Gemeinsam stark - Anna Sonngarten - E-Book

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Anna Sonngarten

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Susanne Hellweg stellte mit routinierten Handgriffen ein Blumenarrangement für eine ihrer ältesten Kundinnen zusammen, die derweil über Neuigkeiten aus der Nachbarschaft plauderte. Die Floristin hörte heute jedoch nur mit halbem Ohr hin, und kaum hatte sie die Kundin verabschiedet, schloss sie ihren kleinen geschmackvoll eingerichteten und üppig dekorierten Blumenladen ab und eilte nach Hause. »Ella?«, rief sie in die Stille der Wohnung hinein, kaum dass sie die Tür geöffnet hatte. Es kam keine Antwort. »Ella, bist du fertig? Wir wollen gleich los!«, versuchte sie es noch einmal, aber wieder blieb die Antwort aus. Sie klopfte an die Tür ihrer dreizehnjährigen Tochter und öffnete sie einen Spalt. Ella saß auf ihrem Bett und schaute aus dem Fenster. Ihr Oberkörper bewegte sich im Takt der Musik, die Susanne nicht hören konnte, denn Ella trug Kopfhörer. Susanne baute sich vor ihrer Tochter auf, die daraufhin ihre Kopfhörer abnahm. »Kannst du nicht anklopfen?«, fragte Ella unwirsch. »Das habe ich, aber du hast es nicht gehört«, sagte Susanne ruhig. Die Fünfunddreißigjährige ließ sich nicht provozieren. »Du weißt schon, dass wir verabredet sind, oder?«, fragte sie dann mit einem kritischen Blick auf das Schlabbershirt, das von Ellas schmalen Schultern herabhing. »Du bist mit deinem Neuen verabredet und ich muss mitkommen«

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Sophienlust - Die nächste Generation – 87 –

Gemeinsam stark

Unveröffentlichter Roman

Anna Sonngarten

Susanne Hellweg stellte mit routinierten Handgriffen ein Blumenarrangement für eine ihrer ältesten Kundinnen zusammen, die derweil über Neuigkeiten aus der Nachbarschaft plauderte. Die Floristin hörte heute jedoch nur mit halbem Ohr hin, und kaum hatte sie die Kundin verabschiedet, schloss sie ihren kleinen geschmackvoll eingerichteten und üppig dekorierten Blumenladen ab und eilte nach Hause.

»Ella?«, rief sie in die Stille der Wohnung hinein, kaum dass sie die Tür geöffnet hatte. Es kam keine Antwort. »Ella, bist du fertig? Wir wollen gleich los!«, versuchte sie es noch einmal, aber wieder blieb die Antwort aus. Sie klopfte an die Tür ihrer dreizehnjährigen Tochter und öffnete sie einen Spalt. Ella saß auf ihrem Bett und schaute aus dem Fenster. Ihr Oberkörper bewegte sich im Takt der Musik, die Susanne nicht hören konnte, denn Ella trug Kopfhörer. Susanne baute sich vor ihrer Tochter auf, die daraufhin ihre Kopfhörer abnahm.

»Kannst du nicht anklopfen?«, fragte Ella unwirsch.

»Das habe ich, aber du hast es nicht gehört«, sagte Susanne ruhig. Die Fünfunddreißigjährige ließ sich nicht provozieren.

»Du weißt schon, dass wir verabredet sind, oder?«, fragte sie dann mit einem kritischen Blick auf das Schlabbershirt, das von Ellas schmalen Schultern herabhing.

»Du bist mit deinem Neuen verabredet und ich muss mitkommen«, korrigierte Ella ihre Mutter und zog einen Flunsch. Susanne hatte keine Lust auf eine Diskussion. In letzter Zeit häuften sich die Streitgespräche mit Ella. Ihr Töchterchen hatte sich von dem süßesten Mädchen in einen aufmüpfigen Teenie verwandelt.

Sie beschloss, den Aufzug ihrer Tochter zu ignorieren, und machte sich daran, sich selbst aufzuhübschen. Sie würden zwar nur in eine Pizzeria gehen, weil Thomas’ Sohn Julius nichts anderes als Pizza mochte, aber es ging bei dieser Verabredung nicht in erster Linie ums Essen. Thomas und Susanne hatten heute Abend vor, den Kindern zu sagen, dass sie zusammenziehen würden. Sie wollten endlich wie eine richtige Familie zusammenleben. Deshalb war Susanne nervös. Würde es ein netter Abend werden und würde es einen Grund zum Feiern geben? Sie war sich nicht sicher. Aber in einem schönen Kleid würde sie sich besser fühlen. Sie wusste genau, was sie anziehen wollte und war nach wenigen Minuten fertig. Jetzt noch die blonden Haare hochstecken und etwas Make-up. Fertig.

