Gemeingefährlich - Stephan Harbort - E-Book

Gemeingefährlich E-Book

Stephan Harbort

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Beschreibung

Das Böse ist mitten unter uns »Ich war erst in einem Waffengeschäft und wollte ein Gewehr kaufen. Damit hätte ich einiges angestellt. Dann habe ich mir bei Karstadt ein Messer gekauft. Der Gedanke, eine Frau zu töten, war wieder da. Erst wusste ich nicht, wie ich an ein Opfer rankommen sollte, dann sah ich die Frau in dem Taxi. Warum nicht, habe ich mir gedacht.« Täter, die in Sicherungsverwahrung genommen wurden, gelten als die schlimmsten Verbrecher. Wird ein Triebtäter entlassen, formiert sich schnell Widerstand. So jemanden will man nicht in der Nachbarschaft haben. Solche Leute lösen Angst aus. Harbort stellt acht spektakuläre Kriminalfälle dar, das Spektrum reicht vom rechtsextremistisch bedingten Ausländermord über Sexualmord bis zum Foltermord in einer deutschen Justizvollzugsanstalt. 

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Stephan Harbort

Gemeingefährlich

Deutschlands schlimmste Verbrecher – ein Kommissar berichtet

Deutscher Taschenbuch Verlag

Für Katharina Harbort

und Franco Barletta.

Die Welt ohne euch

wäre wie ein Fluss ohne Wasser.

Die geschilderten Fälle sind authentisch und entsprechen der prozessualen Wahrheit. Als Quellen für die Rekonstruktion und Dokumentation der Ereignisse dienten insbesondere die Gerichtsurteile bzw. die Aussagen der von mir interviewten Beteiligten.

Die Namen der handelnden Personen sind pseudonymisiert. Gelegentlich sind Dialoge nachempfunden. Auch biografische Angaben oder örtliche und geografische Bezüge wurden mitunter verfremdet. Diese Verfahrensweise ist dem Schutz der Persönlichkeitsrechte geschuldet.

VORWORT

Die Jalousien sind heruntergelassen, doch der Mann dahinter beobachtet die Szenerie vor dem Haus genau. Er sieht eine aufgebrachte Menschenmenge, kaum zehn Meter entfernt, bestimmt fünfzig Personen, vornehmlich Männer, Familienväter, die Transparente hochhalten. »Sexbestie«, »Mörder« und »Raus du Sau!« steht darauf geschrieben. In unregelmäßigen Abständen skandieren die Menschen: »Wir-wollen-keine-Kinder-schänder-schweine!« Oder: »Komm-raus – oder-wir-holen-dich!« Sie nennen diese täglich stattfindende Versammlung eine »Demonstration«. Denn sie befürchten, der Mann hinter der Jalousie, ein kürzlich aus der Sicherungsverwahrung entlassener Sexualstraftäter, könnte rückfällig werden und eins ihrer Kinder missbrauchen. Oder umbringen. Die Demonstranten sehen in dem Ex-Täter nach wie vor eine Gefahr für die Allgemeinheit.

Von solchen notorischen Verbrechern handelt das vorliegende Buch. Ihren grauenhaften Taten, die beispiellos sind. Ihrem verbrecherischen Werdegang, für den Ähnliches gilt. Es geht also vornehmlich um jene Täter, die unbelehrbar, unberechenbar und unbeeinflussbar sind, die uns Angst machen, die unsere persönliche Freiheit bedrohen, unser Vermögen, unsere Integrität, unsere Intimität, sogar unser Leben.

Es geht aber auch um die überaus dramatischen Folgen der Verbrechen für die Opfer und deren Angehörige, die einer lebenslänglichen Bestrafung gleichkommen. Und nicht zuletzt muss es auch um jene selbstgerechten Erziehungsversager gehen, die in vielen Fällen maßgeblich dazu beigetragen haben, dass sich Mädchen und Jungen zu gemeingefährlichen Verbrechern entwickeln konnten.

Wann ein Straftäter als Gefahr für die Allgemeinheit gilt und mit entsprechenden Sanktionen belegt werden darf bzw. muss, ist in erster Linie eine Rechtsfrage, die wiederum auf der Basis von psychologischen, psychiatrischen, soziologischen und kriminologischen Erkenntnissen bzw. Untersuchungen zu beantworten ist. Das Sanktionssystem in Deutschland, verankert unter anderem im Strafgesetzbuch, sieht für Täter, die eine Bedrohung für die Sozialgemeinschaft darstellen, neben der Strafe auch sogenannte Maßregeln zur Besserung und Sicherung vor, die von einem Gericht angeordnet werden. Diese tief in die Persönlichkeitsrechte einschneidenden Maßnahmen können im Einzelfall sogar einen lebenslangen Freiheitsentzug bedeuten und sind nicht als Bestrafung zu verstehen, sondern dienen allein dem Schutz der Bevölkerung vor dauerhaft gefährlichen Straftätern.

Paragraf 66 des Strafgesetzbuchs normiert in Absatz 1 Nummer 4, unter welchen materiellen Voraussetzungen die Sicherungsverwahrung angeordnet werden darf: »Die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich ist.«

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, des höchsten deutschen Strafgerichts, ist unter »Hang« eine auf charakterlicher Anlage beruhende oder durch Übung erworbene intensive Neigung zu Rechtsbrüchen zu verstehen. Diese »psychologische Tatsache« wird auch als »eingeschliffener innerer Zustand« oder »eingeschliffenes Verhaltensmuster« definiert. Solche Täter sind entweder willensstark genug, um dauerhaft verbrecherisch denken und handeln zu können (Berufsverbrecher), oder so willensschwach, dass sie ihren fest verwurzelten kriminellen Neigungen bei sich bietender Gelegenheit nicht widerstehen können (Gelegenheitsverbrecher). Die Ursachen für solche verbrecherischen Neigungen (z.B. rechtsfeindliche Grundhaltungen oder Persönlichkeitsstörungen) können unterschiedlicher Natur sein, sind aber aus juristischer Sicht weiter unerheblich.

Die verübten Delikte müssen nicht notwendigerweise planvoll begangen worden sein, dürfen nicht in den Bereich der Konflikt- oder Spontantaten fallen und müssen symptomatischen Charakter haben, also den Hang zu schweren Straftaten erkennen lassen. Sie müssen nicht mehrere Opfer betreffen, es genügen auch wiederholte Delikte zum Nachteil desselben Opfers. Allerdings müssen die Leidtragenden seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, dies wird beispielsweise bei Sexualdelikten, Gewalttaten oder (versuchten) Tötungen anzunehmen sein.

