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Offiziell heißt das Projekt "Virus 31" – das einunddreißigste Virus, das Doktor Johnson im Auftrage des Gesundheitsministeriums von seinen beiden Forschungsteams untersuchen lässt, ob sich sein Erbmaterial zur Eindämmung von Grippeepidemien eignet. Wenig später gerät das Projekt aus den Fugen – eine Epidemie bricht aus und Berlin versinkt im Chaos, wird zur hermetisch abgeriegelten Sperrzone, zum Quarantänegebiet mit hohen Stahlzäunen – ein Konzentrationslager, in dem Chaos und das Recht des Stärkeren herrschen. Und draußen warten bereits die Fluchthelfer. ––– Es ist kein Geheimnis mehr: Hinter dem Pseudonym "Peter Cahn" verbirgt sich Peter Schmidt – mehrmaliger Preisträger des Deutschen Krimipreises und Verfasser so erfolgreicher Thriller wie "Schafspelz", "Augenschein" und "Die Regeln der Gewalt". ––– PRESSESTIMMEN autor-peter-schmidt-pressestimmen.blogspot.de/
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Peter Schmidt
GEN CRASH
Thriller
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WEITERE TITEL
Impressum neobooks
Seit der Wiedervereinigung hat sich viel geändert für die Geheimdienste in Ost und West. Sie verloren ihre alten Feindbilder – und manche ihre Existenzberechtigung. Adrian Haag, Ostexperte in Pullacher Diensten, soll für ein geheimes Projekt mit dem Codenamen »Schafspelz« hochexplosives Material aus dem Kreml auf Echtheit prüfen. Doch bald entdeckt er, dass er von entscheidenden Informationen ausgeschlossen bleibt – und kommt einem Komplott auf die Spur, das die Machtverhältnisse in der Welt auf den Kopf stellen könnte ...
“Schafspelz“ gehört zu jenen Spionage- und Politthrillern, die mit Romanen wie „Augenschein“, "Die Regeln der Gewalt", „Das Veteranentreffen“, „Erfindergeist“ und „Ein Fall von großer Redlichkeit“ Peter Schmidts Ruf begründeten, einer der schärfsten Analytiker und erfindungsreichsten Autoren des Genres zu sein.
http://autor-peter-schmidt-pressestimmen.blogspot.de/
Gießener Anzeiger
"Sage noch einer, die Deutschen könnten keine guten Krimis schreiben. Und wie sie können: Spannend, hochaktuell und eine gehörige Portion Ironie: Das ist der Polit-Thriller ‚Schafspelz’ von Peter Schmidt."
NDR
"Ein Roman über die durchaus denkbaren Obsessionen westlicher Geheimdienste angesichts des drohenden Friedens."
J. Kehrer BUCHMESSE SPEZIAL
"Den interessantesten Roman, der die Spionagewelt nach dem Fall der Mauer reflektiert, hat erstaunlicherweise ein Deutscher geschrieben: Peter Schmidt."
Sender Freies BerlinDer Thrillerpoet Peter Schmidt aus Gelsenkirchen ist 'Krimiautor des Monats'".
Hamburger Abendblatt"Ein hochaktueller, intelligenter, ungewöhnlich phantasiereicher Thriller."
STUTTGARTER ZEITUNG
"Schmidt schreibt... ganz locker, sehr spannend und leicht zynisch aus der Sicht eines Agenten, der lange nicht wahrhaben will, was um ihn herum passiert."
Darmstädter Echo"Der Autor ruft auch mit seinem jüngsten Thriller Erinnerungen an Altmeister des Agentengenres wie John le Carré und Len Deighton wach... auch bei diesem Autor besteht das Lesevergnügen weniger im zugrundeliegenden Plot, der Story, wie raffiniert sie auch ersonnen sei, sondern im unterkühlten nüchternen Stil, der seinen Reiz auch bei erneutem Lesen nicht verliert. Der Spionage-Roman, von einigen vorschnell totgesagt, erweist sich bei Peter Schmidt als noch sehr lebendig."
Capital
"Der Westfale Peter Schmidt ist als erster deutscher Autor erfolgreich ins angloamerikanische Thriller-Monopol eingebrochen."
Besprechungsblatt für Öffentliche Bibliotheken"Ein Glanzstück für alle Bibliotheken"
Film Illustrierte"Peter Schmidt, Spitzenautor des Genres, schafft das Kunststück, schon von der ersten Seite an Spannung zu erzeugen und diese Spannung von Seite zu Seite kontinuierlich bis zum Höhepunkt zu steigern. Ein Buch, dessen Inhalt direkt nach Verfilmung schreit."
WAZ
"Schmidt weiß Pointen zu setzen, mit dramaturgischen Kniffen zu spielen, den Spannungsbogen klug aufzubauen. Der Roman bietet sich zur Verfilmung an. Schmidts Stärke liegt in der Präzision, mit der er Charaktere und Situationen beschreibt."
PRINZ
"Die Technik der Desinformation hat jedoch in Peter Schmidts Roman, und das macht ihn so aktuell und originell, keine ideologischen Ursachen mehr. Sie ist zum Selbstzweck geworden."
AUTORENINFO
http://autoren-info-peter-schmidt.blogspot.de/
Er frisst kleine Mädchen. Er geht manchmal auf Pirsch, um seiner alten Leidenschaft als Killer zu frönen. Die Natur ist brutal, die Erschaffung der Welt ist eine Brutalität ersten Ranges. Nur ein Teufel kann sich den Kampf ums Überleben ausgedacht haben.
Also sieht auch Sehlen keinen Anlass, in Mildtätigkeit und Verständigung zu machen. Sehlen ist eine Bestie, ein Würfelspiel der Gene oder das Ergebnis eines abgrundtief verderbten Planes, die Welt ins Unglück zu stürzen – ich glaube, so oder ähnlich lauteten damals die Meinungen über ihn, als er die Abteilung übernahm.
Er war in den besten Geheimdiensten der Welt geschult worden. Er und nicht etwa Forum, wie manche Gerüchte wissen wollten, war als "Beauftragter für die Koordinierung neuer Methoden" nach London und Langley gegangen. Per Beschluss und Dekret einiger vom Geist des neuen Denkens erleuchteten Eierköpfe, die plötzlich auf die naheliegende Idee verfallen waren, es gäbe immer Details in der Methode, bei denen man von der Konkurrenz lernen könne.
Die Geheimhaltungsstufe war topsecret (oder noch ein wenig mehr, falls es das gab) – was bedeutete, dass Strafen für Indiskretionen schmerzlicher als der Tod sein würden.
Ich traf Sehlen in einem verfallenen Hotel hinter den Stranddünen von Zandvoort.
Ein dreistöckiger Bau mit Holzfenstern und Erkertürmchen, der viel vom Ambiente eines wilhelminischen Bordells hatte.
Es schien, als sei er per Zauberspruch oder fliegendem Teppich in den weißen Sand mit seinem spärlichen Bewuchs geraten, und jedenfalls, ohne vom Zoll oder von der niederländischen Luftaufklärung entdeckt zu werden. Rechts oben an der Dachrinne hing ein verwittertes Brett, das einmal das Hotelschild gewesen sein musste. Gedrungene Strandkiefern mit weit ausladenden Ästen rahmten das Portal hinter dem versandeten Fahrweg ein.
Als ich mich dem Haus näherte, kam Sehlen mir über die Treppe entgegen und streckte seine Hand aus.
Er war einen Kopf kleiner als ich, ein breitschultriger Faun mit einer unmerklichen blauroten Narbe unter dem linken Wangenknochen.
"Sie sind Haag, der Dichter und Intellektuelle in unseren Reihen, hab ich recht …?"
Es war pure Ironie, kein Zweifel. Seine südländisch wirkenden braunen Augen ruhten in jener charakteristischen Weise auf mir – besser gesagt: folgten dem Umriss meines Gesichts, um irgendeine Schwäche zu finden –, die vermutlich jeden verunsicherte, der zum ersten Mal damit konfrontiert wurde.
Aber damals glaubte ich, es sei nur eine persönliche Marotte von mir. Eine Art Unterlegenheitsgefühl, wenn man einem Fremden mit ausgeprägtem Charisma begegnet.
