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Falsche Versprechungen und enttäuschte Hoffnungen: Was hält die Fans noch beim Profi-Fußball? Nach dem Corona-Schock, der viele Klubs an den Rand der Pleite brachte, gab sich die Bundesliga geläutert. Nachhaltiger wollte man wirtschaften und die eigene weltfremde Blase verlassen. Nichts davon ist passiert. Während die Spielergehälter ein Rekordhoch erreicht haben, werden die Fans immer dreister abgezockt, hinter den Kulissen wird die weitere Hollywoodisierung des Fußballs vorbereitet. Um das zu kaschieren, werden "Nachhaltigkeits-Strategien" propagiert, die jedoch die größten Umweltsünden ausklammern. Am Scheideweg steht damit auch die kritische Fanszene, die den Verbänden oft auf den Leim geht und längst Teil einer Inszenierung ist, die sie eigentlich ablehnt. • In letzter Minute: Warum die wirkungsvollen Fanproteste gegen den Liga-Investor den Finger in die Wunde legten • Nach Corona, nach der WM in Katar: Die Branche hat nichts verstanden. • Immer höhere Spielergagen und Beraterprovisionen: Was in deutschen Fußballvereinen schiefläuft • "Nachhaltigkeit": Wie Umwelt- und Sozialthemen als Feigenblatt herhalten müssen. "Christoph Ruf hat noch nie im Verdacht gestanden, den Mächtigen nach dem Mund zu reden, und kennt sich in der bundesdeutschen Fanszene so gut aus wie kein anderer Reporter." JAN CHRISTIAN MÜLLER, FRANKFURTER RUNDSCHAU Wie moralisch ist der Fußball? Christoph Ruf über die Reformunfähigkeit des Profifußballs und Fans, die sich instrumentalisieren lassen. Es ist noch nicht so lange her, dass sich die deutsche Fußball-Liga nachdenklich gab und radikale Veränderungen versprach. "Schneller, höher, weiter" sollte der Vergangenheit angehören, Wirtschaften mit Augenmaß war das Ziel. Doch umgesetzt wurde davon nichts – im Gegenteil. Falls es noch eines Beweises bedurfte, dass der deutsche Fußball reformunfähig ist, ist er mit dem Buhlen um einen Liga-Investor, dessen Einstieg erst durch die anhaltenden und kreativen Fanproteste gestoppt werden konnte, endgültig erbracht. Zeit, die Konsequenzen zu ziehen.
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Christoph Ruf
Die Irrwege der Bundesliga und die Inkonsequenz der Fans
1. Auflage 2024
© Verlag Die Werkstatt GmbH, Bielefeld
Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:
ISBN 978-3-7307-0662-6 (Print)
ISBN 978-3-7307-0680-0 (Epub)
Coverabbildung: decisiveimages
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www.werkstatt-verlag.de
Christoph Ruf
Die Irrwege der Bundesliga und die Inkonsequenz der Fans
VERLAG DIE WERKSTATT
KAPITEL 1
DER BUNDESLIGA-FUSSBALL UND ICH – EINE ABRECHNUNG
Der „moderne“ Fußball – ein Erfolgsmodell, das angeblich keiner mag
KAPITEL 2
CORONA – AUGENÖFFNER FÜR EINE BRANCHE, DIE NICHTS SEHEN WILL
Ein Geschäftsmodell, nachhaltig auf Pump finanziert
Too big to fail: Lobbyismus für die Großen
Bauernopfer Dynamo Dresden: Solidarisch wie Hyänen – mit ihrer Beute
„Spielen auf Bewährung“ – die Branchenbosse im Büßergewand
Gegenwind für den Re-Start: Die Fans als Stimme der Vernunft
Rebels with a cause: Unser Fußball legt den Finger in die Wunde
Leben in der Blase: Warum Profifußball nicht nachhaltig sein kann
KAPITEL 3
CSR, „NACH-HALTIGKEIT“ UND FAN-FOREN: WIE MAN PROTEST ZÄHMT
Rebels without a clue, oder: Aus Wut wird eine Ausschusssitzung
Unsere Kurve, oder: Langer Atem im Kampf gegen Windmühlen
„Inhaltsleeres Finanzkartell“: ProFans hält der DFL den Spiegel vor
Die Adenauer-Liga: Was schert das „dumme Geschwätz von gestern“?
Corona? Nachhaltigkeit? Soziale Verantwortung? Nie gehört
KAPITEL 4
KATAR 2022: DIE ZWEITE OHRFEIGE FÜR DEN DEUTSCHEN FUSSBALL
Islamismus als blinder Fleck des deutschen Fußballs
Fußball als „geostrategische Waffe“
KAPITEL 5
CORPORATE SOCIAL RESPONSIBILITY – DREI WORTE FÜR EINES: „FEIGENBLATT“
Imagepflege: Was die Liga tun könnte, wenn es um die Sache ginge
„Digitalisierung“: Abzocke im modernen Gewand
CO2-Orgien oder Lizenzentzug: Wie ökologischer Unsinn verordnet wird
„Können die Natur nicht mehr ignorieren“: Ein Interview mit Andreas Rettig
„Alles Fake!“: Herr Sommers spricht Klartext
KAPITEL 6
VIDEOBEWEIS: „UND IHR MACHT UNSERN SPORT KAPUTT!“
Von der Verachtung des Stadions
„Ein künstliches Gottesurteil“ (von Dr. Thomas Grethlein)
KAPITEL 7
INVESTOREN: VEREINSLIEBE WIRD „MONETARISIERT“
Jagdsaison eröffnet: Der Trend geht zur multiplen Abhängigkeit
„Apfelwiesen“ und die schöne neue Fußballwelt: Hellmann und Watzke bei den BVB-Fans
Andreas Rettig: Ansichten eines Nestbeschmutzers
Zurück durch die Hintertür: Der Investor ist wieder da
Die Ligue 1 ist schon einen Schritt weiter – am Abgrund
„Mit ehrlicher Arbeit gescheitert“: Zwickau wird seinen Investor los
Zündeln für den DFB: Frankfurt und die Pyro-Strafen
„90 Minuten sind sehr lang“: Wie im Hintergrund am neuen Fußball gearbeitet wird
KAPITEL 8
ÜBERLEBEN IM TURBOKAPITALISMUS – TRADITIONSVEREINE WEHREN SICH
Hertha BSC: Verraten, verkauft – und lebendiger denn je
Der Fall RB Leipzig: Rage against the machine
Ein „Fan-Präsident“ beim VfB: Albtraum des Stuttgarter Establishments
KAPITEL 9
DER MODERNE FUSSBALL HAT GESIEGT
„Man muss die Proteste auch mal radikal durchziehen. Ein paar Tennisbälle schmeißen und nach dem 25. Spieltag ist wieder alles normal, reicht nicht.“
LUKAS PODOLSKI,
17.12.2023, IM DOPPELPASS BEI SPORT1.
