Gesammelte Werke Rudolf Presbers - Rudolf Presber - E-Book

Gesammelte Werke Rudolf Presbers E-Book

Rudolf Presber

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Beschreibung

Diese Sammlung der Werke von Rudolf Presber, des berühmten deutschen Schriftstellers, Dramatikers und Drehbuchautors enthält: Von Ihr und Ihm Dialoge Die Mücke Die Rettungsmedaille 'O, com' è bello.' Der Mord in der Padoja-Schlucht Heimfahrt 'Hoheit' Korrespondenz Ein Schäferstündchen Bei 35 Grad im Schatten Donatello Die Sommernacht Im Sand Herbst Mein Bruder Benjamin Geschichte eines leichten Lebens Der Untermensch und andere Satiren. Inhalt. Der Untermensch. Der Diplomat. Einige Mitteilungenüber den merkwürdigen Mann, der Ernst von Wildenbruch so ähnlich sah. Reiselust. Die lieben Kritiker. Phantasien über einen Prospekt. 'Ehrenvolles Vertrauen.' Der Roman des Romans. Die gute Sache. Das echte Kostüm. Weihnachten in einer kleinen Garnison. Rudolf Presber Die Hexe von Endor Der Rubin der Herzogin

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Inhaltsverzeichnis
Gesammelte Werke Rudolf Presbers
Von Ihr und Ihm
Dialoge
Die Mücke
Die Rettungsmedaille
»O, com' è bello ...«
Der Mord in der Padoja-Schlucht
Heimfahrt
»Hoheit«
Korrespondenz
Ein Schäferstündchen
Bei 35 Grad im Schatten
Donatello
Die Sommernacht
Im Sand
Herbst
Mein Bruder Benjamin
Geschichte eines leichten Lebens
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Einunddreißigstes Kapitel
Zweiunddreißigstes Kapitel
Dreiunddreißigstes Kapitel
Vierunddreißigstes Kapitel
Fünfunddreißigstes Kapitel
Sechsunddreißigstes Kapitel
Siebenunddreißigstes Kapitel
Achtunddreißigstes Kapitel
Neununddreißigstes Kapitel
Vierzigstes Kapitel
Einundvierzigstes Kapitel
Zweiundvierzigstes Kapitel
Dreiundvierzigstes Kapitel
Vierundvierzigstes Kapitel
Fünfundvierzigstes Kapitel
Der Untermensch
und andere Satiren.
Inhalt.
Der Untermensch.
Der Diplomat.
Einige Mitteilungenüber den merkwürdigen Mann, der Ernst von Wildenbruch so ähnlich sah.
Reiselust.
Die lieben Kritiker.
Phantasien über einen Prospekt.
»Ehrenvolles Vertrauen.«
Der Roman des Romans.
Die gute Sache.
Das echte Kostüm.
Weihnachten in einer kleinen Garnison.
Rudolf Presber
Die Hexe von Endor
Der Rubin der Herzogin
Erstes Kapitel.
Zweites Kapitel.
Drittes Kapitel.
Viertes Kapitel.
Fünftes Kapitel.
Sechstes Kapitel.
Siebentes Kapitel.
Achtes Kapitel.

Rudolf Presber

Gesammelte Werke Rudolf Presbers

Von Ihr und Ihm

Dialoge

»Man ist übereingekommen, die Aufrichtigkeit durch schöne Redensarten zu ersetzen. Und auch die Kunst zu lieben ist von dieser Handlungsweise angesteckt worden.«

Ninon de Lenclos an den Marquis de Sévigné.

1913

Die Mücke

Modisches Seebad. Zwanzig Mark Kurtaxe. Richtiggehende Rennen mit Geldpreisen. Familienbad. Kurtheater mit Hofschauspielern »als Gast«. Venezianische Nächte. Eselreiten. Und so.

Es ist spät am Abend. Ein Schlafzimmer im Strandhotel, weiß und grün. An der Wand: »Othello und Desdemona«, »des Matrosen Heimkehr«, die gedruckte Mitteilung, daß »für Wertsachen keine Garantie übernommen wird«. Und ähnliche Kunstwerke.

Vom Balkon Aussicht aufs Meer, das sehr ruhig ist, und auf Hunderte von Strandkörben, von denen sich noch nicht dasselbe sagen läßt. Ein Dampfer in der Entfernung mit Lichtern wie eingesetzte goldene Nägel, Sterne darüber. Der Himmel weißlich-blau wie gutgewässerte Milch. Irgendwo spielt der Friseur Harmonika. Alle Damen im Strandhotel wissen, daß es der Friseur ist. Stimmung.

»Er« und »Sie« beim Auskleiden. Sie sind aus Berlin und tatsächlich verheiratet. Ersteresist fast Regel im Strandhotel, letzteres nicht.Siehat noch ein paar Turnübungen gemacht mit den gelblederüberzogenen zierlichen Fünf-Pfund-Hanteln.Ersteht in resedafarbenen Unterhosen am Balkon und sinnt träumerisch vor sich hin. Dazu neigt er in Unterhosen.

Sie(auf dem Bettrand sitzend und langsam den Strumpf von dem wohlgeformten rechten Bein ziehend): Adolar, wie wär's, wenn duauchzu Bett gingst?

Er(tief versonnen): Gott, Gott – wenn man das somalenkönnte!

Sie(leise die Stelle prüfend, wo der Strumpf eine Falte hatte und ein wenig die kleine Zehe scheuerte): Du kannst es nicht. Das weißt du nun schon seit zehn Jahren. Warum sagst du's also jedesmal?

Er: Es erleichtert mich.(Er tritt vom Balkon zurück und vollendet die Nachttoilette.)Eine eigene Sprache reden sie doch, diese Sterne! Wenn man so denkt ...(Er gurgelt mit Thymian-Extrakt.)

Sie(das Bettuch über sich ziehend): Kannst du nicht ein bißchenleisergurgeln? Die Wände sind doch so dünn.

Er(hat sich des Thymian-Extrakts in den Eimer entledigt): Aber es ist doch nichts Unanständiges.

Sie: Solche Geräusche sind häßlich. Männer von Geschmack gurgeln lautlos.

Er: Woher weißt du das? Ich bin übrigens schon fertig ...(Im Vorbeigehen nach dem Bett fällt sein Blick in den Spiegel im Schrank, der zwar nicht aufgeht, aber sehr edel geschweift aus Ahornholz gefertigt ist.)Du hast mir noch gar nichts über meine neuen Nachthemden gesagt. Grüne Börtchen – bemerkst du? Und ein Täschchen mit Perlmutterknopf ... Ganz wie die vor zehn Jahren, weißt du noch, als wir in Potsdam ... Wir hatten gesagt, wir fahrendurch– bis Frankfurt.

Sie: Das hätten wir vielleicht tun sollen. Aber willst du nicht das Fenster schließen, es kommenMückenherein.

Er: Antonie, ich wollte dich bitten, die Balkontüre offen zu lassen. Sieh doch – wir können die Sterne sehen vom Bett aus. Und wir hören die Harmonika.

Sie: Ja, es ist der Friseur. Er spielt ganz gut, aber er onduliert schlecht. Und meine Haarfarbe hat er natürlich in Löckchen nicht vorrätig.

Er: ... und das Rauschen des Meeres, wie es so die Muscheln auf den Sand wirft. Vielleicht auch Perlen, wer weiß. Oh, das alles regt an ...

Sie: Zu was?

Er: Zu schöpferischen Gedanken.

Sie: Ach so.

Er: Du wirst sehen, ich werdemalen...

Sie: Das seh' ich seit zehn Jahren.

Er: Ja, aber malen – undmalen, das ist ein Unterschied.