Während sich der »Hang zu schweren Straftaten« empirisch nachweisen lässt, ist die Gefährlichkeit für die Allgemeinheit eine daran anknüpfende prognostische Bewertung. Erforderlich ist eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Angeklagte auch nach Verbüßung der Haft gefährlich sein wird. Bei dieser Prognose ist eine Gesamtwürdigung der Person des Angeklagten vorzunehmen, die insbesondere dessen psychische Befindlichkeit, seinen Lebensweg oder Vorstrafen, aber auch straflose Verhaltensweisen zu umfassen hat. Berücksichtigt werden dabei das bisherige Verhalten des Angeklagten nach Verbüßung vorheriger Straftaten (z.B. als Angehöriger einer kriminellen Vereinigung oder bei wiederholter Rückkehr ins Milieu) und pathologische bzw. pathologisch eingefärbte Charaktermerkmale: beispielsweise fehlendes Einfühlungsvermögen, geringe Frustrationstoleranz oder ein unzureichendes Verantwortungsbewusstsein.

Diese Aufzählung der juristischen Voraussetzungen für die Annahme einer Gemeingefährlichkeit ist nicht vollständig (beispielsweise wird dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hohe Relevanz eingeräumt), macht aber deutlich, dass diese »psychologische Tatsache« vornehmlich durch Rechtsbegriffe, die man unterschiedlich auslegen kann, subsumiert werden muss. Diesen mehrdeutigen Tatbestandsmerkmalen müssen im Einzelfall Inhalte erst zugeordnet werden, um zu einem entsprechenden Werturteil gelangen zu können. Demnach darf die Begründung einer Gemeingefährlichkeit kein schablonenhaftes Verfahren sein, weil es sich eben nicht um eine homogene Tätergruppe handelt, die einzelfallunabhängig charakterisiert und etikettiert werden könnte. Die unterschiedlichen Erscheinungsformen der Gemeingefährlichkeit und deren bislang nicht erforschte Ursachenvielfalt zu dokumentieren, ist auch ein Anliegen des vorliegenden Buches.

Während bei gefährlichen und voll schuldfähigen Tätern die Sicherungsverwahrung angeordnet werden muss, können vermindert schuldfähige bzw. schuldunfähige Täter nach Paragraf 63 des Strafgesetzbuchs dauerhaft in einem hochgesicherten psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden, wenn »die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist«.

Mit »Zustand« sind in erster Linie die in Paragraf 20 des Strafgesetzbuchs genannten seelischen Störungen gemeint: »Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.«

Leidet der Angeklagte zum Zeitpunkt der Tat an einer der genannten Krankheiten, kann er im juristischen Sinne nicht schuldhaft gehandelt haben und darf wegen der begangenen Tat(en) nicht verurteilt werden. Gleichwohl müssen bei Wiederholungsgefahr gegen ihn freiheitsentziehende Maßnahmen verhängt werden. Im Gegensatz zur Sicherungsverwahrung geht es bei der dauerhaften Unterbringung in der Psychiatrie nicht nur um den Schutz der Sozialgemeinschaft, sondern auch darum, den Patienten so weit möglich zu heilen.

Während die schuldunfähigen Täter nur in der Psychiatrie untergebracht werden dürfen, muss bei vermindert schuldfähigen Delinquenten im Einzelfall entschieden werden, in welcher Form deren Gefährlichkeit begegnet werden soll. Ausgangspunkt für diese Einschätzung ist Paragraf 21 des Strafgesetzbuchs: »Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.«

Daraus folgt: Ist es aufgrund einer solchen seelischen Erkrankung zu einer Verminderung der Einsichtsfähigkeit (Täter kann das Unerlaubte seiner Handlung nicht erkennen) oder der Hemmungsfähigkeit (Täter kann sein Handeln nicht normgerecht steuern) gekommen, und es wird eine Gefährdung der Allgemeinheit prognostiziert, so muss das Gericht im Einzelfall darüber befinden, ob die Sicherungsverwahrung oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet wird. Im Zweifelsfall wird man sich für die Möglichkeit einer Therapie entscheiden. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus kann bis zum Tode des Patienten durchgehalten werden, sollte der therapeutische Erfolg ausbleiben und der Betroffene weiterhin als hochgefährlich gelten.

Dass ein Täter als Gefahr für die Allgemeinheit angesehen wird, ist ausgesprochen selten der Fall – lediglich etwa 0,006 Prozent der Bevölkerung fallen aktuell darunter. Nun könnte man sagen: Statistisch spielt dieses Phänomen keine Rolle und kann aus diesem Grund auch gesellschaftlich kaum Beachtung finden. Weit gefehlt.

Gemeingefährliche Täter werden zu negativen Stars von Gerichtsverhandlungen, sie inspirieren zu Bestseller-Romanen und Kino-Blockbustern, sie schaffen es sogar bis in die ›Tagesschau‹ – und unsere Albträume. Denn dieser exklusiven Täterklientel wird allgemein Beängstigendes nachgesagt: dass niemand vor ihr sicher ist, zu keiner Zeit, nirgendwo, selbst in den eigenen vier Wänden nicht, dort, wo normalerweise der Einfluss des Staates bzw. fremder Menschen endet und Sicherheit garantiert erscheint. Diese Wahrnehmung einer latenten Bedrohung verändert das Sicherheitsbedürfnis vieler Menschen und führt nicht selten zu Populismus und Aktionismus.

Die in diesem Buch vorgestellten Fälle sind nicht repräsentativ, aber so ausgewählt, dass die Vielgesichtigkeit der Täter und der von ihnen verübten Verbrechen, aber auch die Vielschichtigkeit der Ursachen für das Drama der Allgemeingefährlichkeit deutlich wird. Und sie belegen eindrucksvoll, dass häufig nicht der Täter allein haftbar gemacht werden darf, sondern regelmäßig ebenso die unbequeme Frage der sozialen Verantwortung zu stellen ist. Insofern soll dieses Buch nicht nur dokumentieren und aufklären, sondern auch nachdenklich stimmen.

