Geminus - Nadine Erdmann - E-Book

Geminus E-Book

Nadine Erdmann

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Beschreibung

Nach dem Fund der unheilvollen Inschrift im Opferraum des alten Herrenhauses setzen die Hunts alles daran, mehr über die Sekte und den geheimnisvollen Geminus Obscurus herauszufinden. Hilfe erhoffen sie sich dabei von einem Universitätsprofessor, der sich auf die Geschichte der Totenbändiger spezialisiert hat. Welche Antworten wird Doktor Winkler ihnen zu dem dunklen Zwilling liefern können? Cam muss sich außerdem mit seinen stärker gewordenen Kräften auseinandersetzten. Doch was, wenn noch viel mehr in ihm steckt? Etwas, worüber er nicht die geringste Kontrolle hat? Für die Spuks steht zudem ein Großeinsatz an, der Gabriel zwingt, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Was ist vor drei Jahren in den West End Arkaden passiert und welchen schrecklichen Erinnerungen muss sich vor allem Gabriel bei der Planung des erneuten Einsatzes stellen? Doch nicht nur der Einsatz in den Arkaden beschert Gründe zur Sorge. Es steht auch noch die Fahrt nach Newfield an. Enthält die ersten vier Bände der zweiten Staffel.

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Impressum

Unveränderte Neuauflage der in der Greenlight Press erschienenen Originalausgabe

 

Kuneli Verlag, Forstweg 8, 63165 Mühlheim am Main

Copyright © 2024 Kuneli Verlag UG (haftungsbeschränkt)

Alle Rechte vorbehalten.

 

1. Auflage (Oktober 2024)

Coverdesign: Kuneli Verlag

Unter der Verwendung von Bildmaterial von Shutterstock.com

ISBN Epub: 978-3-948194-67-3

www.kuneli-verlag.de

Die Autorin

Nadine Erdmann liebt Bücher und Geschichten, seit sie denken kann. Selbst welche zu schreiben, war aber lange Zeit nur eine fixe Idee und so sollte zunächst ein »anständiger« Beruf her. Sie studierte Lehramt, verbrachte einen Teil ihres Studiums in London und unterrichtete als German Language Teacher in Dublin. Zurück in Deutschland wurde sie Studienrätin für Deutsch und Englisch und arbeitete an einem Gymnasium und einer Gesamtschule in NRW.

 

Der »anständige« Beruf war ihr damit sicher, ihr Herz hing aber mehr und mehr daran, Geschichten zu schreiben. Nach der Krebserkrankung ihrer Schwester entschied sie sich, den Schritt in die Schriftstellerei zu wagen, weil man nicht immer alles auf später verschieben kann. Seitdem veröffentlichte sie drei Reihen (die »CyberWorld«, die »Lichtstein-Saga« und die »Totenbändiger« in ganz unterschiedlichen Genres, die zusammen mit den »Haunted Hunters« im Kuneli Verlag ab 2024 ein neues Zuhause gefunden haben.

Mehr über die Autorin und ihre Werke:

www.nadineerdmann.de

www.facebook.com/Nadine.Erdmann.Autorin

www.instagram.com/nadineerdmann

Ihre Werke im Kuneli Verlag

CyberWorld (2024 als E-Book)

Mind Ripper

House of Nightmares

Evil Intentions

The Secrets of Yonderwood

Burning London

Anonymous

Bunker 7

Lichtstein-Saga (2024 als E-Book, 2025 als Taschenbuch)

Aquilas

Andolas

Fineas

Enyas

Die Totenbändiger (2024 als E-Book, 2025 als Taschenbuch)

Sammelband 1 - Unheilige Zeiten

Sammelband 2 - Äquinoktium

Sammelband 3 - Geminus

Sammelband 4 - Samhain

Sammelband 5 - Zwillingskräfte

Sammelband 6 - Wintersonnenwende

 

Haunted Hunters (ab 2024 als E-Book und Taschenbuch)

Neue Wirklichkeit

Daemons

(noch ohne Titel)

Die Totenbändiger

Geminus

(Sammelband 3 - Samhain 1)

 

 

Nadine Erdmann

 

 

 

Kuneli Verlag

 

Die Totenbändiger im Kuneli Verlag

Sammelband 1; „Äquinoktium 1“ (erster Teil der ersten Staffel)

Titel: Unheilige Zeiten

Titel der enthaltenen Bände:

Unheilige Zeiten

Die Akademie

Vollmondnächte

Feindschaften

 

Sammelband 2: „Äquinoktium 2“ (zweiter Teil der ersten Staffel)

Titel: Äquinoktium

Titel der enthaltenen Bände:

Hinterhalt

Unheilige Nacht

Leichenfunde

Das Herrenhaus

 

Sammelband 3: „Samhain 1“ (erster Teil der zweiten Staffel)

Titel: Geminus

Titel der enthaltenen Bände:

Geminus Obscurus

Geister der Vergangenheit

Säuberung

Newfield

 

Sammelband 4: „Samhain 2“ (zweiter Teil der zweiten Staffel)

Titel: Samhain

Titel der enthaltenen Bände:

Das Manifest

Die Abstimmung

Nachwirkungen

Samhain

 

Sammelband 5: „Wintersonnenwende 1“ (erster Teil der dritten Staffel)

Titel: Zwillingskräfte

Titel der enthaltenen Bände:

Neue Zeiten

Zwillingskräfte

Auszeit

Geisterjagd

 

Sammelband 6: „Wintersonnenwende 2“ (zweiter Teil der dritten Staffel)

Titel: Wintersonnenwende

Titel der enthaltenen Bände:

Nebelzeit

Fatalitäten

Täuschungen

Wintersonnenwende

 

Ab 2025

Die neue Totenbändiger-Trilogie: 13 Jahre später

Samhain

(neuirisch), (altirisch: SamuinoderSamain),bezeichnet die Nacht zwischen dem 31. Oktober und dem 1. November. Altem keltischem Druidenglauben zufolge verschwimmen in dieser Nacht die Grenzen zur Anderwelt, weshalb es ratsam ist, in dieser Zeit vor den fremden Wesen Schutz in sicheren Behausungen zu suchen. Obwohl bisher niemand einen Beweis für die Existenz dieser Anderwelt erbringen konnte, ist erwiesen, dass Geister und Wiedergänger unserer Welt in der Nacht vom 31. Oktober zum 1. November besonders gefährlich sind, wodurch Samhain zur dritten Unheiligen Nacht des Jahres erklärt wurde.

Part I

Geminus Obscurus

Kapitel 1

Fünf Jahre zuvor

Irgendetwas hatte ihn geweckt, obwohl er in den späteren Befragungen nie hatte sagen können, was es gewesen war. Es war Anfang Juli und die Nacht war drückend warm, weil selbst die Dunkelheit die Hitze kaum erträglich machte, unter der der Süden Englands gerade litt. Nicht zum ersten Mal dachte Connor, dass er vielleicht doch mit seinen Kommilitonen aufs Meer hätte fahren sollen. Dann fiel ihm allerdings wieder ein, dass die meisten von ihnen unerträgliche Snobs waren, die in ihm bloß eine Art Charity-Projekt sahen, und damit bekamen kostenlose Urlaubswochen auf einer Luxusjacht irgendwo vor der portugiesischen Küste einen ziemlich miesen Beigeschmack. Schließlich war er sich schon während seines gesamten ersten Unijahres wie ein Alien unter den anderen vorgekommen, da musste er sich nicht auch noch in den Ferien so fühlen.

Natürlich war ihm klar gewesen, dass es in einem Architekturstudium einige Kommilitonen geben würde, die aus besseren Kreisen stammten und das Fach studierten, um in die gut laufenden Agenturen ihrer Familien einzusteigen. Doch dass diese Leute - zumindest an seiner Uni - fast achtzig Prozent ausmachten und mit ihnen sämtliche namhafte Architekturbüros Südenglands vertreten waren, hatte ihn dann doch überrascht. Und der Rest seiner Mitstudenten schwänzelte um diese achtzig Prozent herum, in der Hoffnung sich so Türen zu besagten Büros zu öffnen.

Es schienen auch alle immer nur an irgendwelchen prestigeträchtigen Riesenprojekten Interesse zu haben, die oft zwar optisch spektakulär aussahen, im Alltag aber praktisch kaum Wohnraumprobleme lösten. Da Connor jedoch gerade diese Problemlösungen spannend fand und sich mehr dafür interessierte, wie man alte Gebäude erhalten und für neue Nutzungsmöglichkeiten herrichten konnte, hatte er unter seinen Kommilitonen schnell den Charity-Stempel aufgedrückt bekommen. Nicht zuletzt, weil er auch einer der wenigen unter ihnen war, der neben dem Studium in einem Supermarkt jobbte, weil seine Eltern ihn finanziell nicht unterstützten.

Gemobbt wurde er deshalb allerdings nicht. Im Gegenteil. Seine Mitstudenten schienen fast froh darüber zu sein, dass es auch Studenten wie ihn gab, die sich um Alltagsprobleme kümmern wollten. Immerhin mussten sie das dann nicht tun und zum Dank dafür, dass er ihnen zukünftig diese Lästigkeiten vom Hals halten würde, hatten sie ihn auf ihre Yachten - oder die ihrer Familien - eingeladen. Doch Connor hatte dankend abgelehnt und Arbeiten für seine Familie vorgeschoben. In diesem Sommer mussten die Dächer von zwei Cottages neu gedeckt werden und Connor hoffte, dass er den Familienfrieden wiederherstellen konnte, wenn er dabei half.

Er war der Erste in seiner Familie, der das Abitur gemacht hatte. Schon das war bei seinem Vater nicht gut angekommen. Als er dann aber auch noch zur Uni gegangen war, statt nach der Schule in den Familienbetrieb einzusteigen, hatte es endgültig zu einem Bruch geführt. Man hatte ihm Arroganz und fehlende Wertschätzung fürs Handwerk und die Familie vorgeworfen. Schließlich gab es den Dachdeckerbetrieb Fry & Sons schon seit drei Generationen. Connors Urgroßvater hatte ihn gegründet und mit seinen beiden Söhnen aufgebaut. Die hatten ihn übernommen und mit ihren Söhnen fortgeführt, die es ihrerseits genauso getan hatten. Momentan lag der Betrieb in den Händen von Connors Vater und Onkel. Sein Onkel hatte zwei Söhne, Connors ältere Cousins, die völlig selbstverständlich in den Betrieb mit eingestiegen waren, die Arbeit liebten und damit den Fortbestand von Fry & Sons sichern würden.

Es war auch nicht so, dass Connor nicht wertschätzte, was seine Familie über Generationen aufgebaut hatte. Es war nur einfach nicht sein Ding, Dachdecker zu werden oder die Buchhaltung zu führen, die seine Mutter und seine Tante fest im Griff hatten. Er war stolz auf den Familienbetrieb - er wollte für sich und seine Zukunft nur einfach etwas anderes.