»Echt krass, wie du dich aufbrezelst«, hörte sie Ella sagen. Sie stand in der Tür und musterte ihre Mutter.

»Das kann man von dir nicht gerade behaupten, mein Schatz«, konterte Susanne. Ella hatte inzwischen ihre alten Converse Chucks angezogen. Über ihrem Schlabbershirt trug sie eine abgewetzte Motorradjacke, die sie von ihrem Opa Herbert geerbt hatte, und die ihr viel zu groß war. Susanne war über das »Geschenk« ihres Schwiegervaters nicht begeistert gewesen. Aber sie wollte keinen Streit mit dem alten Herrn. Der Tod seines einzigen Sohns hatte ihn verändert. Das Schicksal hatte sie alle gezeichnet, aber ihren Schwiegervater hatte es am härtesten getroffen. Susanne hatte nach vielen Jahren in Thomas jetzt endlich eine neue Liebe gefunden. Ihr Schwiegervater aber hatte seinen einzigen Sohn verloren und seine Frau war schon lange tot. Deshalb freute sich Susanne, dass Ella sich so gut mit ihrem Opa verstand, obwohl ihr diese Beziehung auch Rätsel aufgab. Susanne drehte sich vom Spiegel weg und sah ihre Tochter an. Ella ähnelte ihrem Vater. Sie hatte lange dunkle Haare, die sie zu einem unordentlichen Dutt zusammenband. Eine Haarsträhne hatte sie lila gefärbt. In letzter Zeit schminkte sie sich, was ihr nicht so gut stand. Das war zumindest Susannes Meinung, denn der schwarze Lidstrich und die Wimperntusche, von der sie reichlich nahm, machten sie noch blasser und ihre schönen blauen Augen wirkten traurig. Susanne verstand nicht, was Ella mit ihrem Kleidungsstil und der Art sich zurechtzumachen ausdrücken wollte. Sollte ein junges Mädchen, das gerade mal aus den Kinderschuhen herausgewachsen war, nicht lebensbejahender und fröhlicher daherkommen? Ella umgab eine Aura der Mutlosigkeit. Als wäre ihr junges Leben eine Bürde, von der sie nicht wusste, wie sie zu tragen sei. Susanne stieß einen Stoßseufzer aus.

»Ist was?«, kam die prompte Reaktion von Ella in einem feindseligen Tonfall.

»Nein, mein Schatz. Lass uns losfahren«, sagte Susanne um einen freundlichen Tonfall bemüht.

Zum selben Zeitpunkt in einem anderen Teil der Stadt hatte Thomas Brandt das Problem, Julius davon zu überzeugen, morgen an seinem Legosaurier weiterzubauen. Julius brachte die Dinge gerne zu Ende. Für einen Achtjährigen war das erstaunlich, fand sein Vater. Der selbstständige Tischlermeister sah aber nicht ungern, wie sein Söhnchen konzentriert bei der Sache war. Dennoch blickte der große kräftige Mann mit den freundlichen Augen auf die Uhr.

»Wir müssen los, Julius. Du kannst doch morgen weiterbauen. Der Legosaurier kann dir doch nicht weglaufen«, versuchte er einen Scherz. Julius sah seinen Vater verwirrt an.

»Meinst du, ich könnte da einen Motor einbauen?«, fragte er, weil er nur »laufen« gehört hatte. Nein, das meinte Thomas Brandt ganz und gar nicht. Aber er wusste, dass Julius diesen Gedanken so schnell nicht wieder loslassen würde.

»Ehrlich gesagt, wüsste ich nicht, wie das gehen sollte. Aber wir können später mal gemeinsam überlegen. Jetzt zieh dir bitte deine Schuhe an. Du wolltest doch unbedingt in eine Pizzeria«, erinnerte ihn sein Vater und brachte seine dunklen Haare schnell noch mit den Händen in Form.