„Wir werden kein Teil eures Deals sein.“
MOTTO DER FANPROTESTE AM DRITTEN DEZEMBER-WOCHENENDE 2023 GEGEN DEN DFLINVESTORENDEAL. MARKIGE WORTE – MIT DENEN 12 MINUTEN OHNE SUPPORT ANGEKÜNDIGT WERDEN.
„Ich glaube nicht, dass man die Fans durch ein solches Finanzierungsmodell verliert, solange man mit ihnen im intensiven Dialog bleibt und ihnen ermöglicht, weiter ganz nah an ihrem Verein dran zu sein.“
LEVERKUSENS SPORT-GESCHÄFTSFÜHRER SIMON ROLFES WEISS, WIE MAN MIT FANPROTESTEN UMGEHT.
Der Fußball und ich, wir kennen uns schon lange, unser einst so inniges Verhältnis begann schon in Grundschulzeiten. Beim Autogrammesammeln, wenn mal wieder einer der großen Vereine in meine mittelbadische Heimat kam, um bei irgendeinem Dorfverein zweistellig zu gewinnen. Damals sprachen HSV-Spieler noch norddeutsch, die vom KSC hingegen badisch. Dass das heute nicht mehr so ist, ist mir völlig egal, arrogante Spieler gab es unabhängig vom Dialekt damals auch schon zuhauf. Auch die Behauptung, dass es im Fußball „nur noch um Geld geht“, lockt mich nicht hinterm Ofen hervor. Das war damals auch schon so. Goldene Steaks gab es zwar noch nicht, dumme Spieler aber schon, die sogar stolz darauf zu sein schienen, dass sie gerade ihren Porsche gegen einen Baum gefahren hatten. Auch das Gerede von den „Werten“ und der „Vorbildfunktion“ des Fußballs habe ich schon immer für eine alberne Schutzbehauptung gehalten. Ich glaube also, von mir sagen zu können, dass ich den Fußball nie überhöht habe.
Und doch ist in den vergangenen Jahren zu viel vorgefallen zwischen dem Fußball und mir, als dass ich mir noch unbefangen ein Bundesligaspiel anschauen könnte. „Kommerzialisierung“ ist ein großes Wort, und es ist ziemlich abstrakt. Konkret äußert sie sich so: 200 Euro, um mit den Kindern ein Spiel gegen Augsburg sehen zu können, 90 Euro fürs Fantrikot, fünf für die Cola. Und fünf Millionen für den Ersatzspieler. Fünf Decoder oder Abos, um Fußball im Fernsehen anschauen zu können. Rund um die Uhr natürlich, denn ein Spieltag streckt sich heute von der ersten bis zur dritten Liga auf drei Tage – und 16 verschiedene Anstoßzeiten.
Dabei ist das alles viel Lärm um nichts, denn eigentlich ist die ganze laut beworbene Angelegenheit meist stinklangweilig: Die Topklubs haben den 20-fachen Etat der „Kleinen“ in der Liga. Und trotzdem wird allerorten so getan, als würden jeden Sommer die Karten neu gemischt. Erinnert mich an den Cartoon mit dem Lehrer, der einem Affen und einem Elefanten die Prüfung abnimmt: „Im Sinne eines fairen Wettbewerbes kriegt ihr dieselbe Aufgabe: Klettert auf diesen Baum!“ Welch Wunder: Meister werden immer die Bayern.
Derweil steigen die Gehälter immer weiter, nicht nur die der wenigen Superstars. Man kann davon ausgehen, dass jeder Durchschnittskicker, jede Nummer 15 im Kader, weit über eine Million Euro verdient, bei manchen Vereinen auch das Fünf- oder Zehnfache. Das ist nicht meine Liga. Calcio parlato? Geschichten, die der Fußball schreibt? Die Pest. Mich nervt das stundenlange Gequatsche über wechselwillige Stars, das wochenlange Theater um Harry Kane (Kommt er? Kommt er nicht?) – all das ödet mich fast so an wie der unsägliche Videobeweis.
Weit besser als in den hochmodernen Arenen am Autobahnkreuz gefällt es mir bei den alten Traditionsvereinen in ihren (mit Glück) uralten Stadien. In der dritten Liga und in den Regional- und Oberligen gefällt es mir besser, und auch so manchen Zweitliga-Ground lasse ich mir durchaus für ein nettes Wochenende gefallen. Traditionsvereine und ihre Stadien strahlen etwas aus, das ein RB-Fan nie vermissen und nie verstehen wird, etwas, das sich dem Turbokapitalismus, vulgo „Kommerz“, entzieht.
Es gibt allerdings ein Problem an dieser Feststellung: Der nette Regionalligist mit den coolen Leuten auf der Geschäftsstelle wird nach dem Aufstieg auch mit ein paar Leuten von der Uni aufgestockt, die vom Lieblingsverein der Fans als „Marke“ reden. Und ein, zwei weitere Aufstiege später ist der gemütliche Traditionsverein nicht mehr wiederzuerkennen.