War das wirklich undankbar und arrogant?

Genau das hatte seine Familie ihm immer wieder vorgeworfen, als er gesagt hatte, dass er Architektur studieren und keine Ausbildung bei Fry & Sons machen wollte. Er wusste nicht mehr, wie viele Streitereien es deshalb gegeben hatte. Irgendwann hatte er das Thema einfach gemieden, sich an der Uni beworben und war ausgezogen, sobald er mit der Schule fertig gewesen war. Er musste seinen eigenen Weg gehen, auch wenn es wehtat, dass seine Familie dafür kein Verständnis zeigte.

Eine Weile lang hatte es daraufhin keinen Kontakt zwischen ihnen gegeben, was nicht an Connor gelegen hatte, sondern daran, dass man seine Anrufe und Nachrichten ignorierte. Erst zu Weihnachten hatte seine Mutter eingelenkt und es hatte eine erste Wiederannäherung gegeben. Es waren jedoch anstrengende Feiertage gewesen, die nicht ohne Streit und versteckte Vorwürfe abgelaufen waren. Trotz allem hatte Connor nicht aufgeben und sich endgültig von ihnen lossagen wollen. Sie waren immerhin seine Familie. Das musste doch irgendwas zählen, oder nicht? Man sollte sich doch zusammenraufen und für einander da sein, selbst wenn man nicht in allem einer Meinung war.

Das war auch der Grund, warum er jetzt hier war. Seit Weihnachten hatte seine Mutter sporadischen Kontakt zu ihm gehalten, und als sie erzählt hatte, dass für den Sommer die Dacherneuerungen sowohl bei ihrem Cottage als auch bei dem seines Onkels und seiner Tante anstanden, hatte Connor angeboten, in den Semesterferien zu helfen. So, wie er auch in den Schulferien immer im Betrieb mitgeholfen hatte. Vielleicht würde das die Beziehung zu seinem Vater und seinem Onkel wieder kitten.

Bisher lief diese Mission allerdings nur mit mäßigem Erfolg. In den drei Tagen, die er jetzt hier war, hatte er sich statt Worte der Dankbarkeit für seine Hilfe bloß anhören müssen, was er alles falsch machte. Er war zu stupiden Handlangerarbeiten verdonnert worden, obwohl sein Vater genau wie sein Onkel wusste, dass er viel mehr konnte, als nur Material herumschleppen. Andere hätten deshalb vermutlich schon hingeschmissen und das Band endgültig gekappt.

Auch Connor war sich nicht sicher, wie lange er es noch durchziehen wollte. Er war hier, um zu helfen und den Familienfrieden wiederherzustellen. Er hatte ihnen seine Hand entgegengestreckt. Mehr Bereitschaft zur Versöhnung konnte er nicht zeigen und wenn seine Familie umgekehrt nicht dazu bereit war, zu akzeptieren, dass er über sein Leben selbst entscheiden wollte, dann war irgendwann eben Schluss. Dann musste er gehen, auch wenn es schmerzte. Aber hierzubleiben, würde ihn genauso fertigmachen, wenn sich nichts änderte.

Ein paar Tage wollte er ihnen aber noch geben. Bis zum Wochenende. Sie waren immerhin seine Familie, verdammt!

Müde rieb Connor sich über die Augen und sah sich in seinem alten Zimmer um. Irgendwie war alles anders und es fiel ihm schwer, sich hier noch dazugehörig zu fühlen. Alles wirkte fremd - und er war sich nicht sicher, ob das nur daran lag, dass alle Möbel mit alten Laken oder Plastikfolie abgedeckt waren. Auch die Dachschrägen über ihm bestanden gerade nur aus Nässe abweisender Schutzfolie, von der er heute gefühlte Tonnen die Leiter rauf aufs Dach geschleppt hatte, damit die anderen sie verlegen konnten. Den Muskelkater spürte er jetzt schon, aber er würde den Teufel tun und ihn sich morgen anmerken lassen.

Da die Isolierung noch fehlte, war es unerträglich heiß und das alte T-Shirt, das er zum Schlafen angezogen hatte, klebte an seinem Körper. Gerade als er sich aufsetzen wollte, um es auszuziehen, hörte er einen eigenartigen röchelnden Laut. Wie ein Schrei, dem die Kraft fehlte und der deshalb langsam erstickte.

Beunruhigt schwang er sich aus dem Bett.

War etwas mit seinen Eltern?

Er öffnete seine Tür und trat hinaus auf den Flur. Ihr Cottage war nur klein und schon genauso lange im Familienbesitz wie der Dachdeckerbetrieb. Im Erdgeschoss lagen Küche, Wohnzimmer, Gäste-WC und ein kleiner Anbau, in dem sich ein Hauswirtschaftsraum befand. Im Stockwerk darüber waren Connors Zimmer, das Schlafzimmer seiner Eltern und ein Bad.

Das Cottage stand am Rand eines Waldes und gehörte zu Tinkay, einem dreihundert Seelen Dorf in der Pampa von Sussex. Keine fünfzig Meter entfernt lag das einzige andere Haus in ihrer Straße: das Cottage, in dem sein Onkel, seine Tante und Jackson, der jüngere seiner beiden Cousins, wohnten. Timothy, der ältere Bruder, war im letzten Jahr mit seiner Freundin zusammengezogen und wohnte jetzt am anderen Dorfende.

Connor blinzelte. Genau wie sein Zimmer sah es auch hier im Flur seltsam fremd aus. Die uralte Kommode, die seit er denken konnte an der Tür zum Badezimmer stand, war mit Plastikfolie verhüllt. Ebenso das Sideboard neben dem Treppenabgang, während der Boden mit Laken und Malerflies vor den Arbeiten am offenen Dach geschützt wurde.

Die Nässefolie, die sich um die Dachbalken spannte, knisterte.

Connor runzelte die Stirn.

Draußen stand die Hitze, weil nicht mal der kleinste Windhauch ging. Warum knisterte also die Folie?

Er zuckte zusammen, als wieder das erstickte Röcheln erklang. Es kam aus dem Schlafzimmer seiner Eltern.

»Mum?« Er lief über den Flur. »Dad? Ist alles okay?«

Andere hätten bei röchelnden Lauten aus den Schlafzimmern ihrer Eltern vermutlich an ganz andere Dinge gedacht, doch Connor hatte in seinen gesamten neunzehn Lebensjahren nie etwas vom Sexleben seiner Eltern mitbekommen - wofür er außerordentlich dankbar war. Kein Kind wollte irgendetwas vom Sex seiner Eltern wissen. Daher war er auch jetzt sicher, dass irgendwas anderes bei ihnen vorgehen musste.

Etwas, das für ein ungutes Kribbeln in seinem Nacken sorgte, als aus dem Schlafzimmer keine Antwort kam.

Er klopfte an die Tür. »Mum? Dad?«

Nichts. Nicht mal mehr das Röcheln.

Connor drückte die Klinke und schob die Tür auf.

Eisige Kälte schlug ihm entgegen und er traute seinen Augen kaum. Frostkristalle zogen sich über Wände und Deckenfolie des Schlafzimmers. Die Kälte biss in seine nackte Haut und ließ seinen Atem kondensieren - dann sah er den grauweißen Geisterschimmer, der über dem Bett seiner Eltern schwebte. Im vorderen Bett starrte sein Vater ihn aus leblos trüben Augen an, während seine Mutter ein letztes Röcheln von sich gab, als der Geist das Leben aus ihr heraussaugte.

Connor stand da wie gelähmt. Sein Herz setzte zwei Schläge lang aus und sein Verstand weigerte sich schlicht, zu erfassen, was er da sah.

Ein Geist.

In ihrem Haus.

Und er hatte seine Eltern getötet.

Als man ihn später befragte, konnte Connor nicht sagen, wie lange er dagestanden hatte, ohne sich zu rühren, ohne begreifen zu können. Das, was er da sah, war einfach unmöglich.

Natürlich wusste er, dass es Geister gab. Auf dem Campus herrschten strenge Sperrstundenregeln und jede Menge Vorsichtsmaßnahmen. Auch in seinem Architekturstudium hatte er sich mit dem Thema auseinandergesetzt, da einer der Pflichtkurse sich ausgiebig mit allen Bauvorschriften beschäftigt hatte, die die Sicherheit vor Geistern gewährleisteten. Natürlich galten die auch hier in Tinkay, seinem kleinen Heimatdorf. Aber hier hatte es noch nie einen Geist gegeben, weil es hier keine gewaltsamen Todesfälle gab. Hier starben die Leute friedlich. Genauso in den kleinen Nachbardörfern. Es gab in ihrer Gegend einfach keine Geister.

Und doch schwebte jetzt einer über dem Bett seiner Eltern, saugte ihnen das Leben aus und verbreitete Todeskälte, die die Umgebung in Eis tauchte.

Connor zitterte, ohne dass er es merkte.

Dafür bemerkte der Geist aber ihn. Er bildete grob menschenähnliche Konturen nach und schien sich ihm zuzuwenden, als er das letzte bisschen Leben aus Connors Mutter gesogen hatte. Dann löste die Kreatur die gräulichen Fäden von ihrem Körper und ließ sie zu Connor schlängeln. Der stand noch immer starr vor Schock da, unfähig zu begreifen, in welcher Gefahr er schwebte.

Ein Schrei gellte durch die Nacht.

Seine Tante! Im Nachbarhaus! Voller Panik - und dann plötzlich still.

Das holte Connor aus seiner Schockstarre.

Der Geist war nicht der einzige?!

Er hatte keine Ahnung, wie das möglich war, doch das war jetzt auch egal.

Jetzt ging es darum, zu überleben.

Seine Hand lag noch immer auf der Klinke und er zog die Tür mit einem Knall zu, bevor der erste Geisterfaden es zu ihm schaffte. Panisch wandte er sich um und stolperte automatisch in Richtung seines Zimmers zurück.

Wohin?

Die geschlossene Tür war keine Sicherheit. Geister konnten zwar nicht durch massive Türen oder Wände gehen, aber ihnen reichten kleinste Risse oder Löcher, um sich hindurchzuwinden.

Der Spalt zwischen Tür und Boden.

Das Schlüsselloch.

Sein Zimmer würde keinen Schutz bieten.

Wohin?

Hektisch sah er sich um. Rief sich alles ins Gedächtnis, was er an der Uni gelernt hatte.

Eisen schützte. Deshalb brachte man an Fenstern und Türen Eisenrahmen und in Kaminen Eisengitter an, um Geister aus den Häusern zu halten.

Aber was tat man, wenn ein Geist es schon ins Haus geschafft hatte? Wohin dann?

Raus? Ins Auto?

Die Karosserien aller Wagen war so gebaut, dass sie einen gewissen Schutz vor Seelenlosen boten.

Aber konnte er sich vor die Tür wagen? Der Schrei seiner Tante ließ befürchten, dass es hier mehr als nur einen Geist gab. Konnte er es dann von der Haustür bis zu seinem Auto am Straßenrand schaffen? Das waren sicher zehn, zwölf Meter. Das schien zu riskant.