»Ach, ist das heute?«

»Ja, das ist eigentlich sogar schon jetzt«, erwiderte Thomas mit einem erneuten Blick auf die Uhr. Julius sprang auf. Pizza war sein Lieblingsgericht. Das toppte für den Moment sogar sein Saurierprojekt und als Vater und Sohn bei der Pizzeria angekommen waren, stiegen auch Susanne und Ella gerade erst aus dem Wagen. Thomas und Susanne begrüßten sich mit einem flüchtigen Kuss. Julius kicherte und Ella schaute betreten zur Seite. Dann begrüßte Thomas seine zukünftige Stieftochter Ella und Susanne Julius. Sie hatte es leicht mit Thomas’ Sohn. Julius war zutraulich und anhänglich. Er nahm gleich ihre Hand und fing an zu plappern. Thomas und Ella hielten Abstand. Mehr als ein kurzes »Hallo« war aus Ella nicht herauszubekommen. Thomas versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihn das kränkte. Er blieb gleichmäßig freundlich zur Tochter seiner zukünftigen Frau und hoffte insgeheim, dass sich die Situation irgendwann bessern würde. Aber wenn er ehrlich zu sich war, ging es schlechter als am Anfang. Er warf Susanne einen Blick zu, als sie ihre Plätze einnahmen. Susanne war schön wie nie, aber sie wirkte auch angespannt. Der Einzige am Tisch, der gute Laute versprühte, war Julius. Er schaute Ella neugierig an:

»Warum sind deine Haare vorne lila, Ella? Hast du das selber gemacht?«, fragte er interessiert.

»Weil das cool ist und ja, selber«, war die knappe Antwort.

»Ist das schwierig?«, wollte der Kleine wissen.

»Nö«, antwortete die Dreizehnjährige und blätterte konzentriert in der Speisekarte, ohne Julius anzusehen. Susanne lenkte Julius mit einem Gespräch über seine Lieblingspizza ab. Als alle bestellt hatten und die Getränke auf dem Tisch standen, räusperte sich Thomas. Susanne sah ihn an und vergaß zu atmen.

»Wir wollen euch heute etwas mitteilen«, begann Thomas.

Ella fixierte ihn aus schmalen Augen und warf ihrer Mutter einen kurzen Blick zu.

»Susanne und ich wollen mit euch zusammenziehen. Wir haben noch kein passendes Haus gefunden, aber wir suchen danach …«

»Was? Soll das etwa heißen, dass ich umziehen soll und auf eine andere Schule muss? Und wie stellt ihr euch das vor? Soll ich dann für den da die Babysitterin spielen?« Bei den Worten »den da«, hatte Ella mit dem Kopf in Richtung Julius gedeutet.

»Ella!«, rief Susanne erschrocken.

»Wir wollen in Maibach bleiben, oder zumindest in der Nähe. Einen Schulwechsel hatten wir nicht eingeplant«, antwortete Thomas ruhig.

»Wenn ihr zusammenleben wollt, ist das eure Sache. Aber wieso werde ich da mit reingezogen?«, fragte Ella. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schaute trotzig zwischen den beiden Erwachsenen hin und her.

»Wir dachten … also wir würden gerne als richtige Familie zusammenwohnen«, erklärte Susanne.

»Wir sind aber keine ›richtige‹ Familie. Ich hatte einen Vater. Auf einen neuen Vater und auf einen kleinen Bruder habe ich keinen Bock«, entfuhr es Ella.

»Ella! Reiß dich mal zusammen. Du kannst dich hier nicht so aufführen wie …«. Susanne wusste nicht, was für einen Vergleich sie ziehen sollte. Ihre schlimmsten Befürchtungen waren eingetroffen. Ihre Nervosität war berechtigt gewesen. Ella hatte die Nachricht so schlecht aufgefasst, wie Susanne insgeheim vermutet hatte. Thomas legte seine große Hand auf die von Susanne, um sie zu beschwichtigen. Julius schaute verwirrt. Warum war Ella plötzlich so böse? Er verstand das nicht.

»Bekomme ich ein eigenes Zimmer in dem neuen Haus?«, fragte er besorgt, denn die Aussicht sich mit Ella ein Zimmer zu teilen, erschien ihm auf einmal nicht sehr verlockend.

»Natürlich«, sagte Thomas leise. Mehr wusste er im Moment nicht zu sagen. Dass Ella Julius und ihn nicht besonders mochte, war ihm natürlich nicht entgangen, aber mit einer solch ablehnenden Haltung hatte er dann doch nicht gerechnet.

