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In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Ich gratuliere zu Ihrem wunderschönen Söhnchen«, sagte die junge Hebammenschülerin und legte Svenja Haller das Neugeborene in den Arm. Überwältigt drückte die erst siebzehnjährige Mutter das warme Bündelchen an sich. Sie blickte auf die kleinen Händchen, die Füßchen, den dunklen Flaum auf dem kleinen Kopf, und in diesem Augenblick reifte in ihr ein Entschluss. »Ich möchte mein Baby behalten«, sagte sie zu der Hebamme Maria Franke, die in diesem Moment auf sie zutrat. Die erfahrene Hebamme lächelte starr und warf der Hebammenschülerin zugleich einen Blick zu, der ihr sofort signalisierte, etwas falsch gemacht zu haben. »Ich bin gleich wieder bei Ihnen, Frau Haller«, sagte Maria Franke und gab der Hebammenschülerin einen Wink, ihr zu folgen. Im Schwesternzimmer stemmte Maria die Hände in die Hüften und blickte die Jüngere streng an: »Was haben Sie denn da angerichtet! Das Jugendamt hat Frau Haller angemeldet. Frau Haller ist minderjährig und hat ihr Kind zur Adoption freigegeben. In so einem Fall legt man einer Frau das Neugeborene nicht in den Arm. Wussten Sie das nicht?« Der Hebammenschülerin wurde es erst heiß und dann kalt. »Nein, das wusste ich nicht, Frau Franke. O je, das tut mir leid …«, stammelte sie und brach in Tränen aus. An diesem denkwürdigen Samstag war ungewöhnlich viel zu tun gewesen. Maria Franke musste überall gleichzeitig sein und hatte für einen Moment die Hebammenschülerin nicht im Auge behalten.
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Seitenzahl: 132
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»Ich gratuliere zu Ihrem wunderschönen Söhnchen«, sagte die junge Hebammenschülerin und legte Svenja Haller das Neugeborene in den Arm. Überwältigt drückte die erst siebzehnjährige Mutter das warme Bündelchen an sich. Sie blickte auf die kleinen Händchen, die Füßchen, den dunklen Flaum auf dem kleinen Kopf, und in diesem Augenblick reifte in ihr ein Entschluss.
»Ich möchte mein Baby behalten«, sagte sie zu der Hebamme Maria Franke, die in diesem Moment auf sie zutrat. Die erfahrene Hebamme lächelte starr und warf der Hebammenschülerin zugleich einen Blick zu, der ihr sofort signalisierte, etwas falsch gemacht zu haben.
»Ich bin gleich wieder bei Ihnen, Frau Haller«, sagte Maria Franke und gab der Hebammenschülerin einen Wink, ihr zu folgen.
Im Schwesternzimmer stemmte Maria die Hände in die Hüften und blickte die Jüngere streng an: »Was haben Sie denn da angerichtet! Das Jugendamt hat Frau Haller angemeldet. Frau Haller ist minderjährig und hat ihr Kind zur Adoption freigegeben. In so einem Fall legt man einer Frau das Neugeborene nicht in den Arm. Wussten Sie das nicht?«
Der Hebammenschülerin wurde es erst heiß und dann kalt.
»Nein, das wusste ich nicht, Frau Franke. O je, das tut mir leid …«, stammelte sie und brach in Tränen aus.
An diesem denkwürdigen Samstag war ungewöhnlich viel zu tun gewesen. Maria Franke musste überall gleichzeitig sein und hatte für einen Moment die Hebammenschülerin nicht im Auge behalten. Sie atmete einmal tief durch, weil sie ahnte, was sie gleich von der Stationsleitung zu hören bekommen würde. Aber zuerst reichte sie der Gescholtenen ein Taschentuch und versuchte, sie zu beruhigen.
»Ist schon gut. Vielleicht sollte es so sein. Ich wäre nicht Hebamme geworden, wenn ich nicht glauben würde, dass Mutter und Kind zusammengehören.«
Dann ging sie zurück zu der jungen Mutter. Sie sah, wie Svenja Haller leise mit ihrem Söhnchen sprach, völlig versunken in den Anblick des kleinen Wesens, das ihre ganz Liebe zu spüren bekam, eine Liebe von der Svenja nie gedacht hatte, dass sie so überwältigend sein würde. Maria Franke räusperte sich.
»Frau Haller, Sie hatten gegenüber dem Jugendamt ausgesagt, dass das Kind zur Adoption freigegeben werden soll. Sie sind ja erst siebzehn.«
»Ich weiß, wie alt ich bin, aber ich habe meine Meinung geändert. Ich behalte das Kind«, sagte die junge Mutter trotz ihrer Erschöpfung bestimmt.
