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Gertrud
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Hermann Hesse
Gertrud
New Edition
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Published by Urban Romantics
This Edition
First published in 2020
Copyright © 2020 Urban Romantics
All Rights Reserved.
ISBN: 9781787362123
Contents
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 1
Wenn ich, von außen her, über mein Leben weg schaue, sieht es nicht besonders glücklich aus. Doch darf ich es noch weniger unglücklich heißen, trotz aller Irrtümer. Es ist am Ende auch ganz töricht, so nach Glück und Unglück zu fragen, denn mir scheint, die unglücklichsten Tage meines Lebens gäbe ich schwerer hin als alle heiteren. Wenn es in einem Menschenleben darauf ankommt, das Unabwendbare mit Bewußtsein hinzunehmen, das Gute und Üble recht auszukosten und sich neben dem äußeren ein inneres, eigentlicheres, nicht zufälliges Schicksal zu erobern, so war mein Leben nicht arm und nicht schlecht. Ist das äußere Schicksal über mich hingegangen wie über alle, unabwendbar und von Göttern verhängt, so ist mein inneres Geschick doch mein eigenes Werk gewesen, dessen Süße oder Bitterkeit mir zukommt und für das ich die Verantwortung allein auf mich zu nehmen denke.
Manchmal in früheren Jahren habe ich gewünscht, ein Dichter zu sein. Wäre ich einer, so widerstünde ich der Lockung nicht, meinem Leben bis in die zarten Schatten der Kinderzeit und bis zu den lieben, zärtlich gehüteten Quellen meiner frühesten Erinnerungen nachzugehen. So aber ist mir dieser Besitz allzu lieb und heilig, als daß ich ihn mir etwa selber verderben möchte. Von meiner Kindheit ist nur zu sagen, daß sie schön und heiter war; man ließ mir die Freiheit, meine Neigungen und Gaben selber zu entdecken, mir meine innigsten Freuden und Schmerzen selber zu schaffen und die Zukunft nicht als eine fremde Macht von oben, sondern als die Hoffnung und den Erwerb meiner eigenen Kräfte anzusehen. So ging ich unberührt durch die Schulen, als ein unbeliebter und wenig begabter, doch ruhiger Schüler, den man am Ende gewähren ließ, da er keine starken Einflüsse zu dulden schien.
Etwa von meinem sechsten oder siebenten Jahr an begriff ich, daß von allen unsichtbaren Mächten die Musik mich am stärksten zu fassen und zu regieren bestimmt sei. Von da an hatte ich meine eigene Welt, meine Zuflucht und meinen Himmel, den mir niemand nehmen oder schmälern konnte und den ich mit niemand zu teilen begehrte. Ich war Musiker, obwohl ich vor meinem zwölften Jahre kein Instrument spielen lernte und nicht daran dachte, später mein Brot mit Musikmachen verdienen zu wollen.
Dabei ist es seither geblieben, ohne daß etwas Wesentliches sich geändert hat, und darum erscheint mir beim Rückblick mein Leben nicht bunt und vielgestaltig, sondern von Anfang an auf einen Grundton gestimmt und auf einen einzigen Stern gestellt. Mochte es sonst wohl oder übel gehen, mein innerstes Leben blieb unverändert. Ich mochte lange Zeiten auf fremden Wassern treiben, kein Notenheft und kein Instrument anrühren, eine Melodie lag mir doch zu jeder Stunde im Blut und auf den Lippen, ein Takt und Rhythmus im Atemholen und Leben. So begierig ich auf manchen anderen Wegen nach Erlösung, nach Vergessen und Befreiung suchte, so sehr ich nach Gott, nach Erkenntnis und Frieden dürstete, gefunden habe ich das alles immer nur in der Musik. Es brauchte nicht Beethoven oder Bach zu sein: – daß überhaupt Musik in der Welt ist, daß ein Mensch zuzeiten bis ins Herz von Takten bewegt und von Harmonien durchflutet werden kann, das hat für mich immer wieder einen tiefen Trost und eine Rechtfertigung alles Lebens bedeutet. O Musik! Eine Melodie fällt dir ein, du singst sie ohne Stimme, nur innerlich, durchtränkst dein Wesen mit ihr, sie nimmt von allen deinen Kräften und Bewegungen Besitz – und für die Augenblicke, die sie in dir lebt, löscht sie alles Zufällige, Böse, Rohe, Traurige in dir aus, läßt die Welt mitklingen, macht das Schwere leicht und das Starre beflügelt! Das alles kann die Melodie eines Volksliedes tun! Und erst die Harmonie! Schon jeder wohllautende Zusammenklang rein gestimmter Töne, etwa in einem Geläut, sättigt das Gemüt mit Anmut und Genuß, und steigert sich mit jedem hinzuklingenden Ton, und kann zuweilen das Herz entzünden und vor Wonne zittern machen, wie keine andere Wollust es vermag.