Ich gebe es zu, ich kriege manchmal schlechte Laune, wenn ich an den Profifußball denke. Und ich kann ziemlich genau sagen, ab wann meine kritische Distanz zur Maximaldistanz wurde. Das war während Corona, als er sich aufgeführt hat wie einst Königin Marie-Antoinette in ihren besten Tagen vor der Französischen Revolution. Kuchen wollte er essen, jeden Tag und ohne Pause. Und es war ihm völlig egal, was für den Rest auf der Speisekarte stand. Er wollte unbedingt weiterspielen, auch ohne Fans, die ja Ausgangssperre hatten – und andere Sorgen. Zumindest dann, wenn sie Angehörige auf der Intensivstation hatten oder nicht wussten, wer jetzt die Kinder betreuen soll, deren Kita schließen musste. Aber, es stimmt ja, der Profizirkus musste auch wirklich weiterspielen. Denn wenn der Spielbetrieb geruht hätte, wären die meisten Vereine in ein paar Wochen pleite gewesen. Ganz einfach, weil sie keine Fernsehgelder mehr bekommen hätten, mit denen sie die absurd hohen Spielergehälter und die daran gekoppelten Beraterprovisionen gegenfinanzieren hätten können.
Aber ich vereinfache. Der Profifußball hat sich ja der Debatte gestellt – sagt er. Das mit der gesellschaftlichen Verantwortung, das hätten natürlich auch die Spieler verstanden, war allerorten zu hören. Weshalb sie oft sogar einem Gehaltsverzicht von fünf bis 15 Prozent zugestimmt hätten. Fürwahr ein existenzieller Einschnitt bei den branchenüblichen Gehältern, aber natürlich sickerte durch, dass der Gehaltsverzicht bei den meisten Vereinen eine Gehaltsstundung war, die fehlenden Hunderttausende sind also längst wieder auf den Konten der Spieler. Immerhin eine Stellungnahme gab es, die man als Hoffnungsschimmer interpretieren konnte. Verfasst hat sie der Mannschaftsrat einer Bundesliga-Mannschaft, um zu erklären, warum zwar die über zwei Millionen Freizeitkicker die Coronaregeln beachten und die Schulen geschlossen bleiben sollten, warum es aber ausgerechnet im Profifußball übergeordnete Gründe gebe, um den Spielbetrieb aufrechtzuerhalten:
„Meine Mitspieler und ich sind besorgt um unser Land und auch unsere Branche“, las man. „Also reduzieren wir für mindestens die nächsten drei Monate unser Gehalt auf das eines Krankenpflegers, des wahren Leistungsträgers unserer Gesellschaft. Wir wollen zwar bald wieder spielen, damit unser Verein, aber auch der gesamte deutsche Fußball überleben und die Leute ein bisschen Abwechslung haben. Außerdem fehlt uns das Fußballspielen so sehr. Aber weil wir wissen, dass unser Job nicht nur, aber vor allem in Corona-Zeiten einem Privileg gleichkommt, wollen wir eine Gegenleistung erbringen. Und wir geben gern, weil wir sehr viel haben.“
Sind Ihnen jetzt auch gerade Tränen der Rührung gekommen? Sie können sie wieder abwischen, denn natürlich stammt das Schreiben nicht aus der Branche, sondern von meinem ZEIT-Kollegen Oliver Fritsch, der mal laut darüber nachgedacht hat, wie die Kicker-Zunft in der Corona-Pandemie auch hätte argumentieren können.
Wobei, dass der Fußball durchgekommen ist mit seiner Heuchelei, das darf man ihm eigentlich gar nicht verübeln. Jeder ist sich selbst der Nächste, das lernt bei uns jedes Kind schon früh. Auch dass die Branche Millionen scheffelt und sich vom Steuerzahler ihre Stadien, Anfahrtswege und Polizeieinsätze finanzieren lässt, muss man eher der Politik übel nehmen, die ihr das ermöglicht. Kennt noch jemand den einstigen SPD-Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans? Der hat mal in einem hellen Moment erklärt, warum das alles so läuft: „Die großen, namhaften Bundesligavereine haben immer den Staat auf ihrer Seite. (…) Wenn es um Fußball geht, tun sich alle Parlamentarier schwer, klare Kante zu zeigen. Beim Fußball gibt es keine Parteigrenzen.“
Es ist, wie es ist. Der Profifußball ist mir gleichgültig geworden. Privat gehe ich schon seit Jahren lieber in die Regional- oder Oberliga, wenn ich Fußball schauen will. Da kommt die Wurst manchmal noch vom Metzger vor Ort. Und es gibt – echt abgefahren – noch Einwechslungen und Eckbälle, die nicht vorher in unglaublichen Dezibelzahlen vom Baumarkt „präsentiert“ werden. Und was das Schönste ist: Es gibt keinen Videobeweis, diese Erfindung aus der Hölle. Tor ist Tor. Und Grund für spontanen Ärger. Oder spontane Freude. Aber selbst die gönnt uns die erste Liga nicht mehr. Während 57 Experten in 58 Videoauflösungen herauszufinden versuchen, ob 59 Sekunden vor dem vermeintlichen Tor auf Höhe der Mittellinie ein Foul vorlag, ergründen andere, ob der Flankengeber beim vorletzten Pass nicht vielleicht doch mit dem linken Schnürsenkel im Abseits stand.
Der ganze Unsinn sorgt zwar nur in 30 Prozent aller Fälle für richtigere Entscheidungen auf dem Platz, versaut dafür aber jedes Stadionerlebnis gründlich, wenn mal wieder fünf Minuten lang gecheckt wird, ob die Schuhspitze des Angreifers denn nun zwei Millimeter im Abseits war. Nie hätte ich geglaubt, dass „kalibrierte Linie“ mal ein Begriff aus der Fußballwelt werden würde. Für den Zuschauer vor dem Fernseher mag eine solch skrupulöse Wahrheitsfindung eine praktische Sache sein. Man kann in der Zeit schließlich auf Toilette gehen, ein neues Bier holen und bei der Mutter anrufen, wie es ihr so geht, und kommt immer noch rechtzeitig zur Entscheidungsfindung zurück. Der Stadionbesucher hingegen hat in der Zwischenzeit komplett die Nerven verloren. Aber um den geht es ja schon lange nicht mehr.
