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Die berührende wahre Geschichte einer
außergewöhnlichen Freundschaft
Eine Reihe von Schicksalsschlägen hat dazu geführt, dass John Dolan auf der Straße lebt und sich mit Betteln über Wasser hält. Doch durch den Bullterrier George, der sein Zuhause verloren hat, ändert sich alles. Denn die Verantwortung für den Hund bringt John dazu, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Während die beiden jeden Tag an einer Londoner Straßenkreuzung sitzen und auf ein paar Münzen von Passanten hoffen, beginnt John nach langer Zeit wieder zu zeichnen. Ein aufmerksam gewordener Galerist bietet ihm die Mitarbeit an einem außergewöhnlichen Street-Art-Projekt an. Die daraus resultierende Ausstellung wird nicht nur ein großer Erfolg, sondern auch zum Wendepunkt im Leben von John und George.
Eine herzerwärmende, ehrlich erzählte Geschichte über Verantwortung, Freundschaft und einen überraschenden Neuanfang.
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Seitenzahl: 300
John Dolan
Der Hund, der mir das Leben rettete
Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet
C. Bertelsmann
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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »John & George. The Dog Who Changed My Life« im Verlag Century, London.
1. Auflage
Copyright © 2014 by John Dolan
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015
beim C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlag: Buxdesign, München
ISBN 978-3-641-15999-3
www.cbertelsmann.de
In liebender Erinnerung an Gerry und Dot Ryan sowie Les Roberts
Für George, den Hund
Prolog
»Na, was meinst du, John, wie viel hab ich heute für dich eingenommen?« Griff grinste bis über beide Ohren.
»Keine Ahnung«, erwiderte ich achselzuckend. »Einen Zehner?«
Ich saß auf dem Bürgersteig der Shoreditch High Street und zeichnete die Häuser in der Umgebung, so wie ich es jeden Tag in den vergangenen drei Jahren gemacht hatte.
Meine Finger waren taub vor Kälte, und ich überlegte, ob ich mir eine warme Tasse Tee und ein Sandwich leisten konnte.
Wie immer saß George in seiner Jacke neben mir und hatte einen Pappbecher vor sich stehen, in den die Passanten Kleingeld werfen konnten.
»Nein, John, mehr als einen Zehner.«
Das hörte ich gern. Im Becher lagen bloß ein paar Pfund, eine Handvoll Silbergeld, ein paar Kupfermünzen, obwohl wir schon seit gut zwei Stunden auf der Straße hockten. Griff musste also mehr rangeschafft haben als George und ich den ganzen Tag.
»Einen Hunderter?«, sagte ich, halb im Spaß.
»Nein. Nächster Versuch.«
Griff war ganz hibbelig. Ich spürte, dass er schier platzte vor Aufregung, wollte mich davon aber nicht kriegen lassen.
»Woher zum Teufel soll ich das wissen? Fünfhundert?«
»Mehr.«
»Tausend?«
»Mehr.«
Jetzt griff seine Aufregung auch auf mich über.
»Nun sag schon!«
»John, wir reden von einigen Tausenden.«
»Das ist kein Witz, oder? Was soll das heißen, einige Tausende?«
»Fünfzehntausend Pfund … das soll das heißen, um genau zu sein.«
Mit einem Satz war ich auf den Beinen, lachte und kratzte mir ungläubig den Kopf.
»Echt wahr? Du hast fünfzehntausend Pfund eingenommen? Heute? Wie hast du das gemacht?«
»Ich hab fünf Zeichnungen von dir verkauft. Eine allein hat fünf Riesen gebracht.«
Griff sagte bestimmt die Wahrheit, trotzdem wollte es mir nicht so recht in den Kopf, jedenfalls nicht gleich. So tolle Sachen passierten mir einfach nicht.
»Griff, lüg mich nicht an, sonst …«
»John, es stimmt, wirklich. Fünf Zeichnungen sind verkauft. Für insgesamt fünfzehntausend Pfund.«
George saß wie immer stolz und reglos vor mir, hatte die Vorderbeine ausgestreckt und den Kopf erhoben. Er schnupperte, sah mich erwartungsvoll an und wartete auf mein Kommando.
