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Weshalb gehen Menschen einer Erwerbstätigkeit nach? Was verändert sich bei Ihnen, wenn sich die Arbeitsplatzsituation ändert? Wie beschreiben Menschen ihre Bindung an Organisationen? Sind die prognostizierten Änderungen der Arbeitswelt durch Industrie 4.0/5.0 wirklich neuartig? Diese Fragen werden anhand einer Einzelfallstudie zu Gerhard Gundermann untersucht. Grundlage bilden die Liedtexte der fünf Studioalben und seines letzten Live-Auftrittes, die eine Zeitspanne von 1988 bis 1998 abbilden. Gundermann war in diesen zehn Jahren seit langem erwerbstätig im Tagebau Spreetal-Nordost, wurde versetzt in den Tagebau Scheibe und begann nach der Entlassung eine Umschulung zum Tischler. Er hat in seinen Texten die eigene Erwerbsarbeit intensiv reflektiert. In dieser Untersuchung wird als theoretische Grundlage ein Bindungskonzept aus Sicht des Erwerbstätigen entwickelt. Die klassische Fragestellung wird dabei umgekehrt. Aus: Wie passt der Mensch am besten in die Organisation? wird: Wie passt die Organisation zum Menschen? Wie betrachtet und verändert der Mensch seine Arbeits- und Lebensumwelt? Welche Wirkungen generiert der Binnenkosmos Organisation-Mensch hin zum Individuum? Wie verändern sich Bedürfnisabbildungen und Verhalten, wenn sich die Arbeit ändert? Wofür entscheidet sich der Einzelne? Gerhard Gundermann hat sich in dieser Frage eindeutig positioniert. Sein reflexiver Entwicklungsprozess ist beispielhaft und nachvollziehbar. Damit zeigt sich der direkte Bezug zur Diskussion über die Zukunft der Arbeit. Erwerbsarbeit wird zu Arbeit und der Arbeitnehmer zur Ein-Personen-Organisation, auch im Angestelltenverhältnis. Das bedeutet tiefgreifende Veränderungen für alle Beteiligten im Wertschöpfungsprozess. Agile Unternehmen und Organisationen entwickeln künftig aus dem bisherigen Employer Branding ein neues Partnership Branding. Das wird eine Grundlage für ihren nachhaltigen Erfolg sein.
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Seitenzahl: 503
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H., RG. und A.
Falk Rodigast
Gerhard Gundermannüber Arbeit.
Eine qualitative Studie zur Bindungstheorie und den psychosozialen Funktionen der Erwerbsarbeit.
tredition
Falk Rodigast
Diplom-Kaufmann, M.Sc. Wirtschaftspsychologie
Mediator, Supervisor, Coach, Organisationsberater
www.falk-rodigast.de
Hinweise auf weitere Veröffentlichungen am Schluss dieses Buches.
© 2018 Falk Rodigast
Umschlaggestaltung, Titelbild, Inhalt: Falk Rodigast
Alle Liedtexte mit freundlicher Genehmigung von:
© Buschfunk Musikverlag / Erbengemeinschaft Linda und Cornelia Gundermann
BuschFunk Musikverlag GmbH, Rodenbergstraße 8, 10439 Berlin
Verlag & Druck: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-7469-5761-6
Hardcover
978-3-7469-5762-3
e-Book
978-3-7469-5763-0
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Die Theorie der wirtschaftlichen Wellen und Industrie 4.0
1.2 Auswirkungen auf den einzelnen Erwerbstätigen – Forschungsstand und Quellenlage
1.3 Vorgehen in der Untersuchung
2 Theoretischer Hintergrund
2.1 Arbeit und Erwerbsarbeit
2.1.1 Annäherung an die Begriffe Arbeit und Erwerbsarbeit
2.1.2 Erwerbsarbeit in dieser Untersuchung
2.2 Psychosoziale Funktionen der Erwerbsarbeit
2.2.1 Das Modell der psychosozialen Funktionen nach Marie Jahoda
2.2.2 Wirkung von Arbeit nach Semmer und Udris
2.2.3 Psychosoziale Funktionen in dieser Untersuchung
2.3 Bindungskonzept
2.3.1 Differenzierung verschiedener Konzepte
2.3.1.1 Abgrenzung zu Inhalts- und Prozesstheorien
2.3.1.2 Die Theorie der vier Bindungen nach Travis Hirschi
2.3.1.3 Organisational Bindungstheorien
2.3.2 Bindungskonzept in dieser Untersuchung
3 Design und Durchführung der Untersuchung
3.1 Die Wirkungen von Veränderungen der Erwerbsarbeit
3.2 Forschungsansatz
3.2.1 Prinzipien qualitativer Analyse und Einzelfalluntersuchung
3.2.2 Fallstudie Gerhard Gundermann
3.3 Durchführung der Untersuchung
3.3.3 Datenerhebung - Identifizierung der Fundstellen
3.3.2 Gewichtung der Fundstellen und Trennung nach den drei Phasen der Erwerbstätigkeit
3.3.3 Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring
3.3.4 Auswertung der Fundstellen
4 Ergebnisse der Untersuchung der Liedtexte
4.1 Erwerbsarbeit, psychosoziale Funktionen und Bindungen
4.2 P1 Aktivität und Kompetenz
4.3 P2 Zeitstrukturierung
4.4 P3 Kooperation und Kontakt
4.5 P4 Soziale Anerkennung
4.6 P5 Persönliche Identität
4.7 P6 Selbsterhaltung
5 Diskussion der Ergebnisse und Abgleich mit dem theoretischen Hintergrund
6 Einhaltung von Gütekriterien und Evaluation
7 Ein–Personen-Organisationen und das neue Verständnis von Arbeit
Anlagen
