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Für viele Politiker und Medien ist die Sache klar: Ultras sind notorische Störenfriede, gewaltbereit, dialogunfähig, zuweilen auch rechtsextrem. Aber treffen diese Etiketten zu? Christoph Ruf wollte es genauer wissen und hat das Gespräch mit ihnen gesucht. Bei seinen monatelangen Recherchen war der Karlsruher Journalist bei ihren Veranstaltungen, bei Gruppentreffen, Auswärtsfahrten und im Fanblock. Er traf dabei auf Fußballfans, die wissen, dass sie an manch negativer Schlagzeile selbst schuld sind, die sich aber dennoch zu Unrecht stigmatisiert fühlen. Und das aus gutem Grund: Ohne ihr ehrenamtliches Engagement und ihre Kreativität würde in kaum einem Stadion die stimmungsvolle Atmosphäre herrschen, für die der deutsche Fußball derzeit gerühmt wird. Zwar schaden manche Ultragruppen mit ihrer Gewaltfaszination und ihren unreflektierten Feindbildern der ganzen Bewegung. Doch deren Zerfall wäre fatal: Wo die Ultras auf dem Rückzug sind, haben in vielen Kurven Neonazis und Nachwuchs-Hooligans das Sagen übernommen. Schon heute.
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Seitenzahl: 269
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Christoph Ruf
KURVENREBELLEN
DIE ULTRAS
EINBLICKE IN EINEWIDERSPRÜCHLICHE SZENE
VERLAG DIE WERKSTATT
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Copyright © 2013 Verlag Die Werkstatt GmbH
Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen
www.werkstatt-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt
Coverfoto: Daniel Marr
ISBN 978-3-7307-0070-9
„Wer in diesem Fußball oder dieser Gesellschaft keine Probleme verursacht, dem ist sowieso nicht mehr zu helfen.“
Daniel, 28, Ultra
„Draußen sind die 20-Jährigen doofer als die 40-Jährigen. Bei den Ultras ist es andersherum, da merke ich immer, wie doof wir Alten geworden sind. Ich finde, das ist eine Subkultur, wie man sie sich wünscht.“
Harry, 38, Fan der Spielvereinigung Greuther Fürth
„Warum jubeln die denn die ganze Zeit so und schauen gar nicht zum Spiel? Dann wissen sie doch gar nicht, warum sie sich freuen.“
Nils, 6
Nicht alle Vorbehalte, die ich gegen Ultras hatte, sind in den vergangenen Monaten zerstreut worden. Dass ich sie habe, liegt wohl vor allem an meinem Geburtsdatum und mithin einer völlig anderen Fansozialisation, als sie die heute 20-Jährigen haben. Als wir 20 waren, fieberten wir den Fahrten nach England oder Schottland entgegen, bewunderten die Stimmung in Liverpool, bei Celtic Glasgow, West Ham United oder bei irgendeinem dieser vielen vielen britischen Grounds, in denen Tausende ihre Mannschaft von den Stehplätzen aus nach vorne brüllten. Italien interessierte uns auch, nur nicht in Sachen Fußball.
Ich erinnere mich noch gut an eine im Auswärtsblock erlebte Niederlage in Bochum, an deren Ende die VfL-Fans branchenüblich riefen: „Ihr könnt nach Hause fahr’n.“ Aus der spontanen Replik eines Stehplatznachbarn, der irgendetwas vor sich hinmurmelte, was uns Nebenleuten gefiel, entwickelte sich binnen Sekunden die in der gleichen Melodie vorgetragene Antwort des Gästeblocks: „Ihr müsst in Bochum bleib’n …“
Ob das nun ungeheuer geistreich war oder nicht – es war jedenfalls spontan, ungeplant, Resultat eines gruppendynamischen Prozesses, den keiner beeinflussen konnte.
Natürlich waren Fangruppen schon damals hierarchisiert, der große Dicke hatte schon damals mehr zu sagen als der Kleine mit dem Stimmbruch, doch das Geklatsche und Gesinge in der Kurve ergab sich hin und wieder auch, wenn die großen Dicken grad am Bierstand waren. „Capos“, wie die „Vorsänger“ heute heißen, gab es nur auf dem Bau. Und die Vorstellung, dass eine Fankurve einen „Chef“ brauche, hätten damals alle für reichlich absurd gehalten.
Die Zeiten haben sich geändert. „Ihr müsst in Bochum bleib’n“ wäre heute undenkbar. Denn unter dem Klangteppich, den die Ultras über die Kurve legen, erstickt jedes andere Leben. Und auch wenn genau das in vielen Szenen gerade reflektiert wird – der elitäre Anspruch entspricht per se dem Selbstverständnis der Ultra-Szene, die sich durchaus als Avantgarde der Fankurve begreift. Das würden viele Ultras sympathischerweise empört von sich weisen, stimmt aber trotzdem. Wie es auch stimmt, dass nur beinharte Realitätsverweigerer der Stimmung in der heutigen Premier League noch etwas abgewinnen können.