 

 

Stephan Harbort

Düsseldorf, im April 2014

BLUTRAUSCH

»Er ist ein netter, höflicher, lieber Junge.

Er gibt nur das weiter, was man mit ihm macht.«

 

»Das Röcheln und Stöhnen seiner Opfer

war ihm vollkommen gleichgültig.

Es ist ein Fall, den man nicht verstehen kann.

Sorgen Sie dafür,

dass dieses Monster nie wieder freikommt!«

 

»Eigentlich habe ich für Leute,

die so etwas tun, immer die Todesstrafe gefordert.

Und jetzt bin ich selbst so einer.«

 

Das Böse bekommt endlich ein Gesicht, als der Angeklagte zum Prozessauftakt in den überfüllten Schwurgerichtssaal B 25 hereingeführt wird. Sofort beginnen die Fernsehkameras zu surren, die spürbare Anspannung aller Anwesenden scheint sich im Blitzlichtgewitter der Fotografen zu entladen und macht den jungen Mann, der ungeheuerliche Verbrechen begangen haben soll, für einige Augenblicke zum Mittelpunkt des Geschehens. Man könnte meinen, ein Hollywoodstar macht seine Aufwartung, nur der rote Teppich fehlt. Faszination Verbrechen. An die Leiden der Opfer und ihrer Angehörigen denkt jetzt niemand.

Das ändert sich schlagartig, als eine halbe Stunde später die Taten des Angeklagten zur Sprache kommen, der selbst darüber lieber schweigen möchte. Erst während der Untersuchungshaft ist es ihm möglich gewesen, sich der ihn bis dahin überfordernden Wahrheit zu nähern, sein Schamgefühl zu überwinden. Er hat reinen Tisch gemacht und sämtliche Details seiner Taten minutiös und schonungslos beschrieben – ein Dokument des Grauens, das schockierende Bilder im Kopf entstehen lässt und die Frage provoziert: Wie kann ein Mensch zu so etwas fähig sein? Neunzehn quälend lange Seiten umfasst dieses vom Angeklagten übertitelte »Endgeständnis«, das nun vom Vorsitzenden verlesen wird.

»Sehr geehrte Damen und Herren des Amtsgerichts Northeim. Nach langem Hin-und-her-Überlegen habe ich mich entschlossen, ein Schriftstück zu verfassen, in dem ich teilweise mein Geständnis aus den Vernehmungen … widerrufen möchte, und detailliert über die wahren Tatgeschehnisse … berichten möchte«, heißt es einleitend. »Falls Sie sich fragen, warum ich jetzt erst darüber berichte, bei den Geschehnissen handelt es sich um Tatabläufe, für die ich mich schäme, und daher nicht in der Lage war, darüber in den Vernehmungen vor den Polizei- und Justizbeamten zu sprechen. Und insbesondere möchte ich, dass die Angehörigen des Mädchens und des Jungen die Wahrheit wissen, wie und warum die Taten passiert sind, und nicht wie die vorher von mir gestandene Teilwahrheit.«

Für Letztere ist die Verlesung des schriftlichen Geständnisses eine regelrechte Tortur. Ekelerregende Details werden ausgebreitet, die einem Angst vor Menschen machen. Kein unbarmherziger Handgriff des Mörders bleibt ausgespart, wie in Zeitlupe entstehen Vorstellungen grausiger Verstümmelungen der Kinder und sprengen die Grenzen des Erträglichen. Die Augen der beisitzenden Richter bohren sich förmlich in den verkrampft wirkenden Angeklagten hinein, der die Hände in den Schoß gelegt hat und stoisch auf den Boden stiert. Gelegentlich ist im Saal ein unterdrücktes Seufzen zu hören, sonst herrscht stummes Entsetzen. Auch erfahrene Strafverteidiger und Opferanwälte können ihre Fassungslosigkeit nicht verbergen. Reihenweise eilen Zuhörer aus dem Saal, weil sie sich das Geschilderte nicht weiter zumuten möchten, aber auch fremdes Leid gewohnte Gerichtsreporter verlieren die Nerven und verlassen die unwirklich anmutende Szenerie mit Tränen in den Augen. Selbst abgehärtete Kriminalbeamte und Justizwachtmeister versteinern förmlich, ihr Blick geht ins Leere.

Die verhandelten Verbrechen wirken durch die infantil anmutende Ausdrucksweise des Täters unheilvoll lebendig und können nicht länger durch vergleichsweise nüchtern anmutende juristische Formulierungen des Staatsanwalts oder des Gerichts abstrahiert und emotional entschärft werden. Das Leid der Opfer wird unabweisbar, fühlbar, erlebbar: das lähmende Gefühl, dem Vernichtungswillen des Täters ausgesetzt zu sein, der Subjektqualität beraubt, auf die eigenen biologischen Körperfunktionen reduziert, und somit zum Spielball der Bösartigkeit zu werden.

 

Rückblende: einhundertzweiundfünfzig Tage zuvor.

Ein trister Tag im November. Der Himmel ist wolkenverhangen, nur vereinzelt brechen sich Sonnenstrahlen ihre Bahn. Mit fünfzehn Grad ist es für die dunkle Jahreszeit ungewöhnlich warm.

Der junge Mann sitzt im Wartehäuschen des Bahnhofs, ruht sich aus, trinkt Flaschenbier, raucht, hält Ausschau. Es ist 15.35 Uhr. Seit Stunden ist er zu Fuß unterwegs, stromert allein ziellos durch das 3400-Seelen-Dorf, nachdem er am späten Vormittag einen Bekannten, den er besuchen wollte, nicht angetroffen hat.

Plötzlich Stimmengewirr. Zwei junge Mädchen, elf und dreizehn Jahre alt, unterhalten sich angeregt auf dem Bahnsteig, lachen. Der Mann im Wartehäuschen hat sie nicht kommen sehen und erst jetzt bemerkt. Er mustert die Mädchen mit seinen tief in den Höhlen liegenden dunklen Augen. Das augenscheinlich jüngere Mädchen mit den schulterlangen blonden Haaren gefällt ihm besonders. Süße Maus, denkt er sich. Sofort springt seine abnorme Fantasie an, eine ihn betörende, andere Menschen verstörende Parallelwelt entsteht.