»Ein eigenes Zimmer ist ja wohl selbstverständlich, oder wollt ihr uns in einem Kinderzimmer mit Etagenbetten unterbringen«, knurrte Ella. Susanne hätte jetzt etwas über hohe Ansprüche sagen können, aber das hätte die Dreizehnjährige noch mehr auf die Palme gebracht. Eine Pizzeria war wohl doch nicht der geeignete Ort für ein Gespräch dieser Art gewesen. Sie hätte vorher besser allein mit Ella sprechen sollen. Doch jetzt war es so gekommen. Als die Pizza kam, begannen alle zu essen. Alle außer Ella. Sie stocherte auf der Pizza herum, zerschnitt sie in kleine Stücke, drehte und wendete sie auf ihrem Teller, um sie dann liegen zu lassen. Wenn Julius mit seiner lebhaften Art nicht gewesen wäre, hätte es ein schweigsamer Abend werden können. Aber den kleinen Julius konnte so schnell nichts erschüttern. Längst hatte er Susanne als neue Mama akzeptiert.

Über den Plan, zusammenzuziehen, wurde an diesem Abend nicht mehr gesprochen. Sie trennten sich früh. Susanne und Thomas fuhren wieder in ihre jeweiligen Wohnungen. So wie in den letzten zwei Jahren auch teilten sie nicht ihren Alltag. Thomas war ein alleinerziehender Vater und Susanne eine alleinerziehende Mutter. Das war nicht ihre einzige Gemeinsamkeit. Sie waren beide selbstständig und beruflich stark eingespannt. Wenn sie zusammenleben könnten, würde vieles einfacher. Aufgaben könnten geteilt, Absprachen einfacher umgesetzt werden. So dachte zumindest der pragmatische Thomas, während Susanne die Vorstellung von gemeinsamen Abenden hatte, wo man zusammen auf dem Sofa kuschelte und nicht wieder los musste, um in die eigene Wohnung zu fahren. Aber ob diese Harmonie je eintreten würde, da waren sich beide nach dem Abend in der Pizzeria nicht mehr sicher und sprachen darüber später noch am Telefon, als die Kinder im Bett beziehungsweise auf ihrem Zimmer waren.

»Das war ja nicht so erfolgreich«, begann Thomas.

»Das kannst du laut sagen. Ella ist momentan unausstehlich. Ich weiß gar nicht, was in sie gefahren ist«, sagte Susanne frustriert.

»Na ja, es war vorauszusehen, dass es mit Julius leichter wird. Dreizehn ist auch ein schwieriges Alter.«

»Ja, das bekomme ich jeden Tag zu spüren«, bestätigte Susanne und lachte freudlos auf.

»Sag mal, Susanne … Was ist das mit Ellas Art zu essen?«

»Was meinst du?«, fragte Susanne nach.

»Hast du nicht bemerkt, dass sie gar nichts gegessen hat. Sie hat nur so getan, als ob sie essen würde«, beschrieb Thomas das Verhalten von Ella.

»Ich glaube, dass das nur Trotz war. Sie wollte nicht zeigen, dass sie gerne Pizza isst. Dann hätte sie ja etwas Positives über den Abend sagen müssen.«

»Ja, das könnte auch sein. Aber sie ist so dünn.«

»Schon, aber in dem Alter war ich auch noch dünn«, behauptete Susanne.

»Hm, du bist auch jetzt noch sehr schlank. Aber Ella ist dünn. Das ist ein Unterschied.«

»Willst du damit sagen, dass ich mich mehr um ihre Essgewohnheiten kümmern sollte?«, fragte Susanne und Thomas bemerkte einen leicht gereizten Tonfall, den er selten von ihr zu hören bekam.

»Ich würde dir nie Vorschriften machen, wie du Ella behandeln solltest. Ich wollte dir nur eine Beobachtung mitteilen«, erwiderte Thomas sachlich.

»Schon okay. Ich bin sehr müde, Thomas. Lass uns morgen weiterreden«, lenkte Susanne ein.

»Ja, gut. Dann bis morgen. Schlaf gut«, sagte Thomas und legte das Telefon zur Seite. Er lag schon im Bett und war kurz darauf eingeschlafen, während Susanne sich noch länger hin und her wälzte, von unguten kreisenden Gedanken geplagt, die sie nicht zur Ruhe kommen ließen.

*

»Hallo, Ella. Komm rein. Wie war es in der Schule?«, fragte Herbert Hellweg. Ella wusste, dass ihr Opa keine Antwort erwartete, und ignorierte die Frage. Er schlurfte in die Küche. Ella folgte ihm.