Von allen Vorstellungen reiner Seligkeit, die sich Völker und Dichter erträumt haben, schien mir immer die höchste und innigste jene vom Erlauschen der Sphärenharmonie. Daran haben meine tiefsten und goldensten Träume gestreift – einen Herzschlag lang den Bau des Weltalls und die Gesamtheit alles Lebens in ihrer geheimen, eingeborenen Harmonie tönen zu hören. Ach, und wie kann denn das Leben so wirr und verstimmt und verlogen sein, wie kann nur Lüge, Bosheit, Neid und Haß unter Menschen sein, da doch jedes kleinste Lied und jede bescheidenste Musik so deutlich predigt, daß Reinheit, Harmonie und brüderliches Spiel klargestimmter Töne den Himmel öffnet! Und wie mag ich selber schelten und zürnen, da ich selber, mit allem guten Willen, aus meinem Leben kein Lied und keine reine Musik habe machen können! Im Innersten spüre ich wohl den unabweislichen Mahner, das dürstende Verlangen nach einem reinen, wohlgefälligen, in sich seligen Tönen und Verklingen; meine Tage aber sind voll Zufall und Mißklang, und wohin ich mich wende und wo ich poche, es tönt mir nirgends lauter und klar zurück.
Nichts mehr davon, ich will erzählen. Wenn ich mich nun besinne, für wen ich diese Blätter beschreibe, wer eigentlich so viel Macht über mich hat, daß er Bekenntnisse von mir fordern und meine Einsamkeit durchbrechen kann, so muß ich einen lieben Frauennamen sagen, der mir nicht nur ein großes Stück Erleben und Schicksal umfaßt, sondern wohl auch als Stern und hohes Sinnbild über allem stehen mag.
Erst während der letzten Schuljahre, als alle meine Kameraden von ihren künftigen Berufen zu reden begannen, fing auch ich an hierüber nachzudenken. Die Musik zu meinem Beruf und Erwerb zu machen, lag mir eigentlich fern; doch konnte ich mir keinen andern Beruf denken, der mir Freude gemacht hätte. Ich hatte gegen den Handel oder andre Gewerbe, die mein Vater mir vorschlug, keinen Widerwillen, sie waren mir nur gleichgültig. Aber da meine Kameraden so stolz auf die von ihnen gewählten Berufe taten, vielleicht auch eine Stimme in mir dafür eintrat, schien es mir doch gut und richtig, das zu meinem Beruf zu machen, was ohnehin meine Gedanken ausfüllte und mir allein rechte Freude machte. Es kam mir zustatten, daß ich seit meinem zwölften Jahr das Violinspielen begonnen und unter einem guten Lehrer etwas Rechtes gelernt hatte. So sehr nun mein Vater sich wehrte und davor bangte, seinen einzigen Sohn die ungewisse Laufbahn eines Künstlers einschlagen zu sehen, gerade an seinem Widerstand wuchs mein Wille, und der Lehrer, der mich gern hatte, trat für meinen Wunsch nach Kräften ein. Am Ende gab mein Vater nach, es wurde mir nur zur Prüfung meiner Ausdauer und in der Hoffnung auf eine Sinnesänderung noch ein Schuljahr zudiktiert, das ich mit leidlicher Geduld absaß und währenddessen ich meines Begehrens nur sicherer wurde.