Anlage 1 - Studien und Forschungsberichte
Anlage 2 - Transkriptionen Liedtexte Gerhard Gundermann
Anlage 3 – Quellenübersicht der Lieder und der Liedtexte
Anlage 4 – Unterschiede im Text nach Quelle
Anlage 5 – Explikationsregeln nach Mayring
Anlage 6 – Quellen der weiten Kontextanalyse der Explikation
Anlage 7 – Inhaltsanalyse der einzelnen Fundstellen
Anlage 8 – Auswertung der einzelnen Fundstellen
Anlage 9 – Ergebnis psychosoziale Funktionen und Bindungen nach Phasen gewichtet
Anlage 10 – Ergebnis psychosoziale Funktionen und Bindungen nach Phasen und K/L/M gewichtet
Anlage 11 – Ergebnis psychosoziale Funktionen und Bindungen nach Phasen und Phasenbezug gewichtet
Anlage 12 – Ergebnis psychosoziale Funktionen und Bindungen nach Phasen und Zeithorizont gewichtet
Anlage 13 – Ergebnis psychosoziale Funktionen und Bindungen nach Phasen und d/i gewichtet
Anlage 14 – Ergebnisdarstellung der Untersuchung ungewichtet
Literaturverzeichnis
Monographien und Sammelwerke
Zeitschriften
Internetquellen
Quellenverzeichnis für die Forschung zu den Liedtexten von Gerhard Gundermann
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1
Die vier industriellen Revolutionen und die Zyklen nach Kondratieff
Abbildung 2
Bindungskonzept Erwerbsarbeit
Abbildung 3
Verschiedene Bindungskonzepte des Menschen
Abbildung 4
Basisdesign qualitativer Forschung
Abbildung 5
Ablauf der Untersuchung
Abbildung 6
Psychosoziale Funktionen je Phase I-III
Abbildung 7
Bindungen je Phase I-III
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1
Strukturwandel im Lausitzer Braunkohlenrevier 1988 bis 2008
Tabelle 2
Urheberschaft Liedtexte
Tabelle 3
Gewichtung der Fundstellen nach Fundort
Tabelle 4
Veränderungen der Arbeitsplatzsituation (Phasen der Erwerbstätigkeit)
Tabelle 5
Phasen der Erwerbstätigkeit und Zeiträume der CD-Aufnahmen
Tabelle 6
Verwendete Lexika und Nachschlagewerke
Tabelle 7
Auswertung der Fundstellen
Tabelle 8
Fundstellen nach CD
Tabelle 9
Fundstellen im Titel der CD
Tabelle 10
Fundstellen nach Phasen
Tabelle 11
P1 Aktivität und Kompetenz – Bindungen in den einzelnen Phasen gewichtet
Tabelle 12
P2 Zeitstrukturierung – Bindungen in den einzelnen Phasen gewichtet
Tabelle 13
P3 Kooperation und Kontakt – Bindungen in den einzelnen Phasen gewichtet
Tabelle 14
P4 Soziale Anerkennung – Bindungen in den einzelnen Phasen gewichtet
Tabelle 15
P5 Persönliche Identität – Bindungen in den einzelnen Phasen gewichtet
Tabelle 16
P6 Selbsterhaltung – Bindungen in den einzelnen Phasen gewichtet
Abkürzungsverzeichnis
A-Z1
Lexikon von A-Z, Band 1
A-Z2
Lexikon von A-Z, Band 2
AGBDDR
Arbeitsgesetzbuch der DDR 1977-1990
ARD
Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland
B
Bindung(en)
B1
Bindung 1 Personen
B2
Bindung 2 Glaubens- und Wertesystem
B3
Bindung 3 Verhalten
B4
Bindung 4 Verpflichtung
B5
Bindung 5 Nutzen
B6
Bindung 6 Inhalt
B7
Bindung 7 Region
BA
Bundesagentur für Arbeit
BAuA
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
BI
Basisinnovationen
BI1
BI Elementarlexikon Band 1
BI2
BI Elementarlexikon Band 2
BITKOM
Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und Neue Medien e. V.
BM
Bundesverband Mediation e. V.
BMAS
Bundesministerium für Arbeit und Soziales
BMBF
Bundesministerium für Bildung und Forschung
BMWi
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie
bpb
Bundeszentrale für politische Bildung
BUL1
Bertelsmann Universal Lexikon in 20 Bänden, hier: Band 1
BULFW
Bertelsmann Universal Lexikon, Fremdwörter
BvS
Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben
BWL
Betriebswirtschaftslehre
C
Kohlenstoff
CD1
CD 1 Männer, Frauen und Maschinen
CD2
CD 2 Einsame Spitze
CD3
CD 3 Der 7te Samurai
CD4
CD 4 Frühstück für immer
CD5
CD 5 Engel über dem Revier
CD6
CD 6 Krams - Das letzte Konzert (Doppel-CD; CD6/1, CD6/2)
d
direkt
DDR
Deutsche Demokratische Republik
DFKI
Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz
DGM
Duden Grammatik
DRS
Duden Rechtschreibung
DRW
Duden Redewendungen
DSW
Duden Synonymwörterbuch
Duden
Der große Duden. Rechtschreibung
E1
Explikationsregel nach Mayring mit Nummerierung, hier: 1
EE
Engel: DVD „Ende der Eisenzeit“ (1999)
F1
Fundstelle mit Nummerierung, hier: 1
g
gegenwartsbezogen
G1
RP: Baggerfahrer und Rocksänger. Das erste Gespräch
G2
RP: Aber glücklich wurde ich nicht. Das zweite Gespräch
G4
RP: Jedes Paradies ist Ignoranz. Das vierte Gespräch
G5
RP: Nochmal die Leute von Hoywoy. Das fünfte Gespräch
G6
RP: Risse in der Folie. Eine öffentliche Auskunft. Das sechste Gespräch
GG
Engel: DVD „Gundi Gundermann“ (1982)
GM
Märchen der Brüder Grimm
HCA
Hans Christian Andersen. Märchenbuch
i
indirekt
IAB
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
IHK
Industrie- und Handelskammer
ind.