»Komm her, George! Komm her, mein Junge!«
Er sprang auf und schob mir den Kopf in die ausgestreckten Hände, nachdem ich in die Hocke gegangen war.
»Hast du das gehört, George? Fünfzehn Riesen! Ich werde reich sein.«
Ich hatte Todesängste ausgestanden, bald ohne Dach über dem Kopf dazustehen, aber in dieser Sekunde war alles wie weggeblasen. Ich konnte es einfach nicht glauben.
Und George wahrscheinlich auch nicht. Er spitzte die Ohren und legte den Kopf schief, wie er es immer tat, wenn er aufmerksam zuhörte. Er hatte die Schnauze zu einem zufriedenen Grinsen geschlossen, seine Augen glänzten.
»Und wann bekomme ich meinen Anteil?«, hätte er bestimmt gesagt, wenn er gekonnt hätte. Er ist nämlich ein vorwitziger kleiner Scheißer. »Im Ernst, Kumpel, ich freu mich für dich«, hätte er noch angefügt – bilde ich mir wenigstens ein. »Du hast es dir ja auch verdient. Aber vergiss nicht, wem du dein Glück zu verdanken hast …«
Das war im Frühjahr 2013. Ich war einundvierzig Jahre alt, und der Verkauf der Bilder war erst der zweite Glücksfall in meinem ganzen Leben.
Der erste, wirklich großartige Glücksfall war George, den ich ein paar Jahre zuvor kennengelernt hatte. Damals wusste ich das noch nicht, aber der Hund würde mein Glücksbringer werden und meine Welt radikal auf den Kopf stellen.
Ohne George hätte ich nicht zum Stift gegriffen und wieder mit dem Zeichnen begonnen, nachdem ich jahrzehntelang mein Talent ungenutzt gelassen hatte; ohne George hätte ich nie Griff alias Richard Howard-Griffin kennengelernt, meinen Galeristen. Ich würde jetzt entweder in der Gosse liegen, im Knast sitzen oder mir die Radieschen von unten ansehen, und das ist mein voller Ernst.
Stattdessen habe ich seitdem mit einigen weltberühmten Streetart-Künstlern zusammengearbeitet, meine Bilder hängen von New York bis Moskau an den Wänden, und ich habe eine Londoner Ausstellung hinter mir, auf der sämtliche Zeichnungen verkauft wurden. Als ich George begegnete, steckte ich schon seit vielen Jahren in einem Teufelskreis aus Obdachlosigkeit, Kriminalität, Gefängnis, Depression und Drogen fest.
George war es, der diesen Kreislauf durchbrochen hat, und George hat den Künstler in mir dazu animiert, sich zu erheben und aus der Dunkelheit herauszutreten.
Keine geringe Leistung für einen jungen Staffordshire-Bullterrier, besonders für einen, dessen Leben vor unserem Kennenlernen auch nicht gerade rosig gewesen war. George ist meine ganze Welt. Ich liebe ihn über alles, und das hier ist die Geschichte, wie er mein Leben verändert hat.
1
Es war im Winter 2009, als George in mein Leben trat. Ich wohnte in einem möblierten Zimmer einer Sozialwohnung in der Royal Mint Street. Unten gab es einen Zeitungsladen, um die Ecke lag gleich der Tower, und ich lebte dort mit einigen Unterbrechungen seit etwa zwei Jahren; das war das Beste, was sich aus dieser Zeit sagen lässt. Ansonsten hatte ich mit so ziemlich allem in meinem Leben zu kämpfen: Ich hatte keine Arbeit, kein Einkommen, und ich kriegte meine Drogensucht nicht in den Griff. Das Einzige, was ich hatte, war das Zimmer. Ich war oft genug obdachlos gewesen, um zu wissen, wie es ist, wenn man draußen schläft, daher schätzte ich mich glücklich, eine feste Bleibe zu haben. In meiner Kindheit hat meine Mutter Dot mir beigebracht, dass Nächstenliebe zu Hause beginnt, also nahm ich manchmal für eine oder zwei Nächte andere bei mir auf, die ich auf der Straße aufgegabelt hatte und denen es noch elender ging als mir. So traf ich auf Becky und Sam.