Kurzum: Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, ob es angesichts des Klimawandels so clever ist, die Atomkraftwerke stillzulegen. Aber den Profifußball, den sollte man ganz sicher stilllegen. Damit er endlich einmal aufhört, nur um sich selbst zu kreisen.
Ab aufs Zimmer, ein bisschen über sich und das normale Leben nachdenken. Und wenn ihm etwas aufgefallen ist, kommt er wieder runter. Und dann schauen wir, ob er endlich zur Vernunft gekommen ist. Aber nach Lage der Dinge wird er oben im Zimmer nicht nachdenken, sondern die nächsten Geschäfte mit dem Dealer anberaumen, der ihm das liefert, was ihn am Leben hält: Geld.
Fußball boomt, und zwar als „moderner“ Fußball, wie ihn viele für den einzig möglichen halten. Aber auch als klassischer Zuschauersport erlebt er einen Höhenflug. Zumindest gilt das für die oberen Ligen, ganz besonders die ersten beiden. Von München bis Hamburg sind die Stadien bei Heimspielen voll, meist sogar ausverkauft. Und auch zu den Klubs im Schatten der ganz Großen kommen weit mehr Menschen als noch vor zehn, 20 Jahren. Auch das gilt von Unterhaching bis Lübeck.
Bei den Auswärtsspielen ist ebenfalls ein regelrechter Boom zu erkennen. Es ist noch gar nicht lange her, da konnte man sich als Fan eines Erst- oder Zweitligisten – es sei denn, man hielt es mit Dortmund, Gladbach, Schalke, den Bayern, dem Club oder der Frankfurter Eintracht – am Spieltag bequem am Ort des jeweiligen Auswärtsspiels ein Ticket für den Gästeblock kaufen. Diese Zeiten sind lange vorbei, Vereine wie der HSV, Hertha, Bremen oder Stuttgart melden längst innerhalb weniger Stunden bei Spielen an den entlegensten Spielorten ausverkaufte Gästekurven.
Doch wichtig, und das ist eine der traurigsten Erkenntnisse der vergangenen Jahre, sind die Stadionbesucher eigentlich nicht mehr. Sie machen nur noch ein Fünftel bis ein Viertel des Umsatzes aus, maximal.
Auch die Machtzentren des Fußballs liegen andernorts als noch vor 20 Jahren. Europa und Südamerika als über Jahrzehnte unangefochtene Platzhirsche des Fußballs und der Fankultur – ja, liebe Kinder, beides gehörte einmal zusammen – haben mächtige Konkurrenten bekommen. Die USA, vor allem aber der arabische Raum sind die Boomregionen der Gegenwart. Und die der Zukunft. Das ist der Grund, warum die WM 2034 nach Saudi-Arabien vergeben wird. Das ist der Grund, warum die DFL geradezu panisch ihre Auslandsvermarktung ankurbeln will. Und das ist der Grund, warum immer mehr Menschen an der Basis der Klubs den Eindruck haben, dass es um sie nicht mehr geht. Ein Eindruck, der vollkommen zutreffend ist.
Brutaler als während der Pandemie hätte man das den Fußballfans hierzulande nicht veranschaulichen können. Der Fußball spielte weiter, vor leeren Rängen. Die Zuschauer blieben draußen. Es war Sonderspielbetrieb. Ob es eine Option hätte sein können, die Spiele einfach auszusetzen und darauf zu drängen, dass die Spieler ein paar Wochen oder Monate zumindest auf einen Großteil ihres Gehaltes verzichten, wurde nicht einmal diskutiert.
Das Rad der Kommerzialisierung hat sich nach der Pandemie munter weitergedreht, wer dachte, dass die Branche durch den Corona-Schock reumütig werden könnte, sah sich schnell getäuscht. Und leider sahen sich auch die getäuscht, die davon ausgegangen waren, dass dem Fußball nach Corona ein Großteil der Fans abhandenkommen würde. Alle sind wieder im Stadion, auch und gerade die Ultraszenen, an deren Rändern sich allerdings ein Frust breitmacht, der unter anderem mit den Corona-Erfahrungen und dem Verhalten der Klubs zu tun hat. Einfach wegzubleiben schaffen aber auch die Ultras nicht. Stattdessen tragen sie – obwohl sie das ganz sicher nicht wollen – zum weltweiten Boom des Fußballzirkus bei.
Wenn die Ablösesummen derart explodiert sind, liegt das also auch an Angebot und Nachfrage: Immer mehr Menschen in immer mehr Ländern schauen Fußball. Und da es in allen Ländern Menschen gibt, die von sich behaupten, sie hätten Fußball gesehen, wenn sie den Fernseher anmachen, explodieren die Einnahmen aus der Vermarktung der Fernsehrechte entsprechend. In der Bundesliga stiegen sie laut einer Auswertung der Unternehmensberatung Deloitte zwischen der Saison 2014/15 und der Saison 2020/21 von 731 Millionen auf 1,659 Milliarden Euro. Noch beliebter ist die Premier League: Der Auswertung zufolge verdienten deren Vereine im Jahr 2020/21 allein mit den Fernsehrechten rund 3,8 Milliarden Euro.
Kann man den Managern der deutschen Profivereine, die nach immer mehr Geld rufen, da verdenken, dass ihnen bei den Summen, die in Saudi-Arabien oder der Premier League umgesetzt werden, das Wasser im Munde zusammenläuft und sie feuchte Hände bekommen? Vielleicht nicht. Was man ihnen aber ganz sicher vorwerfen kann, ist, dass sie so tun, als interessiere sie etwas anderes als das große Geld. Heuchelei gehört nicht zu den sieben in der Bibel aufgezählten Todsünden. Dabei ist sie eine der fiesesten Plagen unserer Zeit. Nicht zuletzt im Fußball.