Sie: Wem sagst du das?! Aber willst du nichtdochlieber die Balkontüre schließen?

Er: Im Prospekt steht ausdrücklich: »KeineMücken«.

Sie: Ich fürchte auch nicht die Mücken, die im Prospekt stehen, sondern die Mücken im Zimmer.

Er: Gut, wenn du willst.(Er steht auf.)Du siehst, ich tue alles ...(Am Balkon.)Oh – jetzt kommt auch der Mond!

Sie: Das macht er doch jede Nacht.

Er: Herrlich.(Weich rezitierend.)Füllest wieder Busch und Tal ...

Sie: Apropos – Busch; ihr wart doch wohl im Zirkus?

Er(ernüchtert das Fenster schließend): Ja. Es fährt da jetzt ein Affe Rad. Er sieht aus wie dein Assessor, wenn er Sonntagssport treibt.

Sie: Adolar – du hast versprochen!

Er(brummend): Ja, ja. Ich bereue schon.(Milder.)Ich weiß, du mußt so ein bißchen Flirt haben.

Sie: Ich kann doch nicht immer im Atelier bei dir sitzen. Ich kann doch ...

Er(fortfahrend): Terpentin nicht riechen, ich weiß. Nur seltsam, daß dein erster Verlobter ein Lackfabrikant war.

Sie: Ich habe ihn doch auch nicht geheiratet. Undwennich ihn geheiratet hätte – also, du, Adolar,dasweiß ich, seinen Lack täglich zu riechen oder gar seiner Zubereitung zuzusehen, das hätt' er mirniezugemutet. Er mag seine Fehler gehabt haben, aber eins ist sicher: es war ein nobler, feinfühliger Mensch.

Er: Das sind sie alle, die man nicht heiratet ... Aber sieh mal ...(Er knipst das Licht aus.)

Sie: Das bist nun wieder ganz du. Du sagst: »Sieh mal« – und drehst dabei das Licht ab.

Er: Aber Kind, ich meinte das doch geistig.

Sie: Das ist immer deine Ausrede. Wenn du was Dummes gesagt hast, nachher hast du's »geistig« gemeint.

Er: Ich wollte sagen: sieh mal, Kind, wir wollen uns nicht zanken. Wir sind doch auf dem besten Wege, uns wieder ... wie soll ich sagen: uns wieder zufinden. Hier auf neutralem Boden – es war ein guter Einfall! Die See, die Sterne, der tiefe Friede des Meeres, all diese, wie soll ich sagen – all diese urewigen Vermittler ewiger Gedanken – die glätten, beruhigen, versöhnen.

Sie: Adolar, manchmal sprichst du wirklich sehr hübsch.

Er: Findest du –? Gott, ichfühledas ebenso. Das kommt ganz kunstlos, nicht wahr?

Sie: Liebgehabt hab' ich dich ja im Grunde immer. Bloß ...

Er: Ich weiß, ich weiß. Du hattest einen »Menschen« lieb, und der »Künstler« befremdete dich. Künstler – du dachtest an Atelierfeste, an Gondelfahrten, an Mandolinenständchen ...

Sie: Ja, mindestens dacht' ich nicht an Frauen, die sich nackt malen lassen.

Er(überhört's): Und ich erwartete mehr Verständnis, mehr Aufgehen in meine Kunst.

Sie: Aber ich hab' doch Lübkes Kunstgeschichte ganz durchgelesen.

Er: Ich tadle ja auch nicht. Überhaupt, wir wollen uns nichts mehr vorwerfen.

Sie(froh): Nein, das wollen wir nicht mehr! Und du, Adolar, deine Nachthemden sind auchwirklichhübsch. Und ich habe gleich gedacht an damals ... Und daß wir in Potsdam ausstiegen, wardochganz nett. Und wir hätten denn doch auch das Schloß nicht mehr gesehen, wo der alte Menzel gewohnt hat.

Er: Der alte Fritz, meinst du.

Sie: Na, oderder.

Er: Sieh mal, die Hauptsache ist doch, daß man sich ineinandereinlebt. Daß man ...

Sie(setzt sich im Bett auf): Na also – Adolar, hab' ich das nicht immer gesagt?

Er(zögernd): Es ist – ja möglich, daß du's gesagt hast. Jedenfalls, sieh mal, ich denk' mir so: jeder hat seine Lebensaufgabe, – ich meine Kunst, du – deine Wohltätigkeit. Dir ist es sehr einerlei, was ich male, – undwieich's sehe, undwarumich's so sehe. Du kannst meinen Hang zur Einsamkeit nicht verstehen ...

Sie: Bitte, du gehst dreimal in der Woche an deinen Stammtisch, und zweimal spielst du Billard. Du hast also doch schon eher einen Hang zumeinerEinsamkeit.

Er: Nun ja – gut – ich hab' dich ebenauchnicht recht verstanden – dies ewige Nähen für Kinder von anderen Leuten ... und meine Skizzenmappen plündern für Basare. Und wenn man zu Mittag essen will – Komiteesitzungen. Und wenn man das schönste Nordlicht zum Malen hat – Proben für lebende Bilder.

Sie: Aber jetzt siehst du's ein ...? Und übrigens, weißt du, deine Bildersindauch sehr interessant. Ja. Erst hab' ich's gar nicht so verstanden. Aber nun – ich glaube, ich habe michhineingesehen.

Er: Hin–ein–ge–se–hen – das ist's! In die Menschen und in die Bilder muß man das. In die Leinwand und in die Seelen. Siehst du, jetzt die vier Wochen, da du allein hier warst ... eh' ich mich entschloß, dir nachzufahren.

Sie: Bitte, eh' ich dir schrieb: »Adolar, es ist einsam hier. Komm!«

Er: Ja. »Und bringe mir das Foulardkleid mit und den Crêpe-de-Chine-Schal und den Biedermeier-Beutel mit den Perlen und das Necessaire für Handpflege ...«

Sie: Aber ich wollte doch nett aussehen, wenn du kommst.

Er(zärtlich): So, wie du jetzt aussiehst, – das steht dir doch am besten.

Sie: Du siehst mich ja gar nicht!

Er: O doch. Mit meines Geistes Augen. Und dann der seine Duft!

Sie: Halb Chypre, halb Opoponax, halb Reseda – ich hab' mir das selbst ausgedacht für die Reise.

Er: Herrlich!DreiHälften. Aber dieser Geruch paßt zu dir, zu deinem lockigen Blondhaar, zu deinen rosigen Händchen ... Siehst du, jetzt, wo wir uns gewissermaßen im Großen wieder verstehen – wo du mich als Künstler ahnst, und ich deine im Grunde feine Frauenart, losgelöst von ihren kleinen Weltlichkeiten, schätzen gelernt habe ...

Sie:(reicht ihm die Hand hinüber): Ja – nicht wahr ... die richtige Ehe beginnt erst –

Er: Knapp vor der Scheidung.(Er drückt ihr die Hand.)

Sie: Sprich nicht mehr davon, Adolar.(Sie gibt ihm auch die andere Hand.)Ich wüßte wirklich nicht, was jetzt noch ...

Sssss ... Sssss ... Sssss.

Sie: Was ist denn das?

Er(lauscht): Ach, nichts. Eine Mücke ...

Sie: Das nennst du nichts?! Ich werde morgen ein ganz dickes Gesicht haben!

Er: Das macht nichts, Schatz.

Sie:Natürlich,dirmacht's nichts, wenn ich ein dickes Gesicht habe.

Er: Schließ deine süßen, kleinen Ohren zu und –

Sie: O Gott, nein ... ich kann nicht.Fangsie, Adolar ... Hast du sie?