Ich begegnete ihnen vor der U-Bahn-Station Tower Hill. Sie waren ein nettes junges Pärchen Anfang zwanzig, sie bettelten, und wie die meisten Obdachlosen vermittelten sie den Eindruck, als hätten sie von allem die Schnauze voll und bräuchten unbedingt mal eine Verschnaufpause. Sie hatten einen Schäferhund, der mich ein bisschen an den Hund aus meiner Jugend erinnerte, und so kamen wir ins Gespräch. Im Lauf des nächsten Monats lernte ich die beiden ziemlich gut kennen, weil ich nämlich selbst bettelte – auch wenn ich mich schäme, das einzugestehen. Ich wusste einfach nicht, was ich sonst machen sollte. Anderen gegenüber sagte ich, ich befände mich in einer »finanziellen Notlage«, aber es war viel schlimmer. Ich war völlig abgebrannt und wusste mir nicht mehr anders zu helfen, als mit der Mütze in der Hand Passanten anzusprechen, ob sie für einen hoffnungslosen Typen wie mich nicht ein bisschen Kleingeld übrig hätten. Jedenfalls versuchten wir drei uns gegenseitig aufzubauen, wenn wir uns über den Weg liefen, besorgten uns einen Becher Tee gegen die Kälte oder erzählten uns, was wir mit unseren Mitmenschen und Kunden so erlebten.
»Da war einer, der hat gemeint, ich hätte ein nettes Lächeln, und deswegen hat er mir einen Fünfer gegeben und gesagt, das bisschen Glück hätte ich mir verdient«, erzählte Becky dann.
»Mich hat so ein schrulliger Opa angepöbelt, ich sei eine Schande für die ganze Menschheit, und am besten wäre es, wenn ich mich gleich unter einen Bus werfen würde«, witzelte ich, obwohl das von der Wahrheit nicht so weit entfernt war. Entweder man lachte darüber, oder man gab sich gleich die Kugel.
Es ging auf Dezember zu, und allmählich wurde es richtig kalt. Ich wusste aus eigener Erfahrung, wie schlimm es zu dieser Jahreszeit auf der Straße ist, also bot ich Becky und Sam an, dass sie, wenn sie wollten, für eine Weile bei mir bleiben könnten. Sie lebten seit etwa zwei Jahren draußen und gingen auf das Angebot erwartungsgemäß sofort ein, auch wenn ich sie warnte, dass mein Zimmer definitiv nicht das Ritz war. Es war kalt, muffig und so klein, dass neben meinem Schlafsofa kaum noch Platz blieb. Aber sie waren dankbar und quetschten sich mit ihrem Schäferhund in der Mitte auf den Boden. Sie erzählten mir, sie hätten den Hund aus einer Obdachlosenunterkunft gerettet, wo sie mit angesehen hatten, wie jemand ihn halb totschlug. Ich war im Lauf der Jahre oft Zeuge sinnloser Gewaltausbrüche geworden und hatte, wenn ich so richtig unten war, auch selbst ordentlich Prügel bezogen.
»Da habt ihr beide eine gute Tat vollbracht«, sagte ich zu Becky. »Darum geht es doch im Leben.«
Einige Tage später kam Becky die Treppe zu meinem Zimmer hochgelaufen und fragte mich atemlos, ob es okay sei, wenn sie einen zweiten Hund mitbringe. Ich war ehrlich bestürzt. Als Obdachloser ist es wichtig, sich nicht allzu viel Verantwortung aufzuhalsen. Es war schon schwierig genug, die Kohle zu besorgen, damit man selbst über die Runden kam. Wie sollte man das noch mit zwei Hunden hinkriegen?
»Warum? Ist alles okay? Was ist passiert?«, fragte ich.
»Na ja, ist eine komische Geschichte«, antwortete sie, als sie langsam wieder zu Atem kam.