Denk nach, Mann! Denk nach!

Doch er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, als er sah, wie der graue Geisternebel unter der Tür hervorquoll und wieder eine menschenähnliche Kontur annahm.

Licht! Er brauchte Licht!

Connor schlug auf den Schalter an der Wand neben dem Treppenabgang.

Nichts geschah.

Shit!

Wegen der Dacharbeiten war der Strom im oberen Stockwerk abgestellt.

Panisch stolperte er weiter zurück, als der Geist auf ihn zugeschwebt kam, und nahm sich damit die Möglichkeit, nach unten zu flüchten, weil der Geist ihm jetzt den Fluchtweg über die Treppe versperrte.

Connors Herz hämmerte in seiner Brust.

Wohin?

Seine Mutter hatte im Badezimmer eine Taschenlampe deponiert. Konnte er sich den Geist damit vom Hals halten? Bei der Sicherheitseinweisung im Wohnheim auf dem Campus hatte man ihnen nahegelegt, sich Taschenlampen mit Magnesiumlicht zu kaufen, weil sie einen gewissen Schutz boten. Connor hatte sich tatsächlich so eine gekauft, aber sie lag in seinem Zimmer im Studentenwohnheim. Ob die Lampe seiner Eltern eine Magnesiumlampe war, wusste er nicht, aber alles war besser als nichts.

Er riss die Tür zum Badezimmer auf und sah die Lampe auf einem Regal neben dem Waschbecken. Hastig schaltete er sie ein und wollte zurück auf den Gang, aber der Geist waberte schon vor der Tür.

Verdammt, das Biest war schnell.

Und die Taschenlampe besaß kein Magnesiumlicht, nur normales. Connor richtete es trotzdem auf den Geist. Der zuckte zurück, als der Strahl ihn traf. Die Geisterfäden, die er nach Connor ausgestreckt hatte, verharrten in der Luft, aber in die Flucht schlagen konnte das Licht die Kreatur nicht.

Was jetzt?

Connor hielt den Lichtkegel auf den Geist gerichtet, um ihn so zumindest auf Abstand zu halten, und sah sich hektisch um. Aber was sollte es in einem Badezimmer schon geben, das ihm gegen einen Geist helfen konnte? Handtücher, Shampoo, Duschgel - nichts davon taugte irgendwas.

Doch! Die Badewanne!

Die gusseiserne Badewanne!

Ohne lange nachzudenken, ob er sich damit nicht vielleicht endgültig in die Enge manövrierte, stieg Connor in die riesige uralte Wanne mit den Löwentatzenfüßen, die er als Kind wahnsinnig toll gefunden hatte. Heute Nacht würde diese Wanne ihm hoffentlich das Leben retten.

Er kauerte sich so klein wie möglich zusammen und schauderte, als seine verschwitzte Haut die kalten Emaillewände berührte. Sein Herz pochte wie wild und Blut rauschte in seinen Ohren, während seine Finger die Taschenlampe umklammerten und er hinauf zum Wannenrand starrte. Aus seiner Position heraus konnte er die Tür nicht mehr sehen und hatte keine Ahnung, wo der Geist war und was das Biest gerade machte.

Aber es wurde immer kälter und kälter.

Frost kroch über die Wände und ließ die Schutzfolie an den Dachbalken knistern.

Wieder sah Connor, wie sein Atem kondensierte. Wieder biss Kälte in die nackte Haut seiner Arme und Beine.

Er begann zu zittern. Vor Kälte, vor Angst - er wusste es nicht. Als über ihm plötzlich ein grauer Geisterfaden auftauchte, fuhr er heftig zusammen. Tastend, suchend schlängelte der Faden umher, blieb aber gut anderthalb Meter über Connor. Anscheinend hielt das Eisen in der Badewanne das Biest wirklich auf Abstand.

Aber für wie lange?

Connor drehte die Taschenlampe und richtete den Lichtkegel auf den Geisterfaden. Sofort zog der sich zurück.

Aber wie lange? Wie lange?

Und was würde geschehen, wenn der Geist Verstärkung bekam?

Connor schluckte hart. Das Biest hatte seine Eltern getötet, das bedeutete, aus ihren Leichen würden ebenfalls Geister entstehen. Hungrige Geister, die gierig auf Lebensenergie waren. Der Gedanke war so widerlich, dass ihm speiübel wurde.

Er wusste, dass die Geister, die aus Gewaltopfern entstanden, nichts mehr mit den Menschen gemeinsam hatten, aus denen sie entstanden waren. Trotzdem war die Vorstellung unerträglich, dass seine Eltern sich gerade in Seelenlose verwandelten. Bisher konnte er ja noch nicht mal richtig begreifen, dass sie überhaupt tot waren.

Seine Kehle schnürte sich gefährlich zu. Sein Herz raste und er zitterte so heftig, dass er kaum die Taschenlampe halten konnte.

Aber er musste! Er musste!

Der Geisterfaden schlängelte wieder über ihm heran und Connor vertrieb ihn erneut mit seinem Lichtstrahl. Er presste die Kiefer aufeinander, zwang sich, ruhig zu atmen und zog Arme und Beine gegen die fürchterliche Kälte so dicht er konnte an den Körper.

Er musste durchhalten!

Genauso wie die verdammten Batterien in der Taschenlampe.

Wie spät war es?

Er hatte keine Ahnung. Hier im Badezimmer war es stockfinster. Sein Vater wollte erst morgen den Platz für das neue Dachfenster festlegen. Connor biss sich auf die Unterlippe, als ihm klar wurde, dass das nicht mehr passieren würde.

Sein Vater war tot.

Was war mit seinem Onkel, seiner Tante und Jackson? So wie seine Tante geschrien hatte …

Connor kämpfte erneut mit diesem furchtbaren Chaos aus Trauer, Schock und Panik, das ihm die Brust zusammendrücken wollte.

Denk nicht drüber nach! Nicht jetzt!

Jetzt musste er erst diese Nacht überstehen.

Er fand nie heraus, wie viele Stunden er in der Badewanne zugebracht hatte. Irgendwann waren draußen vor dem Haus Autos zu hören, dann Stimmen und jemand hämmerte gegen die Haustür. Connor wollte rufen, dass wer immer da draußen war, vorsichtig sein sollte, dass hier ein Geist war, der seine Eltern getötet hatte und jetzt ihn belagerte, um ihn ebenfalls zu töten.

Doch er konnte nicht.

Seine Stimme gehorchte ihm einfach nicht.

Dann stand plötzlich ein Polizist vor der Badewanne. Kurz darauf zwei Sanitäter, die ihm aus der Badewanne halfen, Decken um ihn wickelten und ihn zu einem Rettungswagen brachten. Connor nahm das alles nur dumpf wahr. Wie ein Zuschauer. Als wäre das hier gar nicht sein Leben.

Die Sanitäter mussten ihm irgendwas gegeben haben, denn er hatte keine Erinnerungen an die Fahrt. Er wachte erst wieder in einem Bett im Krankenhaus auf - mit einer gefährlichen Unterkühlung und einem schweren Schock.

An seine ersten Tage danach konnte er sich ebenfalls kaum erinnern. Ärzte und Pflegepersonal kamen und gingen, genauso wie die Polizei, die ihm erzählte, was passiert war.

Eine Gruppe von fünf jungen Leuten aus einem der Nachbardörfer war in der Nacht mit ihrem Wagen verunglückt, als der Fahrer alkoholisiert und mit zu hoher Geschwindigkeit in einer Kurve die Kontrolle verloren hatte. Der Wagen war einen Abhang hinuntergestürzt und hatte sich mehrfach überschlagen. Laut Autopsie waren alle fünf Insassen sofort tot gewesen und da auf den einsamen Straßen zu so später Stunde niemand den Unfall bemerkt hatte, konnten sich die Toten zu Geistern wandeln, die im nächstgelegenen Dorf auf die Jagd nach Lebensenergie gegangen waren.

Da in Tinkay noch nie zuvor ein Geist gesichtet worden war, hatten nicht alle Einwohner den Schutz ihrer Häuser ernst genug genommen. Besonders die weggerosteten Eisengitter in den Kaminen wurden vielen zum Verhängnis. Und die zwei Häuser, deren Dächer gerade neu gedeckt wurden, boten ihren Bewohnern ebenfalls keinen Schutz.

Insgesamt starben in dieser Nacht siebenundsechzig Menschen in Tinkay, unter ihnen fast alle aus Connors Familie. Einzig Timothy überlebte. Spuk Squads aus den umliegenden Städten verbrachten mehrere Wochen in der Umgebung, um die entstandenen Geister zu bändigen. Einer dieser Spuks begleitete Connor zurück in sein Elternhaus, damit er von dort alles holen konnte, was er mitnehmen wollte.

Es war nicht viel. Eigentlich nur sein Autoschlüssel. Er wollte fort. Die Beerdigung war furchtbar gewesen. Timothy hatte ihn mehr als deutlich spüren lassen, was er davon hielt, dass ausgerecht Connor der Einzige war, der aus seiner Familie überlebt hatte.

Danach hielt Connor nichts mehr in Tinkay. Er war nach Hause gekommen, um seine Familie zurückzugewinnen, stattdessen war sie gestorben, ohne dass sie sich hatten versöhnen können. Jetzt hatte er keine Familie mehr und es war ihm unerträglich, sich in dem Haus aufzuhalten, das einmal sein Zuhause gewesen war.

Er fuhr zurück zur Uni, bat um einen Termin beim Dekan und exmatrikulierte sich. Das Studium gehörte zu seinem Leben davor. Er brauchte einen Neustart. Irgendwo anders und mit einem neuen Job. Einem, mit dem er sein Leben und das von anderen schützen konnte. Er hatte seine Familie verloren, aber irgendwann wollte er eine neue mit Menschen, die ihre Liebe und Wertschätzung ihm gegenüber nicht davon abhängig machten, dass er das tat, was sie von ihm erwarteten. Diese Menschen wollte er beschützen können und sich nie wieder so verdammt ausgeliefert fühlen wie in dieser eisigen Nacht, in der er nur durch Glück und Zufall überlebt hatte. Nie wieder wollte er hilflos dastehen und zusehen müssen, wie jemand von einem Seelenlosen getötet wurde. Schon gar nicht jemand, den er liebte.

Die Polizeiakademie in London galt als die beste im ganzen Land, wenn es um die Ausbildung von Spuks ging. Also musste er dorthin - und alles geben, damit er die Aufnahmeprüfung schaffte.