Er(ärgerlich): Aber wie soll ich denn im Dunkeln eine Mücke fangen?

Sssss ... Sssss ... Sssss.

Sie(sitzt ängstlich lauschend wie ein Hase im Bett aus): Du – Adolar, ich kann das nicht haben – ichkannnicht! Du hast sie hereingelassen ... Ja, du. Die ganzen vier Wochen hab' ich keine Mücke nachts hier gehabt! Und kaum bist du da, krieg' ich Ungeziefer.

Er:Seiso gut! Ich hab' sie doch nicht mitgebracht von Berlin. Ich hatte gerade genug zu schleppen an dem Foulardkleid und dem Crêpe-de-Chine-Schal ...

Sie(empört): Ich hätt' wohl hinkommen sollen, um mir's selbst zu holen? Aber sobewegdich doch nicht immer, du hetzt ja das Tier geradezu auf mich.

Er: Aber in drei Teufels Namen, ich bewege mich doch gar nicht.

Sie: Siehst du, sobistdu nun, – das Bett knarrt doch – das macht es doch nicht vonselbst!

Sssss ... Sssss ... Sssss.

Sie(kreischend): Adolar – sofangsie doch ... Jetzt ist sie dicht an meinem Ohr ... Au, du piekst mir ja in die Nase ... Also ein rücksichtsloser Mensch bist du doch! ...Hastdu sie wenigstens?

Sssss ... Sssss ... Sssss.

Sie: Also du hast sienicht... Nicht einmal Mücken fangen kannst du! Bloß die Fenster aufreißen.

Er: Ich tat's doch wegen des Mondes.

Sie: Als ob der Mond hereinkäme!Mückenkommen herein.

Er(ärgerlich): Wenn du nicht so sinnlos parfümiert wärst ...

Sie: Bitte, halb Chypre, halb Opoponax und ...

Er: Die dritte Hälfte Reseda. Ich weiß. Auf solche urblöden Zusammenstellungen kommst auch nur du.

Sie: Der Assessor ...

Er: Also laß mich bloß aus mit dem Kamel!

Sie: Also für Schick hast du keinen Sinn. Der Assessor ...

Er: Warum nicht gleich der Lackfabrikant? Der hätte für das Ineinandergießen von solchem Zeug noch eine berufliche Entschuldigung.

Sie: Also – so unfair, mir fortgesetzt vorzuwerfen, daß ich um deinetwillen einen braven Mann unglücklich gemacht habe ...

Er: Der unglückliche Mann hat eine Frau mit zwanzigtausend Mark Rente und drei bildhübsche Kinder von ihr.

Sie: Das wird ja immer besser! Das soll natürlich heißen, daß ich dir nichts eingebracht habe. Und dabei weißt du doch, daß Tante Sussy ein Leberleiden ...

Er: Die leberleidende Tante Sussy hat diesen Sommer angefangen Tennis zu spielen. Wenn wir Glück haben, reitet sie nächstes Jahr Polo-Konkurrenzen.

Sie: Du willst also andeuten, daß sie dich enttäuscht, weil sie nicht stirbt?

Er: Ich will gar nichts andeuten. Ich will schlafen.

Sie: Das sieht dir ähnlich!

Er: Herrgott, alles, was ich tue, sieht mir natürlich »ähnlich«. Sonst tät' ich's doch nicht!

Sie:Schreinicht so roh, die Wände sind so dünn.

Er: Warumziehstdu in ein Hotel, das Papierwände hat?!

Sie: In solches Hotel können eben nuranständigeFrauen ziehen. Du wohnst natürlich auf deinen »Ausstellungs«-Reisen in Hotels mitdickenWänden. Das ist bezeichnend für dich! Aber die Frivolität, mit der du das sagst ...

Er: Kreuzdonnerwetter, ichsag's doch gar nicht!

Sssss ... Sssss ... Sssss.

Sie: Adolar, du stehst jetzt auf undfängstdie Mücke –oder...

Er: Ich soll mich doch nicht bewegen.

Sie: Also dasWortverdrehst du einem im Munde. Erst läßt du Tiere herein, vor denen ich ein Grauen habe. Dann hetzt du sie auf mich. Dann wirfst du mir meine Mitgift vor. Dann wünschest du meiner einzigen Verwandten den Tod. Und jetzt weigerst du dich auch noch ...(weint).

Er(macht Licht): In drei Teufels Namen, ich weigere michgarnicht. Ich ...

Sie: Brülle nur so weiter!Soist's recht. Zeugen werd' ich haben für deine empörende Behandlung. Links in Nr. 123 der Oberstleutnant ist zwar halb taub – aberdeintierisches Geschrei hört auch einganzTauber. Und rechts in Nr. 125 die alte Schwedin versteht zwar kein Deutsch, aberdeineabscheulichen Schimpfworte wird sie schon verstehen.

Sssss ... Sssss ... Sssss.

Er(ergreift wütend einen Pantoffel): Das ist schon zu dumm!

Sie(kreischt): Adolar –schlagenwillst du mich – schla–gen!?

Er: Donner und Doria –nein! DieMückewill ich totschlagen.(Er wirft einen Stuhl um und haut mit dem Pantoffel nachder Mücke, die um die Nachttischlampe schwirrt. Trifft aber nur das gefüllte Wasserglas. Das Glas geht kaputt, das Wasser spritzt ins Bett. Die Mücke entsurrt nach der Decke und bleibt träumerisch auf der Rückenpartie einer gemalten Putte sitzen.)

Es klopft an der Tür.

Er: Schockschwerenot, wer ist denn ...?

Die Stimme des Assessors: Ich.

Er: Wer – ich? Die Stimme kenn' ich doch! Der Herr Assessor?

Die Stimme des Assessors: Allerdings.

Er: Ich denke, Sie sind abgereist?

Die Stimme des Assessors: Ich binwiedergekommen! Sie werden die Dame nicht weiter mißhandeln. Ich bin zujederGenugtuung bereit.

Sie(leise): Der Ochse!

Er(stellt langsam den Pantoffel zu dem anderen. Betrachtet eine Weile das Bild Othellos. Dann heftet er den Blick auf die Mitteilung, daß man »für Wertsachen im Hotel keine Garantie übernimmt«. Schließlich geht er zur Balkontüre und öffnet sie langsam.)

Sie(zaghaft nach einer Weile): Adolar, duwirst dochnicht ...?

Er: Ich weiß nicht, was du meinst, – aber ich werde nicht.

Sie: Adolar – es kommt am Endewiedereine Mücke herein.

Er: Oh, eine Mücke mehr, – das macht nun nichts.

(Das Meer ist leicht bewegt. Die Strandkörbe sind ruhig. Der Friseur spielt noch immer Harmonika. Stimmung.)

Die Rettungsmedaille

Es ist Spätsommer. Draußen spielt der Wind mit verbranntem Laub über dem Asphalt. Es regnet ein wenig, wie immer, wenn der Provisor in der Apotheke gegenüber seine Nangkingbeinkleider anhat. Ein Bollejunge klingelt. Die Elektrische rasselt. Zwei Taxameterkutscher beschimpfen sich. Auf dem Gesims des geöffneten Fensters sitzt ein ruppiger Spatz und verdaut.

Er und sie am Frühstückstisch.Er sitzt, den Kopf mit einer Kompresse bedeckt, eine italienische Seidendecke über den Beinen, im Sessel; auf der Nase hat er ein Pflaster, das eingerissene Ohrläppchen ist frisch genäht. Er riecht nach Karbol und Eau de Cologne, ist vierzig, talentvoll, wie er glaubt, ohne Beruf, wie jeder weiß, und gestern in den Kanal gesprungen, wie in der Zeitung steht. Sie ist aschblond, blonder als voriges Jahr, rotbäckig, rotbäckiger als nachmittags, schlank, schlanker als vor der Marienbader Reise, und eine jenerFrauen, die kurze Zeit zu besitzen sehr köstlich und die dauernd zu besitzen sehr lästig genannt werden muß.