Es stellte sich heraus, dass ein betrunkener Schotte vor der U-Bahn-Station auf Becky zugewankt war und sie gefragt hatte, ob sie ihm nicht seinen Hund abkaufen möchte.
»Wie viel willst du für ihn haben?«
»So viel wie für eine Dose Starkbier – mehr nicht.«
»Du hast sie doch nicht mehr alle!«, antwortete Becky. »Du kannst deinen Hund doch nicht für eine Dose Bier verkaufen!«
Sie sah zum Hund, der friedlich neben dem Schotten saß und so tat, als würde er sich seinen Teil denken. Es war ein junges, schönes und äußerst wachsames Tier, und es war wirklich eine Riesenschweinerei, wenn man es für den Preis einer Dose Bier hergab – egal, ob es sich nun um Starkbier oder um normales handelte. Wenn der Schotte allerdings meinte, mehr wäre der Hund nicht wert, dann hatte er den Hund auch nicht verdient. Also leerte sie ihre Taschen und sah nach, wie viel Geld sie bei sich hatte.
»Ich sag dir was, ich geb dir zwanzig Pfund. Nimm sie, aber lass dich hier nicht mehr blicken, verstanden?«
»Aye, verstanden«, erwiderte er und zählte die Kohle nach. »Übrigens, er heißt George.«
Der Schotte torkelte davon, Becky hielt George an der abgewetzten Leine, fragte sich, was um Himmels willen sie da jetzt geritten hatte, und hoffte, dass ich nichts dagegen haben würde, ihn auch noch bei mir aufzunehmen.
»Warum nicht?«, sagte ich, nachdem ich mir die Geschichte angehört hatte. »Klingt ja so, als hätte er auch mal eine Verschnaufpause nötig. Los, hol ihn schon.«
Becky kehrte um, und zwei Minuten später ging erneut die Tür auf, und George trabte herein. Ich war überrascht, was für ein schöner Hund er war. Hunde von Obdachlosen werden nicht immer gut versorgt, manchmal geben sie ein eher trauriges Bild ab. Obwohl er ein wenig nervös wirkte, war sein Temperament sofort zu spüren. Der dunkle Fleck um das linke Auge, seine Ohren, von denen eines schwarz, das andere weiß war, verliehen ihm etwas sehr Niedliches. Eines der Ohren hatte noch dazu einen Knick, möglicherweise Folge eines Kampfes, aber er war unbestreitbar ein wunderschöner Hund.
»Für eine Dose Starkbier?«, wunderte ich mich. »Der Typ muss ein verdammter Arsch sein!«
Ich streichelte George über den Kopf und begrüßte ihn mit einem »Hallo«, ließ ihn aber ansonsten in Ruhe, weil er nervös und unruhig wirkte. Übel nehmen konnte man es ihm nicht. Es musste für ihn ganz schön hart sein, sich mit neuen Besitzern in einer völlig fremden Wohnung wiederzufinden. Und weiß der Himmel, welches Leben er bei dem Schotten vorher gehabt hatte.
»Wie lang hatte ihn dieser Kerl?«, fragte ich.
Becky zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich glaube aber, dass George noch nicht sehr alt ist.«
Ich stimmte zu. Er war kein Welpe mehr, aber er sah mir auch nicht älter aus als – sagen wir – anderthalb Jahre.
George saß mucksmäuschenstill auf dem Boden und lauschte und beobachtete alles. Sein Blick war immer auf denjenigen gerichtet, der gerade redete, und beim geringsten Geräusch von draußen spitzte er die Ohren. Er war ganz offensichtlich auf der Hut, trotzdem schien eine große Ruhe von ihm auszugehen. Er hatte etwas Hypnotisches an sich. Ich mochte ihn vom Fleck weg.
Fühl dich wie zu Hause.