industrielle (Revolution)
INQA
Initiative Neue Qualität der Arbeit
K
Erwerbsarbeit in der Kohle
KPdSU
Kommunistische Partei der Sowjetunion
KUK
Gundermann: „Verantwortung für das eigene Produkt“. Beitrag zum Kongreß der Unterhaltungskunst 1989
Kulturfabrik
Broschüre „Gundermann. Hoywoy – Dir sind wir treu“
L
Erwerbsarbeit als Liedermacher
L1
Lied mit Nummerierung, hier: 1
LARAZ
Lexikon Arbeitsrecht der DDR von A-Z
LB1/26.
Liederbuch 1 mit Angabe des Titels, hier: 26
LB2/12.
Liederbuch 2 mit Angabe des Titels, hier: 12
LMBV
Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft mbH
LVZ
Leipziger Volkszeitung
M
Mehrdeutigkeit (Erwerbsarbeit ohne konkrete Zuordnung zu K oder L)
n
Umfang einer Stichprobe
P
Phase
PI
Phase I
PII
Phase II
PIII
Phase III
P1
Psychosoziale Funktion 1 Aktivität und Kompetenz
P2
Psychosoziale Funktion 2 Zeitstrukturierung
P3
Psychosoziale Funktion 3 Kooperation und Kontakt
P4
Psychosoziale Funktion 4 Soziale Anerkennung
P5
Psychosoziale Funktion 5 Persönliche Identität
P6
Psychosoziale Funktion 6 Selbsterhaltung
PF
Psychosoziale Funktion(en)
RP
Schütt: Buch „Rockpoet und Baggerfahrer“
SDL
Rocha: DVD „Die Schmerzen der Lausitz“
SED
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands
Sprache
Sprache in der DDR. Ein Wörterbuch
T1
CD-Titel mit Nummerierung, hier: Titel der CD1
Tankstelle
Schütt: Buch „Tankstelle für Verlierer“
ÜA
Übersetzung des Autors
UdSSR
Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (Sowjetunion)
v
vergangenheitsbezogen
VHS
Video Home System (Video-Kassette)
VL
Das große Buch der Volkslieder
WuW
Wörter und Wendungen (Wörterbuch)
ZEW
Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung
z
zukunftsbezogen
2 Theoretischer Hintergrund
2.1 Arbeit und Erwerbsarbeit
2.1.1 Annäherung an die Begriffe Arbeit und Erwerbsarbeit
Arbeit ist wesentlicher Lebensinhalt des Menschen. Das spiegelt sich in einer der ersten Fragen, die gestellt wird, wenn sich Personen kennenlernen oder eine längere Zeit nicht in Kontakt standen: „Was machen Sie?“ oder „Was machst Du jetzt?“74 Hier wird abgehoben auf die berufliche Tätigkeit und das Arbeitsverhältnis des Angesprochenen. Über diese Information werden weitere Eigenschaften und Verhaltensweisen bei der Person attribuiert. Arbeit definiert sozialen Status und Ansehen bei vielen Mitmenschen. Die persönliche Entfaltung des Einzelnen wird auch ermöglicht über den finanziellen Spielraum, den Erwerbsarbeit schaffen kann.
Welcher Inhalt verbirgt sich hinter den Begriffen Arbeit und Erwerbsarbeit? Das Wort Arbeit leitet sich ab vom mittelhochdeutschen „arebeit“ und bedeutet, ebenso wie das englische „labour“, Not oder Mühsal. Das französische Wort „travail“ stammt vom lateinischen „tripalium“ ab und bedeutet Pfahl im Sinne eines Bestandteils des Jochs von Zugtieren.75 Arbeit ist im semantischen Sinn also mühevolle Anstrengung.
Im Lauf der Zeit hat sich die Sicht auf Arbeit verändert. Bei Aristoteles ist Arbeit gegen Entlohnung oder auf Veranlassung Dritter mit der Würde des freien Mannes unvereinbar. Niedere Arbeiten und Lohnarbeit verderben Körper, Denken und Seele und sind Sklaven, Tagelöhnern und Handwerkern vorbehalten.76 Für die freien Menschen ist ein Leben in Muße, das sich der Kunst, der Politik und dem rhetorischen Diskurs widmet, zum Erlangen von Glückseligkeit als höchstem Ziel erstrebenswert. Hier wird unterschieden zwischen rein geistiger und körperlicher Arbeit.77
Im Alten Testament ist Arbeit ein Auftrag (Gen 2,15)78 und nach dem Sündenfall eine Strafe Gottes (Gen 3,17-19). Arbeit strukturiert den zeitlichen Ablauf der Woche durch den Sabbattag (Ex 20,9-11; Dtn 5,13-15). Im Neuen Testament wird Arbeit zu einer Selbstverständlichkeit für Jedermann (Eph 4,28; Kol 3,23), verbunden mit dem Ziel, das eigene Auskommen zu sichern (1 Thess 4,11-12; 2 Thess 3,8-12).