Kapitel 2

GegenwartDienstag, 1. Oktober

Die Autobahn glich einem Schlachtfeld. Autos, Lastwagen, sogar zwei Reisebusse hatten sich auf einer Länge von fast hundert Metern kreuz und quer ineinander verkeilt, sodass es für die Rettungskräfte nur mit Mühe möglich gewesen war, zu den einzelnen Fahrzeugen vorzudringen. Am Morgen war ausgerechnet zur schlimmsten Rushhour-Zeit ein Lastwagen in das Stauende an einer Baustelle gerast. Und als hätte das noch nicht gereicht, krachte wenig später noch ein weiterer LKW in den Stau, der sich hinter der ersten Unfallstelle gebildet hatte.

Polizei und Feuerwehr hatten daraufhin Großalarm ausgelöst und sämtliche verfügbaren Kräfte aus Nordlondon zum Autobahnabschnitt beordert. Auch drei Spuk Squads waren angefordert worden. Sie mussten sich bereithalten, um sowohl die Verletzten als auch die Rettungskräfte vor den Geistern der Verstorbenen zu schützen.

Die Polizei hatte einen Bereich mit Sichtschutzwänden abgesperrt, hinter dem die Toten gesammelt wurden. Eine Spuk Squad besprühte die Leichen mit Auraglue, was den Geisterhauch vernichten würde, sobald er entstand. Dass das Auraglue dabei die Haut der Toten verätzte, war hinzunehmen. Die Körper von Unfallopfern waren in der Regel ohnehin meist so schlimm zugerichtet, dass ein offener Sarg keine Option darstellte, und die Sicherheit von Verletzten und Rettungsteams ging schlichtweg vor. Sobald die Toten eingesprüht und identifiziert waren, wurden sie in spezielle Leichensäcke gepackt und direkt zur Einäscherung gefahren.

Zweiunddreißig Fahrzeuge, unter ihnen zwei vollbesetzte Reisebusse, waren in die Massenkarambolage verwickelt. Bisher gab es siebzehn Leichen und an die hundert zum Teil schwer Verletzte.

»Können wir jetzt ran?«, fragte ein älterer Feuerwehrmann, der mit einem Pressluftspreizer bereitstand, um das völlig zerquetschte Autowrack auseinanderzunehmen, das sein Team zwischen zwei LKW herausgezogen hatte. In seinem Inneren befand sich ein blutüberströmter Toter.

Connor hatte sich um den Geist des Fahrers gekümmert. Der Unfall war mittlerweile über zwei Stunden her und das Wrack war eines der letzten gewesen, an das die Feuerwehr aufgrund seiner verkeilten Lage erst jetzt herangekommen war. Das Eisen in der Karosserie hielt Geister bei Autounfällen zwar eine Weile im Wagen fest, doch sobald die Rettungskräfte die Wracks öffneten, stürzten sich die Schemen auf sie. Frisch entstandene Geister gierten nach echter Lebensenergie, sobald sie die Restwärme aus ihren Leichen in sich aufgesogen hatten. Deshalb hatte die Feuerwehr Connor als einen der Spuks gebeten, sie zu begleiten. Da der Schemen schon zu stark war, um ihn durch Einsprühen der Leiche zu vernichten, hatte Connor Auraglue auf ihn gefeuert und ihn in eine Silberbox einsaugen lassen. Jetzt sammelte er sie ein und nickte den Feuerwehrkollegen zu.

»Die Leiche ist sicher.«

»Okay, danke. Ich glaube, das war es dann auch für euch.«

»Sind aus dem vorderen Reisebus alle raus?«

»So gut wie. Zwei fehlen noch.«

»Okay, dann schau ich mal, ob sie da noch Hilfe brauchen.«

Aufräumteams von Feuerwehr und Abschleppdiensten arbeiteten auf Hochtouren, um die Unfallwagen wegzuschaffen. Die Autobahn sollte möglichst schnell wieder freigegeben werden und jetzt, da die meisten Rettungswagen fort waren, rückten Bergungsfahrzeuge mit Kränen an, um die zertrümmerten Busse und Lastwagen von der Straße zu bekommen.

Connor schlängelte sich zwischen Schrott und Kollegen durch zu einem der Reisebusse, vor dem noch Taschen und eine Trage der Rettungssanitäter standen. Sky und Gabriel hatten den Kollegen dort geholfen. Da der Bus vollbesetzt gewesen war, hatten sie dort nicht prophylaktisch Auraglue gegen entstehende Geister einsetzen können, weil das die Verletzten gefährdet hätte. Gabriel und Sky hatten die Geister deshalb mit ihrer Silberenergie vernichtet, während Sanitäter die Verletzten versorgten, bis die Feuerwehr die Eingeklemmten befreien konnte.

Connor sah, wie Thad vom anderen Ende der Unfallstelle ebenfalls zum Bus kam. Auch er trug eine Silberbox.

Er musterte Connor. »Alles okay?«

Connor schnaubte. »Nach so einem Einsatz ist das ja wohl die falsche Frage.«

Thad nickte knapp und beide blickten zur Bustür, die die Feuerwehr aus der eingedrückten Karosserie herausgeschnitten hatte. Gabriel kam mit zwei Sanitätern heraus. Alle drei wirkten abgekämpft.

»Man kann nicht jeden retten«, sagte einer von ihnen und hielt Gabriel die Hand hin. »Aber danke, dass du es versucht hast.«

Gabriel schlug in die Hand ein. »Das ist doch klar.«

»Wir schicken jemand, der die Leiche abholt.« Die beiden Sanitäter sammelten ein paar der Taschen und die Trage ein, dann gingen sie in Richtung Sichtschutz, hinter dem die Toten lagen.

Gabriel trat zu Thad und Connor.

»Du hast versucht, jemanden mit deiner Lebensenergie zu retten?«, fragte Connor.

Gabriel nickte und kickte ein Stück Schrott unter den Bus. »Hat aber nichts genützt. Er ist trotzdem gestorben. Zu schwere innere Blutungen meinten die Sanis.«

»Tut mir leid.«

Gabriel fuhr sich übers Gesicht und durch die Haare. »Man kann nicht jeden retten«, wiederholte er den Satz der Kollegen aus dem Rettungsdienst. »Ist zwar ein echt beschissenes Mantra, aber anders kann man den Job als Sanitäter vermutlich nicht machen. Ich hab jedenfalls Hochachtung vor dem, was die leisten. Für uns ist dieser Einsatz der Horror. Für sie ist so was der Alltag.« Er sah zu Connor und musterte seinen Freund. »Was ist mit dir? Kommst du klar?«

»Ist kein Highlight, hier zu sein, aber wenn wir geholfen haben, dass kein Geist entkommen kann und die Umgebung gesichert ist, war es den Einsatz wert.«

Thad drückte ihm kurz die Schulter. »Ich denke, das haben wir geschafft. Ich spreche mal kurz mit dem Einsatzleiter und frage, ob wir hier noch gebraucht werden, sonst machen wir Schluss. Immerhin hatten wir vor diesem Chaos schon Dämmerdienst. Es wird Zeit für eine Pause.«

Er nahm Connor die Silberbox ab und ging davon.

Das Buswrack neben ihnen wankte leicht und kurz darauf erschienen zwei Feuerwehrleute und zwei Sanitäterinnen mit einer Trage, auf der eine kreidebleiche Frau festgeschnallt war. Mühsam bugsierten die Retter sie durch die Bustür ins Freie. Sky sprang hinterher, trat sofort neben die Frau und ergriff eine ihrer schlaffen Hände.

»Ich fahre mit ihr ins Krankenhaus«, rief sie Connor und Gabriel zu. »Vielleicht schafft sie es, wenn ich ihr Energie gebe.«

»Okay«, nickte Connor. »Wohin bringt ihr sie?«

»London Memorial«, antwortete eine der Sanitäterinnen.

»Dann holen wir dich da ab.«

Sky hob den Daumen. »Okay.«

»Nein, nicht okay.« Gabriel lief ihnen nach und trat neben Sky. »Ich übernehme sie. Geh du zu Connor«, fügte er leiser hinzu. »Dich braucht er jetzt mehr als mich.«

Sky schenkte ihrem Bruder ein kleines Lächeln. »Okay. Danke.«

»Nicht dafür. Bis später.«

Sky drückte kurz seine Finger, als er von ihr die Hand der Patientin übernahm. Dann lief sie zu Connor.

»Ich bin okay«, versicherte er, weil ihm klar war, warum Gabriel mit Sky getauscht hatte.

Sie musterte ihn kurz und schlang dann die Arme um ihn. »Ich weiß. Trotzdem wühlt das hier sicher einiges bei dir auf und wir wollen nur, dass du weißt, dass du mit dem Mist nicht allein bist. Also, wenn du reden willst …« Sie sah ihm tief in die Augen.

Er lächelte gerührt. »Umarmung reicht.«

Er musste schlucken, als sie ihn prompt wieder an sich zog. Ihre Nähe, ihr vertrauter Geruch, die Bedingungslosigkeit, mit der sie immer für ihn da war - das war Balsam für die Seele nach einem Einsatz wie diesem.

Himmel, er wusste, warum er sie so sehr liebte - und warum Gabriel sein bester Freund war.

»Okay«, sagte sie sanft, als sie ihn schließlich wieder losließ und stattdessen seine Hand nahm. »Lass uns Thad finden und fragen, ob wir von hier verschwinden können.«

Knappe zwei Stunden später betraten Gabriel, Connor und Sky das Mean & Evil. Nachdem sie Gabriel von der Klinik abgeholt hatten, waren die drei zum Revier gefahren, um ihre Einsatzberichte zu schreiben. Danach hatte Pratt ihnen für den Rest des Tages freigegeben mit dem Hinweis, dass er sie am nächsten Tag nach der Frühschicht zu einer Dienstbesprechung in seinem Büro erwartete. Thad dagegen blieb noch bei ihm.

»Warum hab ich das Gefühl, dass da irgendwas Größeres auf uns zukommt?«, hatte Sky stirnrunzelnd gemurmelt, als die drei das Büro ihres Vorgesetzten verlassen hatten.

»Solange man uns nicht die freien Tage am Wochenende streicht, ist es mir egal«, hatte Gabriel geantwortet. »Da steht Newfield an und das können wir nicht verschieben.«

Es war kurz nach eins und das Mean & Evil füllte sich. Den größten Umsatz machte der Pub zwar abends, doch es gab auch einen Mittagstisch, der allerdings weniger von Totenbändigern, sondern mehr von Touristen genutzt wurde, die bei Tag mutig genug waren, sich in die etwas verruchteren Ecken von Camden Town zu wagen.

Eddie stand allein hinter dem Tresen, während Willa und Lorna die Gäste bedienten. »Ihr seht fürchterlich aus«, grüßte er Gabriel, Sky und Connor mit kritischem Blick, als sie zu ihm traten. »Schlimme Schicht?«

Gabriel deutete auf einen Fernseher, auf dem London News Network lief und Bilder von den Aufräumarbeiten auf der Autobahn zeigte. »Wir waren bei der Massenkarambolage im Einsatz.«

»Oh Mann.« Eddie musterte die drei mitfühlend und nickte dann zu der Nische, die in einer ruhigen Ecke des Pubs immer für sie und die Ghost Reapers reserviert war. »Setzt euch. Was wollt ihr trinken?«

»Whiskey pur, einen Kaffee und eine Cola«, antwortete Gabriel.