»Kannst du für ein paar Stunden auf George aufpassen?«, fragte Becky zwei Tage später. »Es ist wirklich wichtig, sonst würde ich dich nicht damit behelligen.«
Sie und Sam hatten einen Termin bei einem Sozialarbeiter, der sich bemühte, sie von der Straße zu holen. Becky meinte, sie wollten dort nicht mit zwei Hunden aufkreuzen. Ihr Schäferhund wich ihnen nicht von der Seite, wie ich wusste, und ich war froh, wenn ich ihnen aushelfen konnte. In den wenigen Tagen, in denen ich George mittlerweile kannte, hatte er sich ganz großartig verhalten. Er bellte so gut wie nie, und sein entspanntes Wesen hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Er stellte sich als ein äußerst willkommener Gast heraus.
»Wird mir eine Freude sein«, sagte ich. »Du bist ein guter Junge, was, George?«
Er sah mich an und legte den Kopf schief. Ich machte mir keine Gedanken darüber, dass ich vielleicht irgendwelche Probleme mit ihm haben würde. Eigentlich machte ich mir über gar nichts Gedanken.
Becky und Sam waren eine Ewigkeit weg. Irgendwann fütterte ich George mit der halben Dose Hundefutter von Tesco, die sie neben dem Wasserkocher hatten stehen lassen, und gab ihm was zu trinken. Es mochte zwar verdammt lange her gewesen sein, dass ich mich um einen Hund gekümmert hatte, aber sogar mir fiel ein, dass ich mit ihm irgendwann raus musste, falls die beiden in absehbarer Zeit nicht zurückkamen. Ich wartete bis zum Einbruch der Dämmerung, dann gab ich mich geschlagen. Es war George anzusehen, wie sehr er sich langweilte; es war nicht richtig, einen jungen Hund wie ihn so lange in einer winzigen Wohnung schmoren zu lassen. George war aufgeregt, als ich ihm endlich die Leine anlegte, und als ich die Tür aufmachte, schoss er davon und zog mich die Treppe hinunter wie ein Husky seinen Schlitten.
Unten auf der Straße nahm ich die Leine fest in die Hand und marschierte mit ihm um den Block. Sorgen machte mir nur mein schwacher arthritischer Knöchel; wenn George fest genug zog, konnte er mich leicht umwerfen. Aber davon wollte ich mich nicht kirre machen lassen, stattdessen genoss ich einfach den Ausflug und dachte mir, wie gut es mir tat, mal wieder einen Hund auszuführen. Es musste fünfzehn Jahre her gewesen sein, dass ich so etwas das letzte Mal gemacht hatte. Tatsächlich kam es mir so vor, als würde ich zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren nicht bloß sinnlos herumzulatschen, sondern etwas Gutes und Sinnvolles tun.
Während wir so durch den Park liefen, dachte ich zurück an meine Kindheit, in der ich mit meinem Hund Butch, einer wunderbaren schwarzen Promenadenmischung, in ganz London unterwegs gewesen war. Was hatte ich damals für Zukunftspläne! Wie verdammt lange war das her, und wie sehr hatte ich mein Leben seitdem gegen die Wand gefahren.
»Es läuft nicht immer alles so, wie man es sich vorstellt, was, Kumpel?«, sagte ich zu George, der sich plötzlich umdrehte und mir die Hand abschleckte.
»He, benimm dich!«, sagte ich. »Was soll das denn?«
Er rieb seine Schnauze an meinem Bein, und sofort hatte ich bessere Laune. Es war, als wollte er sich für den Auslauf und meine Fürsorge bedanken. Was nicht nötig gewesen wäre. Wegen ihm war ich doch überhaupt draußen und machte einen Spaziergang an der frischen Luft, statt in meiner erbärmlich kleinen Bude zu versauern, wo ich nur über Mittel und Wege nachdachte, wie ich meine Situation vergessen konnte. Ich musste ihm mindestens ebenso dankbar sein wie er mir.
Trotzdem war mir nicht ganz wohl bei der Sache. Ich war es nicht gewohnt, Verantwortung zu übernehmen – außerdem war es verteufelt lange her, dass ich einen Hund versorgt hatte. Als wir den Rückweg antraten, legte George den Kopf schief und sah mich eindringlich an, als wollte er mich von oben bis unten mustern. Ich hatte das Gefühl, dass ich ihm etwas sagen, dass ich ihm auf die Frage in seinem Blick antworten musste.