Nach der Katastrophe von Hillsborough wurden dort die Sitzplätze abgebaut, brav domestiziert sitzt seit ein paar Jahren die englische Mittelklasse im Stadion, während die Reste der Arbeiterklasse das Spiel in den Pubs anschaut. Und Wochenende für Wochenende kommt die High Society aus Wiesbaden, Tokio oder Katar nach Manchester und London geflogen, um sich ein paar neue Trikots zu kaufen und die Stars mal aus der Nähe zu sehen. Mit einem Wort: Der Fußball auf der Insel ist ziemlich tot. Und auch in Deutschland wäre er wohl sanft entschlummert, wenn sich nicht ein paar junge Leute zusammengerafft hätten und etwas Neues gewagt hätten: Dass die Ultras die Kurven eroberten, war folgerichtig, und es war gut. Die Zeit war reif für sie. Und dass mein Abschied vom aktiven Fandasein einige Jahre später vollzogen war, hatte nicht primär mit der sich wandelnden Stimmung in den Kurven zu tun.
Längst bin ich vom Fußballfan zum Sportjournalisten mutiert. Dass der Karlsruher SC wieder in der zweiten Bundesliga spielt, freut mich. Wäre er drittklassig geblieben, hätte mir das aber auch nicht das Wochenende versaut. Also bin ich kein Fan mehr. Würde ich das von mir behaupten, käme ich mir vor wie einer dieser Politiker, die einmal im (Wahl-)Jahr ins Stadion gehen und sich vorm Nahen des Fotografen schnell einen Fanschal umlegen lassen. Fans verzweifeln nach Niederlagen, sie sind zum Teil tagelang nicht ansprechbar. Und sie tun Dinge, die Nicht-Fußballfans mehr als absonderlich finden: Ein Dortmunder hat anno 2004 die Abiturprüfung verweigert und ein Jahr später nachgeholt. Ein Autoaufkleber „Abi 04“ hätte ihn an den vermaledeiten Lokalrivalen aus Gelsenkirchen erinnert.
Und dennoch: Meine Fansozialisation prägt mich noch heute. Man muss mir nicht erklären, warum es großer Mist ist, wenn das Auswärtsspiel des eigenen Vereins mal wieder auf einen Freitag oder Montag fällt, was an Klatschpappen nervt und an Stadionsprechern, die glauben, es interessiere sich irgendjemand für ihre gute Laune. Und mir muss niemand erklären, wie man sich als Fan fühlt, wenn man den Eindruck hat, ausgenutzt zu werden. Ultras sind zunächst einmal Fußballfans. Wer ihnen das abspricht („sogenannte Fans“) macht sie wütender als derjenige, der sie mit Schimpfwörtern überzieht.
Nach wie vor befremdet mich vieles an der Ultra-Szene, nicht nur die Klangteppiche. Ich finde es grotesk, wie sich eine Szene, die so gern rebellisch wäre, „der Gruppe“ unterordnet, und mich befremdet die Ultra-spezifische Mischung aus kindlichen Pfadfinder-Riten und einer Gewaltfaszination, die ich intelligenten Menschen nur schwer verzeihen kann.
Doch das, was ich an der Ultra-Szene schätze, überwiegt bei Weitem. Die Szene ist lebendig, sie diskutiert, sie er-lebt die Welt mit Händen, Hirn und Füßen, anstatt sie sich von zweifelhaften Autoritäten erklären zu lassen. Und sie hat sich die kritische Grundhaltung bewahrt, die den meisten Gleichaltrigen abgeht.
Doch erstaunlicherweise wird öffentlich weder die Kreativität der Ultras, ihr politisches Engagement noch ihr Engagement für den Verein öffentlich gewürdigt. Eine brennende Bengalfackel genügt zuweilen, um eine ganze Kaskade von Negativschlagzeilen über eine Szene auszuschütten, die bundesweit aus mehreren zehntausend Menschen bestehen dürfte.
Ich war positiv überrascht, dass die allermeisten Szenen, die mich interessiert haben, bereit waren, sich gegenüber dem Angehörigen einer Berufsgruppe zu öffnen, aus deren Reihen allein im Jahre 2012 Verzerrungen und Unwahrheiten transportiert wurden, die eigentlich ein Fall für den Presserat sind.
Wer Ultras kritisiert, findet natürlich jede Menge Ansatzpunkte. Doch unter Garantie findet er keinen, den die erstaunlich selbstkritische Szene nicht auch schon intern diskutiert hätte – nicht der einzige Punkt, an dem sich Ultras wohltuend von vielen ihrer Altersgenossen unterscheiden: von all den Konsumsklaven, die am Samstagmorgen vor „Primark“ oder „Starbuck’s“ herumstehen, stupide auf ihr Smartphone starren und sich offenbar nur dann unterhalten können, wenn ihre Telefone irgendeinen Gesprächsgegenstand hervorzubringen scheinen.