Während dieses letzten Schuljahres verliebte ich mich zum erstenmal, in ein hübsches junges Fräulein unsrer Bekanntschaft. Ohne sie viel zu sehen und auch ohne dies stark zu begehren, genoß und durchlitt ich die süßen Bewegungen der ersten Liebe wie in einem Traume. Und in dieser Zeit, da ich den ganzen Tag ebensosehr an meine Musik wie an meine Liebe dachte und nachts vor herrlicher Erregung nicht schlafen konnte, hielt ich zum erstenmal mit Bewußtsein Melodien fest, die mir einfielen, zwei kleine Lieder, und versuchte sie aufzuschreiben. Das erfüllte mich mit einem schamhaften, doch durchdringenden Vergnügen, über dem ich meine spielerische Liebesnot fast ganz vergaß. Inzwischen hörte ich, daß meine Geliebte Singstunden nehme, und war sehr begierig, sie einmal singen zu hören. Nach Monaten ward mein Wunsch erfüllt, bei einer Abendgesellschaft im Haus meiner Eltern. Das hübsche Mädchen ward aufgefordert zu singen, wehrte sich heftig und mußte am Ende doch, und ich wartete darauf mit einer ungeheuren Spannung. Ein Herr begleitete an unsrem kleinen schmalen Klavierchen, er spielte ein paar Takte und sie begann. Ach, sie sang schlecht, traurig schlecht, und noch während sie sang, verwandelte sich meine Bestürzung und Qual zu Mitleid und dann zu Humor, und künftig war ich dieser Verliebtheit ledig.
Ich war ein geduldiger und nicht gerade unfleißiger, aber kein guter Schüler, und im letzten Jahr gab ich mir vollends wenig Mühe mehr. Daran war nicht Trägheit und auch nicht meine Verliebtheit schuld, sondern ein Zustand jünglinghafter Träumerei und Gleichgültigkeit, eine Dumpfheit der Sinne und des Kopfes, die nur zuweilen plötzlich und heftig unterbrochen ward, wenn eine von den wunderbaren Stunden verfrühter schöpferischer Lust mich wie in Äther hüllte. Dann fühlte ich mich von einer überklaren, kristallnen Luft umgeben, in der kein Träumen und Vegetieren möglich war, wo alle Sinne sich geschärft und wachsam auf die Lauer legten. Was in diesen Stunden entstand, war wenig, vielleicht zehn Melodien und einige Anfänge harmonischer Gestaltungen; aber die Luft dieser Stunden vergaß ich nimmer, diese überklare fast kalte Luft und diese gespannte Zusammenfassung der Gedanken, um einer Melodie die rechte, einzige, nicht mehr zufällige Bewegung und Lösung zu geben. Zufrieden war ich mit diesen kleinen Leistungen nicht und hielt sie nie für etwas Gültiges und Gutes, aber das wurde mir klar, daß in meinem Leben nichts so begehrenswert und wichtig sein werde wie die Wiederkehr solcher Stunden der Klarheit und des Schaffens.
Daneben kannte ich auch Tage des Schwärmens, wo ich auf der Geige phantasierte und den Rausch flüchtiger Einfälle und farbiger Stimmungen genoß. Nur wußte ich bald, daß das kein Schaffen war, sondern ein Spielen und Schwelgen, vor dem ich mich zu hüten habe. Ich merkte, daß es ein andres Ding ist seinen Träumen nachzugehen und berauschte Stunden auszukosten, als unerbittlich und klar mit den Geheimnissen der Form wie mit Feinden zu ringen. Und ich merkte schon damals etwas davon, daß ein rechtes Schaffen einsam macht und etwas von uns verlangt, was wir dem Behagen des Lebens abbrechen müssen.
Endlich war ich frei, hatte die Schule hinter mir, den Eltern Lebewohl gesagt und ein neues Leben als Schüler des Konservatoriums in der Hauptstadt begonnen. Ich tat dies mit großen Erwartungen und war überzeugt gewesen, ich würde in der Musikschule ein guter Schüler sein. Zu meinem peinlichen Erstaunen kam es aber anders. Ich hatte Mühe dem Unterricht überall zu folgen, fand in Klavierunterricht, den ich jetzt nehmen mußte, nur eine große Plage und sah bald mein ganzes Studium wie einen unersteiglichen Berg vor mir liegen. Wohl war ich nicht gesonnen nachzugeben, doch war ich enttäuscht und befangen. Ich sah jetzt, daß ich bei aller Bescheidenheit mich doch für eine Art von Genie gehalten und die Mühen und Schwierigkeiten des Weges zur Kunst bedenklich unterschätzt hatte. Dazu ward mir das Komponieren gründlich entleidet, da ich jetzt bei der geringsten Aufgabe nur Berge von Schwierigkeiten und Regeln sah, meinem Gefühl durchaus mißtrauen lernte und nicht mehr wußte, ob überhaupt ein Funke von eigener Kraft in mir sei. So beschied ich mich, wurde klein und traurig, ich tat meine Arbeit wenig anders als ich die in einem Kontor oder in einer andern Schule getan hätte, fleißig und freudlos. Klagen durfte ich nicht, am wenigsten in meinen Briefen nach Hause, sondern ging den begonnenen Weg in stiller Enttäuschung weiter und nahm mir vor, wenigstens ein ordentlicher Geiger zu werden. Ich übte und übte, steckte Grobheiten und Spott der Lehrer ein, sah manche andere, denen ich es nicht zugetraut hätte, leicht vorwärtskommen und Lob ernten, und steckte meine Ziele immer niedriger. Denn auch mit dem Geigen stand und ging es nicht so, daß ich darauf hätte stolz sein können und etwa an ein Virtuosentum denken dürfen. Es sah ganz so aus, als könne aus mir bei gutem Fleiß zur Not ein brauchbarer Handwerker werden, der in irgendeinem kleinen Orchester seine bescheidene Geige ohne Schande und ohne Ehre spielt und dafür sein Brot bekommt.