»Den Kaffee nehme ich auch. Und ein Wasser, bitte«, sagte Sky.

»Für mich dasselbe«, schloss Connor sich an Skys Bestellung an.

»Kommt sofort. Habt ihr schon was zu Mittag gegessen?«

Gabriel schnaubte. »Wir wurden vom Dämmerdienst direkt zur Autobahn beordert. Wir hatten noch nicht mal Frühstück.«

Eddie seufzte und stellte Whiskey, Cola und Wasser auf den Tresen. »Den Kaffee bring ich euch gleich. Und was zu essen. Ist Sheppard's Pie okay? Der ist heute Hanks Mittagsspecial.«

»Der wäre himmlisch, danke«, seufzte Sky, während Gabriel den Whiskey hinunterstürzte und kurz das Gesicht verzog, als der Alkohol in seinem Hals brannte.

»Gern.« Eddie deutete erneut zu ihrer Nische. »Setzt euch und macht Pause.«

»Danke.« Sky und Connor nahmen ihr Wasser und schlängelten sich zu ihrem Tisch durch.

Gabriel hielt Eddie sein Whiskeyglas hin, doch der hob skeptisch eine Augenbraue.

»Ich bezahle ihn, keine Sorge«, knurrte Gabriel.

»Du weißt, dass es nicht darum geht.«

Gabriel rollte die Augen. »Wir haben für den Rest des Tages frei, okay? Mir sind heute vier Leute unter den Händen weggestorben und noch mal so viele lagen totgequetscht in Autowracks, aus denen ich nur noch ihre Geister bändigen konnte. Wenn das keinen doppelten Whiskey rechtfertig, was dann?«

Eddie nahm ihm das Glas ab und goss einen kleinen Schluck nach. Als Gabriel das Glas zurücknehmen wollte, behielt Eddie es jedoch bei sich.

»Du trinkst ihn erst, wenn du was im Magen hast, verstanden?«

»Mann, ich bin kein Teenager mehr!«

Gabriel streckte die Hand nach dem Glas aus, aber Eddie blieb unerbittlich und musterte ihn mit ziemlich genau dem Blick, mit dem er Gabriel und Matt jedes Mal bedacht hatte, wenn er sie als Teenager dabei erwischt hatte, wie sie eine Flasche aus seinen Vorräten hatten mitgehen lassen wollen.

»Verstanden?«, wiederholte er ruhig.

Wieder rollte Gabriel die Augen. »Jaaaa, Dad.«

Eddie reichte ihm das Glas und Gabriel nahm es entnervt entgegen.

»Hey, Sohn«, sagte Eddie dann mit einem Lächeln über Gabriels Schulter.

Gabriel wandte sich um und sah Matt vom Eingang des Pubs zu ihnen herüberkommen. Matt erwiderte das Lächeln seines Vaters, runzelte dann aber die Stirn, als er Gabriels Miene und das Glas in seiner Hand sah.

»Whiskey zu Mittag? Scheißtag?«

»Exakt«, knurrte Gabriel. »Und spar dir die Predigt, die hat mir dein Dad gerade schon verpasst.«

Mit einem bedeutungsvollen Blick zu Eddie nippte er am Whiskey und ging dann zu Sky und Connor.

Matt sah ihm kurz nach und wandte sich dann zu seinem Vater um. »Was ist los? Hattet ihr Streit?«

Abwinkend schüttelte Eddie den Kopf. »Nein.« Er deutete zum Fernseher, der noch immer den Sonderbericht zum Unfall zeigte. »Hast du von der Massenkarambolage gehört?«

»Ja, im Radio. Üble Sache.«

Eddie nickte. »Die drei waren dort im Einsatz. Gabriel hat versucht, vier der Verletzten zu helfen, aber vergebens.«

»Shit.« Betroffen sah Matt zu seinen Freunden hinüber.

Eddie folgte seinem Blick. »Sieh zu, dass du sie wieder auf andere Gedanken bringst.«

Matt verkniff sich ein ironisches Schnauben. Bei dem, was sie nachher vorhatten, waren andere Gedanken definitiv vorprogrammiert. Die Frage war allerdings, ob die dann unbedingt besser waren.

Er rang sich ein schiefes Lächeln ab. »Mach ich.«

»Wie lief es denn?«, wechselte Eddie dann das Thema. »Du hast heute Morgen ja ziemlich geheimnisvoll getan, was den potenziellen neuen Job für die Reapers angeht.«

»Ich wollte bloß erst mal alles abklären und nichts beschreien. Es stand ja immerhin noch nicht fest, ob wir den Auftrag wirklich bekommen.«

»Und? Hat es geklappt?«

Jetzt lächelte Matt richtig. »Yep. Und es ist ein echt guter Job. Garantiert uns Arbeit für zwei Wochen, die Bezahlung ist sehr anständig und sie stellen uns unbegrenzt Ausrüstung.«

Eddie runzelte die Stirn, während er sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte. »Das klingt ja fast zu gut, um wahr zu sein.«

»Ja, das dachte ich auch, aber wir haben uns vor Ort mit den Auftraggebern getroffen und uns alles angesehen. Es ist viel zu tun, aber machbar.«

»Gefährlich?«

Matt hob die Schultern. »Geister zu jagen, ist nie ungefährlich, das weißt du. Aber keine Sorge, der Job ist nicht gefährlicher als andere, die wir hatten. Ich denke, ich werde sogar die Kids fragen, ob sie mitkommen wollen. Nach seinem Kräfteboost soll Cam seine neuen Fähigkeiten erst mal unter Aufsicht austesten, und bei diesem Auftrag hat er mehr als genug Möglichkeiten, sich auszutoben. Außerdem werden die Kids den Ort lieben.«

»Wo geht's denn hin?«

Matt grinste. »Covington Garden.«

Eddie lachte auf. »Wow. Ernsthaft?«

»Yep.«

»Na dann viel Spaß.«

»Den werden wir haben.«

Eddie deutete hinüber zu Gabriel, Sky und Connor. »Frag sie, ob sie mitkommen. Gabriel hat gesagt, sie hätten den Rest des Tages frei.« Er stellte drei große Kaffeebecher auf ein Tablett und schob es Matt hin. »Und bring ihnen die hier.«

»Gib mir auch einen. Und irgendwas zu essen. Das wird heute noch ein langer Tag und das Abendessen wird mal wieder ausfallen müssen.«

Eddie stellte eine vierte Tasse dazu. »Ich bring euch was. Und jetzt geh und kümmere dich um deine Freunde.«

»Danke. Du bist der Beste.«

»Das auch.« Eddie lächelte verschmitzt und drückte seinem Sohn die Schulter. »Vor allem bin ich aber wahnsinnig stolz auf dich. Herzlichen Glückwunsch zu eurem Auftrag. Es ist großartig, was du da mit den Ghost Reapers auf die Beine gestellt hast.«

Kapitel 3

Die London University of History and Social Studies, kurz LUHS, lag im Stadtteil Kew und grenzte mit ihrem Campus an die Kew Gardens, einer riesigen Parkanlage, in der Landschaftsbauer zeigten, was die weltbekannten Englischen Gärten alles zu bieten hatten. Auch auf dem Campus der Universität hatten sie sich ausgetobt und die kleinen Grünanlagen zwischen den edwardianischen Universitätsgebäuden waren hübsch gestaltet. Es war kurz nach drei und etliche Studierende saßen in kleinen Gruppen an Picknicktischen, auf Bänken oder den Rasenflächen und genossen den Sonnenschein.

»Nett hier«, befand Matt, als er mit Connor, Sky und Gabriel den Hinweisschildern zur Minster Hall folgte. »Studieren wäre zwar absolut nicht meins, aber der Campus hier sieht schon toll aus. Ich hoffe ja, dass Jack doch noch die Möglichkeit bekommt, zu studieren. Ich hab ihn zwar wirklich gern bei den Ghost Reapers, aber ich weiß, dass Jura viel mehr sein Ding wäre.«

Sky nickte. »Für Jules wäre es auch toll, wenn er nach dem Abi an eine Uni dürfte.«

»Na, vielleicht wird es ja bald was, wenn ihr nächste Woche den Sitz im Stadtrat bekommt.«

Connor hatte für den Nachmittag einen Termin mit Professor Doktor Hammond Winkler ausgemacht, einem der führenden Experten für die Geschichte der Totenbändiger. Von ihm erhofften sie sich Informationen zu der Sekte, in deren Gewalt Cam vor dreizehn Jahren gewesen war und die allem Anschein nach erneut - oder immer noch - ein grausames Ritual verfolgte, bei dem Menschen getötet und Kinder gequält wurden.

Die vier liefen durch einen Rundbogen und landeten in einem weiteren Innenhof, der versteckt zwischen den Unigebäuden lag. Über dem Eingang des Flügels zu ihrer Linken entdeckten sie den Schriftzug Minster Hall in steinernen Lettern. Sky, Connor, Matt und Gabriel stiegen die ausgetretenen Stufen hinauf, die schon zig Generationen von Studentenfüßen gesehen haben mussten, und Sky wollte gerade die Flügeltür aufziehen, als jemand von innen ihr zuvorkam.

»Oh, sorry!«, haspelte ein schwarzes Mädchen mit wuscheliger Lockenmähne und einem dicken Stapel Bücher unter dem Arm entschuldigend.

»Kein Problem.« Sky hielt ihr und ihren beiden Freundinnen, die ähnliche Bücherstapel mit sich schleppten, die Tür auf.

»Danke.«

Die Mädchen musterten die vier und blieben dabei unweigerlich an den schwarzen Totenbändigerlinien hängen, die sich bei Sky, Matt und Gabriel über die Schläfen zogen.