Man mag einiges an den Ultras auszusetzen haben, vieles davon wird auf den kommenden 200 Seiten genauso thematisiert wie all das, was die Ultra-Szene zur vielleicht faszinierendsten Jugendkultur dieser Tage macht. Eines steht aber fest: Die Ultras sind die Besten ihrer Generation …
Die Ultra-Bewegung umweht die Aura des Neuen. Das mag lächerlich klingen. Zumindest für Ultras. Schließlich haben hierzulande die ersten Gruppen bereits ihr 15-jähriges Bestehen gefeiert. Und dennoch könnte die Mehrheit der Fußballinteressierten wohl nicht so genau erklären, was es mit diesen merkwürdigen Ultras auf sich hat. Sind es besonders fanatische Fans? Sind es moderne Hooligans, skrupellose Fußballschläger? Das glauben vor allem viele Menschen, die lange nicht mehr im Stadion waren. „Ultra“ klingt jedenfalls extrem, verrucht, vielleicht sogar ein bisschen gefährlich. Und das soll es vielleicht auch
Mitte der Neunziger fanden die ersten jungen Fußballfans zusammen, denen die eingefahrenen Rituale in den Kurven zu langweilig geworden waren. Zwar hatten sich mancherorts bereits Ende der Achtziger kritische Fanszenen gebildet, die zum Teil spektakulär gut gemachte Fanzines herausgaben und mit dem Bild des tumben Fußballfans gründlich aufräumten. Doch sie waren meist allenfalls das intellektuelle Aushängeschild einer Kurve, die sie meist nur partiell erreichte. Deren stimmgewaltige Mitte waren fast überall die Kutten-Fans, deren einprägsamste Vertreter eine mit Aufnähern übersäte Jeansjacke, Trikot und Schal trugen – die Unerschrockeneren unter ihnen banden sich auch gerne einmal deren fünf um ein einziges Handgelenk. So oder so ging man gemeinsam ins Stadion, trank ein paar Pils – und wartete auf das nächste Auswärtsspiel. Fußball war etwas, das sich am Wochenende abspielte. Und nur am Wochenende. Es sei denn, der Kassenwart des Fanklubs war mit den Einnahmen der Tombola durchgebrannt, und es stand eine Nachwahl an. Dann gab es eine Sondersitzung neben der regulären Weihnachtsfeier.
Mitte, spätestens Ende der neunziger Jahre traten dann die Ultras auf den Plan. Den meist sehr jungen Fußballfans reichte es nicht mehr, zweimal pro Saison zu fordern, ihr Team möge den Bayern doch bitte die Lederhosen ausziehen und „Cologne“ auf „Scheiße vom Dom“ zu reimen. Von der Tristesse bei den Spielen ihrer Lieblingsvereine hatten sie gründlich die Nase voll. Die Nachwuchsfans blickten sehnsüchtig nach Italien. Dorthin, wo die Fans seit den frühen sechziger Jahren eine ganz andere Kultur praktizierten als ihre Kollegen in Nord- und Mitteleuropa. Jenseits der Alpen, in Italien, so hörte man damals, hatte sich eine andere, eine farbenfrohere, kreativere und originellere Fankultur entwickelt.
An spielfreien Wochenenden machten sich also per Auto oder Zug Fans aus allen Teilen der Republik nach Rom, Parma oder Genua auf, um in den dortigen Fankurven auf Bildungsreise zu gehen. Für sie wurde Italien das gelobte Land der Fußballkultur. Und sie sahen schon kurz darauf keinen einzigen Grund mehr, warum das, was jenseits der Alpen so gut funktionierte, in Deutschland nicht möglich sein sollte.
Prompt machten sie sich ans Werk. Fleißig und detailversessen, wie Ultras nun mal sind. Statt sich zu Weihnachten das neue Trikot aus dem Fanshop zu wünschen, gestalteten sie ihr eigenes Merchandising. Statt Unterschriftenlisten auszulegen, schrieben sie Transparente. Und sie nutzten alle Kommunikationsformen, die das Internet ihnen bot. Die Anfangstage der Ultra-Bewegung schildern die Angehörigen der „ersten Generation“ als inspirierende und inspirierte Zeit. Man diskutierte viel, probierte noch mehr aus und tat das, was Jugendliche eben richtigerweise tun, wenn sie finden, dass das Leben zu kurz ist, um es ausschließlich vor verschieden großen Bildschirmen in abgedunkelten Räumen zu verbringen. Sie trafen sich mit Gleichgesinnten, aus denen nicht selten Freunde wurden. Sie redeten, feierten und tranken zusammen – und sie gingen zum Fußball.
Auch in den deutschen Ligen tauchten nun Doppelstockhalter und Transparente auf, die Fangesänge wurden zentral von einem Menschen gesteuert, der sich Vorsänger nannte. Die ersten Choreografien wurden gezeigt, wochen- und monatelang werden die geplant, was selbst den größten Ultra-Kritikern in den Vereinen Respekt abnötigt. Auch Bengalos, leuchtende Fackeln, sah man wieder verstärkt in den Fankurven. Neu waren die allerdings nicht, das wird heute gerne einmal vergessen. Der Bieberer Berg in Offenbach und der „Betze“ in Kaiserslautern verdanken ihren im Rückblick immer legendärer werdenden Charme nicht zuletzt der Tatsache, dass die Fans dort an Abendspielen munter Fackel um Fackel anzündeten und damit Bilder lieferten, mit denen Fernsehsender und Stadionzeitungen nur zu gerne arbeiteten. Pyros waren damals nicht nur nicht geächtet, sie waren vom offiziellen Fußball geachtet. Und das lange, lange, bevor das Wort „Ultra“ zu einem feststehenden Begriff der Fußballsprache wurde wie „Ball“ oder „Abseits“.
Für die meisten Ultras ist zudem die „Zaunfahne“, hinter der sie sich im Stadion versammeln, ein Fetisch. Kommt die Textilie zu Schaden, ist das die denkbar größte Schande für eine Gruppierung. Als Kölner Ultras die Zaunfahne der rivalisierenden Gladbacher stahlen, löste sich „Ultras Mönchengladbach“ auf. Sie hatten zugelassen, dass ihre Standesehre beschmutzt wurde.