Ich kam mir vor, als hockte ich auf einer umgedrehten Apfelsinenkiste, während er von einem thronähnlichen Sitzgebilde Audienz gewährte.
Der billige Eloxalring mit amethystfarbenem Glasstein am kleinen Finger seiner linken Hand, den er manchmal nachdenklich am Hosenbein rieb, unterstrich noch das Bild eines Potentaten ohne Fürstentum, wenn man auch nicht recht zu sagen wusste, auf welche adlige Abstammung sich der Eindruck stützen sollte.
"Intellektueller" – diesen Ausdruck gebrauchte er, weil ich mich mit den Folgen von Gorbatschows Verständigungspolitik beschäftigte – ein anrüchiges Thema, ein heißes Eisen bei den altgedienten Hasen.
Sie ahnten, welche brisanten Folgen der frische Wind aus dem Osten haben würde. Die Riege der Betonköpfe fürchtete um ihre Pfründe. Solange der kalte Krieg auf Hochtouren gelaufen war, und auch später noch, in der entschärften Phase, hatte das Gewerbe der Informationsbeschaffung – eine vornehme Untertreibung, denn wie jeder weiß, handelt es sich dabei hauptsächlich um Erpressung und Irreführung – genug für alle abgeworfen.
Aber was passierte mit uns, wenn Glasnost auch die Geheimdienste erreichte?
"Sie machen kein erfreutes Gesicht, Haag", sagte er, während er mich ins Haus brachte.
"Ich mag's nicht, wenn man mich als Spinner bezeichnet …"
Die Räume hinter dem Flur waren leer und dunkel. Er schaltete die Deckenbeleuchtung ein, und ich sah, dass auf dem Kamin und den Holzfußböden dicke Staubschichten lagen. Zwei einander wie Mondgesichter anblickende Tischuhren, deren Zeiger auf Viertel nach zwölf und Viertel nach eins standen, bildeten den kümmerlichen Rest des Mobiliars.
Ihren goldfarbigen Gipsrosetten sah man an, dass der Inhaber des Hotels einem etwas barocken Geschmack gehuldigt hatte.
Aber was ich viel bemerkenswerter fand: Im Staub gab es Fußspuren; sie führten vom Salon durch ein Nebenzimmer in die zweite Diele, die einen Ausgang zu den Dünen besaß. Sehlen folgte den Abdrücken wie ein Jagdhund, der seine Witterung verloren hatte.
Als wir die Küche passierten, blieb er stehen und musterte das Loch in der Decke. Es war etwa so groß, dass ein Mann mit normalem Körperumfang bequem hindurchsteigen konnte, vorausgesetzt, er besaß eine Leiter. Die Decken in diesen alten holländischen Häusern sind manchmal mehr als vier Meter hoch.
"Meteoriteneinschlag?", fragte ich.
"Nein, einer von unseren Leuten hat unsachgemäß mit einer Eierhandgranate hantiert", sagte er ganz ernst, ohne auf meinen ironischen Tonfall einzugehen.
Sein Kopf folgte witternd den Fußabdrücken; ich bemerkte, dass es ein grobes Continental-Profil war, die dicke Gummisohle eines Männerschuhs. Nummer 46 oder größer.
"War Ihr Riesenbaby da der Glücksritter?"
"Mein Riesenbaby?"
"Die Fußspur …"
"Oh, Kompliment, Haag – Sie haben eine gute Beobachtungsgabe. Riesenbaby, ha, ha. Nein, der Mann, der mit der Handgranate hantierte, kam dabei um. Einer von diesen englischen Schwachköpfen, die MI5 uns für Sonderaufgaben zugeteilt hatte.
Er nahm das Ding aus einem Verschlag im Fußboden – und blieb am Abzug hängen."
"Sie war mit einem dünnen Perlonfaden an der Ringöse zwischen den Bodenbrettern befestigt, als Sicherung gegen Unbefugte? Es war ein geheimes Waffenlager?"
"Sie sind ein Schlaukopf, Haag. Er hatte die Regeln vernachlässigt. Die Regeln zu vernachlässigen, heißt in unserem Gewerbe nun mal, sein Leben zu riskieren."
Der Rest unserer Begegnung in Holland war eine merkwürdig ungreifbare Farce. Später habe ich mich oft gefragt, ob er mich bewusst ins Leere laufen ließ – um mich zu disziplinieren und mir schon in dieser frühen Phase zu zeigen, wer der Herr im Hause war – oder ob sich alles ganz zufällig so entwickelte.
Er hätte mir abgegriffene schmierige Schwarzweißfotos von kleinen Mädchen in winzigen Negligés zeigen können – oder ein ebenso schmuddeliges Foto mit seiner Freundin, er war unverheiratet, das sie beide in eindeutiger Pose zeigte. Bilder von seinen Jahren in Kambodscha, wo er als Söldner und militärischer Berater Pol Pots gearbeitet hatte (tatsächlich aber als Agent der Gegenseite), den Fallschirmspringerstiefel auf einem Haufen bleicher Totenschädel und seine israelische Maschinenpistole mit soviel Selbstgefälligkeit und Arroganz auf dem Unterarm, als posiere er für ein Safarifoto im Busch von Kenia.
Es hätte mich, nach allem, was ich über ihn wusste, weniger verblüfft als das winzige Erkerzimmerchen mit Blick auf die Dünen, in das er mich an jenem Sonntagnachmittag führte.
Eine komplett eingerichtete Idylle: englische Mahagonimöbel, niederländische Variante, Standuhr, grüne Hartblattgewächse, die wie beim Wettbewerb der Floristen in ihren porzellanenen Übertöpfen prunkten, lindgrün gestrichener Dielenboden, ein gemütliches Dreisitzer-Sofa, Rüschenkissen, Nippfiguren.
Und inmitten dieser anheimelnden Puppenstube eine echte holländische Kaffeetafel. Gedeck für zwei Personen.
"Wo sind die anderen?", fragte ich. "Wir arbeiten doch nicht allein?"
"Hier hat früher der alte van der Haaren gehaust", sagte er. "Das Erkerzimmer war sein Refugium, sein Fluchtpunkt, wenn ihm der Hotelbetrieb auf die Nerven ging. Verschlang Unmengen Sahnehörnchen und Cremeschnitten, der arme Kerl. In seinen besten Zeiten ließ er sich Schwarzwälder Kirsch aus Deutschland einfliegen. Sie sind doch auch kein Kostverächter, Haag?"
"So, wie kommen Sie darauf?"
"Ihre Frau, mein Bester, traf sie mal auf Forums Geburtstag. Sein zweiundvierzigster. Sie kamen damals etwas später, Ihr Taxi hatte eine Reifenpanne. Unter uns gesagt, glauben Sie nicht auch, dass er vom anderen Ufer des Flusses herübergesetzt hat?", fragte er und blinzelte arglos.
"Soviel ich weiß, ist Forum glücklich verheiratet."
"Das beweist gar nichts."
Ich verspürte wenig Lust, mich über seine sexuellen Gewohnheiten auszulassen. Außerdem hielt ich Sehlens Bemerkung für ein Ablenkungsmanöver. Er hatte sich zu weit vorgewagt, er hatte zu erkennen gegeben, dass er sich vor unserem Treffen gründlicher als nötig über mich informiert hatte, und das gab mir zu denken.
"Meine Frau hat Ihnen das anvertraut?"
"Sie sind zwar ein magerer Hering, wegen der Drüsen, oder was weiß ich, aber für die letzte Cremeschnitte schubsen Sie doch 'ne alte Frau von der Rolltreppe, Haag."
"Ich frage mich bloß, wie Sie auf diesen Mist kommen, Sehlen?"
"Margrit und ich sind so gut wie befreundet miteinander – seit damals." Seine braunen Augen mit dem südländischen Flair versuchten ein einnehmendes oder beifallheischendes Lächeln. Aber irgendwie kam ihm dabei seine blaurote Narbe unter dem Wangenknochen in die Quere. Es wurde eine Grimasse von unbestimmter Bedeutung, weder Fleisch noch Knochen.
"Warum nicht gleich verheiratet?"