»Wo wollt ihr denn hin?«

Überrascht drehen sich die Mädchen um. Der etwa 1,70 Meter große und ziemlich muskulös erscheinende Mann, der vor ihnen steht, sieht nicht gerade vertrauenerweckend aus: millimeterkurz geschorene schwarze Haare, ungepflegter Dreitagebart, kräftiger Schnauzer, fahles Gesicht, stechende Augen, überlange Fingernägel, abgerissene Klamotten, kaputte Schuhe – eine eher verwahrlost wirkende, abstoßende Gesamterscheinung.

»Was ist? Könnt ihr nicht reden?«

Nur das ältere Mädchen antwortet. »Wir warten auf den nächsten Zug.«

Der Mann blickt sich sichernd um. Niemand da. Er überlegt einen Moment, wie es ihm gelingen könnte, die Mädchen vom Bahnhof wegzulocken. Ihm fällt jedoch nichts ein.

»Wollt ihr eine?« Er zeigt den Mädchen eine Schachtel Zigaretten.

»Nein.«

In den nächsten Minuten verwickelt der Mann Jessica und die zwei Jahre jüngere Marion in ein Gespräch und erfährt, dass sie die Gesamtschule im Ort besuchen und nach der letzten Stunde nach Hause wollen, wo sie bereits erwartet werden.

Der Mann richtet den Blick auf Marion. »Hast du schon einen Freund?«

Verlegen verneint das Mädchen.

»Und du?«

Jessica antwortet nicht. Sie schüttelt nur den Kopf.

Am liebsten würde er die 11-Jährige jetzt vergewaltigen. Auf der Stelle. Er nimmt noch einen tiefen Schluck aus der Bierflasche. Einen Herzschlag später steht er direkt neben Marion und legt ihr den linken Arm um die Schulter, scheinbar freundschaftlich.

»Ich finde dich total nett«, flüstert er dem Mädchen ins Ohr.

Marion versucht, sich wegzudrehen, doch er lässt nicht locker. »Hab dich doch nicht so.«

Seine rechte Hand gleitet unter den Pullover des Mädchens. Jetzt wird es Marion zu viel – »Lassen Sie das!« – und sie reißt sich los.

»War nicht so gemeint.«

Der Mann hält einige Meter Abstand und steckt sich eine Zigarette an, grübelt. Er kann seine Erregung kaum bändigen. Dafür ist er einfach zu dicht dran, hat sein Opfer direkt vor Augen, ist ihm schon so nahe gewesen. Hautnah. Trotzdem gelingt es ihm, sich zu beherrschen. Das Risiko erscheint ihm hier und jetzt einfach zu hoch. Er überlegt fieberhaft, wie es weitergehen soll.

Die Mädchen beobachten den Mann währenddessen aus sicherer Entfernung und unterhalten sich leise. Als der Zug einfährt, wird dem Mann bewusst, dass es nun für seine Absichten wohl zu spät ist – keine Gelegenheit mehr. Er flucht laut und sieht, wie Marion und Jessica in der Regionalbahn verschwinden. Die Mädchen können zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass sie gerade einem Mann entkommen sind, der nur wenige Stunden später einen grauenhaften Mord begehen wird.

Missmutig kehrt er ins Wartehäuschen zurück und trinkt Bier. Dabei malt er sich aus, was hätte passieren können, wenn es ihm geglückt wäre, die Mädchen zu trennen und Marion in die Bahnhofstoilette zu lotsen. Wenn er das Kind hätte überwältigen und seinen Fantasien entsprechend missbrauchen können. Und wenn er ein Messer dabeigehabt hätte, dann …

Eine Viertelstunde später verlässt der Mann das Wartehäuschen, weil sein Biervorrat inzwischen aufgebraucht ist. Nachschub besorgt er sich in einem nahe gelegenen Supermarkt. Das Mädchen mit den blonden Haaren geht ihm trotz der Ablenkung nicht mehr aus dem Sinn. Süße Maus! Seine Erregung will einfach nicht abflauen. Doch auch in der nächsten halben Stunde ergibt sich keine Möglichkeit, ein Mädchen in seine Gewalt zu bringen.

Also beschließt er, es noch einmal bei seinem Bekannten zu versuchen, den er vormittags verpasst hat. Minuten später steht er vor dem etwas heruntergekommenen Sechsparteienhaus und schellt. Niemand öffnet. Weil auch das Auto des ehemaligen Schulkameraden nicht im Hof steht, geht der Mann zurück in Richtung Ortsmitte, schlendert in die nächste Seitenstraße, passiert den Friedhof und gelangt zu einer Kleingartenkolonie.

Da kommt ihm auf einem einsam gelegenen Verbindungsweg ein Mädchen entgegen. Allein. Er kennt sie vom Sehen und schätzt ihr Alter auf zwölf oder dreizehn Jahre. Unvermittelt muss er wieder an Marion denken, die verpasste Gelegenheit. Nun trennen ihn und das Mädchen vielleicht noch zwanzig Meter. Er legt die Tüte mit den Bierflaschen auf den sandigen Boden. Er braucht jetzt freie Hand. Sein Blick schweift über die angrenzenden Kleingärten. Als er feststellt, dass in einem der Gärten ein älterer Mann Unkraut zupft, macht er kurz entschlossen kehrt, nimmt die Plastiktüte mit den Bierflaschen wieder auf und lässt das Mädchen unbehelligt an sich vorbeigehen. Ein Überfall unter diesen Umständen erscheint ihm zu riskant. Besser abwarten und die Verfolgung aufnehmen.

Augenblicke später läuft er an einem Bach entlang und schmeißt die leer getrunkene Bierflasche ins Wasser. Er verharrt einen Moment und beobachtet neugierig, wie sich um die Flasche herum kreisrunde Wellen ausbreiten. Weiter. Der Abstand zu dem Mädchen hat sich inzwischen vergrößert, nun sind es etwa fünfzig Meter. Er bleibt abermals kurz stehen und zündet sich eine Zigarette an. Dann nimmt er die Fährte wieder auf. Doch das Mädchen ist nun nicht mehr zu sehen. Seine Schritte werden schneller. Die kann doch nicht einfach verschwinden! Schließlich muss er die Jagd enttäuscht aufgeben. Wieder nichts. Wutentbrannt schleudert er seine letzte Bierflasche auf den Boden. Das Glas und seine Vergewaltigungsträume zerplatzen.