»Junge, bei mir passiert dir nichts«, sagte ich schließlich. »Mach ruhig ein Nickerchen, du musst dir um nichts Sorgen machen.«
Er runzelte die Stirn und sah mich träge an. Ich ließ mich auf einer Bank nieder, George legte sich zu meinen Füßen hin, und ich griff mir eine alte Ausgabe des Evening Standard, blätterte sie durch und blieb an einem Artikel über die vorgesehenen Sozialkürzungen hängen. Einer der vielen Gründe für meine Lage waren die gekürzten Sozialleistungen. Sicher, das war nicht alles – ich hatte schon auch meinen gehörigen Anteil daran –, trotzdem trug das dazu bei, warum ich mich bettelnd auf der Straße herumtrieb, obwohl das wirklich das Letzte war, was ich wollte. Ich musste unbedingt raus, weg davon, aufgrund meiner Vergangenheit und meiner Probleme aber war niemand, der noch richtig tickte, bereit, mir einen Job zu geben. Ich sah für mich keinen Ausweg aus dem tiefen Loch, das ich mir selbst gegraben hatte, und so hatte ich mich insgeheim schon mit der Tatsache abgefunden, dass sich an meinem Leben nicht mehr großartig etwas ändern würde. Wenn, dann würde es mit mir eher weiter bergab gehen.
Während ich den Artikel las, richtete sich George zwischen meinen Beinen auf und steckte seine Schnauze in die Zeitung. »Du neugieriger Mistkerl«, murmelte ich. Ich legte die Zeitung weg und kraulte ihm den Kopf, was er zu genießen schien. Zum ersten Mal sah ich ihn so richtig an. Ich schaute ihm tief in die Augen, und stolz erwiderte er den Blick. Zwischen uns schien eine Verbindung zu bestehen. Eine unergründliche Tiefe schien in seinen Augen zu liegen, eine Gelassenheit, und ich erinnere mich noch gut, wie in diesem Moment ein Gefühl der Ruhe über mich kam. Es war das erste Mal seit langer, langer Zeit, dass ich so etwas wie Frieden empfand.
Becky und Sam strahlten, als sie an diesem Tag in die Wohnung zurückkamen. Es war ihnen anzusehen, dass sie es kaum erwarten konnten, mir alles zu erzählen.
»Gute Neuigkeiten?«, fragte ich.
Sie freuten sich riesig, trotzdem klang Becky ziemlich nervös, als sie zu erzählen begann.
»Folgendes, John. Uns ist eine Wohnung angeboten worden, nur …« Sie sah zu George, der genau zuzuhören schien.
»Aber das ist doch fantastisch!«, unterbrach ich sie. »Herzlichen Glückwunsch!«
»Es gibt nur ein Problem.«
»Sag schon …«
»Wir können nur einen Hund mitnehmen.«
Ich sah zu George, der ruhig dasaß und auf den Boden starrte. Meine Güte, was tat er mir leid. Ich wusste nur zu gut, wie es sich anfühlt, wenn man nicht zu den Auserwählten gehört, sondern zurückbleiben muss. Mir war klar, dass sich Becky und Sam diese Chance auf eine eigene Bude nicht entgehen lassen konnten. Und natürlich würden sie ihren Schäferhund mitnehmen. George würde also derjenige sein, der übrig blieb.
»Keine Sorge, Kumpel«, sagte ich, ging zu George und kraulte ihm den Kopf. »So ein hübscher Bengel wie du findet sofort wieder eine Bleibe.«
»Äh«, kam es von Becky. Sie rieb sich nervös die Hände. »John, ich muss dich noch was fragen.«
»Ja?«
»Also, ich hab mir nämlich überlegt … vielleicht könntest du ihn ja nehmen. Was meinst du?«
Ich sah zu George, dachte an unseren Nachmittag im Park und wusste, dass es darauf nur eine Antwort gab.