"Sie sollten mir gegenüber keine so krasse Abwehr an den Tag legen, schließlich habe ich Ihnen nichts getan. Dass Sie ausgerechnet mir zugeteilt wurden, ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Es gibt noch genügend andere, weniger halsbrecherische Kommandos momentan. Forum brauchte einen Experten für Ostpolitik, und dabei ist er wohl auf Sie verfallen."
Einen Augenblick verfinsterten sich seine Züge, man sah seinem Gesicht an, dass er bei dem Gedanken auch nicht glücklicher war als ich. Und merkwürdigerweise versöhnte mich diese Beobachtung wieder etwas. Ich dachte: Jemand, der so offenkundig sein Missfallen zu erkennen gibt, ist kaum der gewiefte Taktiker, für den man ihn hält.
"Ihr Ruf ist nun mal nicht der beste."
"Was man in den Diensten über mich erzählt, sind Ammenmärchen, Haag."
"Warum sollte man Sie zum Buhmann machen?"
"Keine Ahnung." Er kaute nachdenklich an seiner Unterlippe. "Jemand wirft irgendeine Bemerkung in den Raum, bei einer Party oder Geburtstagsfeier. Alle sind angesäuselt, die Stimmung ist auf dem Höhepunkt, und schon macht der Mist die Runde. Nichts entwickelt so viel Eigendynamik wie ein Gerücht.
Und wie entstehen solche Hirngespinste? Vielleicht hat er's sich ja aus den Fingern gesogen, als er morgens im Bett seinen Kater auskurierte, zwischen Traum und Wachen – mit 'nem Eisbeutel auf dem Kopf! Gott, sicher war ich in Kambodscha. Und wir waren nicht gerade nett zu den Eingeborenen. Aber die Gegenseite war auch nicht nett zu uns."
"Sie sind das Opfer falscher Verdächtigungen, was?"
"Ich bin ein Dreckskerl, um es klar herauszusagen. Ich bin einer dieser miesen kleinen Geheimdiensttypen, die ihre eigenen Eier – und die ihrer Freunde dazu – als türkische Delikatesse verhökern würden, wenn es nur genug Silberlinge dafür gäbe. Das wollen Sie doch hören?" Er setzte sich an den Tisch und goss uns aus der Porzellankanne Kaffee ein, dabei zeigte er auf den gegenüberliegenden Stuhl.
"Ich mag Ihre vulgären Bemerkungen nicht, Sehlen."
"Also gut, nun setzen Sie sich schon. Ist auch nicht mein Stil – Sie haben mich herausgefordert. Wir sollten kooperieren, das wäre für beide Seiten ersprießlicher." Er streckte seine sonnengebräunte Hand aus. "Nennen Sie mich Ronald. Ihr Vorname ist, glaube ich …?"
"Den kennen Sie doch genauso gut wie ich."
"Sie spielen darauf an, dass man sie in Ihrer Jugend immer damit gehänselt hat?"
"Mein Vater war ein religiöser Eiferer", sagte ich ohne sonderliche Neigung, das Thema zu vertiefen.
"Er verehrte Ambrosius als Kirchenlehrer. Das gab den Ausschlag."
"Er setzte gegen den Willen meiner Mutter durch, dass ich diesen Namen bekam. Auf dem Amt riet man ihnen dringend davon ab. Es wurde die Hölle für mich, wie erwartet. In der Schule und auch später."
Sehlen nickte, als sei er bestens darüber informiert. Mir kam der Gedanke gar nicht mehr so abwegig vor, die Panne des Taxis damals könnte von ihm inszeniert worden sein, um in Ruhe meine Frau auszuhorchen. Er schien keine Ahnung davon zu haben, dass ich später den Vornamen Adrian angenommen hatte. Selbst einige meiner engsten Freunde ahnten nicht, dass ich Ambrosius hieß. Ich war mir sogar nie zu schade gewesen, meinen Pass eilig verschwinden zu lassen, zum Beispiel nach der Passkontrolle, wenn jemand sagte:
"Lass doch mal einen Blick auf dein altes Foto werfen, Adrian." Oder wenn ich ihn an der Hotelrezeption vorlegen musste:
"Hübscher alter Pass. Bestimmt tausend Stempel drin, bei deinem Pensum an Fernreisen, Addi? Darf ich …?"
Es mag seltsam klingen, aber vielleicht war dieser – in den Augen mancher Leute nichtige – Grund auch der Anlass dafür gewesen, dass ich später soviel Gefallen an jenem Spiel mit falschen Pässen fand, das man in unseren Kreisen zu höchster Vollkommenheit perfektioniert hat.
"Ronald ist auch nicht viel besser. Hat mir irgendein dummdreister Stiefvater angehängt, der gleich nach meiner Geburt zur Stelle war. Seines Zeichens in die Briten vernarrter Handlungsreisender zwischen Ostende und Dover. Das Anglophile saß ihm in den … na ja, reden wir nicht mehr darüber.
Er vertrieb eine sensationelle neue Art von Korkenzieher, die seine Großeltern vor etwas mehr als dreißig Jahren im Riesengebirge erfunden hatten."
"Ronald hat 'nen unangenehmen Beigeschmack", bestätigte ich. "Erinnert zu sehr an die konservativen Zeiten der amerikanischen Außenpolitik."
"Ich weiß, dass Sie Gorbatschows Politik aus heimlicher Seelen- und Geistesverwandtschaft studieren, Ambrosius. Da sollten Sie mir nichts vormachen – ich bin nicht Forum. Dem können Sie weismachen, Sie seien eigentlich ein waschechter Hardliner. Ihre Tochter ist doch mit 'nem ehemaligen Bürgerrechtler liiert, oder?
Neunundachtzig, noch zu Zeiten des starrköpfigen alten Stamm-Saarländers mit Schimpf und Schande aus der Republik geflogen, hab ich recht? Hat sich in Leipzig an seinen Protestkerzen gründlich die Finger verbrannt."
"Sie machen Ihrem Ruf alle Ehre, Sehlen."
"Ich bin nun mal ein unbestechlicher Zeitzeuge, und da nehme ich uns selbst nicht aus. Sie liegen ganz gut im Rennen, Amb. Sie gehen still und beharrlich Ihrer Arbeit nach, Sie machen kein Trallala, aber alle nehmen Ihre Meinung ernst. Sie sind so was wie die unauffälligste graue Eminenz in Forums Laden, die es je gegeben hat."
"Unsinn, da unterschätzen Sie meinen Einfluss gewaltig."
"Und dahinter steckt – wenn ich mal raten darf – Ihre Frau, oder?"
"Margrit kümmert sich nicht um meine Arbeit."
"Ich meine natürlich indirekt. Sie hält Sie der höchsten Weihen für würdig. Sie möchte liebend gern aus Ihnen den König machen. Ihre eigene Unzufriedenheit, Kochtopf, Haushalt, treibt sie dazu, Ihnen diese Flausen in den Kopf zu setzen, Amb. Sie ist 'n bisschen autoritär, und Sie sind eher der stille Typ. Gibt 'n gutes Gespann ab. Auf die Weise ist schon Weltgeschichte gemacht worden."
"Nennen Sie mich nicht Amb."
"Schlagen Sie sich erst mal den Bauch mit dem köstlichen Zeug da voll – hebt die Seelenlage! Wäre ich Mediziner, würde ich sagen: Alles Chemie, mein Lieber. Der Mensch ist ein Chemismus, hab ich mal irgendwo gelesen. Der Einfluss der Cremeschnitte auf die hintersten Gehirnwindungen – den sollte mal einer untersuchen, nicht immer diesen Schmant von frühkindlichem Liebesentzug."
Manchmal hatte ich den Eindruck, er gebärde sich bloß als Ungeheuer, um mich nachher damit überraschen zu können, dass er ganz harmlos war.
Wir aßen schweigend. Er beobachtete mich aus zusammengekniffenen Augen und ließ seinen Blick über den Umriss meines Gesichts wandern, als sei es eine Landkarte. Er machte sich ein Bild von mir. Dass ich ihm Paroli bot, schien ihn nicht sonderlich zu beeindrucken. Sehlen war sich seiner Überlegenheit bewusst, das spürte man bei jeder Geste.