Er sieht mit etwas zittrigen Fingern die Post durch, während sie 25 Tropfen Zitrone in ihren Tee preßt.

Sie: Sagtest du etwas?

Er: Nein. Das ist bloß – die Flüssigkeit in den Gedärmen, das viele Wasser, das ich gestern geschluckt habe.

Sie: Trinke Tee!

Er: Davon wird doch die Flüssigkeit nicht weniger.(Schiebt ihr ein großes Kuvert hinüber, in das er nur von oben hineingesehen hat.)Schon wieder eine Verlobungsanzeige! Steck unsere Karten in ein Kuvert: Mit herzlichem Glückwunsch.

Sie: Wer ist's denn?

Er(gleichgültig): Ich weiß nicht.

Sie: Ah, unser lieber Doktor Heymann heiratet das kleine Fräulein Koppel, weißt du, die niedliche mit der Hasenscharte und den geschnittenen Drüsen am Hals. Sie hat zwar nichts, aber der Vater ist vortragender Rat. Ja, der Doktor! Ein Idealist!

Er: Beschimpfe doch die Leute nicht schon beim ersten Frühstück!

Sie: Ist Idealist ein Schimpfwort?

Er: Wenndu's sagst.

Sie: Jedenfalls ist es ein Glück für einen, wenn er wirklich in den Verhältnissen ist, so schlankweg heiraten zu können.

Er: Ja, aber noch ein größeres Glück für ihn ist's, wenn er's trotzdem bleiben läßt.

Sie: Gott, Ottomar, du mußt, scheint's, Wasser schlucken, um geistreich zu sein!

Er: Mir scheint,dusolltest die letzte sein, die mir vorwirft, daß ich Wasser geschluckt habe! Denn ich habe es gewissermaßen fürdichgeschluckt.(Er knöpft die Weste und das Hemd auf und steckt diskret das Fieberthermometer in die Achselhöhle.)Du erlaubst?

Sie: Ich erlaube dir alles in Anbetracht deines nicht gewöhnlichen Zustandes – selbst solch unappetitliche Hantierungen am Frühstückstisch. Ich erlaube dir bloß nicht, alle Widerwärtigkeiten deines Lebens, vom Keuchhusten angefangen, den du als Kind gehabt hast, und den Stunden, die du in Quinta hast nachsitzen müssen, bis zu dieser gegenwärtigen Stunde aufmichzurückzuführen. Das nicht.

Er: Aber ...

Sie: Pardon,ichrede. Mein Vetter, der Senator in Bremen ...

Er: Schwöre mir, daß du nicht sagst: daß er ein Mahagoniboot hat, daß er »aus eigener Tüchtigkeit« auf Gummi fährt, daß er nun schon den Kronenordendritterbesitzt und in Preußen längst Exzellenz wäre ... Ja, verstehst du denn nicht, daß mich dieser Mann in den Kanal getrieben hat?!

Sie: Du solltest das Fieberthermometer herausnehmen! DuhastFieber. Was hat das Mahagoniboot des Senators mit der schmutzigen Kanalstelle am Halleschen Ufer zu tun, an der du »beinahe« ein Kind gerettet hast?

Er: Aber dies Kind, versteh doch,hätteich janiegerettet ...

Sie: Duhastes ja auch gar nicht gerettet. Schiffer haben es herausgezogen und dich ...

Er(bewegt die Hände, als ob er sich am Rücken reiben wollte, beherrscht sich und läßt's): Also – liebe Aurelie ...

Sie: Also – lieber Ottomar? Trinke Tee, ja. Onkel Ernst – du hast gelesen, er ist unter den Männern genannt, die ernstlich als Nachfolger des Kultusministers in Frage kommen – Onkel Ernst hat einen vortrefflichen Ausspruch ...

Er: Also – liebe Aurelie, ich weiß nicht, ob mir jetzt der Tee bekommt. Aberdasweiß ich, Aussprüche des Onkel Ernst verschlimmern jetzt meinen Zustand. Ich gebe zu, er verdiente, Kultusminister zu sein. Ich gebe zu, daß seine Aussprüche – zu mir hat er immer nur gesagt: »Woher kommt's, lieber Freund, daß ich Sie stets mit einem geheimen Postrat verwechsle, der einen so tragischen Tod erlitt, weil er in seiner Jugend so viele Postmarken geleckt hatte« – gebe zu, gegen seine Aussprüche sind die Sibyllinischen Bücher Fibelverse, Knallbonbonweisheit, Schüttelreime. Aber dieser Mann in Verbindung mit dem Bremer Konsul und dem Vetter Hugo, der Attaché in Tokio ist und schon den Orden vom aufgehenden Abendstern hat ...

Sie: Morgenstern.

Er: Mirauchrecht! Meinetwegen beide. AbendundMorgen. Und dann die Äbtissin von Heiligenwiege, der der Fürst zu Putbus den goldenen Hirtenstab gestiftet hat und die eine Duzfreundin von drei Prinzessinnenunddeine Cousine ist – diese Suppe, diese Suppe.

Sie: Was denn, was denn?

Er: Sippe,Sippewollt' ich sagen – diese ganze Sippe hat mich gestern in den Kanal gestoßen ... ja, ja,sie!! Alle haben sie hinter mir gestanden und gehetzt: »Spring!« Und haben gelacht und gekichert: »Tu's! Wenn du schon ersäufst!« Und der Vetter, der Senator, hat gesagt: »Ich habe ein Mahagoniboot, aber untersteh dich nicht, dich daran festzuhalten!« Und der Onkel Ernst hat gedrängt: »Der Postrat, dem du ähnlich siehst, ist jaauchschon tot – also,wasdenn? Riskier's!« Und im Rücken hab' ich ein Picken gespürt wie von einem Stachel, jawohl – das war der Hirtenstab, den der Fürst zu Putbus gestiftet hat. Und die Äbtissin von Heiligenwiege hat ihn mir persönlich in den Rücken gebohrt ...

Sie(ist erschreckt aufgesprungen): Ottomar – du hast ... du bist wirklich krank. Ich werde den Sanitätsrat ...

Er(faßt sie am Handgelenk und zwingt sie in den Stuhl zurück):Nichtswirst du! Und das alte Kamel schon gar nicht, das nur Abführmittel verschreibt, weil er selber hartleibig ist.Hierbleiben wirst du! Zuhören wirst du ... Nicht mehr zum Aushalten war's mit der Familie! Orden, Gummiräder, Hirtenstäbe, Mahagoniboote – jeden Tag irgendeine Auszeichnung, irgendeine Notiz in der Zeitung. Und dann immer dein Gesicht unddeineLitanei: »Ottomar, du solltest dochauch...« »Ottomar,könntestdu nicht ...« »Ottomar, ließe sich denngarnicht ...?« Morgens früh auf meinem Waschwasser schon ist das Mahagoniboot geschwommen. Ins Essen sind mir die Sterne und Komturkreuze gefallen. Am meine Mittagszigarre hast du mir die Gummiräder gewickelt. In meinem Bett abends hab' ich noch den Hirtenstab gefunden. Und ich? Nichts. Nichts in der Frackklappe, nichts hinter dem Familiennamen ...

Sie(mit schwerem Vorwurf):Meier.