Allerdings haben die Fans ganz offensichtlich ein genauso schlechtes Kurzzeitgedächtnis wie die Branchenbosse. Sie machen die Stadien voll, kaufen Fanartikel und Decoder und halten so das Rad am Laufen. Nur wenige Monate nach dem endgültigen Ende des Lockdowns herrschte in der Branche schon wieder business as usual. Auf den Geschäftsstellen. Und in den Fankurven auch.
Wahrscheinlich ist es nur menschlich, dass man Unangenehmes schnell vergisst. Zumal, wenn es um eine Pandemie geht, die allen viel abverlangt hat. Auch denen, in deren Familien keine Todesopfer oder Long-Covid-Fälle zu beklagen waren.
Aber ganz vergessen ist die Corona-Zeit nicht: die Bilder aus Bergamo, wo allein im März 2020 fast 700 Menschen an den Folgen einer Corona-Infektion starben; die Bilder aus den USA oder von deutschen Intensivstationen in den überlasteten, kaputtgesparten Kliniken, wo schlecht bezahlte Pflegerinnen und Pfleger bis zur völligen Erschöpfung schufteten; und die Erinnerungen an Wochen und Monate, als das Privatleben keines mehr war – keine Umarmung für die kranke Angehörige, kein Kneipentreffen mit den Kumpels, keine gemeinsame Feier mit dem besten Freund. Nein, eigentlich hat man all das doch nicht vergessen. Es ging damals um Existenzielles. Fußball ist vieles. Aber definitiv nicht existenziell.
Was später zur Gewissheit werden sollte – dass die Branche weder Corona noch seine Folgen auch nur ansatzweise begreifen würde –, war allerdings schon während jener Zeit zu spüren. Denn im Innenleben der Vereine bildete sich die Pandemie nur sehr bedingt ab. Draußen ging es im privaten Gespräch um erkrankte Freunde (die meistens, aber leider nicht immer leichte Verläufe hatten) und um die Angst vor einer Infektion. Wem das Schicksal im Freundes- und Familienkreis viele Menschen in sozialen Berufen bescherte, kam vom Thema nicht mehr los. Egal ob Kita, Schule oder Krankenhaus, ob Erzieher, Lehrerin oder Intensivpfleger: Corona erforderte die volle Aufmerksamkeit.
In diesen Tagen haben übrigens viele ganz normale Menschen (also solche, die eine Fankurve nur vom Fernsehen kennen) erstmals ein positives Bild von Fußballfans bekommen. Denn die aktiven Fans und die Ultras verstanden fast flächendeckend, was die Stunde geschlagen hatte: Sie hängten Dankesplakate an Supermärkte und Transparente vor Krankenhäuser, sie halfen ehrenamtlich dort, wo sie gebraucht wurden. Und das fiel vielen von ihnen auch gar nicht schwer – die Zahl der jüngeren Fußballfans, die in pädagogischen oder sozialen Berufen arbeitet, dürfte überproportional hoch sein. Draußen, im echten Leben, bestimmte Corona also massiv den Alltag.
Drinnen, inside Fußball-Bundesliga, war Corona hingegen bloß dieses Ärgernis, das den geregelten Fortgang der Abläufe störte. Es ging um die Aufrechterhaltung eines verdammt kostspieligen Apparats. Und die vage Ahnung, dass da draußen doch irgendetwas passierte, das jetzt sehr ungelegen kam. Also verlegte man seine ganze Energie darauf, dafür zu sorgen, dass das Rad sich weiterdrehen konnte.
Und das aus einem ganz einfachen Grund, der heute wie damals gilt: Die Klubs hingen und hängen schlicht und einfach am Tropf der TV-Sender und Streamingdienste, an deren stetig steigende Überweisungen sich erstaunlich viele Vereine offenbar so gewöhnt hatten, dass sie keine Rücklagen aufgebaut hatten – nicht einmal solche, die für ein paar Wochen ausgereicht hätten. TV-Erlöse machen zusammen mit Sponsorengeldern bereits gut 60 Prozent der Einnahmen aus. Hätten die Profiligen für sich keine Ausnahmeregelungen von den Regeln im Rest der Gesellschaft herbeigeführt, hätten die Vereine rund 300 Millionen Euro an TV-Übertragungsgeldern zurückzahlen müssen. Warum die Branche unbedingt weiterspielen musste, und sei es ohne Zuschauer, hatte in Wirklichkeit also nur einen einzigen Grund: Das wirtschaftliche Wohl und Wehe hing für die Vereine davon ab, ob die TV-Sender und Streamingplattformen, die ja aus gutem Grund „Rechteinhaber“ heißen, die Tranche von 300 Millionen Euro überweisen würden. Oder eben nicht, weil es in Ermangelung von Spielen nichts zu übertragen gab.
Als der Ball dann wieder rollte, zahlten auch die Inhaber der Fernsehrechte, allen voran Sky und der Streamingdienst DAZN. Von denen ist die Bundesliga abhängig wie nie zuvor. Allein in der Amtszeit des langjährigen DFL-Geschäftsführers Christian Seifert, also in den vergangenen 15 Jahren, vervierfachten sich die Fernseheinnahmen von 400 Millionen Euro auf gut 1,6 Milliarden Euro pro Jahr. Es wäre spannend zu sehen, in welchen Arbeitsverträgen eine Umsatzbeteiligung festgeschrieben ist. Doch die unterliegen natürlich aus gutem Grund dem Datenschutz. Was nur insofern bedauerlich ist, als Menschen, die auch persönlich vom Wachstumskurs profitieren, natürlich wenig Interesse daran haben, einen Paradigmenwechsel ins Auge zu fassen.