Martin Luther legitimiert den Besitz von Eigentum und Reichtum über Arbeit und wertet diese damit auf.79 Er erklärt Arbeit zur Pflicht eines jeden Menschen an dem Platz, an dem er sich befindet. Damit rechtfertigt Luther soziale Ungleichgewichte als gottgegeben und gottgefällig. Wenn Knechte und Mägde ihrer Herrschaft gut dienen, dann dienen sie gleichzeitig Gott, der den Herrschaften die Macht über die Diener gab.80 Armut und Reichtum sind Fügungen einer höheren Macht. Arbeit ist das Mittel der Annäherung an diese Macht.
Adam Smith unterscheidet zwischen produktiver Arbeit (alle Arbeit, die zu einem verkaufsfähigen gegenständlichen Produkt führt und dessen Wert steigert) und unproduktiver Arbeit (nicht verkaufsfähig und nicht wertsteigernd, z. B. Hausarbeit, Arbeit von Politikern, Angehörigen des Militärs, Geistlichen, Ärzten, Lehrenden).81 Damit kehrt er das aristotelische Verständnis um.
Für Friedrich Engels ist Arbeit im anthropologischen Sinn die „Grundbedingung alles menschlichen Lebens“82. Durch den aufrechten Gang wurden die Vordergliedmaßen frei für den Erwerb neuer Fähigkeiten, die Nutzung von Materialien als Werkzeug und Waffe, Spezialisierungen nach individueller Geschicklichkeit in Arbeitsteilung und Ursache für die Entwicklung von Sprache. Die Hände sind Mittel zur Arbeit und gleichzeitig deren Produkt. Der Mensch wird Mensch, weil er arbeiten kann und sich dessen bewusst ist.83 Hier wird Arbeit zum Selbstzweck der eigenen Existenz und zum Fixpunkt aller wirtschaftlichen Abläufe.
Karl Marx betont in sozialphilosophischer Analyse die Austauschbeziehungen im Zuge der Vergesellschaftung der Arbeit im kapitalistischen Wirtschaftssystem. Individuelles Privateigentum (Landwirte, Handwerker, Kleinbetriebe) wird über Konzentrationsprozesse verdrängt zugunsten von kollektivem/gesellschaftlichem Privateigentum (AG, GmbH, Shareholder). Ehemals unabhängige Kleinst-Unternehmer werden zu abhängig Beschäftigten in großen Organisationen. Ihre Arbeitskraft und damit sie selbst (siehe vorab Engels) mutieren zu einer Handelsware. Die gesamte Gesellschaft wird über spezialisierte Arbeitsteilung für die gesamte Gesellschaft produzieren.84 Arbeit ist Quelle gesellschaftlichen Reichtums. Entscheidend ist die Frage, wer im Ergebnis seiner Arbeit Anteil an diesem Reichtum hat und in welcher Höhe. Worin besteht die konkrete Arbeit des Einzelnen im kleinteiligen Arbeitsprozess?
Nach Kurt Lewin ist Arbeit zweigesichtig, einerseits Mühe und Anstrengung als unabdingbare Grundlage für die Existenzsicherung, andererseits auch ursächliche Sinnerfüllung des eigenen Lebens. Arbeit ist Lebenswert.85
Für Wladimir Eliasberg ist Arbeit ein psychologischer Vorgang, bei dem ein die reine Arbeitszeit überdauernder objektiver Wert geschaffen werden soll, der sich aus der Motivation des Arbeitenden für dieses Ziel, dem geschaffenen Objekt selbst und dessen Wert zusammensetzt.86
Walter Eucken wirft aus ordnungspolitischer Sicht die soziale Frage als Verteilungsgerechtigkeit von Einkommen und Arbeitsplatzsicherheit über alle Berufsschichten auf.87
Alfred Müller-Armack, der Urheber des Begriffs und Mitbegründer der Sozialen Marktwirtschaft, betont aus volkswirtschaftlicher Sicht, dass alle „Wirtschaftsvorgänge auf den Konsum“88 auszurichten sind. Das führt zu einer freiwilligen Zusammenarbeit aller am Wirtschaftsprozess Beteiligten, da ein jeder von ihnen in Doppelfunktion gleichzeitig Arbeiter und Konsument ist, d. h. ein jeder schafft das neu, was er selbst gern konsumieren möchte und kann hier seiner Kreativität bei der Erfindung neuer Produkte freien Lauf lassen.89
Hannah Arendt definiert drei Grundtätigkeiten, die menschliches Leben von der Geburt bis zum Tod determinieren. Arbeiten als Sicherung des biologischen Überlebens des menschlichen Körpers über Erzeugung, Zubereitung und Aufnahme von natürlichen Dingen (Nahrung). Herstellen als Fertigung verschiedener gegenständlicher künstlicher Dinge, die dem Menschen ein Zuhause schaffen (Haus, PKW, technische Ausstattung). Handeln als zwischenmenschlicher systemisch-reflexiver Austausch – Leben als Individuum unter den Menschen.90
Ulrich Beck stellt aus soziologischer Sicht fest, dass Leben in der Industriegesellschaft zwischen den Polen Arbeit und Familie stattfindet und dabei Beruf und Erwerbsarbeit als Grundlage der Existenzsicherung die gesamte Lebensführung des Einzelnen dominieren.91
Eine weitere Definition findet sich im Arbeitsgesetzbuch der DDR. Arbeit ist „bewußte, schöpferische Tätigkeit“,92 die den gesellschaftlichen Reichtum „im Interesse der Arbeiterklasse und der ganzen Gesellschaft sowie jedes einzelnen“93 stetig mehren soll.