Er: Donnerwetter,jadoch, Meier!! Aber hab' ich dennvonMeier geheißen, als ich dich in St. Moritz im Lift küßte? War ich dennFreiherrvon Meier, als ich deiner Tante in Pontresina die sieben Schals trug? War ichGrafMeier, als du mir im Schweizerhof in Luzern das Jawort gabst? War ichGeheimrat, als du mir sagtest, daß du nichts mitbekommst als die Bettwäsche? War ichKönigliche Hoheitals ich deinem Vetter, der nach Tokio ging, 20 000 Mark pumpen durfte? War ich einErzbischof, daß mich auch dein Onkel Ernst, als er eine Million mit einer zugehörigen Mannheimer Jüdin heiraten wollte, zu Madame Bi-Bi mit den gezähmten Kakadus schickte, ihr seine kindischen Liebesbriefe abzubetteln? War ich ... Ha-tzi – ha-tzi ...! (Ein furchtbarer Schnupfenanfall verhindert ihn, weiter zu erforschen, was ernichtwar.)

Sie: Du warst nureinesimmer – un-zart. Un-zart.

Er: Aha – unzart! Weil ich nicht versengt, zu Asche verbrannt, weggeblendet sein wollte von dem Glanz deiner Familie? Weil ich in der Todesangst meines Existenzkampfes Flecke in euren Sonnen erspähte? Weil ich zu konstatieren wagte, daß Onkel Ernst nicht nur mehr Orden auf dem Frack hat als die Portiers am Abgeordnetenhaus am Sonntag, sondern auch mehr Warzen im Gesicht als der selige Liszt. Daß der Bremenser Senator nicht nur ein Mahagoniboot hat, sondern auch den Ruf, ein Geldschneider und Leuteschinder zu sein. Daß die Äbtissin nicht nur Siegelring und Hirtenstab besitzt, sondern auch einen so dummen Hochmut, um drei Dalailamas daraus zu machen.

Sie(fortfahrend mit dem müden Lächeln der Märtyrerin, die für ihre Familie gefoltert wird): – und daß alle diese von Staat und Kirche hoch angesehenen Leute Verbrecher sind, die dich in den Kanal trieben, dich zu ertränken, das ist neu. Gestern noch hast du ein Kind retten wollen. Nachdem du dieses Kind nicht gerettet, aber von den Schiffern Prügel bekommen hast, änderst du nachträglich die Motive dieses edlen Sprunges ...

Er:Nichtsändere ich! Seit Wochen bin ich jeden Tag am Ufer entlang gelaufen – an der Spree, am Kanal, bei Treptow, im Tiergarten, an den Grunewaldseen – und habe mich gefragt:Woist hier die meiste Chance, daß mal einKind hineinfällt?

Sie: Ottomar, du bist ...

Er: Verrückt? Nein. Ich habe mir gesagt: du heißt Meier.BloßMeier! Denn dein Vater hieß schon so. Du bist ein anständiger Kerl, der sein Auskommen hat, aber du hast kein Talent, es zu etwas zu bringen, das einem Senator, einem Geheimrat, einem Mahagoniboot, einem Hirtenstab zu vergleichen wäre. Der Fürst zu Putbus schenkt dir nichts. Prinzessinnen korrespondieren nicht mit dir. Die Zeitungen nennen dich erst, wenn deine Witwe annonciert: »Es hat dem Allmächtigen gefallen, meinen lieben Mann ...« Das mußte anders werden! Irgend etwas mußte ich an Auszeichnung erwerben. Alles wäre mir recht gewesen: Kammerherr des Emirs von Buchara, Vizekonsul von Honduras, Ehrenkavalier der Königin von Madagaskar ... Aber das alles ist gar nicht so einfach. Da plötzlich stand's vor meines Geistes Augen: »Du – rettest – ein Kind!« Auswas? Aus dem Wasser natürlich!Wann? Das hängt von dem Kind ab.Wo? ... Ich ging die Ufer ab. Es gibt kein Ufer in und um Berlin, das ich nicht unter dem Gesichtspunkte geprüft habe: Fällt hier vielleicht bald ein Kind ins Wasser? Am Halleschen Ufer endlich fand ich ein paar Kinder, die dicht an der Böschung spielten. Ein ruppiges, struppiges Mädel, so etwa fünf Jahre alt, armselig, ungezogen, quengelig, den Mund immer mit Zwetschgenmus bekleckert – ein unleidliches Gör. Aber ich liebte das Kind. Jeden Morgen – wochenlang – promenierte ich am Halleschen Ufer. Sah die Kinder spielen und wartete. Lauerte! Schutzleute, Arbeiter, besorgte Frauen riefen es oft von der gefährlichen, abschüssigen Stelle. Mariechen – Mariechen hieß der Ausbund an struppiger Ungezogenheit – spielte immer wieder an der verbotenen Stelle. Einmalmußes doch ... dacht' ich. Da – gestern! Ich biege gerade an der Möckernstraße ein, da seh' ich das Mariechen an der Böschung stehn; eine Sardinenbüchse hängt es an langer Strippe ins Wasser. Das sinnige Kind »fischt«. Ich lese rasch noch: »Wasserwärme 9 Grad.« Esgehtnoch, denk' ich ... Ich wußte es: heute – heute oder nie! »Mariechen!« ruft eine entsetzte Stimme irgendwoher. Das Kind will sich umdrehen, gleitet, rutscht ... Schon hatte ich den Rock aus, die Zugstiefel ...

Sie: Alsodeshalbtrugst du immer diese gräßlichen Zugstiefel?

Er: Natürlich! Schnürstiefel hätten aufgehalten ... Ich sprang und –

Sie: Ja, du sollst nochvordem Kind im Wasser gewesen sein.

Er: Das kann sein. Ich wußte aber doch, eskam nach! Aber ich war zuweitgesprungen. Die Schiffer von der »Daphne« – wie der abscheuliche Äpfelkahn zudemNamen kommt, weiß der Teufel! – hatten das Mariechen schon mit Stangen gefaßt. An den gebauschten Röcken. Zogen's heran und ...(Er schaudert in nicht angenehmen Erinnerungen.)

Sie: Dann hast du dich an ihren Stangen auch festgehalten.

Er: Es war doch nichts mehr zu retten im Wasser! Und bei 9 Grad in der Dreckbrühe – zum Vergnügen schwimmt da doch keiner herum!

Sie: Warum haben sie dich denn so geschlagen, als sie dich im Trocknen hatten?

Er: Das Ufer war voller Menschen. »Er hat sich ins Wasser gestürzt mit dem armen Wurm,« schrie irgendein Blödsinniger. »So'n Rabenvater« ... »Wenn sich der Kerl versäufen will, soll er's doch man alleene machen« ... »UndLysolhat er'm erst noch zu trinken jejeben!«

Sie: Mein Gott, Lysol – ??

Er: Ja, siehst du, das war mein Unglück. An der Stelle, wo ich zur Rettung abgesprungen war, lag – der Satan weiß, wie sie da hingekommen – zufällig eine Lysolflasche. Leer natürlich. Das heißt: vielleicht war auch einmal Branntwein drin oder Ameisenspiritus oder Haaröl. Aber das alte Weib – ich seh' sie noch, sie hatte eine blaue Schürze und Hände wie Ofengabeln, die sie immer zusammenklappte das alte Weib hatte »Lysol« gekreischt. Und der Schutzmann, der an der Flasche roch, widersprach nicht. Warum roch er überhaupt an der Flasche? Hätte er mich lieber geschützt! Die Leute waren ja wie verrückt. Ich glaubte, sie hätten mir das Kreuz zerbrochen. Und ein Mann in Plüschpantoffeln und ohne Kragen schrie immer: »Du Lump – du miserabliger!« Und auf der Polizeiwache erfuhr ich dann, daß es der Vater von dem Mariechen war, das ich retten wollte. Er war nicht davon abzubringen, daß ich das Kind ins Wasser geworfen. Solche Leute in Plüschpantoffeln sind schrecklich in ihren Vorurteilen.