Die Hebamme betrachtete die junge Frau, die eigentlich noch ein Mädchen war. Blass war sie, und einige schweißnasse Strähnen ihres dunkelbraunen Haars klebten ihr auf der glatten Stirn. Große blaue Augen sahen Maria misstrauisch an.
Trotz des jungen Alters hatte Maria Franke Respekt vor dem Mädchen. Sie hatte die Geburt allein durchgestanden und jetzt allein entschieden, ihr Kind nicht wegzugeben.
»Frau Haller, ich untersuche jetzt Ihr Kind. Sie bleiben noch zwei Stunden bei uns im Kreißsaal, und dann verlegen wir Sie auf die Geburtsstation. Geben Sie mir bitte für einen Moment das Kind?«
Svenja schaute die Hebamme entsetzt an und schüttelte den Kopf. Maria Franke holte einen Stuhl und setzte sich neben das Bett.
»Frau Haller, Sie sind minderjährig, aber nicht rechtlos. Sie dürfen das Kind behalten. Egal, was Sie zuvor gesagt haben. Sie haben aber nicht das alleinige Sorgerecht. Das Jugendamt vertritt Sie, bis Sie volljährig sind. Wir respektieren Ihre Entscheidung«, versuchte die Hebamme das Vertrauen des Mädchens zu gewinnen.
»Sie respektieren das vielleicht, aber alle anderen nicht. Sie wollen, dass ich das Kind weggebe«, entgegnete Svenja.
Maria Franke wollte sich nicht auf eine Diskussion mit der jungen Mutter einlassen, die gerade entbunden hatte. Die Hebamme wusste zwar nicht, wen Svenja mit ›alle anderen‹ meinte, hatte aber eine Vorstellung. Die Eltern einer minderjährigen Mutter und wahrscheinlich vor allem die Eltern des Vaters, der wahrscheinlich auch jung war, wollten das ›Problem‹ oft durch eine Adoption aus der Welt schaffen.
»Hier sind nur wir Hebammen und eine Ärztin. Sie können mir vertrauen, und Sie bekommen den Kleinen sofort wieder. Wie soll er eigentlich heißen?«
»Sönke«, kam die prompte Antwort, die Maria Franke in ihrer Vermutung bestätigte, dass die junge Mutter sich nie hatte von dem Kind trennen wollen.
»Ein schöner Name. Dann wollen wir uns den Prachtburschen doch mal genauer ansehen, und Sie können, wenn Sie mögen, mithilfe unserer Hebammenschülerinnen ein Duschbad nehmen. Das wird Ihnen guttun«, sagte Maria Franke, und endlich war Svenja bereit, ihr Kind der Hebamme anzuvertrauen.
*
Die Stadthalle in Maibach war erfüllt vom fröhlichen Geplauder junger Menschen in Abendgarderobe. Die glitzernden Abendkleider der jungen Abiturientinnen, die mit ihren eleganten Hochsteckfrisuren den ersten Galaauftritt ihres jungen Lebens erprobten, ließen die Stadthalle erstrahlen, während die jungen Männer im Abendanzug eher verlegen und unbeholfen daherkamen. Die Abiturfeierlichkeiten hatten ihren Höhepunkt erreicht. Die Jahrgangsbesten waren ausgezeichnet worden, von denen leider eine fehlte, nämlich Svenja Haller.
Warum sie fehlte, wusste nur Leonard Steinfeld. Er saß mit seinen stolzen Eltern an einem runden Tisch und starrte ständig auf sein Smartphone. Es hätte der schönste Tag ihrer Schullaufbahn sein können, doch ihm war nicht zum Feiern zumute. Um fünf Uhr in der Frühe hatte er zuletzt eine Nachricht von Svenja bekommen, die ihm mit nur drei Worten ihre Lage beschrieben hatte: ›Es geht los.‹
Seitdem wartete er. Worauf er wartete, konnte er kaum in Worte fassen. Denn es war abgemacht, dass sie das Kind nicht behalten sollten. Deshalb durfte er auch nicht bei der Geburt dabei sein. Seine Eltern hatten ihm in einer Deutlichkeit abgeraten, die einem Verbot gleichkam. Er hatte sich geschämt, Svenja davon zu erzählen. Doch sie hatte es ihm leicht gemacht.