»Klar. Er kann so lange bei mir bleiben, bis ihr was für ihn gefunden habt. Ich bin froh um ein bisschen Gesellschaft.«
Becky lächelte, aber sie war immer noch nicht fertig. »Ähm, ich meinte eigentlich nicht nur für eine Weile …« Ihr Blick huschte zwischen George und mir hin und her. »Ich meinte eigentlich, ob du ihn nicht ganz behalten willst. Ob du George nicht bei dir aufnehmen willst.«
Ich dachte, ich höre nicht richtig. Ich konnte mich nicht erinnern, wann mir das letzte Mal jemand etwas anvertraut hatte – und jetzt bot Becky mir an, dieses wunderbare Tier in Obhut zu nehmen.
»Ich? Du willst, dass ich ihn behalte?«, sagte ich mehr zu mir selbst.
»Ja … das heißt, wenn du ihn willst. Wir haben doch mitbekommen, wie du mit ihm umgehst. Du bist ein ehrlicher Typ, John. Sam und ich haben das von Anfang an gespürt. Wir wissen, dass du dich gut um ihn kümmern wirst, sonst hätten wir dich nicht gefragt.«
Wenn man, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, aufs Betteln angewiesen ist, bekommt man nicht oft Komplimente zu hören. Beckys Worte berührten mich daher zutiefst. Offensichtlich spürte sie, wie gut George und ich miteinander auskamen, und das gab mir das nötige Selbstvertrauen.
»Wirklich? Na, wenn du mir so Honig ums Maul schmierst, soll es mir recht sein!«
Und damit war die Sache entschieden. Ich klopfte mir auf die Oberschenkel. »Los, George! Komm her!«
Er erhob sich und trottete schwanzwedelnd auf mich zu.
»Was hab ich dir heute gesagt? Im Leben läuft es nicht immer so, wie man denkt, was, Kumpel?«
Becky und Sam zogen noch am selben Abend aus, deshalb kam ich erst sehr spät ins Bett. Damals schlief ich nicht besonders gut; nachdem ich aber mein Schlafsofa hergerichtet und George auf dem Boden untergebracht hatte, fiel ich relativ schnell in einen tiefen Schlaf. Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug, lag ich auf der Seite, und George hatte sich in meine Kniekehlen geschmiegt. Er war völlig entspannt, so, als wäre er es seit jeher gewohnt, sich zwischen meinen Beinen zusammenzurollen. Ich brauchte ein, zwei Minuten, bis ich richtig wach wurde, und mein erster Gedanke lautete: Worauf zum Teufel hab ich mich da eingelassen?
Das Selbstvertrauen vom Vortag war völlig verflogen. Ich war ein Wrack. Ich hatte keinen Job, ich hatte keine Kohle, ich hatte keine Ziele. Ich konnte mich noch nicht mal um mich selbst kümmern, geschweige denn um einen Hund. Und George war, verdammt noch mal, ein großer Hund. Das alles war der komplette Wahnsinn; ich würde es nie schaffen. Ich schloss die Augen und versuchte das Problem auszublenden. Ich hasste den Morgen, vor Mittag kam ich nie in den Gänge. Normalerweise ging mir nach dem Aufwachen nur durch den Kopf, wie ich den Tag überstehen sollte, wenn ich ihn denn überhaupt irgendwie rumbrachte. Mein Leben stand sowieso schon auf der Kippe, wenn ich mich jetzt auch noch um ein Haustier kümmern musste, könnte mich das vollends aus der Bahn werfen. Becky würde das verstehen. Wenn es also nicht anders ging, dann musste ich mich selbst um ein neues Zuhause für George umtun.
George rührte sich, er schob mir seine Schnauze ins Gesicht und zwang mich, erneut die Augen aufzuschlagen. Sein Gesicht war nur Zentimeter von meinem entfernt, und er atmete mir in der eiskalten Wohnung warme weiße Wölkchen ins Gesicht.
»Was willst du?«, fragte ich. »Was soll das?«
Seine braunen Augen glänzten. Er wirkte hellwach und aufgeregt – das genaue Gegenteil von dem, wie ich mich fühlte.