Wem das alles ein wenig verrückt vorkommt, der hat gute Argumente auf seiner Seite. Aber auch die Riten von Gruftis, Burschenschaftern oder Karnevalisten wirken auf Außenstehende hochgradig autistisch. Wer in eine Subkultur eintaucht, verliert eben manchmal den Kontakt zum Leben oberhalb der Subkultur. Erschreckend viele Ultras geben zu, dass sie kaum noch Freunde außerhalb von Fußballzusammenhängen haben.
Am Fan-Dasein änderte sich weit mehr als nur Äußerlichkeiten. Mit dem Aufkommen der Ultras wurde es zur Vollzeitbeschäftigung, Fan eines Fußballvereins zu sein. In vielen Gruppenräumen stehen Tischkicker, Tischtennisplatten und Billardtische, es gibt einen Tresen – kurzum: Alles das, was die Jugendzentren oft aus Finanzmangel kaum noch bieten können, organisieren (und finanzieren) die Ultras selbst. Ins Jugendzentrum gehen sie natürlich schon lange nicht mehr. Warum auch, wenn sie in ihrer Ultra-Gruppe unter Gleichgesinnten sind. Und damit Teil eines kompletten Lebensentwurfes, der auch alltägliche Hilfestellungen beinhaltet, Ältere helfen Jüngeren bei den Hausaufgaben, alle sich wechselseitig beim Umzug. Mindestens einmal wöchentlich trifft sich jede Gruppe, an den anderen Tagen werden Choreografien gebastelt, für Ultras ist jedes Pflichtspiel ihres Vereins auch ein Pflichtspiel für sie selbst. Manch einer bleibt im Sommer zu Hause, weil ein Großteil des Jahresurlaubs für die Auswärtsspiele an Freitagen und Donnerstagen draufgegangen ist. Dass Ultras gegen die Zersplitterung der Spieltage kämpfen, ist also nur logisch. Weil sie so unendlich viel für ihre Leidenschaft tun, entsteht andererseits ein manchmal ungesundes Selbstbewusstsein: Manche Ultra-Fürsten stolzieren so demonstrativ durch den Block, als wären sie kurz davor, Autogrammkarten von sich drucken zu lassen. Überhaupt sind Ultras Meister der Selbstinszenierung: Wer einmal erlebt hat, wie sich hunderte Fans, die Sekunden zuvor hochkonzentriert ihre Lieder abgesungen haben, mit dem Schlusspfiff, also quasi auf Knopfdruck, in die wildesten Erregungszustände beamen können, brüllen, Fäuste schütteln und an Zäunen rütteln, weiß, was gemeint ist. Hinter dem Ultra-Dogma „Ihr für uns, wir für euch“ steckt also auch eine Circus-Maximus-Mentalität, die man sehr unsympathisch finden kann: Das Volk senkt den Daumen. Es fordert zwar nicht den Tod der Gladiatoren, zählt aber mit dem Metermaß nach, wie eng sich die Spieler mit angemessen gesenkten Köpfen den wütenden Massen genähert haben. „Ein saublödes Ritual“, sagt ein Erstliga-Spieler. „Wenn die wütend sind, kann man sich mit denen nicht unterhalten, es geht dann nur darum, sich beschimpfen zu lassen und mit gesenktem Kopf in der Kabine zu verschwinden.“
Die Attraktivität der Ultra-Bewegung ist noch heute ungebrochen. Beobachter halten die Ultras für die größte jugendliche Subkultur dieser Tage – was allein schon mangels Alternativen stimmen dürfte. Teenager, die zum ersten Mal ohne ihren Papa ins Stadion gehen, zieht es bei Popkonzerten in die erste Reihe. Und im Stadion zu den Ultras. Dorthin, wo am meisten los ist. Um nicht allzu schnell zu wachsen, haben einige Ultra-Gruppierungen Aufnahmesperren verhängt. Wer zum harten Kern der Gruppe gehören will, muss sich vorher bewähren. In manchen Gruppen durch Sozialverträglichkeit, in anderen durch Frondienste: Der Nachwuchs einer großen Ultra-Gruppe wird bei Auswärtsspielen in den Block geschickt, um dort erst mal alle Aufkleber abzukratzen, die von Gruppen anderer Vereine in den Monaten zuvor verklebt wurden. Bei gewaltaffineren Gruppen stehen Mutproben auf dem Programm: Erbeutete gegnerische Schals dienen dann beispielsweise als Skalp. So oder so: Neulinge haben sich einzufügen in das, was die Gruppe als ihre „Identität“ ausmacht. Die wird mal von den Altvorderen vorgegeben, mal basisdemokratisch ermittelt, in jedem Fall aber ist sie bindender als der Fraktionszwang im Berliner Reichstag.
Als Gründungsmythos der Ultra-Bewegung gilt das sogenannte Ultra-Manifest, das Fans des AS Rom vor Jahrzehnten verfasst haben und das in sechs Geboten („Ultras sollen …“) gipfelt. Ohne falsche Scheu vor Pathos gelobte die Szene damals in den Neunzigern, nicht nur jedes Spiel ihres Teams zu sehen („unbedingt Präsenz zeigen“) und keinesfalls mit Vereinsvertretern oder der Presse zu kooperieren. Und natürlich schon gar nicht mit der Polizei, dem Feindbild Nummer eins eines jedes anständigen Ultras. Es gehe darum, „sich nicht von den Autoritäten unterdrücken zu lassen“ und die „Ware TV-Fußball“ zu sabotieren, hieß es im „Manifest“ angemessen dramatisch.