»Ist bestimmt besser so, Leonard«, hatte sie gesagt. Doch jetzt hatte er das Gefühl, sie im Stich zu lassen, und konnte sich nur mit Mühe auf das Fest konzentrieren. Überrascht stellte er fest, dass plötzlich seine Mutter auf der Bühne neben dem Rektor stand. Sie nahm das Mikrofon und richtete in ihrer Funktion als Vorsitzende des Schulvereins einige Worte an die Eltern- und Schülerschaft. Seine schöne Mutter Elsa Steinfeld war Inhaberin der teuersten Boutique der Stadt, in der mehrfach im Jahr Modenschauen stattfanden, die sie selbst moderierte. Deshalb gelang ihr auch dieser Auftritt mit Leichtigkeit. Sein Vater blickte stolz auf seine schöne und elegante Frau.
Leonard schaute sich um, ob er Svenjas Mutter irgendwo in der Menge sitzen sah. Eigentlich gab es keinen Grund für sie zu kommen, wenn ihre Tochter nicht dabei sein konnte. Doch dann sah er sie weit entfernt an einem der hinteren Tische sitzen. Ihr Gesicht wirkte maskenhaft, weil ein unechtes Lächeln sich darin eingegraben hatte. Er mochte Meike Haller trotz allem, was sie ihm an den Kopf geworfen hatte.
Leonard senkte den Blick wieder auf sein Smartphone. Endlich eine Nachricht von Svenja!
›Ich nenne ihn Sönke‹, schrieb sie ihm als Textnachricht. Unter der Nachricht war ein Handyfoto des Neugeborenen. Er war verwirrt. Was hatte das zu bedeuten? War er jetzt doch ein richtiger Vater geworden? Sein Herz klopfte, und in seiner Irritation nahm er Blickkontakt zu seinem Vater auf. Gerade zu ihm hatte sich sein Verhältnis in den letzten Monaten deutlich abgekühlt. Werner Steinfeld war Anwalt. Er hatte sich für seinen Sohn etwas anderes vorgestellt, als mit achtzehn Vater zu werden. Allein die Tatsache, dass Svenja das Kind austrug, war für seinen strengen Vater ein Ärgernis. Da gäbe es doch schließlich andere Möglichkeiten, hatte er Leonard gesagt.
»Alles in Ordnung?«, fragte Werner Steinfeld.
»Ja, alles cool«, kam die Antwort von Leonard, die falscher nicht hätte sein können. Doch sein Vater bemerkte es nicht, weil seine Aufmerksamkeit vom Auftritt seiner Frau gefesselt war. In diesem Moment entschied Leonard, nicht an der Abiparty teilzunehmen, die im Anschluss an den offiziellen Teil geplant war, sondern heimlich ins Krankenhaus zu fahren.
*
Familie Steinfeld hatte im Vorfeld dafür gesorgt, dass Svenja Haller ein Einzelzimmer bekam, denn man wollte verhindern, dass zu viele Menschen von ›der Sache‹, wie sie es nannten, Wind bekamen. Das Einzelzimmer und die Tatsache, dass immer noch reger Betrieb auf der Station herrschte, ermöglichten es, dass Leonard mitten in der Nacht seinen Sohn und die junge Mutter besuchen konnte.
Die Nachtschwester hatte so viel zu tun, dass sie dem jungen Mann einfach die Zimmernummer nannte und davoneilte, um sich anderen Problemen zu widmen.
Der kleine Sönke lag in seinem fahrbaren Bettchen, so winzig, wie ihn sich Leonard nicht hatte vorstellen können.
»Er ist wirklich sehr klein. Hast du die Händchen gesehen …, so winzig«, sagte der junge Mann und nahm vorsichtig neben Svenja auf der Bettkante Platz. Sie lächelte erleichtert, auch wenn eine unbestimmte Anspannung ihre jugendlichen Züge verdunkelte.
»Ja, ich habe mir alles ganz genau angesehen. Die Säuglingsschwester hat ihn schon gebadet. Ich habe zugesehen.« Beide schwiegen und schauten auf den Winzling.
»War es schlimm, Svenja?«, fragte Leonard, ohne seine Freundin anzusehen. Er meinte die Geburt, bei der er gerne dabei gewesen wäre, und er schämte sich immer noch, dem Willen seiner Eltern nichts entgegengesetzt zu haben.
»Die Hebamme war sehr nett. Maria Franke heißt sie. Na ja, reden wir nicht drüber. Reden wir lieber darüber, wie es nun weitergeht. Ich habe nämlich einen Plan«, sagte Svenja. Leonard sah sie jetzt an und erschrak ein bisschen über die Entschlossenheit in ihrem Blick.