Schaper erklärt aus Sicht der Arbeits- und Organisationspsychologie Arbeit als vom Menschen ausgehende Tätigkeit, bei der durch planmäßigen Einsatz geistiger und körperlicher Kräfte bestimmte wirtschaftliche oder organisationale Ziele erreicht werden sollen. Jedwede Tätigkeit, die diese Kriterien erfüllt, ist Arbeit. Für die Zielerreichung werden verschiedene Ressourcen, auch technische Hilfsmittel, genutzt.94
Semmer und Udris sehen Arbeit als „zielgerichtete menschliche Tätigkeit zum Zwecke der Transformation und Aneignung der Umwelt auf Grund selbst- oder fremddefinierter Aufgaben mit gesellschaftlicher – materieller oder ideeller – Bewertung, zur Realisierung oder Weiterentwicklung individueller oder kollektiver Bedürfnisse, Ansprüche und Kompetenzen.“95 Durch die Komponenten der fremddefinierten Aufgaben und der gesellschaftlichen Bewertung wird hier Arbeit zur Erwerbsarbeit, denn in ihrem Ergebnis wird Arbeit an einem Äquivalent bemessen, das seinen Ausdruck in finanziellen (Geld) oder materiellen Gleichnissen (Naturalien) findet. Fremddefinierte Aufgabenerteilung und selbstbestimmte Befolgung dieser führen zu einer Austauschbeziehung – durch Arbeit erbrachte Leistung gegen gesellschaftlich gewichtetes Gleichnis, meist in Form von Geld (Lohn, Gehalt, Honorar). Hier wird der Grundzug des „Erwerbs“ deutlich – die Austauschbeziehung und das dieser zugrundeliegende rechtliche Konstrukt (Arbeitsvertrag, Werkvertrag, Dienstvertrag).
Semmer und Meier ergänzen um Sonderformen von Arbeit, wie entgoltene/nicht entgoltene ehrenamtliche, Haus-, Pflegearbeit.96
Für Marie Jahoda ist Erwerbstätigkeit dann gegeben, wenn Arbeit („das innerste Wesen des Lebendigseins“97) auf einer vertraglichen Grundlage materiell entlohnt wird.98
2.1.2 Erwerbsarbeit in dieser Untersuchung
Als grundlegende Gemeinsamkeit der meisten vorgenannten verschiedenen Sichtweisen auf Arbeit kann identifiziert werden, dass Arbeit eine schöpferische Auseinandersetzung des einzelnen Menschen mit seiner Umwelt ist. Arbeit ist Tätigsein des Individuums Mensch. Dieses Tun als reflexiv-dynamische Auseinandersetzung mit seiner Umgebung ist grundlegendes Merkmal seines Menschseins. Arbeit ist weiterhin die Vorbedingung von Erwerbsarbeit.
Als charakterisierende Merkmale von Arbeit lassen sich im Einzelnen ableiten:
- Subjektives Schöpfertum: prinzipielle geistige und körperliche Kraft für Veränderung, Denkfähigkeit99 Planung und Vorwegnahme des Ergebnisses, durchführende praktische Umsetzung als etwas Neues.100
- Objektive Wertschöpfung: Schaffung eines Wertes, der die Zeitspanne der Arbeitsleistung überdauert.
- Aktive körperliche/geistige Tätigkeit: Beanspruchung von Muskeln und Gliedmaßen, geistige Arbeit (Erfassung, Durchdringung, Vergleich, Beurteilung, Handlungsableitung, Kontrolle von Zusammenhängen), Anstrengung mit ggf. daraus folgenden physischen und psychischen Beeinträchtigungen.
- Möglicher sozialer Austausch: Zusammenarbeit mit Dritten in Arbeitsteilung.
- Mögliche soziale Anerkennung: positive oder negative Anerkennung von Dritten.
- Selbstwertgefühl: Gefühl der Nützlichkeit, Selbsterfüllung, Selbstbestätigung.
- Tätigkeit des einzelnen Menschen: Arbeitskraft und Arbeitsleistung sind gebunden an den arbeitenden Menschen. Selbstdefinition der eigenen Existenz als Mensch (Sinnhaftigkeit des Seins), Arbeit als Selbstzweck des Daseins.
- Machtmittel: Entscheidungen werden getroffen.
- Selbstständigkeit: die freie Entscheidung, etwas zu tun oder auch nicht.
- Interaktion mit der Umwelt: Transformation und Aneignung der Natur und Einwirkung auf andere Menschen.
- Zielgerichtetheit: Erfüllung einer Aufgabe, Festlegung eines gewünschten Ergebnisses, Befriedigung der individuellen Bedürfnisse, Arbeit ist kein Selbstzweck (nicht tun, um zu tun – Abgrenzung zu passivem Müßiggang).
- Planmäßigkeit: inhaltliche und zeitliche Bestimmung der Vorgehensweise, Einzelschritte/Meilensteine, Nutzung technischer Hilfsmittel (Maschinen), prozesshafte Steuerung.
- Mehrdimensionalität: Arbeit findet an einem bestimmten Ort (Koordinatensystem mit Länge, Breite, Höhe) und zu einer bestimmten Zeit/Zeitspanne statt. Sie hat zeitlichen Anfang, Dauer und Ende.
- Zeitliche Strukturierung: Ausrichtung des persönlichen Tages-, Jahresablaufs.
- Rechtliche Grundlagen: Notwendigkeit der Einhaltung legislativer Vorgaben (Gesetze, Verordnungen, Richtlinien).