Der Mann kauft sich abermals zwei Flaschen Bier und setzt sich in einem Park auf eine Bank. Gegen 17.30 Uhr trifft er auf einen Bekannten aus jener Drogentherapieeinrichtung, in der er selbst einige Zeit verbracht hat. Das Amtsgericht hatte ihn wegen diverser Diebstähle unter erheblichem Drogen- und Alkoholeinfluss zu zwei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt. Nach seiner vorzeitigen Entlassung war er in das geschlossene Therapiezentrum überstellt worden. Er kam zwar von den Drogen los und zunächst auch vom Alkohol; doch als er wieder anfing, regelmäßig zu trinken, musste er die Einrichtung verlassen.

Zunächst hielt er sich an die strengen Bewährungsauflagen; aber bereits wenige Monate später wurde er wieder straffällig, klaute Mofas, Fahrräder, setzte eine Gaststätte und das Vereinsheim eines Tennisclubs in Brand. Die Untersuchungshaft blieb ihm nur deshalb erspart, weil der wohlwollende Ermittlungsrichter weder Flucht- noch Wiederholungsgefahr erkennen konnte.

Er unterhält sich mit seinem Bekannten eine Weile, man palavert über die gemeinsame Zeit während der Therapie. Unterdessen setzen sich zwei junge Mädchen gegenüber auf eine Bank, etwa fünfzehn Meter entfernt. »Süße Mäuse!« Er hat die Mädchen bemerkt und zeigt mit dem Finger auf sie. Sein Bekannter hingegen gibt sich unbeeindruckt.

Marion! Während er weiter mit seinem Bekannten spricht, muss er wieder unentwegt an das blonde Mädchen vom Bahnhof denken. Und schaut dabei in Richtung der unbekannten Teenager, die jedoch nach zehn Minuten ihren Weg fortsetzen. Als kurz darauf sein Bekannter mit dem Bus zurück zum Therapiezentrum fährt, geht er selbst wieder in Richtung Bahnhof. Es wird bereits dunkel und er glaubt nicht daran, nochmals auf ein Mädchen zu treffen, das er überwältigen könnte. Stattdessen will er den nächsten Zug nehmen und nach Hause fahren. Es ist jetzt kurz nach 18 Uhr.

Etwa zur selben Zeit verlässt Carina Wöller die elterliche Wohnung. Die 14-Jährige lebt gemeinsam mit ihrer Mutter und zwei Geschwistern in einem Zweifamilienhaus an der Peripherie des Ortes. Kurz zuvor hat sie ihre Freundin verabschiedet, die zu Besuch gewesen ist. Eigentlich hat Carina ihrer Freundin versprochen, sie auf dem Heimweg zu begleiten, doch Carina ist durch einen Anruf ihres Vaters aufgehalten worden. Weil das Gespräch nicht wie erwartet länger gedauert hat, eilt sie jetzt ihrer Freundin nach.

Der Mann mit den perversen Bedürfnissen hat es sich mittlerweile anders überlegt. Das Beinahe-Erfolgserlebnis mit dem blonden Mädchen am Bahnhof inspiriert ihn nach wie vor, der Drang, es nochmals zu versuchen, der Gedanke, die Jagd wieder aufzunehmen und erfolgreich zu gestalten, hat ihn nicht losgelassen. Darum läuft er nun in Richtung des Kleingartengeländes, dort, wo er bereits am frühen Nachmittag ein Mädchen verfolgt hat. Diese abgeschiedene Örtlichkeit erscheint ihm besonders geeignet, um die lange vorfantasierte Tat durchführen zu können, und er möchte für den Überfall die hereinbrechende Dunkelheit ausnutzen. Ideale Bedingungen, glaubt er. Nun muss ihm nur noch ein Mädchen über den Weg laufen.

Carina Wöller hat ihre Freundin nicht mehr erreichen können. Die Beziehung zu ihrer Klassenkameradin bedeutet ihr viel, weil sie sonst wenige Freunde in der Schule hat; vielleicht liegt es daran, dass sie als Wiederholerin die Älteste in der Klasse ist. Vielleicht hängt es aber auch damit zusammen, dass sie gerne ihren eigenen Weg geht, schulische Dinge vernachlässigt, stattdessen lieber auf ihrem weißen Pony mit den dunklen Flecken ausreitet, und deshalb mit ihrer Mutter im Dauerclinch liegt. Von ihr will sich Carina nicht länger bevormunden lassen – die Mutter predigt doch immer nur Pflichterfüllung und droht bei Unterlassungssünden mit drastischen Strafen, Hausarrest zum Beispiel, oder noch schlimmer: Pferdeverbot. Dabei hat Carina schon ganz konkrete Vorstellungen, was sie später einmal beruflich machen möchte: Sängerin oder Tierarzthelferin.

Wenn es wieder einmal Streit gibt, sucht Carina nicht die Konfrontation, sondern das Weite, das Mädchen mit den wasserstoffblond gefärbten Haaren büxt einfach aus und kehrt erst dann zurück, wenn sie meint, es sei der richtige Zeitpunkt. Bis dahin können auch einige Stunden vergehen.

Als der Mann eine Bahndammunterführung passiert, wirft er abermals eine Bierflasche auf den Boden, diesmal allerdings nicht aus Wut, sondern mit Kalkül: Er nimmt eine der Scherben auf und steckt sie in seine Jackentasche. Die Scherbe will er später als Drohmittel oder Waffe einsetzen, sollte ihm tatsächlich ein Mädchen begegnen.

Minuten später biegt er in einen etwa einhundertfünfzig Meter langen Verbindungsweg ein. Nach wenigen Schritten sieht er, dass ihm jemand entgegenkommt. Adrenalin schießt ihm ins Blut. Jagdfieber. Seine Schritte werden unwillkürlich länger, der Gang schneller. Wenn er doch nur mehr erkennen könnte!

Sekunden werden zu Minuten. Erst als die beiden nur noch wenige Meter trennen, realisiert er, um wen es sich handelt: Das ist doch das Mädchen mit dem Pony, das manchmal durch den Ort reitet. Der Mann kennt Carina vom Sehen. Sie gefällt ihm. Die soll es sein, beschließt er spontan. Das Entdeckungsrisiko schätzt er diesmal als eher gering ein. Denn wenn er sich vorsichtig verhält, wird sie in der Dunkelheit sein Gesicht nicht erkennen und ihn später nicht identifizieren können. Und plötzlich kommt ihm auch die richtige Idee, wie er sich seinem Opfer nähern will, ohne Verdacht zu erregen und sie notfalls an Hilferufen hindern zu können.