»Ich mache mir gerade einen Kaffee. Willst du auch einen?«

»Mama will nicht, dass ich schon Kaffee trinke. Das weißt du doch, Opa«, antwortete sie.

»Ja, ja, du musst es ihr ja nicht sagen«, antwortete er grinsend, schenkte seiner Enkelin eine Tasse Kaffee mit viel Milch ein und zwinkerte ihr zu. Ella kicherte. So war es schon immer zwischen ihnen gewesen. Sie hatten ihre kleinen Geheimnisse, die den Regeln von Susanne zuwiderliefen. Seit dem schrecklichen Unfall vor sieben Jahren, der Susanne den Mann und Ella den Vater genommen hatte und den Herbert Hellweg, schwer verletzt überlebt hatte, war das Verhältnis zwischen Schwiegertochter und Schwiegervater schwierig. Bis heute hatten sie nicht darüber gesprochen, was genau passiert war. Susanne kannte nur den Polizeibericht.

»Susanne und Thomas wollen zusammenziehen«, sagte Ella und nippte an ihrer Kaffeetasse.

»Jetzt schon?«

»Sie kennen sich seit zwei Jahren«, informierte Ella ihren Opa.

»Hm. Und was sagst du dazu? Findest du das gut?«

»Nö, gar nicht«, war ihre von Herbert erwartete Antwort. Herr Hellweg Senior, der mit seinen 72 Jahren älter aussah, als er war, nickte zufrieden, als hätte Ella etwas richtig gemacht. Ella wusste, dass ihre ablehnende Haltung gegenüber Thomas ihr die Anerkennung ihres Opas einbrachte. Sie ahnte auch warum, aber sie war zu jung und zu unwissend, um wirklich zu verstehen, was vor sich ging. Ella und ihr Opa Herbert hatten ihre Rituale. Sie sahen sich oft die alten Super-Acht-Filme an, die ohne Ton von einer vergangenen Zeit zeugten. Ella kannte alle Filme. Papa als Baby, Papa im Sandkasten, im Planschbecken, im Kindergarten und bei der Einschulung. Urlaube mit seinen Eltern an der Nordsee, als Oma noch jung war. Später Filme, wo Ellas Vater sein erstes Mofa fuhr und dann Papa und Opa auf dem Motorrad. Wenn die leicht verzerrte und verwackelte Szene mit dem Motorrad kam, stellte Herbert den Filmapparat immer ab und zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche. Susanne, die ihren späteren Mann Markus seit ihrer Jugend gekannt hatte, war auf wenigen Filmen auch kurz zu sehen. Immer wie zufällig, als wäre sie unabsichtlich vor die Kamera gelaufen. Einmal hatte Ella ihren Opa gefragt, warum ihre Mama so selten zu sehen war. Herbert Hellweg hatte darauf keine Antwort gehabt. Es war ihm auch gar nicht aufgefallen. Wahrscheinlich wollte sie nicht gefilmt werden, hatte er ihr dann erklärt. Dann erzählte er ihr die immer gleichen Geschichten von ihrem Vater. Ella kannte sie schon auswendig. Vom Unfalltag erzählte er aber nie. Ein weiteres Ritual von Ella und Herbert waren ihre häufigen Besuche auf dem Friedhof. Von all diesen Dingen wusste Susanne nichts.

»Haben die beiden denn schon eine Wohnung gefunden?«, wollte Herbert jetzt wissen. »Nein. Sie wollen ein Haus«, teilte Ella ihrem Opa mit.

»Na ja, das wird vielleicht noch dauern, bis sie etwas gefunden haben.«

»Ich will auf gar keinen Fall auf eine andere Schule, oder weit weg von dir wohnen. Ich will überhaupt nicht mit denen zusammenwohnen«, brauste Ella auf. Ihr Opa lächelte.

»Keine Sorge, Ella. Ich werde auf keinen Fall zulassen, dass du mit Leuten zusammenziehen musst, die du nicht magst«, sagte er. Ella atmete hörbar auf, obwohl sie nicht wusste, was Opa dagegen unternehmen wollte. Und wo sollte sie dann wohnen? Könnte sie bei ihrem Opa wohnen? Auch wenn sie ihn oft besuchte, wollte sie sich nicht vorstellen, bei ihm zu wohnen. Diese Vorstellung beunruhigte sie plötzlich regelrecht, und für den Moment kam sie sich völlig verloren vor. Wo gehörte sie hin? Wo war ihr Platz?

*