Die Bedeutung des Ultra-Manifests für die deutschen Ultras hat im Laufe der Jahre deutlich nachgelassen, viele Gruppen lächeln heute eher darüber. Nichtsdestoweniger enthält es – in überzeichneter Form – einige unverrückbare Elemente der Ultra-Kultur. Der DFB-Sicherheitsbeauftragte Hendrik Große Lefert berichtete jüngst im kleinen Kreis von einem Gespräch mit einem Kopf der deutschen Ultra-Bewegung. Es sei ein gutes Gespräch gewesen, das allerdings in einem bestimmten Moment an einen Scheidepunkt geraten sei. „Der hat mir glatt ins Gesicht gesagt, dass für ihn das Ultra-Manifest verbindlicher ist als das Grundgesetz.“ Große Lefert war schockiert.
Das Label „Ultra“ beschreibt allenfalls den kleinsten gemeinsamen Nenner der Bewegung. „DIE Ultras gibt es nicht“, war wohl der am meisten gehörte Satz bei der Recherche. Was keinen, der ihn sagt, davon abhält, ein paar Gemeinsamkeiten zu formulieren, die zumindest hierzulande alle Ultras einen. „Es gibt da allenfalls einen Grundtenor“, meint auch Fabian aus Fürth. „Man möchte sich, seine Gruppe und seine Städte bestmöglich nach außen hin repräsentieren und zusammen mit seinen Freunden eine coole Gemeinschaft leben.“ Der Gemeinschaftsgedanke eint auch die Gruppen, die – wie in Gelsenkirchen oder Frankfurt – 800 bis 1.200 Mitglieder umfassen. Selbst in facebook-Kategorien gemessen, sind das zu viele Personen, als dass man mit allen befreundet sein könnte. Doch die Gruppen setzen sich in der Regel aus einem harten Kern zusammen – meist sind es die Mitglieder, die am längsten dabei sind – und einem Unterstützerkreis, den man erst mal beobachtet, bis man ihn in seine Mitte aufnimmt.
Unbequem, meint Fabian, wollten wohl alle Ultra-Gruppen sein. Doch darüber, was das bedeute, gingen die Meinungen stark auseinander: „Niedrige Eintrittspreise und fanfreundliche Anstoßzeiten wollen alle, aber schon bei den unterschiedlichen Support-Stilen enden die Gemeinsamkeiten.“
Die zunehmende Kommerzialisierung des „Premium-Produktes Bundesliga“ (Eigenwerbung des Ligaverbandes DFL) stößt allerdings Fans in allen Stadionbereichen übel auf. Dass in manchem Stadion jeder Eckball von einem Sponsoren „präsentiert“ wird, nervt längst nicht nur die Ultras. Doch sie sind es, die am heftigsten dagegen opponieren. Das schafft Solidarisierungseffekte bei älteren, bürgerlichen Fans, die das Gewese in der Kurve gerne einmal despektierlich als „Hüpfburg“ bezeichnen. Der Schlachtruf der Ultras – „Gegen den modernen Fußball“ – fasst vieles zusammen, was auch andere Stadiongänger nervt. Pyrotechnik und die (streng reglementierte) Länge der Blockfahnen-Stäbe mögen dabei Ultraspecial-interest sein. Aber wer weiß, mit welcher Vehemenz Vereine wie Hoffenheim oder RB Leipzig in den Fanforen von Rostock bis Burghausen angefeindet werden – als vermeintliche Stellvertreter des modernen Fußballs, der meint, auch ohne gewachsene Fanbasis auskommen zu können – ahnt, wie stark Ultras auch als lautstärkste Gruppe im Stadion das artikulieren, was fast alle im Stadion denken. Mancher Vereinsvertreter würde sich wohl wundern, wie negativ das Bild des „offiziellen“ Fußballs in den Stadien längst nicht nur bei den Ultras ist.
Michael Gabriel von der sozialpädagogisch orientierten Koordinierungsstelle der Fanprojekte kommt jedenfalls zu einem bedenklichen Urteil. Die Vereine hätten mehrheitlich keinen blassen Schimmer, wie die Fans in der Kurve ticken. „Sie müssen auf die Fans zugehen und sie so pflegen, wie sie das mit den Sponsoren tun“, fordert er. Ultras schlügen schließlich auch deshalb über die Stränge, weil sie den Eindruck hätten, dass ihr Engagement und ihre Kreativität von den Vereinen nicht honoriert würden.
Das mit dem Aufeinander-Zugehen ist allerdings so eine Sache. Zwar erkennen immer mehr Ultras, dass sie sich selbst schaden, wenn sie ihre Sicht der Dinge nicht im Dialog vertreten. Doch die Front der Verweigerer ist immer noch groß. Für viele von ihnen ist „Ultra“ vor allem Widerstand, jeder Kompromiss deshalb Verrat. Deshalb schotten sie sich ab wie Geheimlogen. Wer die Hardliner reden hört, stößt zuweilen auf ein schlichtes Weltbild, in dem Polizisten die prügelwütigen, sadistischen Schergen eines faschistoiden Überwachungsstaates sind – und Journalisten jedweder Couleur deren Hofberichterstatter, die, ohne zu recherchieren, Polizeiberichte abschreiben.