Er wollte klare Verhältnisse schaffen. Forum höchstpersönlich hatte mich zu diesem unerquicklichen Treffen abkommandiert, also würde ich mich wohl fürs erste damit abfinden müssen. Er schätzte es nicht, wenn man sich vor einer Aufgabe zu drücken versuchte. Dann witterte er sofort irgendeine Schwäche oder Allergie. Und Allergien, ob politischer oder persönlicher Art, behandelt man am besten mit einer Überdosis des Allergens.
"Sie wirken plötzlich so nachdenklich, Amb?"
"Sollten wir jetzt nicht endlich mal zur Sache kommen, Ronald? Sie tischen mir Sahnetorte auf, ich schütte den Kaffee wie russischen Wodka in mich hinein. Mein Magen und meine Eingeweide kommen langsam in Wallung, von meinen Hirnwindungen ganz zu schweigen …"
"Forum hat Ihnen doch das Schlüsselwort genannt, oder?" Er drehte interessiert den Kopf. Er sah irgendwie raubäugig aus dabei, wie eine Katze, die, eher aus Jagdinstinkt als aus Appetit, zum tödlichen Nackenbiss ansetzte. Oder wie ein englischer Pointer, der sein Karnickel foppte, bevor er sich dafür entschied, dem ungleichen Spiel ein grausames Ende zu bereiten.
"Schafspelz, ja."
"Sprechen Sie das Wort um Gottes willen nie in der Öffentlichkeit aus. Schafspelz ist so geheim, dass es darüber nicht einmal Aufzeichnungen gibt."
"Also gut, fangen wir ganz von vorn an." Ich deutete durch das Fenster in die Dünen. "Da draußen stehen doch jetzt ein paar von unseren Leuten und sichern die Kommandozentrale, oder? Wie viele sind wir?"
"Hauptsächlich Sie und ich", sagte er. "Wir haben ein paar Zuarbeiter. Fahrer, Boten, Hauspersonal. An den Fäden ziehen nur wir beide." Er lachte, als bekomme er einen Erstickungsanfall. Der Gedanke (oder das, was er wirklich dachte) schien überaus amüsant für ihn zu sein. Ich versuchte der Vorstellung genauso viel Komik abzugewinnen, aber es misslang.
"Riesenbaby ist also nur unser Zuarbeiter?"
"Riesenbaby, ha, ha – nimmt uns die Muskelarbeit ab", bestätigte er. "Kopf freihalten von allen Nebensachen. Ich rate Ihnen: Stellen Sie sich gut mit Rie-sen-ba-by. Und nicht bloß, weil er den Fahrer macht oder die Sahneschnittchen besorgt. Seine alte Mutter hat mir anvertraut, er sei manchmal 'n bisschen verwirrt. Drückt sich so aus, dass er Freund und Feind verwechselt."
Als wir draußen am Strand waren, heulten hinter den Deichen Atomsirenen auf – ein Geräusch, das mir auf den Magen schlug (ich habe manchmal Probleme mit der Verdauung, und der Gedanke, jetzt sei es doch noch passiert, ist wohl nicht mehr aus unseren Köpfen zu vertreiben).
Die Luxusausgabe eines offenen japanischen Geländewagens jagte auf uns zu. Eines dieser chromblitzenden Ungetüme mit Allradantrieb, dicken Rohren, die zu wer weiß was taugen, und schwarzer Metalliclackierung. Staubfahnen wirbelten hinter seinen Reifen hoch. Er kam über den gepflasterten Weg, der schräg vom Deich zwischen ein paar geschlossenen Fischbuden im Sand endete, und sah aus wie ein aufgemotzter Kampfpanzer ohne Kanone. Ich versuchte mich instinktiv zu ducken oder sonst wie zu verkrümeln. Aber über uns war nur der freie Himmel, und um uns her, so weit das Auge reichte, erstreckten sich ein paar tausend Quadratmeter gelben Sands. Die Pünktchen in roten und gelben Anoraks waren alle weit weg.
"Keine Gefahr", brummte Sehlen. Seine schönen Augen, diese dunkelbraunen Spiegel der Seele, weiteten sich belustigt. Er hatte mich in einem Moment der Schwäche erwischt, und das bereitete ihm offensichtlich Vergnügen.
Der Mann am Steuer schien Riesenbaby zu sein, seiner lässigen Art nach zu urteilen.
Er hing am Lenkrad wie zweihundert Pfund Lebendgewicht, die sich möglichst schnell zur Ruhe betten wollten. Seine rosigen Wangen leuchteten noch greller als seine Schuhspitzen, und die mussten mit dem glänzendsten Eierweiß poliert worden sein, das die chemische Industrie jemals hergestellt hatte. Sehlen beugte sich in den Wagen und ließ sich berichten. Ich bemerkte, dass er seine Stimme dämpfte, als die Präludien vorüber waren.
Einmal wandte er sich nach mir um und nickte mir so aufmunternd zu, dass jeder, der ihn kannte, sofort irgendeine Hinterfotzigkeit vermuten musste, falls er nicht von allen guten Instinkten verlassen war. Die blaurote Narbe unter seinem linken Wangenknochen phosphoreszierte im versinkenden Licht – oder die untergehende Sonne und die Wellen spiegelten sich darin. Er hatte etwas von einer metaphysischen Erscheinung bei dieser Beleuchtung, mit seinem altmodischen Hut auf dem Kopf, der aus der untersten Kleiderkiste eines Secondhandshops zu stammen schien.
"Bin in zwei Stunden wieder zurück. Machen Sie's sich schon mal im Haus bequem", sagte er und schwang sich aufs Trittbrett, während Riesenbaby mir einen ebenso abschätzigen Blick zuwarf wie sein Herr und Meister, den Fuß aufs Gaspedals fallen ließ – den linken Mittelfinger lässig zwischen den Lenkradspeichen, die Rechte außen am Ring – und mit durchdrehenden Reifen startete.
Ich stand da auf dem weit und breit verlassenen Strand, wischte mir den hochgewirbelten Sand von der Jacke und dachte darüber nach, warum ich hergekommen war.
Dann ging ich langsam zum Haus zurück.
Er kam weder an diesem Abend noch am folgenden Morgen. Ich hatte genügend Gelegenheit zum Nachdenken.
Aber wenn man nicht ganz sicher sein kann, dass man Zeit hat, nutzt man sie auch nicht. Man glaubt, man könnte überrascht werden bei seinen Gedanken, und dann stünden sie einem so verräterisch auf der Stirn, dass man sich eine Anklage wegen Ketzerei oder Gotteslästerung einhandelte.
Angesichts von soviel sinnlosem Leerlauf fragte ich mich natürlich, ob ich nicht schon bald meinem frischgeweißten, aufgeräumten Büro im Allerheiligsten am Südrand von München nachtrauern würde. Dem Blick durch die Bäume mit den Wagen des Außendienstes, die wie Fahrzeuge auf der Geisterbahn in der Tiefgarage verschwanden und irgendwann wieder auftauchten. In anderen Farben oder mit anderen Nummernschildern, je nachdem, von welchem Standpunkt aus man die Sache betrachten wollte.
Klarissa, meine Lieblingssekretärin, verstand es meisterhaft, mich von allem abzuschirmen, was nicht zu meiner Arbeit gehörte.
"Um ein Feld wie die Ostpolitik zu beackern", pflegte sie zu sagen, "brauchen Sie Ruhe und noch einmal Ruhe, Adrian. Und viel schwarzen Kaffee."
Sie kochte vorzüglichen Kaffee. Sie beherrschte das Geheimnis, ihn weder nach Entkalker noch wie Spülmittel schmecken zu lassen.
Gegen Mittag läutete ein Kurier an der Pforte und warf zwei Briefe durch den Schlitz. Als ich die Tür öffnete, hatte er schon sein Mofa bestiegen und machte sich über den Sandweg durch die Dünen davon.
Der eine war eine Aufforderung Sehlens, mich noch ein wenig zu gedulden – bis zum Abend, wo wir in den Zandvoorter Kneipen kräftig einen draufmachen und "ein paar strohblonde holländische Meisjes" aufreißen würden. Er sei nach Belgien gerufen worden, Konferenz der Eierköpfe. Unter seinem Namen leicht verschmiert, als wäre die Kugelschreibermine ausgelaufen: "PS: Holen Sie sich was zu futtern in den Büdchen am Strand. Matjes ist am besten bei 'De Windroos'". Im anderen befand sich ein leeres, weißes Blatt Papier.