»Du willst Sönke behalten«, stellte er fest. »Ich bin dabei. Er ist unser Kind. Wir sind seine Eltern.« Leonard kam sich plötzlich sehr erwachsen und stark vor. Was das im Einzelnen bedeutete, wusste er jedoch nicht. Svenja sah ihm in die Augen und fragte ihn dann, ob er mit dem Auto hier wäre.
*
Die Kinderschwester Regine Nielsen aus dem Kinderheim Sophienlust fragte sich, warum heute niemand schlafen konnte, bis sie einen Blick nach draußen warf und am sternklaren Himmel den Vollmond sah.
Ach deshalb, sagte sie zu sich selbst und ging in die Küche, die eigentlich das Reich der Köchin Magda war. Regine hatte bei ihrem ersten Rundgang alle Kinder wach angetroffen, viele, weil sie irgendwas bereden wollten. Heidi ging ein Vorfall aus der Schule im Kopf herum, Kim suchte sein Kuscheltier, die Schwestern Angelika und Viktoria Langenbach hatten eine Meinungsverschiedenheit, die Regine klären sollte. Die Jungen Martin, Fabian und Simon waren einfach nur wach und daddelten oder lasen.
Gerade hatte sie ihre zweite Runde gedreht, und es schien Ruhe eingekehrt zu sein. Zum Glück ist morgen Sonntag, dachte Regine und beschloss, einen Kamillentee aufzusetzen, als Pünktchen kam, die eigentlich Angelina hieß, und sich auf die Küchenbank setzte.
»Darf ich auch einen Tee haben?«, fragte sie die Kinderschwester.
»Natürlich, Pünktchen. Kannst du auch nicht schlafen?«, fragte Regine zurück. Das rotblonde Mädchen wurde wegen ihrer vielen Sommersprossen von allen Pünktchen genannt.
»Nein, ich kann nicht schlafen, weil ich Nick noch etwas zu Cindy sagen wollte und es vergessen habe.«
»Was ist denn mit Cindy?«, wollte Regine wissen.
»Sie hat ein Hufeisen verloren. Wir müssen den Schmied anrufen, aber morgen ist Sonntag. Also können wir Cindy morgen nicht reiten.«
»Ach so, aber das ist ja nicht so schlimm. Nick kommt doch morgen zum Sonntagsfrühstück. Dann könnt ihr das doch in Ruhe besprechen«, sagte die Kinderschwester. Dominik von Wellentin-Schoenecker war der Besitzer von Sophienlust. Er war mit seinen knapp zwanzig Jahren zwar noch sehr jung für eine so verantwortungsvolle Aufgabe, meisterte sie aber mustergültig. Unterstützt wurde er dabei von seiner Mutter: Denise von Schoenecker hatte sein urgroßmütterliches Erbe, das Kinderheim Sophienlust, das früher ein Herrenhaus gewesen war, viele Jahre für ihn verwaltet, ihm aber nunmehr die Verantwortung übergeben. Sie war es auch gewesen, die den letzten Willen von Nicks Urgroßmutter, Sophie von Wellentin, umgesetzt hatte, aus dem alten, schlossähnlichen Anwesen mit dem weitläufigen Park ein Kinderheim zu gestalten.
Für Nick und Denise war das eine Herzensangelegenheit. Sophienlust war ein Ort für Kinder in Not. Einige Kinder lebten dauerhaft in Sophienlust, andere nur vorübergehend. Die inzwischen fünfzehnjährige Pünktchen gehörte zu den Dauerkindern. Sie war von Nick persönlich nach Sophienlust gebracht worden, als ihre Eltern bei einem Zirkusbrand ums Leben kamen. Deshalb verband die beiden eine besondere Freundschaft, die über ihre gemeinsame Liebe zu Pferden hinausging.
Schwester Regine goss Pünktchen eine Tasse Tee ein und wollte sich gerade auch auf der Küchenbank niederlassen, als jemand an das Eingangsportal hämmerte.
Pünktchen erschrak so sehr, dass sie ihren Tee verschüttete, und starrte Regine an. »Wer kann das sein?«, fragte sie.
Regine warf einen Blick auf die Wanduhr. »Zwanzig nach eins«, sagte sie und ging in Richtung Tür. Pünktchen folgte ihr.
»Wer ist da?«, fragte Regine laut und so ruhig wie möglich.