„Ultra“, und das betonen wiederum alle in der Szene, bedeute weit mehr, als einfach nur Fan eines Vereins zu sein. Das Ganze sei ein Lebensstil, mit dem man Erfahrungen mache, die zwangsläufig auf alle gesellschaftlichen Bereiche Auswirkungen haben. Wer im Stadion keinen Schritt machen könne, ohne von einer Kamera gefilmt zu werden, müsse als Ultra auch gegen die Überwachungskameras auf dem Marktplatz sein. Begriffe und Codes wie „Autonomie“, „Widerstand“ oder das allgegenwärtige „ACAB“ („All cops are bastards“) wabern durch den Raum, wenn Ultras über ihren Alltag reden.
Dementsprechend martialisch geben sich manche Teile der Szene. Schwarze Kleidung wird bevorzugt, auch Sonnenbrillen und Palästinensertücher sind beliebt. Die Mimikri, sagen die Ultras, soll die Identifizierung durch die Überwachungskameras der Polizei erschweren. Es komme schließlich vor, dass Ultras allein deswegen Stadionverbot bekommen, weil sie einen Sticker auf einen Wellenbrecher geklebt haben. Das Outfit dient aber auch der Selbstdarstellung als Bürgerschreck. Wenn Passanten beim Nahen eines Ultra-Pulks verschreckt die Straßenseite wechseln, fühlen sie sich bestätigt.
Ob Gewalt zur Ultra-Identität gehört, ist zwischen den Gruppen umstritten. Die erste Ultra-Generation hatte mit Schlägereien noch wenig am Hut. Zwischen ihnen und den Hooligans, den Fußball-Gewalttätern, gab es in den Anfangstagen kulturell keine Berührungspunkte. Das hat sich bei einem Teil der Ultras gründlich geändert. Prügeleien mit rivalisierenden Gruppen oder der Polizei gehören für diese Gruppen zum Spieltagsmenü. Mancherorts hat sich die Gewaltspirale auch schon bis zum Anschlag gedreht. In erschreckend vielen Städten berichten Ultras, dass sogenannte Hausbesuche in ihren Städten vorkommen: Anhänger der rivalisierenden Gruppen werden in deren Privatwohnung heimgesucht, dort bedroht oder gleich zusammengeschlagen. Doch die Hochzeit der „Hausbesuche“ scheint Gott sei Dank vorbei zu sein.
Wohlgemerkt: Diese Gewaltexzesse sind Randerscheinungen einer Ultra-Kultur, die zwar fast in ihrer Gänze gewaltfasziniert ist, von der aber nur eine Minderheit selbst gewalttätig ist. Dass diese Feststellung im krassen Gegensatz zur öffentlichen Wahrnehmung steht, hat tatsächlich auch mit manch grotesk überzeichnetem Fernsehbericht zu tun. Und damit, dass seit der Fußball-WM 2006 der Hype um den Fußball einfach nicht abklingen will.
Zu Hochzeiten des Hooliganismus in den achtziger und neunziger Jahren bevölkerten mancherorts mehrere hundert Gewalttäter die Stadien und gelangten zum Teil mit Messern und anderen Waffen auf die Tribünen. Nicht selten wurde mit Leuchtspurmunition in den gegnerischen Fanblock gezielt, Massenschlägereien waren an der Tagesordnung.
Früher war also nicht alles besser – im Gegenteil. Doch heute gelangt jede noch so kleine Schubserei ins Internet, tausendfach kommentiert und nicht selten von denjenigen gepostet, die sich nachher über die vermeintliche Hysterie aufregen. Auch Ultras filmen und fotografieren jede Minute ihres Daseins wie selbstverliebte Schauspieler, sie sind Kinder ihrer Zeit, Junkies des hyperventilierenden Internetzeitalters.
Und dennoch: Verglichen mit den achtziger und frühen neunziger Jahren, geht es beim Fußball heutzutage geradezu idyllisch zu – auch wenn das außerhalb der Fußballszene ganz anders wahrgenommen wird. Ultras stehen allerdings nicht nur gegenüber der kritischen Öffentlichkeit unter Rechtfertigungsdruck, sondern in vielen Städten auch gegenüber Teilen der Fanszene. Dabei haben die Ultras mit einem Hinweis recht: Als sie das Kommando in den Fankurven übernahmen, gab es weder Tote noch Verletzte: Junge, engagierte Leute stießen in das Vakuum, das dort entstanden war. Was sie vorhatten, beobachteten auch viele Ältere mit Wohlwollen. Denn Jungen wie Alten war klar, dass etwas Neues kommen musste, dass die traditionelle Fankultur in Langeweile erstarrt war und sich in immer mehr Stadien eine träge Masse dem Anpfiff entgegenlangweilte. Zugleich dienten die Fans auf den Rängen einer immer dreister werdenden Entertainment-Industrie mit Cheerleadern und Dauer-Werbejingles nur noch als Staffage („Und jetzt die Nordkurve …“). Seit die Ultras auch zahlenmäßig zu einem wichtigen Machtfaktor geworden sind, überlegen sich die Marketingabteilungen der meisten Vereine ganz genau, was sie ihrem Publikum noch zumuten wollen. Denn sie ahnen, dass sie ihm nicht alles zumuten können. Die Ultras haben es ihnen beigebracht. Und spätestens seit der „12:12“-Kampagne, mit der die bundesdeutsche Ultra-Szene ihren Widerstand gegen ein von den Vereinen geplantes Sicherheitskonzept bündelte und damit auch in den Medien viel Wohlwollen erntete, werden Ultras auch als politische Akteure ernst genommen.