Damit schließt diese Auffassung alle Formen von Tätigkeit ein, welche die vorgenannten Kriterien erfüllen – unentgeltliche Arbeit (Haus-, Gartenarbeit, handwerkliche Eigenleistungen, Nachbarschaftshilfe, Freizeitaktivitäten, ehrenamtliche Tätigkeiten) und entgeltliche Arbeit (Erwerbsarbeit, Schwarzarbeit). Ebenfalls eingeschlossen in diesen Begriff Arbeit ist damit die Muße von der Aristoteles spricht101 – als aktiver Müßiggang. Das umfasst vor allem die geistige Auseinandersetzung mit dem Leben und der Gesellschaft. Keine Arbeit ist passive Muße als körperliches Dahinvegetieren in apathischer Teilnahmslosigkeit und Unempfindlichkeit.
Ergänzend zu vorgenannten Kriterien der Arbeit treten bei Erwerbsarbeit weitere Komponenten hinzu. Zusammenfassend kann dann von der erwerblichen Arbeitsplatzsituation102 gesprochen werden.
Charakterisierende Merkmale von Erwerbsarbeit sind:
- Austauschbeziehung: Leistung gegen Leistung (Entgelt), Erhalt eines finanziellen oder anderen Nutzens über privatwirtschaftliche Vermarktung oder durch die Allgemeinheit (öffentliche Träger – Behörden/Institutionen/Verbände).
- Vertragliche Grundlage: Arbeitsvertrag/Werkvertrag/Dienstvertrag, Reziprozität über die gegenseitige Verpflichtungserklärung.
- Aufgaben: werden von Dritten fremddefiniert.
- Fachliche Qualifizierung: Notwendigkeit der Erfüllung beidseitiger fachlicher Voraussetzungen.
- Systemische Einbindung in Aufbau- und Ablauforganisation: Einordnung in Hierarchien und Prozesse, Arbeitsteilung (Vorgänger und Nachfolger der Leistungserbringung in der Wertschöpfungskette).
- Einschränkung der Selbstständigkeit: Aufgabenteilung, Einhaltung vertraglicher Festlegungen, Weisungsgebundenheit, unselbstständige Beschäftigung, Fremdbestimmung.
- Existenzsicherung: Absicherung der eigenen und direkt/indirekt abhängigen Existenzen (Eltern, Kinder), Sicherung des Lebensstandards.
- Arbeit als Ware: Aufrechnung in einem gesellschaftlich akzeptierten Äquivalent (Ausdruck in finanziellem Gegenwert oder materieller/ ideeller Gegenleistung).
- Systemische Rückkopplung zu Qualität und Quantität der eigenen Leistung: Beurteilung der Arbeitsleistung.
- Möglichkeit der einseitigen Beurteilung der Kosten/Nutzen-Relation: Sofern sich die Arbeitskraft nicht mehr über Umsatz/Gewinn reproduziert, wird sie aus dem Vertragsverhältnis (selbst) entlassen (beidseitige Kündigungsmöglichkeit der Vertragspartner). Gleiches gilt für die Beurteilung der individuellen Bedürfnisbefriedigung.103
Wesentliches Unterschiedskriterium von Erwerbsarbeit zu Arbeit ist die Austauschbeziehung von Arbeitsleistung (der eigentlichen Arbeit) gegen ein gesellschaftlich definiertes und zwischen den Austauschpartnern verhandeltes Äquivalent als Entgelt. Zwischen den Tauschpartnern wird ein vertragliches Arbeitsverhältnis begründet und ein fremddefinierter Auftrag erfüllt. Erwerbstätigkeit folgt im Wesentlichen dem übergeordneten Ziel Existenzsicherung.
2.2 Psychosoziale Funktionen der Erwerbsarbeit
2.2.1 Das Modell der psychosozialen Funktionen nach Marie Jahoda
Erwerbsarbeit erzeugt auf Grund ihrer Komponenten verschiedene räumlich-zeitliche und soziale Strukturen und bildet damit psychosoziale Funktionen ab. Diese wirken zwangsläufig auf den Erwerbstätigen ein, ohne dass er sich ihnen entziehen kann. Im Zustand der Erwerbslosigkeit als Gegenteil von Erwerbstätigkeit entfallen sie.104
Diese psychosozialen Funktionen wurden von Marie Jahoda auf Grundlage des Wegfalls (des Verlustes – der Deprivation) von Erwerbstätigkeit analysiert. Ausgangspunkt waren ihre Forschungen im Rahmen der MarienthalStudie von 1933, welche die Folgen von Erwerbslosigkeit am Beispiel eines österreichischen Dorfes untersucht. In diesem Dorf war fast die gesamte Bevölkerung in einer Textilfabrik beschäftigt, die 1930 geschlossen wurde.105 Jahoda geht der Frage nach: Was geschieht, wenn die Arbeit geht?106