»Wow«, entfuhr es der Größten von ihnen. »Lassen sie endlich Totenbändiger an die Unis? Wird aber auch Zeit!«

Sky lächelte. »Leider noch nicht. Aber wir arbeiten daran.«

»Wir drücken die Daumen.« Die dritte von ihnen schob eine niedliche Nickelbrille ihre Nase hoch. »Wir haben hier an der LUHS Unterschriften für euch gesammelt und sie an die Gilde für Bildung, Erziehung und Forschung geschickt mit der Aufforderung, dass sie für euren Sitz im Stadtrat stimmen sollen. Die Aktion lief an so ziemlich allen Unis in London, also sollten da einige Unterschriften zusammengekommen sein.«

»Wow.« Gabriel musterte die drei beeindruckt. »Das war echt nett, danke!«

Die Kleine mit der Nickelbrille winkte ab. »Ganz ehrlich, dieser Sitz ist längst überfällig. Ich meine - hallo?! Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Dass ihr noch keine Stimme in unserer Gesellschaft und nicht die gleichen Rechte wie die Normalos habt, ist einfach nur peinlich. Und unentschuldbar. Deshalb muss sich das jetzt dringend ändern.«

»Definitiv«, nickte der Lockenschopf. »Wir haben unsere Unterschriftenlisten als Kopien daher auch gleich noch an alle anderen Gilden im Stadtrat geschickt.« Sie grinste. »Kann ruhig jeder wissen, wie die Studierenden in London zu der Sache stehen. Immerhin sind wir die Zukunft dieser Stadt, da sollten wir auch mitreden, wie es hier laufen soll.«

Matt lachte auf. »Ihr seid spitze, wirklich.«

»Kein Ding. Wie gesagt, das ist längst überfällig.«

»Trotzdem danke für eure Unterstützung. Das bedeutet uns eine Menge«, meinte Sky. Dann fragte sie: »Könnt ihr uns sagen, wie wir zum Büro von Professor Doktor Winkler kommen?«

»Klar. Durch die Tür, geradeaus die Treppe hoch in den zweiten Stock, dann in den linken Gang. Sein Büro ist auf der linken Seite. Die dritte oder vierte Tür, glaube ich. Sein Name steht aber dran, das könnt ihr nicht verfehlen.«

»Danke!«

»Gern.«

»Bitte, setzten Sie sich.«

Professor Doktor Winkler war Ende fünfzig, leicht untersetzt und wirkte mit seiner braunen Cordhose, Hemd und einer Strickjacke eher wie der Typ netter Lehrer statt strenger Professor. Er hatte welliges braunes Haar, das mit grauen Strähnen durchzogen war. Gleiches galt für seinen Vollbart. Die Augen hinter seiner randlosen Brille verrieten Wissbegier und ihr Blick ließ vermuten, dass dem Professor nicht viel entging. Sein Lächeln war warmherzig und strahlte Offenheit aus, als er die vier in seinem Büro willkommen hieß.

Sky mochte ihn sofort. Connor hatte den Professor bei seiner Bitte um einen Gesprächstermin bereits wissen lassen, dass es um Nachforschungen in einem Polizeifall ging, und falls Winkler sich wunderte, dass sie gleich mit vier Beamten bei ihm auftauchten, ließ er es sich nicht anmerken. Auch die Totenbändigermale, die drei seiner Besucher trugen, schien er nur beiläufig zu registrieren.

Er deutete zu einer Ledercouch, die zusammen mit einem kleinen Tisch und zwei Sesseln in einer Ecke seines Büros stand. An den Wänden reihten sich deckenhohe Bücherregale an ein Sideboard sowie einen Aktenschrank und vor dem Fenster stand ein Schreibtisch, auf dem sich neben Computer und Telefon mehrere Bücher und Schnellhefter stapelten.

»Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?«

Auf dem Tisch zwischen Couch und Sesseln stand ein Tablett mit einer schlichten weißen Porzellankanne, Zuckerdose, Milchkännchen, drei Tassen und einem Teller mit Teegebäck.

»Sehr gern. Vielen Dank.«

Während die vier sich setzten, holte Winkler aus einem Schrank zwei weitere Tassen und schenkte allen Tee ein.

»Danke, dass Sie uns so kurzfristig einen Termin einräumen konnten«, sagte Connor, als er seine Tasse entgegennahm.

»Keine Ursache.« Winkler nahm mit seinem Tee in einem der Sessel Platz. »Es klang ja dringend. Sie ermitteln in einem Fall, in dem es Hinweise auf eine Sekte von Totenbändigern gibt?«

Sky nickte. »Es deutet einiges darauf hin und wir hoffen, den Fall schnell und ohne großes Aufsehen lösen zu können. In der momentanen politischen Lage wäre es fatal, wenn womöglich einige Mitglieder unserer Rasse die Fortschritte, die wir erkämpft haben, und die Möglichkeit, die uns gerade in Aussicht steht, durch ihre Taten gefährden.«

Winkler nickte langsam. »Sie reden von der Abstimmung über den Sitz für die Totenbändiger in unserem Stadtrat.«

»Genau.«

Wieder nickte der Professor. »Meine Unterstützung haben Sie. Sie verdienen Gleichstellung und Ihre Gilde sollte längst in unserem Rat vertreten sein. Ich sichere Ihnen jedenfalls meine absolute Verschwiegenheit zu, obwohl ich mir denken kann, dass Sie mir zu den Einzelheiten Ihres Falls vermutlich ohnehin nichts sagen dürfen. Trotzdem wären ein paar Informationen für mich natürlich hilfreich.«

Er sah zu Connor. »Sie erwähnten in Ihrer E-Mail geminus obscurus. Darf ich fragen, wo Ihnen dieser Begriff begegnet ist?«

»An einem Tatort.« Connor zog sein Smartphone hervor und rief das Foto auf, das er vor zwei Tagen im Keller des alten Herrenhauses geschossen hatte, in dem sowohl vor dreizehn Jahren als auch in diesem Jahr mehrere Morde stattgefunden hatten. Er reichte das Handy an Winkler.

Die Augen des Historikers weiteten sich, als er die blutroten Worte betrachtete, die auf einer dunklen Backsteinwand über einem Kaminsims mit schwarzen und weißen Kerzen prangten.

Geminus obscurus - ich bin bereit!

»Ich vermute, es gab an diesem Tatort Leichen, die auf einen rituellen Mord schließen lassen?«, sagte er schließlich, als er Connor das Handy zurückreichte und fragend in die Runde sah. »Deswegen sind Sie hier, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete Gabriel. Es war die naheliegende Antwort und sie hatten einstimmig beschlossen, dass der Professor nichts von Cam erfahren sollte. Jedenfalls nicht, wenn es sich vermeiden ließ. »Können Sie uns weiterhelfen? Es klingt, als hätten Sie eine Ahnung, worum es geht.«

Winkler nickte. »Ich denke schon, dass ich Ihnen einige Informationen geben kann, allerdings habe ich meine Forschungen bezüglich der Geschichte der Totenbändiger auf einen anderen Schwerpunkt ausgerichtet. Mir geht es vor allem um die Erforschung und Entwicklung der Rasse der Totenbändiger im Zusammenspiel mit der Normalbevölkerung. Wo hat ein gemeinsames Leben gut funktioniert? Wo nicht? Was waren die Gegebenheiten? Was waren Gründe und Ursachen, dass es an einigen Orten besser, an anderen schlechter funktioniert hat, und welche Rückschlüsse lassen sich daraus ziehen und vielleicht auf die heutige Gesellschaft anwenden. Natürlich sind mir dabei auch Aufzeichnungen zu Gräueltaten in die Hände gekommen - und damit meine ich Gräueltaten, die sowohl Totenbändiger der Normalbevölkerung angetan haben als auch umgekehrt. Ehrlich gesagt schenken sich meines Erachtens da beide Parteien nicht viel. Doch diese Gewalttaten sind nicht mein Schwerpunkt. Hasser, Paranoide und Verschwörungstheoretiker gibt es schon genug. In meinen Studien konzentriere ich mich auf das Positive, das beide Rassen in der Vergangenheit immer wieder gemeinsam erreicht haben. Daraus sollten wir für die Gegenwart und die Zukunft lernen und das ist es, was ich meinen Studenten vermitteln will. Ich bin daher kein Experte für grausame Sekten und Rituale. Ich weiß darüber nur das, was unter uns Historikern als eine Art Allgemeinwissen gilt. Dieses Wissen habe ich nach Ihrer Anfrage gestern zwar noch mal ein bisschen aufgefrischt, aber als Experte dafür würde ich mich sicher nicht bezeichnen, und ich kann Ihnen leider auch nicht sagen, ob es hier in London eine Totenbändigersekte gibt.«

Er deutete zu Connors Handy. »Obwohl diese Inschrift die Vermutung schon recht sehr nahelegt.«

»Wir sind für jede Information dankbar«, sagte Sky. »Und offensichtlich wissen Sie weit mehr als wir, denn uns sagt geminus obscurus gar nichts. Ist das der Name einer Sekte? Oder der Name eines Rituals, das sie durchführen?«

Winkler lehnte sich in seinem Sessel zurück und nahm einen Schluck von seinem Tee.

»Ich bin mir nicht sicher, ob die Sekte überhaupt einen Namen hat. In den historischen Aufzeichnungen ist mir jedenfalls keiner untergekommen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie sich als das sahen, was wir heute als Sekte verstehen. Es gab um 1800 herum einen Totenbändiger namens Cyrus Kenwick, der mit fragwürdigen Experimenten einen Weg suchte, seine Rasse zu stärken und zu vergrößern. Da Totenbändiger zu dieser Zeit besonders rigoros von der Normalbevölkerung gejagt und getötet wurden, war es nicht verwunderlich, dass sich etliche Anhänger um ihn scharten, denn das, was Kenwick versprach, muss sehr verlockend gewesen sein. Deshalb halfen sie ihm bei seinen Experimenten, für die er Menschen als Opfer brauchte. So wie die Normalbevölkerung Jagd auf Totenbändiger machte, jagten Kenwicks Anhänger Normalos und brachten sie zu ihrem Anführer. Die Aufzeichnungen aus dieser Zeit sind allerdings nur sehr lückenhaft. Ab den 1770er Jahren tauchen in den Gemeindebüchern verschiedener Dörfer in Northumberland aber immer wieder Einträge zu verschwundenen Personen auf, zum Teil auch mit Anmerkungen, dass man Totenbändiger verdächtigte, etwas damit zu tun zu haben. In manchen dieser Vermerke wird Kenwick sogar namentlich erwähnt. Es gab anscheinend auch hin und wieder Versuche, ihn und seine Leute zu stoppen. Er hatte sich irgendwo in den Wäldern Northumberlands mit ihnen niedergelassen. Vermutlich zunächst in einfachen Hütten oder Zelten. In späteren Aufzeichnungen finden sich dann Aussagen, dass sie ein Gehöft an sich gebracht hatten. Auch dort gab es verschiedene Versuche, Kenwick und sein Gefolge auszuschalten, aber erst im Jahr 1811 waren die umliegenden Dörfer erfolgreich. Die Bewohner hatten sich zu einer Übermacht zusammengetan, verschafften sich Zugang zum Anwesen, töteten Kenwick sowie die meisten seiner Leute und brannten den Hof nieder.«

»Okay«, meinte Matt mit einem Seufzen, als er an die verschwundenen Obdachlosen dachte, von denen sie einige vor zwei Tagen mit aufgeschlitzten Kehlen im Herrenhaus gefunden hatten. »Das konnte man den Dorfbewohnern sicher nicht verdenken.«

»Nein«, gab Winkler ihm recht.