Ich hielt den Umschlag gegen das Licht, roch daran und prüfte, ob er mit einer chemischen Flüssigkeit getränkt war, um Nachrichten unsichtbar zu machen. Oder ob es winzige Zeichen gab, die sich nur mit einer starken Lupe entziffern ließen. Aber weder auf dem Blatt noch am Umschlag fanden sich irgendwelche Spuren. Vielleicht war man ja endgültig über das Stadium solcher Albernheiten hinausgelangt – oder jemand erlaubte sich einen Scherz mit mir.
Sehlen musste längst wissen, was ich über unsere Methode, den Stein des Sisyphus auf den Berggipfel zu rollen, dachte. Er machte sich keine Illusionen darüber. Er hörte die Greise husten und sah, wie viel Grabesschleim sie von sich gaben, um einen Ausdruck aus der Literatur zu gebrauchen. Ich verkörperte für ihn den neuen Aufbruch, einen Typ von Kanalarbeitern, die nicht mehr in den alten Kategorien dachten.
Spionage und politische Beeinflussung – Desinformation und Diffamierung – sind zwar ursprüngliche menschliche Verhaltensweisen. Ein Kind lenkt man gern von seinem Schmerz ab, indem man seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes richtet, den Schnuller, die Rassel: das Grundmuster der Desinformation, nämlich einen glauben zu machen, man habe keinen wundgelegenen Hintern, sondern fühle sich ausgezeichnet.
Aber seitdem Gorbatschows frischer, neuer Wind durch die Politik wehte, waren die alten Methoden in Verruf geraten. Man praktizierte sie weiter, wenn auch in dem Gefühl, nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit zu sein. Man argwöhnte, die Entwicklung könnte leicht über einen hinweggehen, und dann stände man genauso belämmert da wie die alte Garde im Ostberliner Politbüro, nachdem sie in die Verbannung geschickt worden war.
Also lieber Flexibilität demonstrieren, nachgeben, wo es nicht viel kostet. Ein paar liberale Sprüche klopfen; düstere Kommentare zum kalten Krieg; Einsichten über die Schwächen der menschlichen Psychologie. Verführbarkeit, Rücksichtnahme. Dumpfes Unbehagen schon immer gehabt und so weiter.
Forum hatte mich dazu auserkoren, die Fahne des neuen Denkens vor uns herzutragen. Aber Rücksichtnahme auf die Gefühle der Veteranen. Man kann durchaus darauf verzichten, bei der Parade immer in vorderster Reihe zu laufen, manchmal genügt auch das vierte oder fünfte Glied.
Nicht einmal Michail Sergejewitsch Gorbatschow gehörte zu den Unsterblichen, bei aller Gottähnlichkeit. Um einen Platz im marxistischen Olymp zu erlangen und wie die anderen Klassiker in den Himmel gehoben (und später geköpft) zu werden, musste er erst einmal das Zeitliche segnen. Nach seinem Tode oder politischen Knockout konnte die Windstille leicht die westlichen Zentren erreichen.
Dann würde man wieder süffisant Veränderungen im Osten fordern, die den Gegner moralisch ins Hintertreffen brachten. Dass Reformen nicht rückgängig zu machen seien, ist ein Satz, den die Geschichte gründlicher widerlegt hat als jeden anderen.
Was Forum selber dachte, war sein Geheimnis. Mag sein, dass er überhaupt nichts dachte. Wozu denken, wenn man die Probleme auch intuitiv bewältigen kann? Mag ebenso gut sein, dass ich ihm damit bitteres Unrecht tat. Jeder, der sich mit dem Winde dreht, ist verdächtig. Obwohl auch ein Mitläufer guten Glaubens sein kann.
Als ich nach München zurückkehrte, war ich so klug wie am Anfang. Ich tappte weiter im dunkeln. Vielleicht glaubte Sehlen ja, Orientierungslosigkeit sei kein Beinbruch, und ich hätte Gott sogar dafür zu danken, dass ich nicht alles wusste?
Es gibt diese Weltenturner, die sich auf allen möglichen Drahtseilen bewegen, ohne etwas von der Tiefe und den Abgründen unter sich zu ahnen, und bei ihren dumpfen Spielen auch noch Spaß empfinden. Ich für meinen Teil habe immer danach getrachtet, mich zu orientieren, und ziehe eine Straßenkarte dem Umhertappen in der Finsternis vor.
Er sagte, unsere Operationsbasis sei wie gewöhnlich die bayerische Landeshauptstadt. Zandvoort, Brüssel und Amsterdam nur ausnahmsweise. Weshalb und warum, darüber schwieg er sich aus. Er hatte mich beauftragt, eine Sammlung aller Artikel über Gorbatschows neue Politik zusammenzustellen, die mir in die Finger kämen.
"Authentisches Material, Amb, keine Schmierereien aus zweiter Hand. Ich komme Sie und Ihre Frau in München besuchen, sobald ich ein paar Stunden erübrigen kann. Richten Sie ihr meine besten Grüße aus."
Der Gedanke, er könnte mir und Slava ein ganzes Wochenende auf die Nerven gehen, versetzte mich in düstere Stimmung. Dass er Margrit auf die Nerven ging, hielt ich für ausgeschlossen. Besuch ging ihr so gut wie niemals auf die Nerven, am wenigsten, wenn sie einen aufmerksamen Zuhörer erwartete. Sehlen würde der aufmerksamste Zuhörer des Jahrhunderts sein.
Ich konnte ihm seinen Besuch nicht gut abschlagen. Es wäre unhöflich gewesen, eine offene Kampfansage, die weit über unsere Wortgeplänkel hinausging.
Außerdem wusste er von Forum, dass ich den größten Teil des politischen Materials in meiner Wohnung aufbewahrte. Es war weder brisant, noch unterlag es irgendeiner Geheimhaltung.
Er würde sich ein paar Mappen Zeitungsausschnitte zeigen lassen und dann mit Margrit über die quietschende Wendeltreppe im Esszimmer verschwinden. Keine Gefahr, Margrits sexueller Appetit könnte auf dem geblümten Sofa am Fenster unerwartet ins Kraut schießen! Da fürchtete ich schon eher ihren unverhohlenen Drang nach Aufstieg und Beförderung. Wenn sie erst einmal beim Thema angelangt war, brachte sie selbst einen ausgetrockneten Flusskiesel dazu, ein paar Tränen des Mitleids abzusondern. Sie konnte hysterisch und autoritär sein. Alles nacheinander oder zusammen, ganz wie es die Situation erforderte.
Und danach, wenn das Tete-á-tete beendet war und Sehlen zum x-ten Male beteuert hatte, dass er sich bei Forum für meine Beförderung zum Großmogul der vereinigten westlichen Dienste verwenden wollte, würde er sich auf der Stelle in Slava verlieben.
Schon aus taktischen Gründen. Weil es nützlich war, sich die Tochter eines wichtigen Mitarbeiters gefügig zu machen. Nach dem Motto "Abhängigkeit und Rücksichtnahme". Unser Gewerbe ist nun mal ein Geschäft von Beziehungen. Darin unterscheidet es sich kaum vom übrigen Leben, sieht man einmal davon ab, dass unsere Stärken und Schwächen noch ein wenig deutlicher hervortreten. Wenn man zwischen Wölfen und Schafen unterscheiden will, würde ich mich immer auf die Seite der Wölfe schlagen, und nicht etwa bloß aus Opportunismus. Forum hätte sicher den Ausdruck Loreleigesinnung vorgezogen. Von Wölfen redete er lieber, wenn es um die Gegenseite ging. Die Schöne, die ihr güldenes Haar kämmte und alles ins Verderben stürzte – nur dass sich keiner unserer Wölfe wie sie selbst zum guten Ende hinterher stürzen würde, weil er so dem Fluch entkam.
Ich habe keine Skrupel, einen Doppelagenten ans Messer zu liefern, das gehört zum Geschäft, aber in der Praxis ziehe ich es vor, die Sache aus sicherer Entfernung zu beobachten und mir meine Gedanken zu machen. Die Analyse liegt mir mehr als blutige Zweikämpfe.