Eine erste Auswirkung ist das Gefühl der „einschränkenden Armut.“107 Das ist ein sofort einsetzender, schockartiger Reflex auf die Nachricht des Verlustes der Erwerbstätigkeit. Die Reduzierung der zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel führt zur Einschränkung des Konsums. Geplante Ausgaben, auch Ersatz von Kleidung und Mobiliar, werden ausgesetzt oder finden überhaupt nicht statt. Die Menschen richten sich mit weniger als vorher ein. Sämtliche Kosten werden geprüft und reduziert, auch Mitgliedschaften in Vereinen. Wenn sich die (familiäre) wirtschaftliche Not verschärft und keine neue Erwerbstätigkeit gefunden wird, nimmt mit zunehmender zeitlicher Dauer dieses Zustandes die individuelle Angst zu und mündet über Resignation und Verzweiflung in Apathie. Die Entwicklung bezieht auch die nicht ehemals erwerbstätigen Familienmitglieder (Kinder) ein. Diese Folgen sind unmittelbar mit der finanziellen Einschränkung/ Armut als Resultat der Erwerbslosigkeit verbunden.108
Andere psychosoziale Strukturen der Erwerbstätigkeit sind unabhängig von finanziellen Auswirkungen und damit dem Gefühl der Armut und treten weniger auffällig (latent) hervor. Hier ist zunächst „die aufgezwungene Zerstörung einer gewohnten Zeitstruktur des wach erlebten Tages“ zu nennen.109 Das Zeitgefüge, welches sich an der Tätigkeit ausrichtet (Beginn und Ende der Arbeit, freie Tage, Urlaub) ist verloren. Das Gefühl für Zeit schwindet. Das bisherige getaktete Zeitschema wird aufgegeben.110
Durch den Mangel an Aktivität (das Arbeiten selbst) stellt sich das Gefühl der Nutzlosigkeit ein. Man kann sein Wissen und Können nicht mehr aktiv einsetzen.111 Die mit der Industrialisierung einsetzende Arbeitsteilung112 führte zu umfassender Kooperation und Einbindung in betriebliche (Ablauforganisation mit Vorgänger und Nachfolger der Leistungserbringung) und organisatorische (Aufbauorganisation mit hierarchisch geregelter Machtausübung) Strukturen. Hier wird intensiver Kontakt gelebt und eng zusammengearbeitet bei der Erreichung kollektiver Ziele. Erwerbslose leiden „unter dem Ausschluß von der größeren Gesellschaft und unter relativer sozialer Isolation.“113 Ohne regelmäßige Erfahrungen zu einem Kollektiv außerhalb der eigenen Familie reduziert sich die soziale Kompetenz (Selbstreflexions-, Kooperations-, Konflikt-, Kommunikations-, Compliancefähigkeit).114
Individualismus wird in Erwerbstätigkeit sozialisiert und erfährt damit Wertschätzung. Seit Beginn der Industrialisierung werden Ansehen und Rang in der Gesellschaft durch den erlernten/ ausgeübten Beruf definiert. Status ist im Wertsystem der Gesellschaft verankert und wird extern bewertet. Wer keiner Erwerbstätigkeit nachgeht, fällt in diesem System auf einen anderen Platz.115 Die persönliche Identität spiegelt das Selbstbild wider. Als Erwerbsloser ist man „fehl am Platz“116, insbesondere wenn es im eigenen Umfeld Menschen gibt, die erwerbstätig sind. Hier wird Raum für das Zweifeln an der eigenen Person eröffnet.117 Prinzipiell ist festzustellen, dass gerade lange Zeiten von Erwerbslosigkeit nicht den Kampfeswillen und Widerstand stärken, sondern zum Rückzug aus der Gesellschaft führen. Eine soziale Revolution findet eher nicht statt.118
Zusammengefasst lassen sich sechs psychosoziale Auswirkungen von Erwerbstätigkeit ableiten, die dann auffällig zutage treten, wenn die Tätigkeit von Dritten beendet wird.119 Das ist einerseits die manifeste Funktion des Lebensunterhaltes. Diese ist eindeutig, offenkundig und sofort nachvollziehbar auf Grund der direkten Verbindung von Erwerbstätigkeit und Erwerb von Entgelt für sie und drohende Verarmung ohne sie. Hinzu treten fünf latente Funktionen, deren Wirkung weniger direkt auffallend ist und die sich eher hintergründig entwickeln. Sie treten nachgelagert der manifesten Konsequenz zutage. Dazu zählen: zeitliche Strukturierung des erlebten Tages / Kontakt und geteilte berufliche Erfahrung mit Menschen außerhalb der eigenen Kernfamilie / Verbindung des Einzelnen zu übergeordneten Zielen und Zweckbestimmungen, die über die eigenen hinausgehen / Persönlichkeit und Identität / Notwendigkeit, in der Erwerbsarbeit selbst aktiv zu sein.120
Die Studie von Marienthal datiert aus den 1930er, die veröffentlichten weiteren Forschungen von Jahoda aus den 1980er Jahren. Ein Mangel an Aktualität kann hier jedoch nicht unterstellt werden. Die vorbeschriebenen Sachverhalte knüpfen an den Zustand der Erwerbstätigkeit (gemäß Definition) an. Da ebendiese Erwerbsarbeit heute und künftig genauso präsent ist in ihrer Ausprägung wie ehedem, sind auch die psychosozialen Folgen noch ebenso wirksam. Die Frage, ob durch derzeitige staatliche Lenkungsmaßnahmen in Deutschland eine völlige Verarmung verhindert wird,121 sollte Gegenstand einer separaten Untersuchung sein.