Laut Kicker vom 3. April 2020 waren 13 der 36 Klubs ohne die TV-Gelder von der Insolvenz bedroht. In der Bundesliga hätten vier Vereine ihren Verpflichtungen nur noch bis Mai bzw. Juni 2020 nachkommen können, wäre nicht wieder gespielt worden. In der zweiten Liga war die Lage offenbar noch prekärer. Sieben Vereinen drohte die Insolvenz schon Ende Mai, zwei weitere hätten sie im Juni anmelden müssen, wenn die Zahlungen der Sender ausgeblieben wären. Stellvertretend für viele seiner Kollegen äußerte sich Martin Przondziono, Geschäftsführer des SC Paderborn, gegenüber dem Sender Sport1: „Es ist nicht so, dass wir im nächsten Monat insolvent wären. Wir können das noch ein, zwei Monate hinauszögern, aber dann geht uns die Luft aus.“
Zu den Vereinen, die ohne Corona-Hilfen und ohne den frühen Neustart vor der Pleite gestanden hätten, zählte Schalke 04, dem es nicht zu peinlich war, die eigenen Fans anzubetteln. „Unabhängig davon, welche Entscheidung [bezüglich einer Fortsetzung der Saison, Anmerkung des Autors] getroffen wird, steht der Verein aktuell vor einer potenziell existenzbedrohenden wirtschaftlichen Situation“, hieß es in der Erklärung. Daher wurden die Fans gebeten, für die verbleibenden Heimspiele der Schalker keine Rückerstattungen zu verlangen. Wer dem Verein das Geld nicht überlassen wolle, könne sich auch einen Gutschein ausstellen lassen, der dann auf den Erwerb der Dauerkarte für die nächste Saison angerechnet werde. Vom Prinzip des Wirtschaftens auf Pump konnte oder wollte man einfach nicht abrücken.
Und natürlich wussten auch die Schalke-Manager, wo sie die treuen Fans noch mehr treffen als im oftmals karg gefüllten Portemonnaie: bei ihren Emotionen, ihrer Liebe zum Verein. Nur so, über kollektiven Verzicht, könne das Überleben des Vereins gesichert werden, hieß es deshalb im Schreiben. Immerhin: Auf Schalke sollten auch die Spieler bis Juli 2020 auf 30 Prozent ihrer Löhne verzichten. Beziehungsweise 15 Prozent, denn die andere Hälfte sollten sie später ausbezahlt bekommen. Sie willigten ein, weil man ihnen klargemacht hatte, dass sie sich nach einer Insolvenz des Arbeitgebers nicht besserstellen würden. Für die Spieler ist letztlich alles gut gegangen. Wenn sie überhaupt finanzielle Einbußen hatten, dürften sie die kaum bemerkt haben. Und die meisten Vereine haben mittlerweile längst die während der Pandemie einbehaltenen Prozente nachträglich wieder an die Spieler überwiesen.
Allerdings war Corona letztlich nur das Brennglas, das die Sollbruchstellen, die die Branche im Normalbetrieb hat, für alle sichtbar machte. So sieht es auch André Bühler, Professor für Marketing und Sportmanagement an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt in Nürtingen/Geislingen. Er attestiert den betroffenen Klubs, sie hätten bekanntermaßen jahrelang „auf Pump“ gelebt, Corona habe das Kartenhaus dann zum Einstürzen gebracht und damit ein System kollabieren lassen, das zuvor schon mehr als fragil war: „Die Coronakrise hat diese Symptome verdichtet und ein systemisches Marktversagen hervorgerufen. Es wurde offensichtlich, dass einige Vereine erhebliche Probleme bekommen, nur weil sie einige Tage keinen Umsatz machen.“ Bühler ist nicht nur nüchtern analysierender Wissenschaftler. Fußball, und ganz besonders der VfB Stuttgart, in dessen Vereinsbeirat er sitzt, liegen ihm auch privat am Herzen.
Weshalb er auch den FC PlayFair! mitgegründet hat, eine Organisation, die sich vereinsübergreifend und bundesweit für Fan- und Vereinsinteressen im Fußball einsetzt. Dem hoch respektablen Zusammenschluss, den unter anderem der heutige Präsident des VfB Stuttgart, Claus Vogt, ins Leben gerufen hat, gehören neben anderen der ehemalige Schiedsrichter Urs Meyer, der frühere Pressesprecher des FC Bayern, Markus Hörwick, und der Grünen-Politiker Cem Özdemir an. Dank des FC PlayFair! und dessen repräsentativer Studie „Situationsanalyse Profifußball“ hätte der deutsche Fußball schon 2017 wissen können, in welchen Legitimitätsproblemen er steckt: Darin gaben mehr als die Hälfte der befragten Fußballfans (51,4 Prozent) an, dass sie sich in absehbarer Zeit vom Profifußball abwenden würden, sollte sich die Kommerzialisierung des Fußballs weiterhin so entwickeln. Und über 83 Prozent aller Befragten warnten den Profifußball davor, sich noch weiter vom Fan zu entfernen.
Sollten die Klub-Offiziellen von diesem Befund überrascht gewesen sein, hätte ihnen die Studie gleich noch mitgeliefert, wie sie die Abtrünnigen auch bei der Stange hätten halten können. Die Fans forderten für die Zukunft klare finanzielle Regeln, allen voran Gehaltsobergrenzen („salary cap“), um den exorbitanten Anstieg der Spielergehälter (und der daran gekoppelten Berater-Provisionen) zu stoppen. Zudem sprachen sich die Befragten für eine Rückbesinnung auf fanfreundliche Anstoßzeiten sowie eine gerechtere Verteilung der Fernsehgelder aus. Und das aus der gleichen Motivation heraus, denn auch hier sehen sie völlig zu Recht Werkzeuge, um wieder für mehr Wettbewerb innerhalb der Liga zu sorgen. Darüber hinaus ist die Stärkung von Faninteressen ein großes Thema, gefordert wird unter anderem, dass die Profivereine verpflichtet werden, in ihren obersten Kontrollgremien einen gewählten und qualifizierten Fanvertreter zu installieren.