So war diese Zeit, die ich so sehr ersehnt und von der ich mir alles versprochen hatte, die einzige in meinem Leben, in der ich vom Geist der Musik verlassen freudlose Wege ging und Tage ohne Klang und Takt dahinlebte. Wo ich Genuß, Erhebung, Glanz und Schönheit gesucht hatte, fand ich nur Forderungen, Regeln, Pflichten, Schwierigkeiten und Gefahren. Fiel mir etwas Musikalisches ein, so war es entweder banal und hundertmal dagewesen, oder es stand sichtlich mit allen Gesetzen der Kunst in Widerspruch und konnte also nichts wert sein. Da packte ich alle großen Gedanken und Hoffnungen ein. Ich war einer von den Tausenden, die mit jugendlicher Frechheit zur Kunst gekommen sind und deren Kraft versagt, wenn es Ernst werden soll.
Dieser Zustand dauerte wohl etwa drei Jahre. Ich war nun über zwanzig Jahre alt, hatte offenbar meinen Beruf verfehlt und ging den begonnenen Weg nur aus Scham und Pflichtgefühl weiter. Ich wußte nichts mehr von Musik, nur noch von Fingerübungen, schweren Aufgaben, Widersprüchen in der Harmonielehre, drückenden Klavierlektionen bei einem spöttischen Lehrer, der in allen meinen Bemühungen nur eine Zeitvergeudung sah.
Wäre das alte Ideal nicht doch noch heimlich in mir lebendig gewesen, so hätte ich es in diesen Jahren recht gut haben können. Ich war frei und hatte Freunde, war ein hübscher und blühender junger Mensch, ein Sohn wohlhabender Eltern. Für Augenblicke genoß ich alles das, es gab vergnügte Tage, Liebeleien, Zechereien, Ferienfahrten. Aber es war mir nicht möglich mich dabei zu trösten, meine Pflicht in Kürze abzutun und vor allem meiner jungen Tage froh zu werden. Ohne daß ich davon wußte, blickte mein Heimweh doch noch in allen unbewachten Stunden nach dem untergegangenen Stern der Künstlerschaft aus, es war mir unmöglich die Enttäuschung zu vergessen und zu betäuben. Nur einmal gelang es mir gründlich.
Es war der törichtste Tag meiner törichten Jugend. Ich lief damals einer Schülerin des berühmten Gesanglehrers H. nach. Ihr schien es ähnlich zu gehen wie mir, sie war mit großen Hoffnungen gekommen, hatte strenge Lehrer gefunden, war die Arbeit nicht gewohnt und glaubte schließlich sogar ihre Stimme zu verlieren. Sie legte sich auf die leichte Seite, flirtete mit uns Kollegen und wußte uns alle toll zu machen, wozu freilich nicht gar viel gehörte. Sie hatte die feurige, lebhaft farbige Schönheit, die bald verblüht.