Das Wohnzimmer war dunkel, so dunkel wie meine Einblicke in Sehlens Pläne; nur über der Wendeltreppe schimmerte noch Licht. Ich versuchte auf den Treppenstufen kein Geräusch zu machen, aber das war so gut wie ausgeschlossen. Sie quietschten bei jedem Schritt und versetzten das eiserne Gestell mitsamt der Zimmerdecke in Schwingungen …
"Bist du es, Adrian?"
Ich mochte ihre Stimme nicht, sie klang immer ein wenig zu laut und schrill; sie war jedem Zweck immer auf vollkommenste Weise unangemessen.
"Wer sonst, Liebling? Der böse Wolf wird dich nicht holen, und Slava ist auf dem Wohltätigkeitsball."
"Das dumme Kind sollte sich lieber in der Schickeria umsehen, anstatt Pakete zu packen und Rotznasen zu putzen."
Ihre Stimme hatte jetzt jenes klagende Timbre in den Obertönen, das die Schakale am Wüstenrand anstimmen, um es bis zum markerschütternden Geheul zu steigern, bevor sie beim Mondschein auf Aassuche gehen. (Ich weiß, ich bin ihr gegenüber nicht gerecht; wir haben uns in den zweiundzwanzig Jahren unserer Ehe nie wirklich gestritten, und sie hat mich nie ernstlich verletzt. Es sind die Kleinigkeiten, die einen zermürben: der kaum merkliche Missklang, die falsche Oktave.)
"Auch Mildtätigkeit kann Vergnügen bereiten, Liebes. Außerdem hat sie schon einen Boxkurs belegt." Ich steckte meinen Kopf durch die Öffnung der Wendeltreppe und sah Margrit unter der Dachschräge am Tisch sitzen. Sie saß in jener charakteristischen Weise da, bei der die Beine gestreckt sind und der Körper vorgebeugt ist, aber dabei kerzengerade angewinkelt, als sei er ein halbgeöffnetes Taschenmesser.
"Es geht nicht um ihr Vergnügen, Adrian. Es geht um ihre Zukunft."
"Ihr Vergnügen und die Zukunft."
"Noch ist die Zukunft hauptsächlich in unseren Köpfen, sie will geplant werden."
Ihr Bleistift bohrte sich wie eine Waffe in das Zahlenfeld, das unsere Haushaltsabrechnungen waren – undurchschaubare Listen, so lang und hieroglyphisch wie Gas- oder Stromabrechnungen.
Die aufgearbeiteten Blätter lagen links von ihr, der Stein des Anstoßes rechts. Er bestand aus einem Stapel engbekritzelter Seiten. Mindestens drei davon galten dem Kostenfaktor "Herbert". Sein Name geisterte durch den Raum wie eine Aura, die plötzlich von der Schwerkraft erfasst worden war und sich träge auf das Mobiliar herabsenkte. Es würde ein langer Abend werden.
"Weißt du, dass wir fast bankrott sind, Adrian?"
"Nein."
"Dann solltest du mal einen Blick auf unsere Kontoauszüge werfen."
"Hab ich bei der Abfahrt nach Holland getan."
"Und? Wie war dein Eindruck?"
"Wir liegen ganz gut im Rennen. Keine Schulden, solider Kontostand. Wir könnten einen Zweitwagen anschaffen, wenn wir wollten."
"Doch nicht etwa für Herbert?" Jetzt klang ihre Stimme wieder so, als habe ihr jemand einen unsittlichen Antrag gemacht. Ich sah ihre strengen Augen und die tiefen Falten, die einmal Krähenfüße gewesen waren, und dachte daran, dass Slava weder auf Margrit noch auf mich herauskam. Vielleicht war sie gar nicht unser Kind. Die einzige Schönheit in der Familie.
"Das würde ihn etwas vom Hitchhiking abhalten."
"Ihr und euer Hitchhiking."
"Sei bitte nicht ungerecht", sagte ich beschwörend. "Wir haben oft genug darüber gesprochen, dass ich seine Ausflüge verurteile."
"Sie sind unnütz und teuer."
"Man kann ihn nicht einsperren."
"Aber er ist eingesperrt."
"Weil er selbst darum gebeten hat. Das ändert sich alle drei Tage."
"Du stehst nur auf seiner Seite, weil es dein Zwillingsbruder ist. Du bist zu nachsichtig mit ihm, Adrian. Er starrt den ganzen Tag lang die Decke an. Nicht mal sein Psychiater behauptet, dass Depressionen unheilbar sind."
"Er ist seit seinem zwanzigsten Lebensjahr depressiv. Wenn es zu ändern wäre, hätte man ihn längst geheilt."
"Ich glaube, er ist nur autistisch."
Sie wollte sagen: willentlich autistisch, falls es das gab. Aus Bequemlichkeit und weil es billig und unproblematisch war für jemanden, der wie er die Menschen verachtete, weil sie ihre Schönfärbereien sich und anderen gegenüber als Wahrheit ausgaben.
"Darüber möchte ich mir kein Urteil anmaßen", sagte ich bedächtig. Ich wusste, dass sie Bedächtigkeit verabscheute.
"Meiner Überzeugung nach lässt er sich einfach bloß hängen, Adrian. Er lebt hier auf unsere Kosten, wird von hinten bis vorn bedient und macht Ausflüge, wenn ihm wieder mal die Sicherungen durchbrennen."
"Anhalterei kostet nicht viel."
"Aber sein Rücktransport. Vor drei Wochen hat Slava vierundachtzig Piepen fürs Taxi bezahlt. Es ist das Zigeunerblut in euren Adern", meinte sie nachdenklich und warf mir einen abschätzigen Blick zu. "Deine Familie muss sich irgendwann einen genetischen Defekt eingefangen haben."
"Lass uns noch ein Gläschen Wein trinken, Margrit, das wird unsere Laune heben."
"Nehmen wir nur deine Arbeit."
Wir waren beim Thema angelangt. Sie schaffte es immer wieder mit schlafwandlerischer Sicherheit, das Gespräch auf den Sinn von Geheimdienstarbeit zu bringen. Ich bewegte mich unauffällig die Wendeltreppe hinunter (soweit eine derartige Treppe das überhaupt zulässt).
"Ach, übrigens, hatte ich schon erwähnt, dass Sehlen uns besuchen wird?", fragte ich, als ich unten im Salon stand.
Sie kam an die oberste Stufe und sah neugierig zu mir hinunter.
"Was denn, das Ungeheuer?"
"Er ist gar nicht so schlimm, wie man behauptet. Er wird mir immer sympathischer."
"Du hast dich noch mit jedem arrangieren können, Adrian."
"Ich versuche nur, objektiv zu sein."
"Und wann?"
Damit wollte sie in ihrem unaustreibbaren Hang zur Kurzform sagen, wann ich das jemals ernsthaft versucht hätte. Es war eindeutig als Provokation gemeint. Sie versuchte eine Verbindung herzustellen zwischen meinem Faible für das, was man "Fakten" oder "Tatsachen" nannte, und dem, was sie selbst so gern als meinen "mangelnden Ehrgeiz" bezeichnete, mein angebliches Verlangen, mich mit einer untergeordneten Stellung zu begnügen.
Aber um des lieben Friedens willen beschloss ich, es auf etwas andere Weise zu verstehen:
"Am Wochenende, Schatz. Sehlen bleibt bis Sonntagabend, und wir sehen gemeinsam das Material aus meiner Sammlung durch."
"Ihr und eure Kriegsspiele …"
Als ich Herberts Tür passierte, hob ich meine Hand, um die Klinke zu drücken – aber vermutlich saß er wieder in zwei oder drei Metern Entfernung davor und starrte die Türfüllung an. Nicht, weil er ein Geräusch gehört hatte und Besuch erwartete, sondern weil es seine "Passion" war. Wenn ich öffnete, würde er mir zwangsläufig in die Pupillen sehen.
Der Anblick seiner melancholischen Augen versetzte mir immer einen Stich. Bis auf seinen Trübsinn glichen wir uns wie ein Ei dem anderen. Wahrscheinlich war es genau diese Ähnlichkeit – das Gefühl, in den Spiegel zu blicken –, das mir dabei zu schaffen machte.
