihalyi & Czikszentmihalyi, 1991).

Aus physiologischer Sicht geht dieser Zustand der tiefen Entspannung einher mit reduziertem Muskeltonus, Veränderung der Reflextätigkeit, mit peripherer Gefäßerweiterung (Vasodilatation) und einer geringfügigen Senkung des Pulsschlags und des Blutdrucks, der Atem wird langsamer und gleichmäßiger, der Sauerstoffverbrauch nimmt ab, die Hautleitfähigkeit nimmt ebenfalls ab, die Hirnströme (EEG) verändern sich in Richtung auf vermehrte Alpha- und Theta-Wellen (Vaitl, 1993b).

PT-1:         »Absolute innere Ruhe«

Der Zustand »absoluter innerer Ruhe« ist nach Albrecht durch das Erleben umfassender innerer Ruhe, Leere und Zeitlosigkeit gekennzeichnet. »Wenn die Versunkenheit zum Gegenstand der Innenschau wird, ist sie eine allumfassende Einheit, deren Einzelelemente, nämlich die absolute Leere, die absolute Ruhe und die Zeitlosigkeit nicht mehr zu unterscheiden sind« (Albrecht, 1990, S. 223).

Im »Hui Ming Ging«, dem »Buch von Bewußtsein und Leben« des taoistischen Mönchs Liu Hua Yang aus dem Jahr 1794 findet sich die Schilderung eines solchen Zustands tiefer innerer Ruhe.

Die leere Unendlichkeit

Ohne Entstehen, ohne Vergehen,

ohne Vergangenheit, ohne Zukunft.

Ein Lichtschein umgibt die Welt des Geistes.

Man vergißt einander, still und rein, ganz mächtig und leer.

Die Leere wird durchleuchtet vom Schein des Herzens des Himmels.

Das Meerwasser ist glatt und spiegelt auf seiner Fläche den Mond.

Die Wolken schwinden im blauen Raum.

Die Berge leuchten klar.

Bewußtsein löst sich in Schauen auf.

Die Mondscheibe einsam ruht.

(Aus: Wilhelm & Jung, 1986, S. 158)

In der mystischen Literatur finden sich ähnliche Beschreibungen eines solchen Zustands, z. B. die »sancta indifferentia« der christlichen Quietisten (zit. nach Albrecht, 1990, S. 224), die »stille Einöde, wo niemand zu Hause ist« von Meister Eckhart (1919; zit. nach Albrecht, 1990), die »Weite, die weder Bild noch Form noch Weise hat« (Johannes Tauler, 1923; zit. nach Albrecht, 1990). Zur Veranschaulichung dieses Zustands zieht Albrecht die Beschreibung der vier Bewusstseinsstufen des »Jhâna« im Buddhismus heran (Albrecht, 1990, S. 226–229). Weitere Beschreibungen solcher außergewöhnlichen Bewusstseinszustände finden sich im Alltag (Roberts, 1982; Wren-Lewis 1988, Bock, 1991; Wilber, 1991), bei Entspannungsübungen (z. B. Schultz, 1991) und in unterschiedlichen religiösen Traditionen.

Eine theoretische Erklärung für das Erleben der Zeitlosigkeit liefert die holonome Theorie, die von Karl Pribram und David Bohm auf der Grundlage der Quantenphysik entwickelt wurde. Danach ist das Erleben von Zeitlosigkeit als Resultat des Zugangs zur »spectral domain« (Pribram, 1991, S. 272–273) zu interpretieren; in diese Domäne sind Zeit und Raum »eingefaltet« (Bohm, 1998; Weber, 1987). In jüngerer Zeit gibt es Untersuchungen zu hirnphysiologischen und möglicherweise genetischen Grundlagen eines solchen Zustands (z. B. Hamer, 2004, Ott, 2010).

»Gelassener werden« aus Sicht des Psychotonusmodells

Im Rahmen des Psychotonusmodells lässt sich Gelassenheit definieren als ein mentaler Zustand auf PT-Stufe 4 oder niedriger. Im Einzelfall kann Gelassenheit bedeuten:

•  Alltagswachbewusstsein (PT-4): in der Lage zu sein, ohne sonderlich große Anstrengung willentlich zu handeln – wie Beispiel 1 (s. oben) eindrucksvoll belegt,

•  beginnende Entspannung bzw. Versenkung (PT-3) Flow-Erleben (PT-2): im Tun aufgehen oder in etwas versunken sein (s. Beispiel 2)

•  Absolute innere Ruhe (PT-1), wie sie einige Menschen gelegentlich erleben (s. Beispiel 3).

Im Folgenden wird der Begriff der Gelassenheit in erster Linie situationsbezogen verwendet werden. Ein Individuum ist mehr oder weniger gelassen in Bezug auf eine bestimmte Situation: ein bevorstehendes Gespräch, die Erinnerung an eine peinliche Situation oder die Vorstellung zu fliegen. Ziel der Introvision ist zunächst eine Zunahme an situationsspezifischer Gelassenheit – zum Beispiel die Flugangst aufzulösen (Kap. 6) (state-spezifische Gelassenheit). Mit zunehmender Anwendung von Introvision nimmt allmählich auch das Ausmaß der Gelassenheit zu; auf diese Weise kommt es dann auch zu einer generellen Zunahme an Gelassenheit (»trait«).