Diese schöne Liddy nahm mich mit ihrer naiven Koketterie immer wieder gefangen, wenn ich sie sah. Ich war nie lange Zeit in sie verliebt, ich vergaß sie oft völlig, aber wenn ich bei ihr war, schlug jedesmal die Verliebtheit wieder über mir zusammen. Sie spielte mit mir wie mit andern, reizte uns, genoß ihre Macht und war selber dabei nur mit der neugierigen Sinnlichkeit ihrer Jugend beteiligt. Sie war sehr schön, aber nur wenn sie sprach und in Bewegung war, wenn sie mit ihrer warmen tiefen Stimme lachte, wenn sie tanzte oder sich an der Eifersucht ihrer Liebhaber ergötzte. So oft ich von einer Gesellschaft heimkam, in der ich sie gesehen hatte, lachte ich mich selber aus und bewies mir, daß ein Mensch von meiner Art unmöglich diese gefällige Lebenskünstlerin im Ernst lieben könne. Manchmal aber gelang es ihr wieder, mich durch eine Geste, durch ein geflüstertes warmes Wort so zu erregen, daß ich die halbe Nacht heiß und wild in der Nähe ihrer Wohnung unterwegs blieb.
Ich hatte damals eine kurze Periode der Wildheit und eines halb erzwungenen Übermutes. Nach Tagen der Niedergeschlagenheit und dumpfen Stille forderte meine Jugend stürmisch Bewegung und Rausch, und ich ging dann mit einigen gleichaltrigen Kameraden Lustbarkeiten und Streichen nach. Wir galten für lebenslustige, ausgelassene, ja gefährliche Tumultuanten, was bei mir nicht zutraf, und genossen bei Liddy und ihrem kleinen Kreise einen zweifelhaften, doch süßen Heldenruhm. Wie viel von diesem Treiben echte Jugendlust und wieviel gewollte Betäubung war, kann ich heute nimmer entscheiden, da ich jenen Zuständen und aller äußerlichen Jugendlichkeit längst völlig entwachsen bin. Wenn ein Zuviel dabei war, so habe ich es gebüßt.
An einem Wintertage, da kein Unterricht war, zogen wir miteinander vor die Stadt hinaus, acht oder zehn junge Leute, darunter Liddy mit drei Freundinnen. Wir hatten Rodelschlitten mit, deren Benützung damals noch für ein Kindervergnügen galt, und suchten in der bergigen Umgebung der Stadt die Straßen und Wiesenhänge nach guten Schlittenbahnen ab. Ich erinnere mich des Tages genau, es war mäßig kalt, zuweilen kam die Sonne für Viertelstunden hervor, die kräftige Luft roch herrlich nach Schnee. Die Mädchen standen mit ihren farbigen Kleidern und Tüchern prächtig im weißen Grunde, die herbe Luft war berauschend und die heftige Bewegung in dieser Frische eine Lust. Unsre kleine Gesellschaft war in fröhlichster Laune, Ulknamen und Hänseleien flogen hin und wider, wurden durch Schneeballen beantwortet und führten zu kleinen Kriegen, bis wir alle heiß und voll Schnee dastanden und eine Weile veratmen mußten, ehe wir von neuem begannen. Es wurde eine große Schneeburg gebaut, belagert und erstürmt, dazwischen fuhren wir da und dort einmal einen kleinen Wiesenabhang auf unseren Schlitten hinunter.
Um Mittag, als wir alle von dem Gestürme grimmig hungrig geworden waren, suchten und fanden wir ein Dorf und ein gutes Wirtshaus, ließen sieden und braten, bemächtigten uns des Klavieres, sangen, schrien, bestellten Wein und Grog. Das Essen kam und wurde festlich begangen, der gute Wein floß reichlich, danach begehrten die Mädchen Kaffee, während wir die Liköre versuchten. Es war ein Geschrei und Festlärm in der kleinen Stube, daß uns allen die Köpfe rauchten. Ich war immer in Liddys Nähe, die mich heute in gnädiger Laune durch besondre Gunst auszeichnete. Sie blühte in dieser Luft voll Lustbarkeit und Rausch gar prächtig auf, ließ ihre hübschen Augen blitzen und duldete manche halb kühn, halb ängstlich gewagte Zärtlichkeit. Ein Pfänderspiel wurde begonnen, wobei die Pfänder am Klavier durch Nachahmung irgendeines unsrer Lehrer eingelöst werden mußten, manche aber auch durch Küsse, deren Zahl und Beschaffenheit genau beobachtet wurde.