Ich empfand es als Erleichterung, nicht mit Herbert reden zu müssen. Der Gedanke, ihm gegenüber Verpflichtungen zu haben, ihn als "Gestrandeten der Familie" zu betrachten, war immer auf etwas zu nachdrückliche Weise mit der Vorstellung verbunden, dass es an seiner Stelle auch mich hätte treffen können. Wie schmal ist der Grad, der uns vom Wahnsinn trennt? Er kämpfte mit einem unsichtbaren Gott – oder einem ganzen Universum verborgener Dämonen und Götter –, und offensichtlich war es ihm nicht mehr möglich, seine Niederlage einzusehen.
Ich telefonierte den Vormittag über in der Stadt herum, um mit Forum zu sprechen. Seine Sekretärinnen versicherten mir, er sei eben aus dem Haus gegangen; seine Frau behauptete, er befinde sich auf dem Weg ins Büro; der Pförtner im Glaskasten schwor, er habe ihn weder herein- noch herausgehen sehen, obwohl er als so unbestechlich galt wie die Kameraaugen im Foyer. Sie alle mussten es schließlich wissen.
Ich probierte eine der Zigaretten, die Margrit gehörten und nach Stroh schmeckten, das Patentrezept gegen ihre Nervosität. Sie verstreute sie überall im Haus, um immer welche griffbereit zu haben. Man fand sie in Blumenschüsseln, Briefablagen, Bonbonnieren, unter dem Klavierdeckel, den Papieren auf meinem Schreibtisch und zwischen der Wäsche. Einmal hatte eine in der Regenrinne gelegen. Vielleicht war sie dort beim Fensterputzen vergessen worden. Aber da ich Nichtraucher bin, wäre sie für meinen Solarplexus Gift gewesen, sie hätte das Gegenteil von dem bewirkt, was sie bezwecken sollte.
Vor dem Mittagessen entschloss ich mich, Forums Geheimnummer anzurufen, seine Durchwahl für Notfälle. Ich war sicher, dass er mein Anliegen nicht als Notfall betrachten würde, aber was einen in Not bringt, ist schließlich Ermessenssache.
Es gibt Vietnamveteranen, die sich im Regenwald zwischen Schlangen und Fallgruben wie zu Hause gefühlt haben und bei der ungewollten Schwangerschaft ihrer jüngsten Tochter den Verstand verlieren.
Eine Frauenstimme erkundigte sich: "Dringlichkeitsstufe?"
"Keine Ahnung, es ist dringend – aber wenn Sie mich fragen, welche Maßstab ich daran anlege …"
"Identifikationsnummer?"
Ich nannte ihr meine Nummer. Da sie überflüssiger als der Blinddarm war und ich mich nur noch vage daran erinnern konnte, hatte sie genügend Zeit, sich die nächste Schikane auszudenken:
"Bedauere, Ihr Adressat ist nicht im Büro."
"Mein Adressat, aha. Sie meinen, Forum wäre mal eben kurz für kleine Jungen?"
"Bitte keine Namen."
"Ja, natürlich."
"Er wird mit Ihnen Kontakt aufnehmen, sobald es möglich ist."
"Danke, Gnädigste, herzlichen Dank. Ich habe nichts anderes erwartet."
Als ich das Haus verließ, vergrub Herbert im Garten den Blätterabfall. Er würdigte mich keines Blickes. Sein Tornister sah so prall gefüllt aus, als sei er jederzeit abreisebereit, und sein Zimmerschlüssel lag hinter ihm auf der Fensterbank.
Wenn er abgeschlossen hatte und Ruhe vor uns haben wollte, schob er ihn manchmal durch den Türschlitz – um uns Gelegenheit zu geben, seinen Leichnam zu finden, ohne dass wir dafür die Tür eintreten mussten. Ich hielt überrascht inne, denn dass er auch nur den kleinen Finger rührte, war eine neue Entwicklung. So umwälzend wie die Entstehung des Lebens in der Ursuppe.
"Er hat gehört, was wir über ihn gesagt haben", raunte Margrit mir zu. Sie stand mit einem Korb an der Pforte, um den Lieferwagen des Eiermanns abzufangen. "Das Erkerfenster war offen. Er ist zutiefst beleidigt."
"Immer noch besser als Selbstmord." Ich stellte das Garagentor hoch, um ins Zentrum zu fahren. Aber der Teufel der Zündkerzen und Verteiler, der verstopften Düsen und lahmen Batterien wollte an diesem Mittag, dass ich zu Fuß ging – also tat ich ihm den Gefallen.
Als Zugereister fällt es mir immer schwer, dem bayerischen Leben, der Weißwürstel-Mentalität, den Krautorgien, den griffigen Riesenbiertöpfen, mit jener beiläufigen Lässigkeit zu begegnen, die dem Einheimischen in die Wiege gelegt ist. Meine Miene verklärt sich dabei, als versuchte ich mich auf peinlichste Weise anzubiedern.
Deshalb nahm ich mein Mittagessen in einem gut abgedunkelten Stehimbiss ein, einer Turnhalle mit Säulen, altdeutschen Kronleuchtern und dem Ambiente süddeutscher Parteitage. Man aß im Stehen an kleinen runden Tischen. Die Portionen langten fürs Frühstück, Mittag- und Abendessen. Allerdings galt das Mitbringen von Abfüllbehältern als verpönt.
Vielleicht war es das gute Essen, das meinen Entschluss bestärkte. Vielleicht hatte Sehlen recht mit seiner Meinung, dass alles Chemie sei. Die Gedanken als chemische Anhängsel. Kein Geheimdienst der Welt kann einen verpflichten, seine Seele zu verkaufen. Schon möglich, dass es von übergeordneter Stelle versucht wird. Mag sein, dass Hunderte, ja Tausende sich im Laufe ihres schäbigen Lebens verraten haben, ohne es selber zu bemerken. Die Sache hat viel mit den Verführungskünsten in rotbeleuchteten Bars und schummrigen Bordellen gemein.
Ich zog es vor, mir mein Stück private Freiheit zu bewahren. Dieser Widerstand oder Entzug schloss Forum, Sehlen und selbst Margrit ein, von jener abstrakten Größe, die meine Arbeit war, ganz zu schweigen. Für Slava allerdings war ich bereit, auf der Stelle meinen Hals zu riskieren.
Ich glaube, wir empfanden es beide als eine jener engen Vater-Tochter-Beziehungen, die dauerhafter als manche Ehen sind. Da ihr die Kerle nachliefen, als sei ein amerikanischer Filmstar eingeflogen, fühlte ich mich durchaus wohl in der großen Gemeinschaft ihrer Bewunderer.
Man hat den Eindruck, etwas Bleibendes geleistet zu haben, und der Stolz wächst mit jeder Minute und Stunde ihrer stürmischen Blüte. Ich war bereit, mich für sie zu verleugnen, aber ich lehnte es ab, von Sehlen wie einer seiner unwissenden Zuarbeiter behandelt zu werden.
Es war, als verkaufte ich dabei einen Teil von mir selbst – und meinethalben konnte man das auch Seele nennen – zu einem Preis, der in kümmerlichem Verhältnis zu dem stand, was ich aufgab.
Um diese Zeit stand die Sonne wie eine stumpf glänzende Apfelsine über dem Isarufer. Vom Wasser wehten Fetzen kalten Dunstes herauf, in dem einzelne gelbe Blätter trieben. Die Silhouette der Häuser am gegenüberliegenden Ufer sah aus wie die steinerne Kulisse eines Kulttempels. Fragte sich nur, für welche Götzen.
Ich versuchte die Tram zu besteigen, als neben mir ein Wagen hielt, eine jener gepanzerten Limousinen, die immer wirken, als zögen sie das Unheil an, den Schuss aus einem Granatwerfer oder den Kugelhagel einer Maschinenpistole.
Forum sah aus dem Seitenfenster und winkte mir mit halb erhobener Hand zu, ganz Kardinal, der einem Priester Audienz gewährt. Sein sorgfältig onduliertes Haar kollidierte dabei mit dem Fensterrahmen; er schob es mit jener charakteristischen Geste zurecht, die ihm den respektlosen Kommentar eingetragen hatte, sein "Make-up" sei ihm wichtiger als jeder arme Agent, der für unsere Sache in den sibirischen Wäldern erfror.