Sie: Du sollst aber – das steht doch in den Zeitungen – ganz verworrene Redensarten geführt haben auf der Polizeiwache ...(Sie entfaltet ein Blatt und liest)... »Der übel zugerichtete, offenbar geistesgestörte Mann behauptete seinerseits, in den Kanalgestoßenworden zu sein. Obschon niemand diesen Vorgang bemerkt hat ...«

Er(reißt ihr das Blatt aus der Hand): Natürlich hat's keiner bemerkt! ... Denn der Senator läuft nicht, wie ich, zu Fuß am Halleschen Ufer auf und ab. Der gondelt im Mahagoniboot oder fährt auf Gummi in Bremen. Und der Vetter Exzellenz hat gerade irgendwo seinen Katzenbuckel gemacht. Und der Attaché putzt seinen Abendstern für ein Kirschblütenfest oder was weiß ich. Und die Äbtissin trägt ihren Hirtenstab spazieren. Und sie wissenallevon nichts. Und wenn ich ihnen sage, daßsiemich in den Landwehrkanal geschmissen haben, daß ichihretwegendas Wasser geschluckt und die Prügel bekommen und mir den Mann mit den Plüschpantoffeln fürs Leben zum Feind gemacht habe, so werden sie michauchfür verrückt erklären. Genau wie diese Zeitungsschreiber, die von nichts was wissen und über alles orakeln. Und sie sind'sdochgewesen – doch ... doch ...doch!

»O, com' è bello ...«

Mietwohnung im Südwesten. Ein bürgerliches Eßzimmer, an dessen Wänden ein paar Kopien guter Blumen- und Jagdstücke besseren Geschmack verraten. Die Möbel sichtlich schon in der zweiten Generation, der Teppich in der dritten. Der Plafond verrät, daß der Wirt gar nichts machen läßt, aber auch kein Recht hat zu steigern. Der Tisch ist einfach gedeckt für ein Abendbrot. Zwei Teller. Drei Platten mit sehr viel kaltem Aufschnitt. Kartoffelsalat mit dem Versuch einer Mayonnaise. In der Mitte des Tisches thront wie ein Bismarckturm im Flachland eine goldgekapselte Flasche Sekt. In Eis steht sie nicht, aber am Halse trägt sie ein seltsames, etwas angeschmutztes, blaßrotes Bändchen. Eine Hängelampe über dem Ganzen, in dem ein Gasglühstrumpf schon recht lange seine Schuldigkeit getan hat.

Herbertbetritt wenig vorEmmidas Zimmer. Er ist in einem neapolitanischen Fischerkostüm, das eigentlich die Beine nackt verlangt. Aberda der Ofen nicht überwältigend heizt und da der Kostümierte Erkältungen fürchtet, so hat er die baumwollenen Unterbeinkleider anbehalten, die zwar eine hautähnliche Farbe haben, aber grobmaschige Falten schlagen. Die breite, rote Schärpe, die das vorn offene Foulardhemd abschließt, scheint ihm unbequem. Die rote Mütze steht ihm gut zu dem welligen schwarzen Haar und dem Spitzbart, der für einen vor bald dreihundert Jahren in Amalfi geborenen Fischer und Revolutionär erstaunlich gepflegt ist. Er betrachtet die Arrangements, schraubt behutsam an der Lampe herum, ohne dadurch die Lichtquelle irgendwie zu verstärken, widmet der Sektflasche ein halb wehmütiges, halb ironisches Lächeln und sieht dann ungeduldig nach der Tür zum Schlafzimmer.

Emmikommt auf den Zehenspitzen, »Karli« nicht zu wecken, aus dem Schlafzimmer. Sie hat ein mit vielen Münzen behängtes Zigeunerkostüm der Preziosa an, Samttaille, bunter Rock, türkisches Tuch im Haar.

Emmi: Soll ich offen lassen die Tür – wegen Karli?

Herbert: Aber nein, dann können wir ja kein lautes Wort sprechen.

Emmi: Man kann auchleisevergnügt sein. Damals war auch ...

Herbert(leicht abwehrend): Ich weiß, ich weiß! Aber die Hauptsache ist, daß er uns nicht aufwacht. Wenn er um diese Stunde seinen Schlaf nicht hat, dann ist er unausstehlich.

Emmi: Aber – Herbert! »Unausstehlich« ist er doch nie. Aber du hast recht – heute, wo das Mädchen nicht da ist ...

Herbert: Sie hätte doch auch morgen zu ihrer Tante gehen können. Am so mehr, als die Tante bestimmt nicht existiert.

Emmi(am Tisch ordnend): Aber dann hätte sie doch gesehen, wie wir uns hier verkleiden – bloß eins für das andere.

Herbert: Ja, mit den Herrlichkeiten aus der Mottenkiste. Wie ein Anachronismus kommt man sich vor, wenn man zufällig am Spiegel vorbeigeht.(Er hängt eine Serviette über den Spiegel.)

Emmi: Was machst du?

Herbert: Also weißt du – uff, ist das eine Arbeit, staubig ist er auch! –Dichwill ich mir ja ansehn in dem Fähnchen – aber michauchnoch sehn – im Spiegel – das kannst du nicht verlangen!

Emmi: Aber Herbert! Nu verdirb mir doch nicht die nette Idee. Es war doch heute vor drei Jahren ... Erinnerst du dich noch? ... Bürgerball ... Ehrlich gesagt: ich hatte mich so gelangweilt. Er erklärte mir alle Masken.

Herbert: Ja, er war sehr gründlich.

Emmi: Aufregend gründlich ...(in der Erinnerung den ersten Gatten leicht kopierend): »Siehst du dort den Don Quixote – bemerkst du, daß er einen falschen Helm aufhat? Was müßte er auf dem Kopf haben –? Ein Rasierbecken? Gut ... Wie würdest du jenen Herrn dort zeitlich einordnen – den mit den Spitzenmanschetten, den Kniehosen und dem schiefsitzenden Zweimaster – Wie? Direktoir?«

Herbert(ebenso): »Und der Mann in der Goldrüstung dort – meine liebe Emmi, du scheinst nicht zu ahnen, daß das offenbar Alexander der Große sein soll. Weißt du noch, wann die Schlacht bei Gaugamela war? Und wen er dort besiegt hat ...«

Emmi(hält ihm den Mund zu): Pscht! nicht! ... WennichHeinrich nachmache, ist's schließlich was andres – ich bin seine Frau gewesen. Aber von dir mag ich's nicht. Du –

Herbert: Ich habe seine Frau geheiratet. Und(einen Augenblick von der Erinnerung gepackt)dasKostüm da hat sie angehabt, als ich ihr zuerst ...

Emmi: Von Liebe sprach. Ja. Preziosa – »Einsam bin ich – nicht alle–ei–eine –«

Herbert: Pscht – still, um Gottes willen – Karli!!

Emmi(die Stimme dämpfend): Ach so, ja. Singen dürfen wir heute nicht. Aber das Kostüm –(sich an ihn lehnend)gefällt dir's noch?

Herbert: Ja. Das heißt –(den Kopf hochreckend)so gräßlich nach Naphthalin gerochen hat's damals nicht.

Emmi: Das glaub' ich. Ich trug's ja zum erstenmal. Herbert –(sie breitet die Arme aus, läßt sie aber sofort wieder sinken)wie dumm – jetzt sind hinten alle Druckknöpfe aufgesprungen! Willst du so gut sein ...

Herbert(ihr die Taille wieder schließend): Preziosa mit Druckknöpfen! Du bist eben dicker geworden.