»Leonard Steinfeld und Svenja Haller. Wir haben ein Problem. Bitte helfen Sie uns«, erklang eine junge, aufgeregte Stimme.
Regine sah Pünktchen an, die sofort wusste, dass sie Nick informieren musste, auch wenn es mitten in der Nacht war. Weil nichts weiter anlag, hatte er sich heute allerdings entschieden, auf Gut Schoeneich zu schlafen anstatt in seinem Dachstübchen in Sophienlust.
Pünktchen lief in Nicks Büro, um zu telefonieren, während Regine die Tür aufschloss. Was Regine dann zu sehen bekam, verschlug ihr zunächst einmal die Sprache. Vor ihr standen zwei Teenager. Das Mädchen hatte einen Säugling im Arm, der, wie die Kinderschwester sofort erkannte, erst wenige Stunden alt sein konnte.
»Grundgütiger!«, rief sie in mühsam unterdrückter Lautstärke und führte die drei erst einmal in die Küche, weil sie noch nicht wusste, wo sie sie unterbringen sollte. Dann setzte sie den jugendlichen Eltern Kamillentee vor, weil der gerade zur Hand war, und bat die junge Mutter, ihr den Säugling zu zeigen.
»Darf ich mir das Kind einmal ansehen? Ich bin Kinderschwester«, erklärte sie. Svenja hatte das Baby in eine Decke gewickelt. Leonard trug eine große Umhängetasche, in der sich, wie Regine hoffte, etwas Brauchbares für das Baby befand, denn auf Säuglingspflege war man in Sophienlust zurzeit nicht eingestellt.
Regine packte den Kleinen behutsam aus und begutachtete seine Vitalzeichen. Dabei erklärte sie der jungen Mutter, was sie da überprüfte.
»Ich schaue mir seine Hautfarbe an, überprüfe den Herzschlag, schaue auf seine Gesichtsbewegungen, seine Aktivität und seine Atmung. Das sind die wichtigsten Parameter, um zu sehen, ob es dem Kind gut geht. Hast du das Kind schon angelegt?« Sie entschloss sich, die jugendliche Mutter zu duzen.
»Ja«, sagte Svenja kleinlaut. Die offensichtliche Sorge der Kinderschwester verunsicherte sie. Regine bemerkte es und beruhigte sie.
»Keine Angst. Es ist alles in Ordnung, aber ich will sichergehen. Wir haben nicht jeden Tag ein Neugeborenes in Sophienlust«, sagte sie lächelnd. Dann fuhr sie fort: »Und wie war der Saugreflex?«
»Gut, denke ich.«
»Der Milcheinschuss kommt noch. Das hoffe ich zumindest. Stress ist nicht gut. Und du hast Stress, sonst wärst du nicht hier«, vermutete Regine. »Was ist in der Tasche?«, fragte sie, an Leonard gewandt.
»Ich denke, das sind vor allem Werbegeschenke«, sagte Leonard und reichte Regine die Tasche. Auch ihn verunsicherte die Ernsthaftigkeit der Kinderschwester. Bis vor Kurzem war ihm die Flucht aus dem Krankenhaus wie ein großes Abenteuer vorgekommen. Jetzt war er schlagartig ernüchtert. Er hatte erwartet, dass man sich ihre Geschichte anhörte, aber das schien der Kinderschwester total egal zu sein.
Regine kramte in der Tasche herum, bis sie eine Babyflasche mit Trinksauger fand. Sie setzte Wasser auf, um Flasche und Sauger abzukochen und erneut Kamillentee aufzusetzen. Dann forderte sie die junge Mutter auf, den Säugling erneut anzulegen. Svenja brauchte dazu Hilfe. Die junge Mutter war total müde, und Regine überlegte, welches Zimmer frei war.
Pünktchen kam zurück in die Küche, um zu vermelden, dass sie Nick erreicht hatte. »Nick ist gleich da. Tante Isi kommt auch«, berichtete sie und starrte dann sprachlos auf die beiden jungen Leute und das Baby.
»Was ist passiert?«, fragte sie geradeheraus. Regine bedeutete ihr jedoch zu schweigen, indem sie einen Finger auf den Mund legte. Die Kinderschwester hatte Sorge, dass der Stress der Mutter so zusetzte, dass sie ihren Säugling nicht stillen konnte. Man musste sie abschirmen. Sie sollte jetzt nicht Rede und Antwort stehen müssen.
»Welches Zimmer ist frei, Pünktchen?«, fragte sie deshalb. Die Heimleiterin Else Rennert hätte es gewusst, aber sie hatte dieses Wochenende frei.