Auch mit ihrer Kommerzkritik haben die Ultras viele Forderungen der kritischen Fanszene übernommen und modernisiert, sie sprechen vieles aus, was den meisten im Stadion aus der Seele spricht. Und solange das so ist, wird es nicht gelingen, „die normalen Fans“ gegen „die Ultras“ auszuspielen, wie das der eine oder andere Vereinsfunktionär schon probiert hat. Sie kalkulieren dabei mit ein, dass Ultras ja durchaus Dinge tun, die dem Mehrheitswillen im Stadion zuwiderlaufen. Wenn zwei Minuten vor Abpfiff in einem hochdramatischen Spiel die Gästekurve meint, mit Licht und Rauch auf sich aufmerksam machen zu müssen, stößt das bei 90 Prozent der zahlenden Zuschauer bestenfalls auf Unverständnis, und wenn die 60 Quadratmeter große Schwenkfahne Hunderten von Menschen die Sicht aufs Spielfeld versperrt, wird der friedlichste Familienvater zum Berserker.
Dass „die Ultras“ ein Ärgernis sind, hört man jedenfalls in manch einem Stadion – und zwar von den gleichen Leuten, die ehrlicherweise zugeben, dass ohne „die Ultras“ gleich gar nichts mehr los wäre.
Dabei gibt es „den Ultra“ tatsächlich nicht. Jede Gruppe interpretiert die Erfordernisse der Szenezugehörigkeit anders. Und das von der Gewaltfrage über die Organisationsstruktur bis zur politischen Orientierung. Wenn kein Außenstehender zuhört, kann es vorkommen, dass die einen den anderen absprechen, echte Ultras zu sein. Was als Vorwurf dann natürlich gleich zurückgegeben wird. Es gibt Gruppen, die eine hierarchische Struktur haben. Wer als Jungspund zur Gruppe stößt, stellt sich erst einmal hinten an. Bei anderen Gruppen herrscht strikte Basisdemokratie, sie spotten über das „Führerprinzip“. Und auch über die Art und Weise, wie Ultra-Anfeuerung heutzutage zu klingen habe, wird munter gestritten. Dass die dann getroffenen Entscheidungen von allen mitgetragen werden, kann man bedenklich finden, oder bemerkenswert solidarisch. Es ist wohl beides.
Philipp Köster, Chefredakteur des Fußball-Magazins „11 Freunde“, hat die von Ultras praktizierte Form des Dauer-Supports in einem Leitartikel einmal mit nordkoreanischen Massenaufläufen verglichen. Damit sprach er vielen älteren Fußballfans aus der Seele, die die jugendliche „Stimmungsdiktatur“ anprangern. Sie verstehen nicht, warum die Atmosphäre in der Kurve so prächtig ist, wenn die eigene Mannschaft kurz vor Schluss 0:4 zurückliegt. Allerdings sitzt diese Kritik einem Missverständnis auf: Ultras bejubeln ja nicht die eigenen Spieler, sie wollen stattdessen „dem Verein“ (was auch immer das sein mag, es hat für Ultras viel mit dessen Tradition zu tun) durch ihren Support ein Denkmal setzen. Das klingt für ältere Semester befremdlich, die als Kinder Autogramme gesammelt haben und den Schützen des 1:0-Tores beim Derbysieg hochleben ließen. Beides würden Ultras eher nicht tun. Warum sollten sie einem Spieler zujubeln, der schon morgen, ohne mit der Wimper zu zucken, zu einem Verein wechseln würde, der ihm den größeren Dienstwagen in die Garage stellt?
Dieses Kosten-Nutzen-Denken unterstellen Ultras zumindest den meisten Vertretern der heutigen Spielergeneration, weshalb Profis wie Kevin Großkreutz, dessen Liebe zu Borussia Dortmund wohl selbst der eingefleischteste Schalker als aufrichtig interpretieren würde, auch szeneübergreifend als Ausnahmeerscheinungen wahrgenommen werden. Was – viel Feind, viel Ehr – natürlich auf Schalke dazu führt, dass er dort besonders lautstark angefeindet wird.
Ultras denken anders. Sie drücken sich auch anders aus. Wenn ein Dortmunder Ultra sagt, dass „Schalke heute gut war“, kann der BVB gegen eine grottenschlechte Schalker Mannschaft 8:0 gewonnen haben. Unser Ultra meint mit seinem Lob die gegnerische Fankurve. Viele waren’s. Gute Choreografie, und gehört hat man sie in der gegenüberliegenden Kurve auch. Keine Frage: Schalke war gut.
Doch die Ultra-Bewegung sah sich zumindest bei ihren italienischen Gründern nicht als jubelnde Staffage, als dauer-emotionalisierte Jubelperser, sondern als kritische Gegenöffentlichkeit. Im Zuge der 68er-Umwälzungen machten in Bologna, Rom oder Mailand linksgerichtete Studenten die Fankurven zum selbstverwalteten gesellschaftlichen Experimentierfeld. Die noch heute typischen Ultra-Aktionsformen (Megafon, Doppelstockhalter, Transparente) entstammen dieser linken Demo-Subkultur genauso wie die Antihaltung gegen Polizei, Politik und Medien. Bis weit in die Neunziger waren dann auch viele italienische Ultra-Kurven linksgerichtet – nicht zuletzt die des AC Milan, deren „brigate rossenere“ (rotschwarze Brigaden) nicht zufällig sowohl auf die Vereinsfarben als auch auf die politische Gesinnung verwiesen.