Emmi: Ein bißchen. Da ist Karli dran schuld.

Herbert: Ein bißchen sehr. – Dunner ja, den mittleren krieg' ich nicht zu. Das war schon vorhin eine Arbeit! Was hast du denn übrigens mit deinem Haar gemacht?

Emmi: Herbert! Siehst du das jetzt erst? Ich hab' wieder das falsche draufgelegt – das von damals.

Herbert: Hm! Ja. Nun stimmt's in der Farbe nicht mehr ganz.

Emmi: Das war immer so. Du hast's bloß damals nicht so gesehen.

Herbert: Ich finde das ekelhaft – die falschen Haare. Du weißt doch, die meisten kommen aus China und werden gefärbt. Von Leichen werden sie geschnitten – von Pestkranken und ...

Emmi:(hält sich die Ohren zu): Hör auf –! Das ist dochdamalsschon so gewesen – aber damals hast du nichts gesagt – da hast du mich nur verliebt angesehen und gerufen: »Kellner – Betriebsdirektor – Sekt für Preziosa und Masaniello!« Und dann hast du die Mandoline genommen ...

Herbert: Ja, in die sich dann der dicke Rechtsanwalt gesetzt hat, daß sie kaputt war für immer.

Emmi: Und hast gespielt: »Sul mare ...« Das heißt, das hab' ich damals am meisten an dir bewundert; du hast sogar denzweitenVers gekonnt! Den kann sonst nie einer. Wie war er doch?

Herbert(leise markierend, dann lauter):

Conquesto zefiroCosì soave –O, com' è belloStar' sulla nave...

Emmi(von der Erinnerung überwältigt, laut einfallend):– O, com' è bello – –!

Herbert: Pscht! – Karli!

Emmi: Und Heinrich machte darauf aufmerksam, daß sich Masaniello auf »bello« reime.

Herbert: Daß aber das Lied zwei Jahrhunderte jünger sei als der.

Emmi: Und dann kam der Sekt. Pomery – nobel hast du's gegeben!

Herbert: Richtig – Sekt. Dafür hast du ja heute auch gesorgt.

Emmi: Gelt?! Was sagst du. Französisch – wie damals. Heißt das: in Deutschland auf Flaschen gezogen. EineganzeFlasche.

Herbert: Heinrich hielt uns damals einen Vortrag über die Verschwendung im alten Rom, die den Niedergang der Sitten herbeigeführt hat.

Emmi: Gott, ja – in den Scheidungsakten kam ja die Flasche Sekt noch vor.

Herbert: Na, so ganz unschuldig war sie vielleicht nicht an all dem, was kam.

(Sie setzen sich. Emmi legt Herbert vor und schmiert ihm ein Brot.)

Emmi: Heinrich trank ostentativ protestierend Mosel.

Herbert: Ja, der noch dazu nach dem Pfropfen schmeckte.

Emmi: Im Trinken und Essen war er überhaupt bequemer wie du.

Herbert(mißvergnügt ein paar Stücke an den Tellerrand schiebend): Rindsbraten ess' ich zum Beispiel überhaupt keinen. Und nun gar – englisch!

Emmi: Hier ist auch Zunge.

Herbert: Ja, aber von ganz hinten, wo's schon keine mehr ist.

Emmi: Schimpf nicht! Komm, mach den Sekt auf.

Herbert: Eis hast du keins? Wie? Nu, da wird er reizend schmecken. Wo ist denn der Sektöffner?

Emmi: Wir haben doch keinen. Wozu auch!

Herbert: Also in meiner Junggesellenwirtschaftwareiner.(Er versucht erst mit der Gabel, dann mit dem Taschenmesser die Kapsel zu öffnen. Das Blut steigt ihm in den Kopf von der Anstrengung, und der Schweiß perlt ihm über die Stirn.)

Emmi: Wart, ich hol' eine Feile! ... oder einen Bohrer.

Herbert(ärgerlich): Warum nicht gleich einen Stiefelknecht?! Ein Haushalt! Was ist das übrigens für ein dämliches schmutziges Bändchen, das die Flasche um den Hals hat –?(Reißt's ärgerlich ab und wirft's weg.)

Emmi: Aber Herbert –! Kennst du das nicht mehr? Das ist doch ... Gott, wenn du'sdochnicht kennst ...

Herbert(einen Augenblick bei der Arbeit pausierend, wischt sich den Schweiß): Also, nu sag's schon. Du hast eine gräßliche Art, immer Rebusse aufzugeben mit gemütvollen Lösungen.

Emmi: So – ja.Damals– in der Nische – als Heinrich mit dem Kellner zankte, hast du zu mir gesagt: »Alles an Ihnen ist ein süßes Rätsel. O über den Glücklichen, der es lösen dürfte!«

Herbert(beiläufig): Ja, ja. Heinrich hatte halb hingehört und übersetzte sofort: »O fortunate adulescens, qui ...«

Emmi: Laß doch!

Herbert: Nu weiß ich immer noch nicht, was mit dem Bändchen los war.

Emmi: So ein Endchen hing mir am Ausschnitt heraus. Mein Korsettschoner. Ich sah, wie du listig danach lugtest ... Plötzlich – in deinem Übermut ...

Herbert:(wieder energischer um die Flasche bemüht): Au, mein Daumen! Was? gestochen hab' ich mich. So ein verflixter Draht! Das hätt' mir einer sagen sollen, als ich ... Student war. Nicht mal einen Sektöffner –! Also – laß – – es – geht!!

(In diesem Augenblick fliegt der Pfropfen aus der warmen Flasche mit gewaltigem Knall an die Decke und zertrümmert im Herunterfallen das Milchglas der Ampel, dessen Scherben mit großem Geklirr in die Teller und Gläser fallen.Emmischreit auf.Herbert, dem der Sekt in hellen Schaumwellen über Brust und Hose fließt, ist vom Stuhl aufgesprungen und hält in weitvorgestreckter Rechten die immer noch überquellende Sektflasche, während er sich mit der Linken mittelseiner Serviette abzutrocknen sucht. Dabei schimpft er in unklaren Worten wütend in seinen Bart: »Also – so eine Gemeinheit ... einmal im Jahre trinkt man Sekt ... Der Teufel soll die ganze Wirtschaft holen ...Karlinebenan ist von dem Pfropfenknall, dem Klirren der Scherben, dem Schrei der Mutter wach geworden und hat allsogleich ein mörderisches Geheul begonnen.)

Emmi: Um Gottes willen, Herbert, die Lampe –

Herbert(unwirsch): Das seh' ich doch.

Emmi: Und das Kind –!

Herbert: Das hör' ich doch. Nun hast du's glücklich geweckt mit deinem dummen Aufschrei. Wer schreit denn auch gleich so, wenn ...

Emmi: Aber nein, du hast's geweckt mit deinem dummen Sekt. So talentlos! ...(nach dem Schlafzimmer rufend)Tarli ... Buwichen; Tarlemännchen – Mama tommt zu Tarlichen ...

Herbert(ihr nach, ärgerlich): Sprich dochordentlichmit dem Kind!

Emmi: Er versteht's ja doch nicht.

Herbert: Gerad darum! ...(er hat die Flasche hingestellt). Ja, feiern wir nun eigentlich unser karnevalistisches »Erinnerungsfest« oder –?

Emmi: Aber das Kind schreit doch! Es wird naß sein.

Herbert(mit der Serviette wischend): Ich binauchnaß.

Emmi(mit einem Versuch zu scherzen): Masaniello – ein Fischer!

Herbert: Ach was, Quatsch. Die Hosen zu engundnaß. Und der Sekt deutsch, und die Mandoline kaputt – und der Bengel schreit ... und ...