Als wir glühend und lärmend das Haus verließen und den Heimweg antraten, war es noch früh am Nachmittag, doch begann es schon ein wenig zu dämmern. Wieder tollten wir wie ausgelassene Kinder durch den Schnee, ohne Eile durch den leis herankommenden Abend nach der Stadt zurückkehrend. Es gelang mir, an Liddys Seite zu bleiben, zu deren Ritter ich mich nun aufwarf, nicht ohne Widerspruch der andern. Ich zog sie streckenweise auf meinem Schlitten und schützte sie nach Kräften vor den immer wieder versuchten Angriffen mit Schneeballen. Schließlich ließ man uns gewähren, jedes der Mädchen fand seinen Genossen, und nur zwei ledig gebliebene Herrlein zogen neckend und kriegslustig nebenher. Ich war nie so erregt und toll verliebt gewesen wie in jenen Stunden, Liddy hatte meinen Arm genommen und duldete es, daß ich sie im Gehen leise an mich zog. Dabei plauderte sie bald geschwätzig in den Abend hinein, bald schwieg sie glücklich und, wie mir schien, verheißungsvoll an meiner Seite. Ich brannte und war entschlossen, diese Gelegenheit nach Kräften zu benützen, zumindest aber diesen traulich zärtlichen Zustand so lange als möglich festzuhalten. Es hatte auch niemand etwas dagegen, als ich kurz vor der Stadt noch einen Umweg vorschlug und in einen schönen Höhenweg einbog, der steil über dem Tale im Halbkreis hinlief, reich an weiten Aussichten auf das Flußtal und die Stadt, die schon mit blitzenden Laternenreihen und tausend roten Lichtern aus der Tiefe glänzte.
Liddy hing noch immer an meinem Arm und ließ mich reden, nahm meine glühenden Überschwänglichkeiten lachend hin und schien doch selber tief erregt zu sein. Als ich sie aber mit leiser Gewalt an mich zog und küssen wollte, machte sie sich los und sprang beiseite.
»Schauen Sie«, rief sie aufatmend, »die Wiese da hinunter müssen wir schlitteln! Oder haben Sie Angst, Sie Held?«
Ich schaute hinunter und war erstaunt, denn der Abhang war so jäh, daß mir wirklich einen Augenblick vor dieser frechen Fahrt graute.
»Das geht nicht«, sagte ich leichthin, »es ist schon viel zu dunkel.«
Sofort fiel sie mit Spott und Entrüstung über mich her, nannte mich einen Hasenfuß und verschwor sich, den Hang allein hinab zu fahren, wenn ich zu feig sei mitzukommen.
»Umwerfen werden wir natürlich«, meinte sie lachend, »aber das ist ja doch das Lustigste bei der ganzen Fahrerei.«
Da sie mich so reizte, kam mir ein Einfall.
»Liddy«, sagte ich leise, »wir fahren. Wenn wir umwerfen, dürfen Sie mich mit Schnee einreiben, aber wenn wir glatt hinunterkommen, will ich auch meinen Lohn haben.«
Sie lachte nur und setzte sich auf den Schlitten. Ich sah ihr in die Augen, die glühten warm und lustig, da nahm ich ganz vorn Platz, hieß sie sich an mich klammern und fuhr ab. Ich spürte wie sie mich umfaßte, ihre Hände auf meiner Brust kreuzend, und ich wollte ihr noch etwas zurufen, konnte aber nicht mehr. Die Steile war so jäh, daß ich das Gefühl hatte in die leere Luft zu stürzen. Sofort suchte ich mit beiden Sohlen den Boden, um anzuhalten oder doch umzuwerfen, denn plötzlich war mir eine Todesangst um Liddy ins Herz gefahren. Es war jedoch zu spät. Der Schlitten sauste unaufhaltsam bergab, ich fühlte nur einen kalten beißenden Schwall aufgewühlten Schneestaubes im Gesicht, dann hörte ich Liddy angstvoll schreien, dann nichts mehr. Ein ungeheurer Hieb wie von einem Schmiedehammer traf meinen Kopf, irgendwo tat es mir schneidend weh. Das letzte Gefühl, das ich hatte, war das der Kälte.
Mit dieser kurzen flotten Schlittenfahrt habe ich meine Jugendlust und Torheit gebüßt. Nachher war mit vielem andrem auch meine Liebe zu Liddy ganz verflogen.