»Hallo.« Im Vorbeigehen grüßt er Carina.

Das Mädchen erwidert den Gruß und geht weiter. Es sind nur noch dreihundert Meter bis nach Hause.

»Entschuldige kurz?«

»Ja?«

»Ich kenn mich hier nicht so gut aus. Kannst du mir vielleicht sagen, wie ich zum Bahnhof komme?«

Carina bleibt stehen, der Mann nähert sich. Sie beschreibt ihm den Weg. Als er direkt vor ihr steht, weicht sie instinktiv zurück, Schritt für Schritt, bis es an einem Zaun nicht mehr weitergeht. Blitzartig legt der Fremde ihr einen Arm um den Hals und drückt zu.

»Sei still und geh, meine Hübsche!« Der Mann spricht jetzt im Befehlston und Carina gehorcht. »Wenn du schön artig bist, passiert dir nix.« Der Mann meint es ernst. Er will das Mädchen zwar vergewaltigen, jedoch nicht töten.

Carina ringt nach Luft und wehrt sich nicht, als der Mann sie vorwärtsschiebt.

»Ich bekomme keine Luft mehr!«, beschwert sich Carina. Der Mann lockert daraufhin den Würgegriff.

»Willst du mir was tun?«, fragt Carina mit leiser, zittriger Stimme.

Die Antwort ist unmissverständlich: »Dir passiert nichts, wenn du tust, was ich dir sage. Wenn du Scheiße baust, bring ich dich um!«

In diesem Moment greift der Mann unter Carinas BH und streichelt ihr über den Bauch.

Das Mädchen beginnt zu weinen, fleht mit tränenerstickter Stimme: »Lass mich gehen, ich muss nach Hause, morgen in die Schule.«

»Halt still!«, zischt der Mann. »Dann bist du in einer halben Stunde wieder zu Hause.«

Als sie das Ende des Verbindungswegs erreichen, biegen sie nach rechts auf einen schmalen unbefestigten Weg ab, der matschbedeckt ist.

»Jetzt hör schon auf zu heulen!« Der Mann befürchtet, es könnte jemand aufmerksam werden. »Wenn du nicht sofort aufhörst, stirbst du!«

Doch Carina weint und schluchzt auch weiterhin hörbar. Sie kann nicht anders. Der Mann verzichtet auf weitere Drohungen und drückt so fest zu, dass Carina zu röcheln beginnt und mit den Beinen heftig strampelt. Todesangst.

Daraufhin lockert der Mann seinen Würgegriff wieder etwas. Carina hustet. »Hör sofort auf damit, sonst mach ich dich alle!« Augenblicklich verstummt das Mädchen.

Wenige Momente später wagt Carina erneut eine Frage: »Was hast du jetzt mit mir vor?«

»Kannst du dir das nicht denken?« Die Stimme des Mannes klingt verächtlich.

Er dreht ihren Kopf unvermittelt zur Seite, zwingt Carina zu einem Zungenkuss und streichelt abermals über ihren Bauch. Als er dem Mädchen in die Hose fasst, nimmt Carina all ihren Mut zusammen. Sie stößt den Mann mit beiden Händen vor die Brust, versucht sich loszureißen, schreit verzweifelt.

Nur etwa fünfzig Meter weiter steht Gerda Kramer in der Küche ihrer Wohnung und erledigt den Abwasch, als sie hört, wie jemand um Hilfe ruft. Mehrmals. Die 72-jährige Rentnerin geht zum offen stehenden Küchenfenster und starrt hinaus in die Dunkelheit, kann jedoch niemanden erkennen. Totenstille. Dann wird es wohl nicht so schlimm gewesen sein, überlegt die ältere Dame, schließt das Fenster und lässt die Sache auf sich beruhen. Nur einen Steinwurf entfernt kämpft Carina um ihr Leben.

Eine halbe Stunde später ist es vorbei. Der Mann, vor neugierigen Blicken durch eine Baumgruppe geschützt, hat sich wieder aufgerichtet. Er ist nackt. An seinem Körper kleben Matsch und Blut, Hände, Hals und Gesicht sind massiv blutverschmiert – Spuren eines schauderhaften Verbrechens. Hastig zieht der Mann sich wieder an und verlässt den Ort des Grauens.

Auf dem Heimweg bemerkt er, dass er sein Portemonnaie verloren hat, vermutlich beim Ausziehen seiner Kleidung am Tatort. Der Mann kehrt also zurück, findet die Geldbörse jedoch nicht. Es ist einfach zu dunkel. Unverrichteter Dinge läuft er schließlich unbemerkt über Landstraßen Richtung Heimat, macht auf einem Campingplatz eine kurze Pause, wäscht sich dort in einer unverschlossenen Toilette das Gesicht und erreicht erst in den frühen Morgenstunden seine Wohnung.

Weil man ihm den Strom abgedreht hat, stellt er Kerzen vor die Dusche und wäscht seinen Körper mit kaltem Wasser ab. Matsch und Blut vermischen sich auf dem Boden der Dusche zu einem schlammigen braun-rötlichen Gemisch, das durch nachlaufendes Wasser allmählich verdünnt wird und schließlich im Abfluss verschwindet. Doch die flashbackartige Erinnerung an Carina bleibt, als würde sie wieder leibhaftig vor ihm stehen.

Das Leben des Mannes ist nicht erst in den vergangenen Stunden aus den Fugen geraten, auch seine Behausung zeugt von Verwahrlosung: die kleine Wohnung ist stark verunreinigt, als Bett dient eine kaputte Matratze, überall liegen Dosen, aufgerissene Verpackungen, leere Flaschen, beschmiertes Papier, verdreckte Kleidung oder Unrat herum, die Möbel sind größtenteils beschädigt, die Tapeten vergilbt, ein übler Geruch hängt in der Luft. Chaotische Zustände.

Obwohl der Mann seit mehr als fünfzehn Stunden auf den Beinen ist, viele Kilometer zurückgelegt und reichlich Alkohol getrunken hat, geht er nicht ins Bett, sondern setzt sich an die versiffte Tastatur seines Computers, neben ihm brennt eine Kerze. Die Ereignisse der vergangenen Stunden haben ihn so aufgewühlt, dass an Schlaf nicht zu denken ist. Er fährt den Computer hoch, loggt sich in einem sozialen Netzwerk ein und klickt sich auf seine mit einem grinsenden Totenkopf geschmückte, martialisch anmutende Profilseite.