"Steigen Sie ein …"
Die Wagentür wurde aufgeschoben, und ich kam zum ersten Mal in den Genuss, eine seiner rollenden Gefechtsstationen von innen zu besichtigen. Palisanderholz, Messinggriffe, ein kleiner Farbfernseher, zwei Funktelefone, davon eines rot, die übliche Bar, um zwischen zwei Straßenecken nicht verdursten zu müssen, und Polstersessel im Farbton des Teppichbodens.
"Zahlt alles der Steuerzahler", murmelte ich, während ich mich neben ihn in den weichgepolsterten Sitz sinken ließ.
"Was sagten Sie?"
"Donnerwetter, ich wusste gar nicht, dass wir solche Schlachtschiffe unterhalten?"
"Die zusätzlichen Einrichtungen stammen von mir, Adrian. Der Steuerzahler hat keinen Pfennig dazugetan." Er ließ das Barfach auf einer Schiene aus der Konsole fahren. Seine Hand glitt über die Flaschenhälse. "Likör?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Mein Mittagessen, wegen der Diät." Er goss sich einen ein, sparsam, als sei jeder Tropfen Gift für seine schlanke Linie. Es war einer jener übersüßten "Damenliköre", die er aus einem Dorf in den Abruzzen bezog. "Wie war Ihre Kontaktaufnahme?"
"Sehlen scheint das Ganze als Ein-Mann-Unternehmen anzusehen. Er weigert sich, mich einzuweihen."
"Er ist nur vorsichtig, Adrian."
"Ich bin schließlich nicht erst seit gestern im Geschäft. Ich war schon in München Experte auf meinem Gebiet, als Sie aus Köln herüberkamen, wenn ich Sie daran erinnern darf? Ich führte Sie in die Geheimnisse der Abteilung ein. Und nun behandelt man mich wie einen blutigen Anfänger."
"Geben Sie ihm noch ein paar Tage Zeit. Er muss erst Vertrauen schöpfen. Die Sache ist heikel."
"Wie kann ich Ihnen von Nutzen sein, wenn ich nicht einmal weiß, worum es geht?"
"Aber sagte ich das denn nicht, Adrian?"
"Nein."
"Oh." Er strich sich betroffen mit dem Zeigefinger über die Stirn. "Dann allerdings."
"Sie erwähnten den Codenamen 'Schafspelz`, nicht viel mehr. Sie sagten, es sei eine gemeinschaftliche Operation. Langley, London, Paris, wenn ich das richtig verstanden habe?"
"Gemeinschaftlich, ja."
"Aber nicht so gemeinschaftlich, dass man mich ausreichend darüber informieren würde, oder?"
"Jeder arbeitet an seinem Platz. Jeder ist Experte, Spezialist für einen bestimmten Arbeitsbereich. Sie sind für Ostpolitik zuständig. Andere befördern die Post oder bringen Politiker um – falls Sie mir diese sarkastische Übertreibung verzeihen wollen?" Er lächelte. "Keiner sollte zuviel vom anderen wissen. Es könnte die ganze Operation in Gefahr bringen. Eherne Regel, oder? Das müssten Sie doch selbst am besten wissen, Adrian?"
"Die Post, ja." Ich zog den Umschlag mit dem leeren Blatt Papier aus der Innentasche meines Jacketts. "Gehört das hier dazu?"
Forum nahm beides, den Umschlag und das Blatt, drehte und wendete sie auf dem Schoß und befühlte die Struktur des Papiers mit den Fingerspitzen.
"Woher haben Sie das?"
"Aus Sehlens Briefkasten."
"In Zandvoort, ah, ja. Es ist das Briefpapier unseres Mannes im Kreml, Adrian. Ich vertraue Ihnen ein großes Geheimnis an – dieser Umschlag", sagte er theatralisch, "ist eine Botschaft, auch wenn keine einzige Zeile darin zu finden ist. Er bedeutet nichts Geringeres, als dass wir erfolgreich sind."
"Erfolgreich worin?"
"Unser Mann im Kreml arbeitet bereits."
"Er arbeitet, aha."
"Seien Sie doch nicht so entsetzlich bockbeinig, Adrian. Ich überschreite meine Kompetenzen, indem ich Ihnen Einzelheiten der höchsten Geheimhaltungsstufe anvertraue, und Sie behandeln mich, als beginge ich den schlimmsten Vertrauensbruch."
"Ehrlich gesagt, habe ich immer geglaubt, unser Verhältnis sei etwas persönlicherer Art?"
"Ist es ja auch, Adrian, ist es."
"Mit anderen Worten: Sie können oder wollen mir jetzt noch nicht mehr sagen?"
"Von wollen kann gar keine Rede sein. Warten wir ab, bis Washington grünes Licht gegeben hat. Sehlen wird Sie rechtzeitig über alle Einzelheiten informieren. Sie sind für die höchsten Weihen vorgesehen – Sie sind absolut unentbehrlich bei dem Projekt. Ohne Sie wäre Sehlen blind, er würde mit seinem Stock die Blackbox zertrümmern, weil es drinnen keine Orientierungsmöglichkeiten gäbe." Forum lachte überdreht, offenbar versuchte er, die Angelegenheit ins Lächerliche zu ziehen. Aber mein Humor in solchen Fällen schrumpft mit jedem falschen Ton.
"Nun machen Sie nicht so ein trauriges Gesicht."
"Eigentlich habe ich Sie angerufen, weil ich Ihnen sagen wollte, dass ich unter diesen Umständen …"
"Ja?"
"Dass ich nicht bereit bin, weiterzuarbeiten."
"Sie wollen den Dienst quittieren?"
"Ich werde mich nach einer Arbeit umsehen, bei der man mir mehr Vertrauen entgegenbringt."
"In unserem Gewerbe? Das dürfte nicht ganz einfach sein. Jetzt, wo es uns allen an den Kragen geht, meine ich. Wir kämpfen um unser Überleben. Der eiserne Besen der Rationalisierung fegt durch die Abteilungen.
Anscheinend glaubt man im Kabinett, unser Apparat habe sich während des kalten Krieges zu stark aufgebläht. Drüben hinter dem großen Teich ist es nicht viel anders. Wasserköpfe vor dem Platzen. Nun sei es an der Zeit, sie auf ein bekömmlicheres Maß zurückzuschrauben. Und bekömmlich heißt: auf die Hutgröße derer da oben. Kindergrößen, Mützengrößen unter uns gesagt. Wie denken Sie darüber?"
"Ich finde den Gedanken gar nicht so abwegig."
"Die politische Situation ist deutlich entspannt", bestätigte er.
"Was sich überlebt hat, sollte niemals mit Gewalt festgehalten werden."
Forum blinzelte amüsiert. "Damit wollen Sie doch wohl sagen: Sie machen sich keine Sorgen? Fähige Leute wie Sie finden immer einen Job?"
Wir hielten vor einem weißen Villenbau. Die Innenstadt mit ihrem Getrampel und Einkaufsgedränge war nur ein oder zwei Steinwurfweiten entfernt, aber hier herrschte beinahe gespenstische Ruhe. Forum gab dem Fahrer ein Zeichen, unter der überhängenden Trauerweide zu parken.
Als Privatbesitz war das Gelände bemerkenswert gut ausgestattet, fast wie eine öffentliche Anlage: Ententeich, Kinderschaukeln, zwei von steinernen Löwen bewachte Springbrunnen.
Fehlte nur noch der Sandkasten, in dem ein kratzbürstiger kleiner Villenerbe mit Sand um sich warf. Zwischen den Pappeln verlief ein öffentlicher Weg, und jenseits des zerrissenen Drahtzauns, von gelbbelaubten Baumkronen eingerahmt, sah man die schäbige braungraue Backsteinfront eines einstöckigen Wohnhauses aus der Vorkriegszeit. Seine Fenster waren hell erleuchtet.
"Kommen Sie, Adrian." Forum stieg aus, den etwas zu langen Mantel gerafft. "Sie wollen doch nicht die Abschiedsfeier unseres verdienstvollsten Mitarbeiters versäumen?"
"Abschiedsfeier?"
"Der gute alte Quand, er wird vorzeitig pensioniert."