Hierzulande gibt es einige wenige Gruppen, die kein Problem damit zu haben scheinen, dass sich Neonazis in ihrer Mitte tummeln. Es gibt aber weitaus mehr, die sich als Linke begreifen. Und es gibt die große Masse an Gruppen, die sich als „unpolitisch“ verstehen, aber keine rechte Agitation in ihrer Mitte dulden. Wenn rassistische Pöbeleien, wie sie Mario Balotelli in Italien ertragen muss, hierzulande kaum noch zu hören sind, liegt das auch an der Dominanz der Ultra-Szenen, die ihr Fandasein mit einer ungeheuren Energie betreiben.
Die Ultra-Szene begreift sich als Subkultur und verhält sich dementsprechend. Man mag die Geheimnistuerei und die Abschottungsrituale merkwürdig finden. Und wenn man älter als 25 ist, findet man sie geradezu zwangsläufig merkwürdig – auch weil sich der Stellenwert des Fußballs in ihrem Leben für die meisten Menschen mit zunehmendem Alter eher relativiert. Bei den Ultras gibt es nichts zu relativieren: Der Fußball ist ihnen im Zweifelsfall wichtiger als Beruf, Ausbildung oder Privatleben. Wer einen x-beliebigen Ultra fragt, ob er noch Freunde außerhalb der Fußball-Zusammenhänge habe, erntet recht oft ein betretenes Kopfschütteln. Wer fragt, ob schon mal eine Beziehung zerbrochen sei, weil die Partnerin die Prioritätensetzung eines Ultras nicht immer nachvollziehen konnte, erntet oft die Gegenfrage: „EINE Beziehung?“
All das mag befremden. Wenn man sich allerdings daran erinnert, wie man selbst als Jugendlicher war, erscheint der Ultra-Lifestyle mit einem Mal gar nicht mehr so fremd. Oder wäre es einem selbst wichtig gewesen, die Elterngeneration immer und überall über das eigene Tun zu unterrichten? Um Verständnis zu betteln, die Akzeptanz der Spießer, vielleicht auch nur die der rot-grünen Sozialpädagogen, Lehrer und Journalisten zu erlangen? Eben.
Heute ist „Ultra“ nicht nur nach Einschätzung des Leiters der Koordinierungsstelle der Fanprojekte, Michael Gabriel, die „attraktivste jugendliche Subkultur, die es in Deutschland gibt“, mindestens 25.000 gibt es bundesweit, deren Engagement selbst von ihren größten Kritikern nicht bestritten wird.
Auch der eigentlich ausgesprochen demokratische Ansatz, sich bei dem, was einen angeht, einzumischen, stößt bei vielen traditionellen Fans und bei den Offiziellen auf Skepsis. Kein Wunder: Für die Vereinsbosse waren sowohl die Kuttenfans als auch die Hools vergleichsweise unkomplizierte Zeitgenossen. Sie stellten keine unbequemen Forderungen. Und wenn die Fanschal-Fraktion doch mal unzufrieden war, schickte man eben mal einen Spieler zur Autogrammstunde in die Vorstadt. Und schon war wieder Ruhe. Seit die Ultras das Kommando in den Fankurven übernommen haben, ist es vorbei mit der Ruhe. Das muss man nicht negativ finden.
Man kennt das Lamento älterer Herrschaften um die 40: Die Jugend von heute ist langweilig, angepasst und unselbstständig. Es gibt keine alternativen Jugendlichen mehr, nur noch Deppen, die den Superstar suchen. Keine kritischen jungen Leute mehr?
Hier sind sie doch. Mitten in München haben sich die Ultras von der „Schickeria“ getroffen. Passenderweise im Café Marat, einem typischen autonomen Jugendzentrum, in dem auch 40- oder gar 50-Jährigen das Herz aufgeht. Vielleicht liegt es daran, dass auch so viele langgediente Fansozialarbeiter gekommen sind, Volker Goll und Michael Gabriel beispielsweise, oder Günther Krause, der langjährige Leiter des Münchner Fanprojekts. Zum Thema „Die italienischen Ultras und der Rechtsradikalismus – ein Gesprächsabend“ ist ein kompetentes Podium geladen, darunter der Publizist Andrej Reisin, Jonas Gabler und Kai Tippmann, der Experte schlechthin, wenn es um italienische Fanthemen geht.
Schon nachmittags haben sich die ersten Ultras hier getroffen, haben Bruschette belegt, Pasta und Risotto vorbereitet und Stühle zusammengeschoben. Der „italienische Abend“ will vorbereitet sein. Simon, der in zwei Stunden einen der Referenten am Bahnhof abholen muss, nimmt sich dennoch die Zeit, um seine Gedanken über die deutsche Ultra-Szene darzulegen. „Die Leute, die Ultra Anfang der Neunziger aus Italien importiert haben, haben nur an der Oberfläche gekratzt“, findet er. „Die haben nur die Folklore übernommen, die Pyrotechnik, die Art des Supports, die Doppelstockhalter, ohne zu verstehen, was dahinter abläuft.“ Nicht ohne Stolz schiebt er nach, dass es Münchner Allesfahrer gewesen seien, die damals Elemente von Ultra nach Deutschland gebracht haben. „Zu der Zeit war München Vorreiter.“