1.2       Gelassener werden durch Introvision: eine einführende Übersicht

Im Folgenden soll für eilige Leser und Leserinnen eine kurze einführende Übersicht über das Vorgehen der Introvision gegeben werden.

Gelassenheit als Folge des Unter-Lassens

Die Introvision geht von der Annahme aus, dass Gelassenheit im Prinzip eine Folge des Unter-Lassens ist. Das Wort »gelassen« bedeutet ursprünglich »etwas unterlassend«. Es stammt von dem mittelhochdeutschen Verb »gelâzen« ab, das soviel bedeutet wie etwas »(er-), (ver-), (unter-)lassen« (Duden, 1989).

Aus Sicht der TMI ist Gelassenheit die Folge des Unter-Lassens des introferenten Eingreifens in vorhandene Kognitionen durch Überschreiben, Verzerren und Ausblenden; dabei werden die betroffenen Kognitionen gezielt mit erhöhter Erregung, Anspannung bzw. Hemmung gekoppelt. Hört dieses introferente Eingreifen auf, so stellt sich Gelassenheit ein. Genauer gesagt: Hört das automatisierte introferente Eingreifen in bestimmte inhaltliche Kognitionen auf (z. B. bei Prüfungsangst), so wird das Individuum in der entsprechenden Situation – hier also bei der Prüfung – wieder gelassen.

Ein Fallbeispiel: Probleme mit dem Lernen für eine Klausur

Wie sich dieses praktisch umsetzen lässt, soll im Folgenden an einem Fallbeispiel veranschaulicht werden.

Stellen wir uns eine Studentin vor, die große Schwierigkeiten hat, sich auf eine Klausur vorzubereiten. Sie neigt dazu, die Arbeit dafür so lange vor sich herzuschieben, wie es irgend geht, und dann ein paar Nächte lang »durchzulernen«, mit dem Ergebnis, dass ihre Noten nur mittelmäßig sind. Sie besucht einen Einführungskursus in Introvision und hofft, dass ihr dies helfen wird, früher mit dem Lernen anzufangen und beim Lernen innerlich ruhiger zu sein. Was sie theoretisch in diesem Kursus lernt, wird in den folgenden Kapiteln ausführlich beschrieben werden. An dieser Stelle soll in erster Linie gezeigt werden, welche Möglichkeiten diese Studentin praktisch mit auf den Weg bekommt, um erstens im Alltag generell gelassener zu bleiben und zweitens Introvision auf ihr konkretes Problem anzuwenden.

1.2.1     Den Kopf wieder freibekommen: Zur Vorbereitung: »Pakete packen« als Anfänger-Übung

Zur Vorbereitung auf die Introvision lernt sie als Anfängerin zunächst eine Übung von Gendlin (1981, S. 48–49 und pers. Kommunikation) anzuwenden, die ihr helfen soll, ihren Arbeitsspeicher wieder freizubekommen. Ziel dieser vorbereitenden Übung ist es, all die Dinge, die sie in diesem Moment beschäftigen, sozusagen geistig beiseitezulegen.

»Erst einmal Pakete packen«

Ausgangsfrage ist: »Wie fühle ich mich? Was hält mich davon ab, mich in diesem Moment rundum wohlzufühlen? Was belastet mich im Moment?«

•  Nennen Sie die einzelnen Probleme, die Ihnen jetzt dabei in den Sinn kommen, kurz (»Aha, das ist das XY-Problem«), ohne sie näher zu betrachten – so wie Sie im Alltag einzelne Dinge auf einer »Erledigungsliste« kurz notieren.

•  Dann stellen Sie sich vor, dass Sie jedes einzelne Problem in ein Paket packen und anschließend diese Pakete an einem bestimmten Ort ablegen – zum Beispiel in einem Regal oder in einer Kiste. Gegebenenfalls verbinden Sie das mit dem (Selbst-)Versprechen, dass Sie sich mit einem bestimmten Problem zu einem festgelegten Zeitpunkt (z. B. »Heute nachmittag um 16 Uhr«) befassen werden.

•  Treten Sie dann innerlich einen Schritt zurück und betrachten Sie »die Pakete« aus einer gewissen Distanz heraus.

•  Wenn Sie mögen, können Sie Papier und Bleistift neben sich legen und sich die einzelnen Dinge auch kurz notieren.

Viele Menschen finden diese Übung in der heutigen Zeit der Informationsüberflutung nützlich, um auf diese Weise den Kopf für das freizubekommen, was gerade ansteht. Manche Lehrer und Lehrerinnen führen diese Übung zu Beginn des Unterrichts mit ihren Schülerinnen und Schülern durch. Mit zunehmender Erfahrung in KAW lernt sie, stattdessen ihr Lieblings-KAW anzuwenden bzw. einen »Screenshot« durchzuführen (s. KAW-Anwendung,