»Los, verschwinde! Ich steh ja gleich auf. Verschwinde!«
Ich griff nach meinem Handy und rief Jackie an, meine Schwester. Sie war die Einzige aus meiner Familie, zu der ich noch Kontakt hatte – auch wenn ich sie seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen hatte und zwischen unseren Gesprächen manchmal ein halbes oder dreiviertel Jahr lag.
»Was ist, John?«, fragte sie. Aus Erfahrung wusste sie, dass ich nur anrief, wenn ich in Schwierigkeiten steckte oder sie um einen Gefallen bitten wollte.
»Ich hab was Blödes gemacht.«
»Was du nicht sagst! Was ist es diesmal?«
Wahrscheinlich hing es ihr zum Hals raus, dass sie ihrem unfähigen kleinen Bruder ständig aushelfen musste, trotzdem war aus ihrer Stimme immer auch Mitgefühl herauszuhören.
»Ich hab jetzt einen Hund – dabei kann ich doch noch nicht mal auf mich selbst aufpassen!«
Jackie lachte. »Das ist jetzt ein Scherz, oder?«
»Das ist kein Scherz. Was soll ich machen?«
»Na ja, es gibt Schlimmeres. Wie heißt er?«
»George.«
Er hatte im Zimmer herumgeschnüffelt, als er aber jetzt seinen Namen hörte, kam er mit erwartungsvollem Blick angetrottet. Wahrscheinlich, fiel mir ein, musste er raus, während ich doch bloß weiterschlafen wollte, damit ich einen klaren Kopf bekam und mir die nächsten Schritte überlegen konnte.
»Wie ist er?«
»Wunderschön«, sagte ich rundheraus. »Er ist der schönste Hund, den du jemals gesehen hat, Jack.« George sprang wieder aufs Bett, schob sich an mich und schleckte mir übers Gesicht. »Hör zu, ich muss los. Der Hund fällt gerade über mich her. Wir reden später noch mal.«
Und zu George sagte ich: »Okay, schon verstanden.« Ich schob ihn weg. »Ich weiß, du willst raus. Okay, wenn du das willst, dann machen wir das, und dann überlegen wir uns, was wir als Nächstes tun …«
Damals war mir das nicht klar, aber in diesem Moment hatte ich eine Entscheidung getroffen, die letztlich mein ganzes Leben verändern sollte. Von jetzt an stand ich nicht erst nachmittags, sondern am Morgen auf und ging mit George Gassi, weil er das so brauchte, obwohl es wirklich nicht das war, worauf ich Lust hatte.
Gegen halb zehn machten wir uns also auf den Weg zu einem nahe gelegenen kleinen Park. Es war ein eiskalter Wintertag, aber die tief stehende Sonne strahlte. Ich hatte einen dicken Kopf, meine Augen brannten. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so früh die Wohnung verlassen hatte. Eine junge Mutter mit Kinderwagen, der wir auf dem Gehsteig entgegenkamen, machte einen großen Bogen um uns. Erst fragte ich mich, ob sie Angst vor einem Hund wie George hatte, bis mir einfiel, dass wahrscheinlich ich derjenige war, der ihr nicht ganz geheuer schien. Wegen der Kälte hatte ich es mir zur Angewohnheit gemacht, angezogen zu schlafen, außerdem wusch und rasierte ich mich nur ungern, weil es kein warmes Wasser gab. Daneben hatte ich im Lauf der letzten Jahre einige Zähne verloren, was meinem äußeren Erscheinungsbild alles andere als zuträglich war. Ich hatte schon seit einiger Zeit nicht mehr in den Spiegel gesehen, weil ich meinen eigenen Anblick nicht mehr ertrug. Und zu allem Elend roch ich auch wahrscheinlich nicht gerade nach Veilchen, was auf George ebenfalls zutraf. Ich konnte es ihr nicht übel nehmen, dass sie uns auswich. Mein Zustand war alles andere als gesellschaftstauglich, und sicherlich vermittelte ich nicht den Eindruck, als könnte ich auf einen Hund wie George aufpassen.
ENDE DER LESEPROBE