Jahodas Ergebnisse werden gestützt durch die Studie von Paul und Batinic, in der die manifeste und die latenten Funktionen repräsentativ für Deutschland untersucht worden sind (n=998).122 Hier wurden signifikante Unterschiede zwischen Erwerbstätigen (Voll-, Teilzeit, Ausbildung) und Nichterwerbstätigen (Erwerbslose, Rentner, Hausfrauen, Studierende) festgestellt. Besonders deutlich traten diese zutage über alle Funktionen zwischen Erwerbstätigen insgesamt und der Gruppe der Erwerbslosen Nichterwerbstätigen. Erwerbstätige haben eine stärkere zeitliche Strukturierung, mehr Zugang zu sozialen Kontakten, festere Einbindung in kollektive Ziele, erheblich größeres Statusbewusstsein, sind deutlich aktiver und in einer erheblich besseren finanziellen Situation.123 Der Zusammenhang zwischen den Funktionen (manifest und latent) und der psychischen Gesundheit der Teilnehmer wurde ebenfalls signifikant nachgewiesen und stützt damit Jahodas Untersuchungen, insbesondere bei den Funktionen Identität/Status und finanzielle Sicherheit. Der Verlust der Wirkmechanismen von Erwerbsarbeit führt zu einer Verschlechterung der Gesundheit und verursacht psychische Gefühlslagen wie Unglücklichkeit, Niedergeschlagenheit, Erschöpfung, Ausweglosigkeit, Verzweiflung, Verlust von Selbstvertrauen.124
Die Sächsische Längsschnittstudie bestätigt diese Wirkungen von Erwerbslosigkeit ebenfalls. Seit 1987 nehmen hier regelmäßig etwa 400 Personen teil, die zu Beginn der Untersuchung als 14jährige in den Bezirken Leipzig und Karl-Marx-Stadt (heute Teile des Freistaates Sachsen) lebten und einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung des Geburtsjahrganges 1973 der DDR darstellen.125 Zum Zeitpunkt der 23. Welle 2009 waren 5% der Teilnehmer (n=364) erwerbslos. Im Zeitraum zwischen 1990 und 2009 waren jedoch insgesamt 72% aller Teilnehmer ein oder mehrere Male erwerbslos und haben die Folgen von Erwerbslosigkeit selbst erfahren.126
Wesentliche Aussagen der Teilnehmer zu Konsequenzen ihrer eigenen Erwerbslosigkeit waren:
- 73% der Teilnehmer stimmen der Aussage völlig zu, dass Arbeitslosigkeit Zukunftsangst macht (3% kaum oder gar nicht)
- 58% der Teilnehmer stimmen der Aussage völlig zu, dass Arbeitslosigkeit Selbstbewusstsein nimmt (1% kaum oder gar nicht)
- 50% der Teilnehmer stimmen der Aussage völlig zu, dass Arbeitslosigkeit krank macht (6% kaum oder gar nicht)
- 49% der Teilnehmer stimmen der Aussage völlig zu, dass Arbeitslosigkeit arm macht (3% kaum oder gar nicht).127
2.1.2 Wirkung von Arbeit nach Semmer und Udris
Semmer und Udris haben die Arbeiten von Jahoda weitergeführt und die latenten psychosozialen Funktionen der Erwerbsarbeit inhaltlich beschrieben. 128 Auf die manifeste Funktion Lebensunterhalt gehen sie nicht vertiefend ein.
Aktivität und Kompetenz: Das umfasst jede mit der Arbeit selbst verbundene Aktivität, Handlungskompetenz, den Erwerb und die Aufrechterhaltung von Qualifikationen und Wissen. Ohne Erwerbsarbeit fehlt diese sinnvolle Aktivität.
Zeitstrukturierung: Durch den zeitlich geregelten Arbeitsablauf wird das gesamte Leben der Erwerbstätigen strukturiert und ein Ordnungsrahmen geschaffen. Ohne Erwerbsarbeit geht das Zeitgefühl verloren.
Kooperation und Kontakt: Die Arbeitsteilung der Erwerbsarbeit schafft Verknüpfungspunkte zu anderen Personen – Vorgesetzten, Kollegen, Mitarbeitern. Es wird zusammengearbeitet und ein soziales Netz entsteht. Ohne Erwerbstätigkeit geht dieses Kontaktfeld verloren.
Soziale Anerkennung: Durch die eigene Erwerbsarbeit (Leistung) wird ein allgemein, zumindest jedoch im direkten kooperativen Kontaktkreis, anerkannter nützlicher Beitrag für die Gemeinschaft geschaffen. Bei Erwerbslosigkeit fehlt dieses Gefühl von Nützlichkeit.
Persönliche Identität: Erwerbsarbeit stiftet ein eigenes Gefühl von Identität und Selbstwertschätzung durch Selbstbewertung von Inhalt und Bedeutung der Arbeitsaufgaben, eigener Rolle und Erfahrungshorizont. Ohne Erwerbsarbeit fehlt diese Identität. Man ist niemand.
Diese Ausführungen werden wiederholt in der einschlägigen Literatur zitiert. 129
2.1.3 Psychosoziale Funktionen in dieser Untersuchung
Die Beschreibungen von Semmer und Udris zu den latenten Funktionen werden in dieser Untersuchung übernomm, nachfolgend erweitert und um die manifeste Funktion ergänzt.130
P1131 Aktivität und Kompetenz: Was mache ich? Gesamter Aspekt der Tätigkeit. Daraus resultiert die Prüfung der Qualifikation. Rationaler reflexivorientierter Fokus. Was kann der Mensch?/Wie arbeitet er? - Wissen um die eigenen Fähigkeiten, Kenntnisse und Schwächen bei der Leistungserbringung. Selbststeuerung als Aktivität zur Verringerung der Defizite und Verbesserung der Ergebnisse.
P2 Zeitstrukturierung: Wann mache ich was? Rationaler temporaler Fokus. Arbeit bestimmt die Verwendung der individuell verfügbaren Zeit und ordnet die arbeitsfreie Zeit unter die Erwerbsarbeitszeit.
P3 Kooperation und Kontakt: Mit wem mache ich was? Rationaler interpersoneller Fokus. Systemische Interaktionen zwischen Einzelperson und Gruppe. Das Individuum ist Teil einer organisierten Gruppe mit gemeinsamen Erlebnissen.
P4 Soziale Anerkennung: Wie finden Dritte, was ich mache? Rückkopplung aus der Gruppe und/oder der Gesellschaft zur eigenen Leistung und Person im Kontext Erwerbsarbeit. Einseitiger interpersoneller Fokus von außen in Richtung Individuum. Ideell direkt (bekannte eigene Gruppe) oder ideell indirekt (Gesellschaft). Einhaltung organisationaler und gesellschaftlicher Wertvorstellungen/Normen (Compliance).