»Ist denn bekannt, wofür Kenwick die Menschen opferte, die seine Anhänger ihm brachten?«, fragte Connor. »Wissen Sie, welcher Art die Experimente waren, die Kenwick durchführte, und was es mit diesem geminus obscurus auf sich hat?«

»Kenwick glaubte, eine Art Wesen erschaffen zu können, das er geminus obscurus, also dunkler oder verborgener Zwilling, nannte. Um dieses Wesen zu erschaffen, mussten Totenbändigerkinder ein bestimmtes Ritual vollziehen, an dessen Ende aus ihnen heraus besagter Zwilling entstehen sollte, der die Macht haben würde, die Rasse der Totenbändiger zu vergrößern.«

»Und wie sollte dieser Zwilling dazu in der Lage sein?«, fragte Sky stirnrunzelnd.

Winkler nahm einen weiteren Schluck von seinem Tee. »Indem er Normalos durch eine simple Berührung in Totenbändiger verwandelt.«

Kapitel 4

Alle vier starrten den Professor ungläubig an.

»Wie bitte?« Gabriel fand als Erster seine Sprache wieder. »Das ist ein Scherz, oder?«

Winkler hob die Schultern. »Ich sage nicht, dass es Sinn ergibt oder wirklich möglich ist. Aber Kenwick hat offensichtlich daran geglaubt und mit seinen Ritualen, wenn man es so nennen will, an der Umsetzung gearbeitet.«

»Gibt es irgendwelche Aufzeichnungen, die nahelegen, dass er dabei Erfolg hatte?«, hakte Connor nach.

Der Professor schüttelte den Kopf. »Nein. Und ich bin mir sicher, wenn es tatsächlich ein Wesen gegeben hätte, das Normalos in Totenbändiger hätte verwandeln können, würde es dazu historische Aufzeichnungen geben. Je nachdem, wie mächtig dieses Wesen wäre, würden wir die Auswirkungen dann ja sogar heute noch spüren und die Anzahl der Totenbändiger in unserer Gesellschaft wäre deutlich höher. Vielleicht läge sie sogar über der der Normalbevölkerung, wenn man Kenwicks Rituale regelmäßig durchführen und in jedem Durchgang mehrere Kinder benutzen würde, um diese Zwillinge zu erschaffen.«

Er sah von einem zum anderen. »Dass wir uns also nicht falsch verstehen: Meiner Meinung nach ist dieser geminus obscurus nur ein Hirngespinst von Kenwick und seinen Anhängern. Für viele Totenbändiger, die unter der schlechten Behandlung der Normalbevölkerung litten, muss die Aussicht auf ein Wesen, das ihre Rasse zur herrschenden machen könnte, allerdings sehr verlockend gewesen sein. Aber ich persönlich denke, Kenwick war nur ein sehr wahnhafter Mensch, dessen Hirn sehr kranke Gedanken ausbrütete, die er dann ausgelebt hat.«

Er wies auf Connors Smartphone, das auf dem Tisch lag und noch immer das Foto der blutroten Schrift zeigte. »Die Vorstellung, dass es jemanden gibt, der ihm jetzt vielleicht nacheifert, ist allerdings erschreckend.«

Sky nickte langsam. »Wissen Sie, wie dieses Ritual ablief, bei dem Kenwicks Ansicht nach dieser dunkle Zwilling entstehen sollte?«, fragte sie dann.

»Nur in groben Zügen«, gestand der Professor. »Wie gesagt, ich bin kein Experte für Kenwick und seine Gräueltaten. Er schien zu glauben, dass sich die bis heute unerklärlichen Kräfte, die in Unheiligen Zeiten herrschen, nicht nur auf die Kräfte der Geister, sondern auch auf die der Totenbändiger auswirken. Dabei hat er wohl ein besonderes Augenmerk auf die Unheiligen Nächte in Unheiligen Jahren gelegt. Seinen Vorstellungen nach sollte der geminus obscurus entstehen, wenn ein Kind in den vier Unheiligen Nächten eines Unheiligen Jahres jeweils dreizehn frisch entstandene Geister bändigt. Das würde zu den Aufzeichnungen über die Verschwundenen aus den Gemeindebüchern passen. Kenwicks Leute verschleppten diese Menschen, um sie zu töten und zu den Geistern werden zu lassen, die für das Ritual gebraucht wurden.«

Gabriel presste die Lippen aufeinander. Es passte auch zu der Theorie, die sie bezüglich der Sekte hatten, die allem Anschein nach Kenwicks Glauben an den dunklen Zwilling teilte und sein Ritual sowohl vor dreizehn Jahren als auch in diesem Jahr ausprobierte.

»Warum unbedingt Kinder?«, knurrte er.

Winkler betrachtete ihn einen Moment lang, als versuchte er zu ergründen, was seine Besucher wohl außer der blutroten Schrift noch am Tatort vorgefunden hatten. Er fragte aber nicht nach.

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Wenn ich eine Vermutung äußern soll, würde ich sagen, dass Kenwick gedacht haben könnte, die Entstehung des Zwillings würde mit der Entwicklung des Menschen zusammenhängen und dass der Zwilling gemeinsam mit dem Kind heranwächst.«

Sky runzelte die Stirn. »Würde das dann bedeuten, dass Kenwick davon ausging, dass jeder Totenbändiger diesen Zwilling in sich trägt, man ihn aber im Kindesalter erwecken muss?«

»Eine Möglichkeit«, nickte Winkler. »Eine andere wäre, dass Kenwick glaubte, er könnte diesen Zwilling mit dem ersten Ritual in das Kind einpflanzen, und die drei nachfolgenden Rituale sowie die Kräfte, die in den Unheiligen Nächten herrschen, braucht es, um den Zwilling zu stärken und wachsen zu lassen.«

»Und wenn alle Rituale nach der vierten Unheiligen Nacht abgeschlossen sind, was passiert dann?«, fragte Matt. »Wie sieht dieser dunkle Zwilling aus? Und wie kommt er aus den Kindern heraus?«

Bedauernd schüttelte Winkler den Kopf. »Tut mir leid, das weiß ich nicht. Wie schon gesagt, meiner Ansicht nach ist dieser geminus obscurus nur das Hirngespinst eines sehr wahnhaften Mannes.«

»Gibt es denn keine Aufzeichnungen über den Ablauf der einzelnen Rituale und was sie jeweils bewirken?«, erkundigte sich Connor. »Woher haben Sie die Informationen, die Sie uns geben konnten?«

Winkler deutete zu dem Bücherstapel, der auf seinem Schreibtisch lag. »In einigen Geschichtsbüchern über die Totenbändiger des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts finden sich Kapitel zu Kenwick und seiner Ideologie, die zwei Kollegen von mir verfasst haben. Allerdings ist das schon über dreißig Jahre her und beide sind inzwischen leider verstorben, sonst hätte ich bei ihnen nachgefragt, ob sie uns weiterhelfen können. Ich habe Ihnen Kopien der jeweiligen Artikel aus den Büchern gemacht, damit Sie alles selbst noch einmal nachlesen können, wenn Sie das möchten. Ich fürchte aber, ich habe Ihnen bereits alles erzählt, was dort drinsteht. Beide Kollegen verweisen allerdings darauf, dass Kenwick eine Art Manifest geschrieben haben soll, in dem er die Erkenntnisse aus seinen Experimenten sowie eine Anleitung für das Ritual festgehalten hat. Ich schätze, dass Sie darin die Antworten finden würden, die ich Ihnen leider nicht geben kann.«

»Vielen Dank für die Kopien«, sagte Sky sofort. »Die nehmen wir sehr gern. Können Sie uns vielleicht auch sagen, wo wir dieses Manifest finden können?«

Wieder schüttelte Winkler bedauernd den Kopf. »Leider nein. In beiden Artikeln steht, dass es schwer aufzutreiben ist. Meine Kollegen hatten offensichtlich nur Teile davon, nicht mehr als eine Art Loseblattsammlung einzelner, größtenteils unzusammenhängender Seiten. Manche auch arg beschädigt und kaum noch lesbar, was sie vermuten ließ, dass einige Anhänger Kenwicks, die den Angriff der Dorfbewohner auf das Anwesen überlebt hatten, die Seiten aus den Flammen retteten. Flemming, einer der Kollegen, äußert zudem die Vermutung, Kenwick könnte ein paar Abschriften seines Manifests angefertigt haben, die er durch seine Anhänger an andere Gemeinschaften von Totenbändigern in Großbritannien verteilen ließ, damit auch sie an der Erschaffung eines geminus obscurus arbeiten konnten. Das war aber, wie gesagt, nur eine Vermutung.«

»Dann hat also keiner Ihrer Kollegen seine Forschungen über Kenwick mit einem kompletten Manifest betrieben, sondern nur mit einzelnen Seiten?«, hakte Connor nach.

Winkler nickte. »Laut der Artikel in den Büchern, ja. Es waren anscheinend wohl sogar dieselben Seiten, die ihnen von einem privaten Sammler zur Verfügung gestellt worden waren. Er wird von beiden namentlich in ihren Danksagungen erwähnt.«

Er schenkte seinen Besuchern ein kleines Lächeln. »Da ich mir denken konnte, dass Kenwicks Manifest für Ihre Ermittlungen von Bedeutung sein kann, habe ich bereits versucht, diesen Sammler ausfindig zu machen. Sein Name war Reginald Deever. Er scheint ziemlich exzentrisch gewesen zu sein und alles nur Erdenklichen gesammelt zu haben. Auch er ist allerdings leider schon vor knapp zwanzig Jahren verstorben. Er lebte in Newcastle, war alleinstehend und hatte keine Kinder oder sonstige Familie. Deshalb vermachte er seine Sammlung an ein kleines privates Museum, das allerdings keine zwei Jahre nach Deevers Tod schließen musste. Der damalige Besitzer verkaufte alle Exponate und ich fürchte, es wird schwer sein, nachzuvollziehen, wohin die Seiten aus Kenwicks Manifest dann verschwunden sind. Ich recherchiere das aber gern, wenn ich Ihnen damit helfen kann.«

»Danke, das wäre wirklich sehr nett und uns eine große Hilfe.« Sky stellte ihre leere Teetasse auf den Tisch.

»Ich werde tun, was ich kann. Ich habe auch Flemmings Tochter kontaktiert. In einem Interview, das kurz vor seinem Tod in einer unserer Fachzeitschriften erschien, erwähnte er, dass er seine Nachforschungen zu Kenwick wieder aufgenommen hätte, weil ihm einige neue Erkenntnisse in die Hände gefallen wären.«

Winkler stellte seine Tasse ebenfalls ab, schenkte sich Tee nach und bot auch seinen Besuchern noch welchen an, doch die lehnten ab.