Nach der Studie des FC PlayFair!, die medial stark beachtet wurde, erschien im November 2021 eine weitere repräsentative Untersuchung zur Bewertung der Kommerzialisierung im Fußball. Durchgeführt wurde sie von Statista in Kooperation mit PulsQ. Sie dokumentierte, dass 48,9 Prozent der befragten Fans angaben, die Kommerzialisierung sei „völlig überzogen“. 25,5 Prozent stimmten mit „eher überzogen“ ab, 15,5 Prozent mit „neutral“ und 2,9 Prozent mit „eher in Ordnung“. Lediglich 1,7 Prozent empfanden sie als „völlig in Ordnung“, und 5,5 Prozent der Befragten enthielten sich. Gut drei Viertel der befragten Fans halten den Vermarktungs-Overkill im Fußball also für stark oder exzessiv übertrieben. Das sind Werte, die andernorts im Management für Krisensitzungen und eine radikale Umkehr der Konzepte sorgen würden. Der Profifußball hingegen nimmt solche Zahlen entweder nicht ernst oder noch nicht einmal zur Kenntnis.
Gleiches gilt für Stimmen aus der Wissenschaft, und das nicht nur während Corona, als die Demoskopen miserable Zustimmungswerte zum Re-Start maßen. Man schaut als Klub-Offizieller nachdenklich drein, wenn man bei den selbst organisierten Gesprächsforen damit konfrontiert wird. Und macht dann weiter wie bisher. Immer schneller, immer höher, immer teurer.
Womit es Zeit für ein paar eindrückliche Zahlen wäre. Nach Angaben des Fußball-Weltverbandes FIFA wurden 2019 18.042 Transfers im Profibereich getätigt, bei denen 8,14 Milliarden Euro flossen. Daran beteiligt waren 3.557 Spielerberater bzw. Vermittler, die die Transfers im Auftrag der Profis abwickeln und in der Regel bis zu 15 Prozent Provision bekommen – von den Vereinen. Allein in der Bundesliga fließen Saison für Saison etwa 200 Millionen Euro in die Taschen der Berater, die damit an der Explosion der Spielergehälter partizipieren.
Nun, im Nachklang der Corona-Pandemie und angesichts wachsender Inflation, sind es auch solche Zahlen, die herangezogen werden, um dem Profifußball ein grundlegendes Problem zu bescheinigen. Und längst sind es nicht mehr nur die Ultras, die unter der Devise „Der Fußball lebt, das System ist krank“ grundsätzliche Reformen anmahnen. Auch in der Politik und aus der Branche selbst mehren sich die Stimmen, die fordern, dass das „Schneller, höher, weiter“ der vergangenen Jahre ein Ende haben müsse. Doch diese Stimmen – jedenfalls die aus dem politischen Berlin – werden sehr schnell wieder verstummen. Auch Politiker sind eben oft zuallererst Fans, im Gegensatz zu den Ultras aber ganz klassische, unkritische. Und nur wenige haben den Mut, das wie der eingangs erwähnte ehemalige SPD-Bundesvorsitzende Norbert Walter-Borjans („Die großen, namhaften Bundesligavereine haben immer den Staat auf ihrer Seite“) auch offen zuzugeben. Wenn selbst amtierende Bundesligafunktionäre hinter vorgehaltener Hand ihre Verwunderung äußern, dass diverse Steuervergehen in der Branche – Stichwort: Beraterprovisionen – vor allem deswegen ungeahndet bleiben, weil die Finanzämter oft nicht genau hinschauten, ist das mehr als alarmierend.
Die Politik drückt sogar dann alle Augen zu, wenn der Fußball so unverfroren auftritt wie in der Pandemie, als Union-Berlin-Präsident Dirk Zingler sein Heimspiel gegen die Bayern selbst dann noch vor Zuschauern abhalten wollte, als man sich nur noch wundern konnte über so viel Ignoranz. Zingler jedenfalls beantwortete die gegenläufige Empfehlung von Gesundheitsminister Jens Spahn in einer Rotzigkeit, die tief blicken lässt: „Herr Spahn hat auch nicht empfohlen, dass BMW in Berlin die Produktion einstellt“, und wenn der Empfehlung gefolgt würde, „dann sollten wir anfangen, den öffentlichen Personennahverkehr in Berlin einzustellen – und nicht Veranstaltungen aufzukündigen.“ Wer für den Profifußball die Analogie zum ganz normalen Arbeitsleben und zur alltäglichen Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln zieht, hat sich eigentlich ebenso entlarvt wie der damalige Red-Bull-Coach Julian Nagelsmann, der sich Sorgen um die Chancengleichheit machte, sollte das Leipziger Heimspiel gegen Tottenham nicht mit Zuschauern ausgetragen werden – schließlich habe das Hinspiel in London auch vor Publikum stattgefunden. RB mag allerdings kaum einer, während es offenbar ansonsten einen weitgehenden, vor einigen Jahren geschlossenen deutschlandweiten Konsens gibt, dass man Union Berlin sympathisch finden muss. Ob das auch für alle seine Funktionäre zu gelten hat, ist fraglich.
Insgesamt war es jedenfalls wenig überraschend, dass die gleichen Politiker, die Kitas und Schulen geschlossen hielten und teils vollkommen absurde Maßnahmen verabschiedeten – zwei Personen durften zusammen spazieren gehen, drei nicht –, keinerlei Bedenken hatten, ausgerechnet dem Profifußball de facto einen Freifahrtschein auszustellen und den Spielbetrieb wieder zu erlauben.
Zwischen dem 13. März und dem 16. Mai 2020 pausierte der Profifußball, danach rollte der Ball wieder für die ausstehenden neun Spieltage – anfangs allerdings noch ohne Fans. Ab September durften dann auch erstmals wieder Zuschauer in die Stadien. Beides ein Erfolg professioneller Lobbyarbeit von DFL und DFB – mit bewährter Unterstützung der BILD-Zeitung und ihres damaligen Stars Julian Reichelt, der es sich persönlich zur Aufgabe gemacht zu haben schien, dem Fußball rote Teppiche auszurollen und die Corona-Gefahr kleinzureden. Unterstützt wurde er dabei argumentativ auch von Hans-Joachim Watzke, der bei „Markus Lanz“ einen ausgesprochen peinlichen Auftritt hatte und dem Systembiologen Michael Meyer-Hermann, Leiter der Abteilung Immunologie am Braunschweiger Helmholtz-Zentrum, auch in medizinischen Fragen widersprach, um den Neustart als vollkommen unbedenklich darstellen zu können.