Dort hat er bislang nicht viel geschrieben, aber doch so viel, um mit ordinären Kraftworten der Online-Welt sein Selbstverständnis auszudrücken. Er verkehrt unter dem Pseudonym »bigboss« und bezeichnet sich in brüchigem Deutsch als »stolzer Arbeitsloser« aus einer »Weltstadt«. Seine Hobbys: »ficken, bumsen, blasen«. In mehreren Postings hat er versucht, mit jungen Mädchen Kontakt anzubahnen, etwa so: »hatt ein girly zwischen 10 und 16 Intresse zu chaten und vielleicht mehr bitte melden«. Oder so: »suche girls zwischen 10 und 14. Welches girly will mehr als nur quwatschen«.

Während er auf den Bildschirm starrt, ruft er sich in Erinnerung, was er Carina angetan hat. Es ist ein berauschendes Erlebnis gewesen, einzigartig, besser als jeder Drogentrip oder Alkoholrausch. Und er hat eine neue soziale Identität entwickelt – Mörder –, von der die Menschen da draußen jetzt unbedingt erfahren sollen. »hab gestern mädchen geschlachtet jeden tag eins bis mich erwischen«, tippt der Mann in die Tastatur und speichert den Satz ab. Diese todernst gemeinte Mitteilung dokumentiert nicht nur seine Täterschaft, sondern noch etwas anderes: Ab sofort ist er eine Gefahr für die Allgemeinheit. Doch keiner der etwa vierzehn Millionen User des Netzwerks wird in den nächsten Tagen auf diese Mischung aus Bekennerschreiben und Morddrohung reagieren.

An die Leiden des getöteten Mädchens verschwendet der Mann keinen Gedanken. Auch dessen Eltern, die mittlerweile ihre Tochter bei der Polizei als vermisst gemeldet haben, spielen in seiner dunklen Gedankenwelt keine Rolle. Tief befriedigt legt er sich schließlich auf seine Matratze und schläft ein.

Als der Mann nach dem Aufwachen in den Mittagsstunden seine Wohnung erfolglos abgesucht hat, wird ihm vollends bewusst, dass ihn die Polizei sehr bald schnappen wird, weil er seinen Personalausweis wohl tatsächlich am Tatort verloren haben dürfte. Wenn man die Leiche findet, wird man auch auf seinen Ausweis stoßen. Und dann ist es vorbei, befürchtet er. Dann kommt er als mehrfach Vorbestrafter für unabsehbare Zeit ins Gefängnis.

Er packt ein paar Habseligkeiten zusammen, verlässt die Wohnung und läuft zum Bahnhof. Obwohl zu diesem Zeitpunkt niemand nach ihm sucht, wähnt er sich auf der Flucht. Er malt sich aus, wie das wohl sein wird, wenn die Handschellen klicken und die Zeitungen über ihn und seine Tat schlagzeilenträchtig berichten. Da ist aber auch noch ein anderer Gedanke, der ihn mehr und mehr überzeugt: dass es eigentlich keinen Sinn hat, zu fliehen, weil die Ermittlungsbehörden seinen Namen bereits kennen und ein aktuelles Foto besitzen. Die kriegen mich doch sowieso! Kurz entschlossen fährt er doch nicht mit dem Zug, sondern bleibt im Ort.

Inzwischen wird intensiv nach Carina gefahndet. Ihre Eltern machen sich große Sorgen, weil ihre Tochter bisher niemals über Nacht weggeblieben ist, ohne sich eine Erlaubnis zu holen; außerdem hat sie das Haus nur mit einer dünnen Jacke bekleidet verlassen und lediglich einen geringen Geldbetrag dabei. Da muss etwas passiert sein!

Zwei 9-jährige Jungen toben durch die Gegend und spielen Verstecken in einem kleinen Fichtenwäldchen. Schließlich entdecken sie hinter einer Baumgruppe eine – so glauben sie – menschengroße Puppe ohne Gesicht, ringsum ist die Erde rot gefärbt. Es ist Carinas Leiche. Erschrocken laufen die Jungen nach Hause und berichten ihren Eltern von dem unheimlichen Fund im Wald. Doch ihnen wird nicht geglaubt. Hirngespinste.

Der Mann, der Carina ermordet hat, überlegt, wie der Leichnam jetzt wohl aussieht, zwei Tage später. Wie hat sich der Körper verändert? Und es gibt noch einen Grund, an den Tatort zurückzukehren: Er hofft, dort sein Portemonnaie zu finden.

Es ist 16.30 Uhr, als er den Fichtenwald erreicht. Dieses Mal hat er ein Butterfly-Messer mitgebracht und sein Handy, mit dem man auch Filmaufnahmen machen kann. Schnell entdeckt er seinen Geldbeutel, der genau dort liegt, wo er seine Bekleidung abgelegt hatte. Der Mann ist erleichtert. Er hat jetzt wieder ein Leben, eine Zukunft.

Er zieht sein Handy aus der Jackentasche, wischt über den Bildschirm, tippt auf »Kamera« und danach auf das schwarze Videokamera-Symbol. Rechts oben auf dem Bildschirm beginnt ein roter Punkt zu blinken – Aufnahme. Der Mann möchte sich an die Tat künftig nicht nur erinnern können, er benötigt ein Andenken, eine Reminiszenz seiner verbrecherischen und perversen Fähigkeiten – und ein Stimulans. Nach drei Minuten und fünfunddreißig Sekunden wird die Aufzeichnung beendet.

Als er nach Hause zurückkehrt, vergehen nur wenige Minuten, bis er sich die Videoaufnahme erstmals ansieht: Der Oberkörper des Leichnams befindet sich in Rückenlage, die Hüfte ist nach rechts gedreht. Der linke Oberschenkel liegt auf dem rechten auf. Der rechte Arm liegt am Körper an und der linke Arm ist etwa neunzig Grad vom Oberkörper abgewinkelt. Die Beine sind leicht angewinkelt.