»Ich kann Ihnen nicht sagen, ob sich diese Andeutung darauf bezogen hat, dass er weitere Seiten des Manifests aufgetan oder möglicherweise sogar ein komplettes Exemplar gefunden hatte. Aber vielleicht kann seine Tochter uns da weiterhelfen.«

»Das wäre fantastisch«, sagte Connor. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Keine Ursache«, winkte der Professor ab. »Es waren ja nur ein paar Anrufe und E-Mails, und wenn die dabei helfen können, Verbrecher ausfindig zu machen, ist das alle Mühe wert. Ich könnte auch noch ein paar meiner Kontakte in verschiedenen Bibliotheken anschreiben. Einige haben mir bei meinen eigenen Forschungen schon sehr gute Dienste erwiesen. Sie könnten sich auch mal nach dem Manifest umhören. Und natürlich sollten wir auch die Akademie der Totenbändiger nicht vergessen.«

»Die Akademie?«, hakte Gabriel nach und gab sich Mühe, nicht allzu misstrauisch zu klingen.

Winkler nickte. »Dort müsste es einen recht großen Fundus an alten Büchern und Aufzeichnungen zur Geschichte der Totenbändiger geben, genauso wie historische Werke, die von Totenbändigern selbst verfasst wurden. Bis zu seinem Tod vor zehn oder zwölf Jahren war Byron Carlton, der ehemalige Leiter der Akademie, ein leidenschaftlicher Sammler alter Schriften.«

Winkler lächelte schmal. »Er hat mich auf Auktionen oft ausgestochen und war bei interessanten Sammlungsauflösungen häufig vor mir da, weil sich die Verkäufer von Büchern über Totenbändiger von einer Privatperson, die selbst ein Totenbändiger ist, bessere Angebote versprachen, als von einem Normalo-Historiker, der mit dem Budget auskommen muss, das ihm von seiner Universität genehmigt wird.« Er seufzte vernehmlich. »Und damit hatten sie leider nicht unrecht.«

»Das heißt, Byron Carlton hat in seiner Zeit als Schulleiter jede Menge alte Bücher über Totenbändiger gesammelt? Wissen Sie, ob Cornelius Carlton, sein Sohn, dasselbe Interesse hat?«, fragte Connor.

Der Professor dachte einen Moment lang nach. »Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Bei Auktionen habe ich ihn noch nie gesehen, aber heutzutage müsste er dort ja nicht mehr unbedingt persönlich auftauchen. Er könnte jemanden schicken, telefonisch oder online mitbieten. Ich weiß allerdings, dass ihm die Sammlung seines Vaters viel bedeuten muss. Da Byron Carlton mir so oft beim Kauf von interessanten Werken zuvorgekommen ist, habe ich zu seiner Lebzeit zweimal Anfragen gestellt, bestimmte Bücher zu Forschungszwecken einsehen zu dürfen. Aber sie wurden abgelehnt. Nach Byrons Tod habe ich dieselbe Bitte dann an seinen Sohn geschickt, doch auch er lehnte leider ab.«

Gabriel, Connor, Sky und Matt tauschten Blicke.

»Sie wissen aber nicht, ob zu dieser Sammlung Kenwicks Manifest gehört?«, fragte Sky.

Winkler schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid. Wie gesagt, ich lege in meinen Studien den Schwerpunkt auf die Erforschung von Gemeinschaften, in denen in der Vergangenheit das gemeinsame Leben und Arbeiten zwischen Normalos und Totenbändigern gut funktioniert hat. Und natürlich interessieren mich alle Aufzeichnung über die generelle Entwicklung dieser Rasse. Dazu gehören zwar auch die grausamen Taten Einzelner, aber darauf lag nie mein Augenmerk, daher habe ich mich mit meinem Forschungsbudget auf andere Bücher konzentriert. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, dass die Carltons für ihre Schule Bücher zu allen Aspekten der Geschichte der Totenbändiger gesammelt haben. Man kann Gräueltaten seiner Vorfahren ja auch als mahnendes Beispiel sehen, wie man es nicht machen sollte.«

Der Professor verzog leicht das Gesicht. »Ich könnte in der Akademie nach Kenwicks Manifest fragen, befürchte allerdings, dass ich wie bei meinen vorausgegangenen Anfragen wieder eine Absage erhalten würde. Aber wenn Sie als Polizisten eine Anfrage stellen, weil das Buch bei der Aufklärung einer Straftat helfen könnte, haben Sie bestimmt mehr Glück.« Er sah zu Gabriel, Sky und Matt. »Zumal Carlton Ihnen als Totenbändiger vermutlich wohler gesonnen sein wird als mir.«

Gabriel verkniff sich nur mit Mühe ein sarkastisches Schnauben. Auf der Liste der Menschen, denen Cornelius Carlton wohlgesonnen war, würden sie sicher nicht mal in den Fußnoten auftauchten.

»Das ist eine gute Idee. Vielen Dank für den Hinweis.« Sky schenkte dem Professor ein Lächeln. »Die Anfrage bei der Akademie übernehmen wir. Es wäre aber sehr nett, wenn Sie sich bei Ihren anderen Kontakten umhören könnten, denn dieses Manifest einsehen zu können, könnte für unsere Ermittlungen wirklich hilfreich sein.«

Winkler erwiderte ihr Lächeln. »Natürlich. Das mache ich gern.« Er wandte sich an Connor. »Sobald ich etwas finde, melde ich mich mittels der Kontaktdaten, die Sie mir gegeben haben.«

Connor nickte. »Das wäre fantastisch.«

»Ich setze mich gleich daran und schicke ein paar Anfragen los.«

Der Professor erhob sich und ging zu seinem Schreibtisch.

»Das hier sind die Kopien der Artikel meiner Kollegen.« Er nahm einen Schnellhefter und reichte ihn Sky, die sich mit den anderen dreien ebenfalls erhoben hatte. »Sollte ich weitere Informationen erlangen, die für Ihre Ermittlungen wichtig sein können, melde ich mich umgehend bei Ihnen.«

»Vielen Dank.« Sky schüttelte ihm die Hand.

»Sehr gern.« Winkler verabschiedete sich auch von Connor, Matt und Gabriel per Handschlag. »Ich halte Sie auf dem Laufenden.«

Kapitel 5

Es war kurz nach fünf und die Nachmittagssonne fiel warm ins Wohnzimmer der Hunts, wo sich die gesamte Familie versammelt hatte, nachdem Sky eine Nachricht in die Familiengruppe gepostet hatte, dass sie bei Professor Winkler gewesen waren. Phil hatte daraufhin früher Feierabend gemacht und seine Kollegen in der Gemeinschaftspraxis gebeten, seine restlichen Patienten zu übernehmen.

Es herrschte Schweigen, nachdem Sky, Connor, Gabriel und Matt abwechselnd die Informationen des Historikers zusammengefasst hatten und alle das Gehörte verdauen mussten. Sky sah zu Cam, der ihr gegenüber zwischen Jules und Ella auf dem Sofa hockte. Er sah blass und mitgenommen aus und seine Finger nestelten nervös am Saum seines Longsleeves herum, während er zu verarbeiten versuchte, was er gerade über Kenwick und seine Experimente gehört hatte.

Sky seufzte innerlich.

Seit sie vor zwei Tagen im Keller des alten Herrenhauses vom dunklen Zwilling erfahren und Cam sich seine Erinnerung an die Nacht des Massakers vor dreizehn Jahren zurückerkämpft hatte, grübelte jeder von ihnen darüber, was es für ihn bedeuten konnte. Connor und sie hatten eine bestimmte Theorie dazu, die sie am Vortag beim Frühstück mit ihren Eltern, Granny, Gabriel und Matt besprochen hatten - in der Annahme, dass Cam, Jules, Ella und Jaz noch schliefen. Nach dem anstrengenden Sonntag hatten Phil und Sue beschlossen, die vier ausschlafen zu lassen und ihnen die Schule für diesen Tag zu ersparen. Doch die vier waren schon wach gewesen und auf dem Weg zum Frühstücken hatten sie mitbekommen, was die anderen in der Küche besprachen.

Seitdem war Cam noch stiller als sonst. Dass einiges dafürsprach, dass das Ritual bei ihm damals erfolgreich vollzogen worden war und er womöglich wirklich diesen geminus obscurus in sich trug, daran hatte er ziemlich zu knabbern.

»Also ich weiß ja nicht, wie ihr das seht«, fand Jaz als Erste ihre Sprache wieder, »aber wenn dieser Kenwick recht hatte und man durch irgendein Ritual tatsächlich ein Wesen erschaffen kann, das Normalos in Totenbändiger verwandelt, dann ist das definitiv etwas, das Carlton ausprobieren würde. Wenn dieser dunkle Zwilling Normalos dafür bloß berühren muss, könnte man unsere Rasse innerhalb kürzester Zeit rasend schnell wachsen lassen. Das wäre Carltons Traum.«

Gabriel nickte grimmig. »Sehe ich genauso.«

Jules legte den Schnellhefter zur Seite, in dem er die kopierten Artikel des Professors überflogen hatte.

»Aber wir haben keine Ahnung, ob das wirklich funktioniert. Nach dem, was hier drinsteht, klingt es so, als hätten die Dorfbewohner Kenwick und seine Anhänger kurz vor der Wintersonnenwende umgebracht, also vor der vierten Unheiligen Nacht. Kenwick kam also nie dazu, alle vier Rituale zu beenden. Und selbst wenn er Abschriften seines Manifests an andere Gemeinschaften von Totenbändigern geschickt hat, hat ihn wohl keiner ernst genommen, denn anscheinend gab es in den zweihundert Jahren danach keine weiteren Vorfälle, bei denen irgendwo zig Normalos verschwunden sind, weil Totenbändiger sie als Opfer für das Ritual brauchten.«

»Das wissen wir nicht«, wandte Jaz ein. »Wenn sie gehört haben, was mit Kenwick und seinen Leuten passiert ist, sind sie sicher viel vorsichtiger vorgegangen als er. Es gab ja zum Beispiel Gruppen von Totenbändigern, die als fahrendes Volk durchs Land gezogen sind und immer nur so lange an einem Ort blieben, bis die ansässige Bevölkerung sie vertrieben hat. Wenn eine solche Gruppe Normalos im ganzen Land für das Ritual verschleppt hätte, wäre es kaum aufgefallen.«

»Aber wenn das wirklich der Fall gewesen wäre und Kenwicks Ritual tatsächlich funktionieren würde, wäre es spätestens dann aufgefallen, wenn plötzlich dieser geminus obscurus da gewesen wäre«, gab Connor zu bedenken. »Wenn irgendwo ein Wesen existiert hätte, das durch eine Berührung aus Normalos Totenbändiger macht, wäre das eine ziemlich große Sache gewesen, die man auf jeden Fall mitbekommen hätte.«

Sue nickte ernst. »Das bedeutet, entweder funktioniert das Ritual nicht - oder zumindest nicht so, wie Kenwick es sich erhofft hat, - oder es hat in den letzten zweihundert Jahren niemand ausprobiert.«

»Bis jetzt.« Unwirsch ließ Cam von seinem Shirtsaum ab. »Jetzt versucht es jemand. Und egal, ob es nun Carlton ist oder jemand anderes - es hat funktioniert.«

»Hey.« Jules nahm Cams Hand und verschränkte ihre Finger miteinander. »Völlig sicher wissen wir das noch nicht.«