Besonders die Unions-Politiker Markus Söder und Armin Laschet setzten sich derweil flankierend für den frühestmöglichen Wiederbeginn ein, während prominente Stimmen, die dagegen argumentiert hätten, kaum auszumachen waren. Der Entschluss, Geisterspiele zuzulassen, fiel einstimmig in der Bund-Länder-Kommission. Und glaubt man Norbert Walter-Borjans, sind die Widerstände in der Politik ja grundsätzlich alles andere als unüberwindlich, wenn es um Fußball geht. Um Profifußball wohlgemerkt, denn die Millionen von Freizeitkickern durften natürlich nicht weiterspielen. Und die Kinder und Jugendlichen, die auf einer Wiese oder dem Bolzplatz ein paar Bälle hin und her kickten, bekamen weiter Ärger mit der Polizei. Sportkommentator Manni Breuckmann wunderte sich: „Da haben doch mittlerweile einige den Eindruck, es handelt sich hier um eine Ansammlung von gierigen Schnöseln, die zusammen mit eiskalten Geschäftsleuten dafür sorgen, dass die Emotionen in manchen Zusammenhängen nur noch vorgetäuscht werden“, sagte er im Deutschlandfunk. „Die nötige politische Lobby ist ja offensichtlich nach wie vor da. Söder, Laschet und Spahn, die Dreier-Spitze, haben in erster Linie dafür gesorgt, dass das überhaupt durchgeführt werden konnte, was da heute Nachmittag beginnt, denn es ist ja eine Extrawurst für diesen Profifußball.“
Tatsächlich war die Argumentation des Profifußballs ausgesprochen geschickt. Die DFL (und für die dritte Liga zeitverzögert der DFB) begründete ihre Forderung nach einem möglichst frühen Neustart vor allem mit drei Argumenten: Zum einen drohe vielen Vereinen ohne die an den Spielbetrieb gebundene vierte Tranche der TV-Gelder der finanzielle Ruin, zum anderen beschäftige der Profifußball Tausende Menschen. Und zum Dritten lechzten viele Menschen in Corona-Zeiten nach Zerstreuung und freudiger Abwechslung. Die ersten beiden Argumente waren eigentlich klassische Eigentore. Aber immerhin ehrlich. Dass der DFB als Anwalt der Amateure wieder komplett ausfiel, ist dann auch vielsagend. Der riesige Verband, dessen ureigenste Aufgabe es eigentlich wäre, sich für den Amateur- und Nachwuchsfußball einzusetzen, unterließ genau das. Viele Basisvertreter haben ihm das verständlicherweise bis heute nicht verziehen.
Noch einmal zurück zum Arbeitsplatz-Argument, das vor allem die Erst- und Zweitligisten ins Feld führten, um weiterspielen zu dürfen. Die Branche brachte es gern vor, um den Eindruck zu relativieren, es gehe ihr ausschließlich um die dicken Gehälter der Spieler. Tatsächlich beschäftigte der deutsche Lizenzfußball laut Wirtschaftsreport der DFL in der Spielzeit 2019/20 56.081 Arbeitskräfte, davon waren 15.656 direkt bei den 36 Vereinen angestellt. Die Mehrzahl, 34.598, waren jedoch indirekt Beschäftigte, die meisten im Sicherheitsdienst (14.360) und im Catering (13.683), viele von ihnen dabei prekär beschäftigte Pauschalkräfte und Minijobber. Was etliche Vereine nicht daran hinderte, großzügig jeden Brezelverkäufer, der am Spieltag drei Stunden lang seiner (oftmals peinlich schlecht bezahlten) Arbeit nachgeht, zu den Beschäftigten des eigenen Vereins zu zählen. Mancher Zweitligist, auf dessen Geschäftsstelle 30 Festangestellte arbeiteten, kam so plötzlich auf viele Hundert Mitarbeiter. Auch hier: Ungläubiges Staunen bei der Politik, die meist nicht nachfragte.
Christian Seifert brachte am 8. April 2020 in einem Interview mit der New York Times erstmals Spiele vor 240 Zuschauern ins Spiel – und damit den Stein ins Rollen, indem er versprach, dass dadurch die Testkapazitäten nicht in Mitleidenschaft gezogen würden. „Der Fußball beansprucht keine Sonderrolle“, sekundierte Fritz Keller, der damalige Präsident des DFB. Und die Erde ist eine Scheibe.
Natürlich wussten die Vereinsvertreter, dass sie großes Glück hatten, mit ihren Forderungen so leicht durchgedrungen zu sein. Tausende Gastronomen, Künstler oder Einzelhändler erlitten während Corona ein anderes Schicksal. Sie gingen pleite, weil die Politik bei ihnen die Maxime durchexerzierte, die sie für den Profifußball außer Kraft setzte: dass der Gesundheitsschutz absoluten Vorrang vor ökonomischen Interessen haben müsse.
Und tatsächlich waren die Maßnahmen anfangs streng. Die Spieler mussten sich regelmäßigen Corona-Tests unterziehen, während der Geisterspiele hatten die lediglich zwei Dutzend zugelassenen Journalisten zig Meter auseinander zu sitzen. Später durften nur Zuschauer in die Stadien, die Impfnachweise und/oder negative Test-Ergebnisse bereithielten – was als Kollateralschaden im Übrigen vielerorts dazu führte, dass es wegen des Andrangs von Fußballfans zeitweise keine Testkapazitäten für Menschen gab, die Angehörige in öffentlichen Einrichtungen besuchen wollten. Natürlich gab es tatsächlich auch positive Beispiele von Spielern, die alten und gebrechlichen Anhängern ihres Vereins Lebensmittel lieferten – selbst dann, wenn keine Journalisten dabei waren. Auch die Initiative „We kick Corona“ der Bayern-Profis Leon Goretzka und Joshua Kimmich sorgte für positive Schlagzeilen. Doch sie wurden von anderen Eindrücken überlagert.