Seine Stimme ist zu hören: »Stinkst schon, ne, schön. Fühlt sich aber noch ganz gut an.« Das linke Bein der Leiche wird nach links bewegt, sodass der nackte Unterkörper sichtbar wird. Ein Ratschen ist zu hören, so, als würde ein Reißverschluss aufgezogen. Es folgen heftige Atemgeräusche. Eine Hand ist zu sehen, die über den Bauch der Getöteten streicht und auch weit unter die Oberbekleidung fasst. »So kalt.«

Schließlich wird eine Messerklinge erkennbar. »Ich hab dich gefressen.« Schnelle Messerbewegungen, die Kamera wird auf den Unterbauchbereich des Leichnams gerichtet. Es folgen zwei ploppende Geräusche, Stichführung und -richtung sind nicht zu erkennen. Schließlich entfernt sich die Kamera, der Leichnam ist jetzt in der Totalen zu sehen. Kurzes Standbild. Filmende.

Es wird zwar immer noch nach Carina gesucht, doch die Polizei hält ein Verbrechen mittlerweile für eher unwahrscheinlich. Denn: In den vergangenen Tagen haben sich mehrere Bekannte und Mitschüler gemeldet, die das Mädchen mit der einschlägigen Ausreißervergangenheit gesehen haben wollen, mal im Café, mal im Supermarkt oder an der Bushaltestelle. Die Ermittler der Kripo nehmen deshalb an, Carina sei bei Freunden untergekommen und verstecke sich vor der Polizei. Es wird nur eine Frage der Zeit sein, wann sie wieder bei ihren Eltern auftaucht. Nur der Mann, der Carina ermordet hat, weiß, dass es dazu nicht kommen wird.

Fünf Tage nach der Tat reicht ihm der tägliche Konsum seiner Videoaufnahme nicht mehr aus, um sich vollends zu befriedigen. Die Dosis muss gesteigert werden. Er beschließt also, ein weiteres Mal an den Tatort zurückzukehren und den Leichnam abermals zu verstümmeln und zu missbrauchen. Wieder nimmt er sein Butterfly-Messer mit. Gegen 17 Uhr verlässt er seine Wohnung.

Eine Stunde später gerät der Mann mit einem 18-jährigen Lehrling aneinander, als sie gemeinsam an der Kasse eines Supermarkts stehen. Der Streit dreht sich darum, wer seine Waren zuerst auf das Band legen darf. Der Mann wird schnell handgreiflich und packt seinen Kontrahenten am Kragen, schüttelt ihn, droht mit Schlägen. Und fragt mit wutverzerrtem Gesicht: »Willst du der Nächste sein, den ich totmache?« Der Azubi antwortet nicht, sondern sucht sich eine andere Kasse. Er hat so große Angst bekommen, dass er am ganzen Leib zittert.

Es ist 19.15 Uhr, als der Mann auf dem Parkplatz des Supermarkts steht. Er trägt eine schwarze Bomberjacke, darunter ein graues T-Shirt, trinkt Bier und beobachtet die Szenerie. Er merkt auf, als ein junges Mädchen, das in sein Beuteschema passt, mit dem Fahrrad an ihm vorbeifährt.

»He, Süße. Willst ’n Bier?«

Das Mädchen dreht sich um, reagiert nicht weiter, stellt ihr Rad in den Fahrradständer und verschwindet im Supermarkt. Nach zehn Minuten kommt sie wieder heraus. Der Mann wartet schon auf sie.

Und verwickelt Mia Münster, so heißt die 17-jährige Schülerin, die wesentlich jünger aussieht, in ein Gespräch. Die beiden unterhalten sich über musikalische Vorlieben, der Mann spielt ihr einen Song der »Böhsen Onkelz« vor und ein Nazi-Lied. Er überlegt unterdessen, unter welchem Vorwand er das Mädchen an einen anderen Ort locken könnte, am besten in den kleinen Fichtenwald oder die Kleingartenkolonie, dort kennt er sich aus, dort könnte er die Tat ungestört vollbringen.

Sein Angebot, mit ihm spazieren zu gehen oder sich mit ihm zu verabreden, lehnt sie freundlich ab. Auch möchte sie nicht von seinem Bier probieren. Mia achtet darauf, dass sie mit dem Mann, der ihr ein bisschen unheimlich vorkommt, nicht allein ist. Als sie zu erkennen gibt, weiterfahren zu wollen, fragt er sie nach ihrer Handynummer. Mia flunkert, das Telefon nicht dabeizuhaben, auch falle ihr die Rufnummer nicht ein. Der Mann glaubt die Geschichte und gibt Mia auf ihren Vorschlag hin seine Handynummer. »Meld dich doch mal.« Mia nickt verlegen und radelt davon.

Nachdem der Mann nochmals Bier gekauft hat, führt ihn sein Weg direkt zu Carinas Leiche. Dort angekommen, versucht er, sich in Stimmung zu bringen, und beäugt den toten Körper, der erste Fäulniserscheinungen erkennen lässt. Diese stören den Mann weniger, vielmehr beobachtet er eine dicke schwarze Spinne, die über den Bauch der Toten krabbelt. Angeekelt weicht er einige Schritte zurück. Unter diesen Umständen will er sich nicht weiter mit dem Leichnam auseinandersetzen. Rückzug.

Als er sich etwa fünfhundert Meter vom Tatort entfernt hat, sieht der Mann, wie ihm ein Mädchen auf Inlineskatern entgegenkommt, schulterlange Haare, zierliche Statur. Er beschließt, die so erfolgreiche Masche vom letzten Mal anzuwenden, also erst nach dem Weg zu fragen und das überraschte Opfer dann unter seine Kontrolle zu bringen. Allerdings gibt es diesmal einen bedeutsamen Unterschied: Die Ermordung des Mädchens ist schon jetzt Teil seines Plans, weil er nur dann seinen perversen Bedürfnissen freien Lauf lassen kann – an einem toten Körper.

»He, du. Stopp mal. Wo geht es denn hier zum Bahnhof?«

Obwohl das Mädchen anhält und ihm den Weg weist, lässt der Mann es doch unbehelligt. Zunächst. Die Tat hier zu begehen, mitten auf der Straße, erscheint ihm zu riskant. Also Plan B: das Mädchen fahren lassen und so lange verfolgen, bis es eine geeignete Örtlichkeit erreicht, am besten die Abzweigung in der Nähe des Fichtenwalds, in dem Carinas Leiche liegt. Genau an diesem Ort will er den nächsten Mord verüben.