Dem Tumult und ängstlichen Getriebe, das auf den Unfall folgte, war ich enthoben. Für die andern war es eine peinliche Stunde. Sie hörten Liddy schreien, lachten und neckten von oben herab in die Dunkelheit hinein, erkannten endlich, daß etwas Böses geschehen sei, stiegen mühsam herab und brauchten eine Weile, bis sie aus dem Rausch und Übermut heraus zur Überlegung kamen. Liddy war bleich und halb ohnmächtig, jedoch durchaus unverletzt, nur ihre Handschuhe waren zerrissen und ihre feinen weißen Hände etwas zerschunden und blutig. Mich trugen sie für tot hinweg. Den Apfel- oder Birnbaum, an dem der Schlitten und meine Knochen zerschellt waren, habe ich später vergeblich wieder zu finden versucht.
Man dachte, ich sei einer Gehirnerschütterung erlegen, doch stand es nicht so schlimm. Kopf und Gehirn waren zwar mitgenommen und es dauerte sehr lange, bis ich im Spital wieder zur Besinnung kam, aber die Wunde heilte und das Gehirn ruhte sich aus. Dagegen wollte das mehrfach gebrochene linke Bein nicht wieder ganz in Ordnung kommen. Ich bin seither ein Krüppel, der nur hinken, nicht mehr schreiten oder gar laufen und tanzen kann. Damit war meiner Jugend unversehens ein Weg in stillere Lande gewiesen, den ich nicht ohne Scham und Widerstreben einschlug. Aber ich schlug ihn doch ein, und manchmal scheint es mir, als möchte ich jene abendliche Schlittenfahrt und ihre Folgen keineswegs in meinem Leben missen.
Freilich denke ich dabei weniger an das zerbrochene Bein als an die andern Folgen jenes Unfalls, die weit freundlicher und freudiger waren. War es das Unglück selbst mit seinem Schrecken und Blick in das Dunkel oder war es das lange Liegen und monatelange Stillsein und Besinnen, die Kur tat mir gut.
Der Beginn jener langen Liegezeit, etwa die erste Woche, ist ganz aus meiner Erinnerung verschwunden. Ich war viel bewußtlos und auch nach dem endgültigen Erwachen geschwächt und gleichgültig. Meine Mutter war gekommen und saß alle Tage getreulich im Spital an meinem Bett. Wenn ich sie ansah und ein paar Worte mit ihr sprach, schien sie freundlich und fast heiter, obwohl sie, wie ich später erfuhr, Angst um mich hatte, und zwar nicht um mein Leben, sondern um meinen Verstand. Zuweilen plauderten wir in dem stillen, hellen Krankenzimmerchen lange miteinander. Doch war unser Verhältnis nie sehr innig gewesen; ich hatte stets mehr zum Vater gehalten. Nun war sie vom Mitleid und ich von Dankbarkeit erweicht und zur Versöhnung gestimmt, wir waren aber beide allzulange an ein gegenseitiges Zuwarten und lässiges Geltenlassen gewöhnt, als daß nun die erwachende Herzlichkeit den Weg in unsre Worte hätte finden mögen. Wir sahen einander zufrieden an und ließen die Dinge unbesprochen. Sie war wieder meine Mutter, da sie mich krank liegen hatte und pflegen konnte; und ich sah sie wieder mit Knabengefühlen an und vergaß einstweilen alles andere. Später freilich kehrte das alte Verhältnis wieder und wir vermieden es von diesem Krankenlager viel zu reden, da es uns beide verlegen machte.
Allmählich begann ich meine Lage zu übersehen, und da ich die Fieberzeit überwunden hatte und ruhig schien, machte der Arzt nicht länger ein Geheimnis daraus, daß mir wohl für immer ein Andenken an diesen Sturz bleiben werde. Ich sah meine Jugend, die ich noch kaum mit einigem Bewußtsein genossen hatte, empfindlich beschnitten und verarmt und hatte alle Zeit, mich mit dieser Sache abzufinden, denn das Liegen dauerte noch wohl ein Vierteljahr.
Ich suchte denn auch eifrig in Gedanken meine Lage zu fassen und mir ein Bild der Zukunft zu machen, doch kam ich damit nicht weit. Viel Denken war noch nichts für mich, ich ermüdete immer bald und sank in ein ausruhendes Hinträumen, womit mich die Natur vor Angst und Verzweiflung bewahrte und mir die Ruhe zur Heilung erzwang. Immerhin plagte mich mein Unglück manche Stunde und halbe Nacht, ohne daß ich einen nennenswerten Trost hätte erdenken können.