Emmi: Er wird sich schon beruhigen, wenn ich ...

Herbert(immer wütend): Wenndu– ja! Es ist einfach ein Blödsinn gewesen, das Mädchen wegzuschicken!

Emmi: Also du weißt doch ganz gut – wenn sie dageblieben wäre und unsere Maskerade gesehen hätte – sie hätte die Fäuste in die Seiten gestemmt und sich totgelacht. Mit diesem gräßlichen Bauernlachen.

Herbert: Sie hätte vielleicht recht gehabt. Ich finde, es ist lächerlich, daß zwei Leute, zwei erwachsene Leute, sich als Masaniello und Preziosa verkleiden – um beständig einen Bengel von fünf Monaten trockenzulegen. Einfach: Dalldorf!

(Das Geschrei im Nebenzimmer bekommt eine spitze, drohende Note.)

Herbert: Also, nugehenwir schon! Das ist ja wirklich ein infamer Bengel!

Emmi: Ach was, beschimpf dein Kind nicht, ja! Du hast auch geschrien und hast auch Windeln naß gemacht.

Herbert: Also – es ist geschmacklos, mir das dreißig Jahre später vorzuwerfen, wenn ich ein Masaniello-Kostüm für dich angezogen habe, das mich überall zwickt.

(Sie sind hineingegangen ins Schlafzimmer. Emmi hat den Jungen aus der Korbwiege genommen. Er beruhigt sich etwas, besonders als er die Entdeckung gemacht hat, daß er seine eigenen Tränen mit dem vorgestreckten Züngelchen abfangen und konsumieren kann. Emmi breitet eine Lederschürze über ihren roten Samtrock, legt das Kind darauf und beginnt es mit spitzen Fingern auszuwickeln, wobei sie die Knie ganz leise schaukelt, um den Kleinen vollends zu beruhigen.)

Emmi(singend): »Brav, Kleiner, brav! ... Dein Pa–pa ist ein Schaf –«

Herbert: Also ich verbitte mir, daß du dem Jungen solche Sachen ...

Emmi: Ach sei doch nicht so – ich hab' mich doch bloß im Text geirrt ... Ich glaub' fast, Herbert, es ist eingroßesGeschäftchen ...

Herbert(sich etwas entfernend): Na, wenn du dasjetzterst glaubst ... Dann versteh' ich, wie du so unsinnig viel Naphthalin in die Kleider streuen kannst.

Emmi: Gib mir mal den Schwamm aus dem Gestell – ja? Nein, den andern ... aber naß ... nicht so, ein bißchen ausdrücken. Danke. Ist er nicht reizend so?

Herbert: Von hinten –? Das ist Geschmacksache. Bist du nun bald fertig?

Emmi: Nur noch das Popochen pudern ... Gib mal die Quaste, ja. Erst ein bißchen in den Puder stoßen ... So(zu Karli, der, beide Fäustchen am Mund, mit großen Augen ins Licht starrt)– und nun triegt mein Buwichen sein Tittelchen – und wird ins Bettchen delegt ... und ...

Herbert: Also, Emmi, ich kann mir nicht helfen – er sieht ihm ähnlich.

Emmi: Wem?

Herbert: Heinrich, dem Gründlichen – dem Oberlehrer!

Emmi: Aber, Herbert – das ist entweder eine Beleidigung oder–

Herbert: Oder ein interessanter Beweis für eine wissenschaftliche These. Bei Mäusen und Karnickeln ist das vielfach beobachtet worden, daß die Jungen eines zweiten Wurfs noch die Farbe oder kleine körperliche Merkmale des Männchens zeigen, von dem derersteWurf stammt und das beim zweiten ganz ausgeschaltet war ...

Emmi: Herbert, ich verbitt' mir das! Ich bin doch kein Karnickel!

Herbert: Das behaupte ich auch nicht. Aber du gehörst zur Klasse der warmblütigen Säugetiere und ...

Emmi: Ich würde mich vor dem Kind schämen! So gemeine Ausdrücke ...

Herbert: Nu, der schämt sich dochauchnicht. Kann ich einen Augenblick das Fenster aufmachen?

Emmi: Nein. Erst muß er im Bettchen liegen.

Herbert: So leg ihn doch schon hin! ... Ich will dir das in Büchern zeigen.

Emmi: Ich danke für solche Bücher! Nein, da muß ich dir doch sagen, Heinrich hatkeineso schweinischen Bücher in seiner Bibliothek gehabt. Er warnurfür das Ideale.

Herbert: Ja, wenn du den AkkusativcumInfinitiv »ideal« nennst und die Verben mit dem unregelmäßigen Gerundium.

Emmi(fortfahrend): – aus der Odyssee hat er mir vorgelesen und solche Sachen.

Herbert: Odyssee istauchSchwindel! Dieser Odysseus – zehn Jahre Ilium – zehn Jahre Irrfahrt – und dann kommt er heim zur Penelope und macht eine Wirtschaft mit den »Freiern«! Rechne doch aus: vierzig Jahre alt muß die Frau mindestens gewesen sein. Und das im Süden! Auf einer heißen Insel im ägäischen Meer!

Emmi: Um Gottes willen – Ithaka ist doch eine von denionischenInseln – die kleinste.

Herbert: Aha – der selige Oberlehrer geht um! Weißt du, es ist einfach lächerlich, wie du da sitzst als »Zigeunerin« mit lauter Rechenpfennigen am Mieder und auf den falschen Haaren und Vorträge über die »ionischen Inseln« hältst und über deinen ersten Mann.

Emmi: Ich halte keine Vorträge über ihn. Ich sage nur: er ist nicht »selig«. Er ist sogar sehr gesund. Gesünder wie du. Er turnt. Er müllert. Er schläft bei offenem Fenster. Auch im Winter.

Herbert: – und läuft auf dem Waschwasser Schlittschuh. »Holländisch« meinetwegen!

Emmi(trägt das Kind in das Bettchen): Und fürdenda könnt ich mir gar keinen besseren Lehrer denken. Wenn er mal ins Gymnasium kommt, soll er auch in CoetusB. Da bekommt er Heinrich als Lehrer in Untertertia.

Herbert(links vom Kinderbett): Also das wird ernicht!

Emmi(rechts vom Kinderbett): Also – das wird erdoch! Denn, verstehst du, daß ich mit Heinrich keine Kinder hatte, das mag ja ein bißchen an ihm gelegen haben. Aber die KinderandererLeute erziehen, das kann er besser wie du. Dir ist's ja schon zu viel, wenn du den Schwamm und das Puderquästchen reichen sollst.

Herbert: Na, ein Untertertianer wird doch nicht mehr gepudert!

Emmi: Aberseelischwird er gepudert.

Herbert: Nu hör schon auf mit dem Quatsch! Bis dahin ist noch viel Zeit. Vielleicht hab' ich mich bis dahin zu Tode »verweichlicht«; vielleicht hat er sich bis dahin zu Tode »gemüllert« ... Und übrigens frier' ich an den Beinen in dem unsinnigen Kostüm. Ein Paar Winterhosen zieh' ich jetzt an, daß ich wieder warme Beine kriege. Und den Sekt mit der Zimmertemperatur kannst dualleintrinken – Preziosa!(Er rennt wütend ins Ankleidezimmer.)

Emmi(mit den Tränen kämpfend an der Wiege): Delt, Buwimännchen, wir zwei hätten beim Onkel Heinrich bleiben sollen – delt? Tein Pennchen machen, Buwimännchen – nit weinen muß Buwimännchen – tomm, mach die Guckelchen zu – so. Und jetzt – »Schlaf, Buwimann, schlaf – dein Pap–pa is en Schaf ...«

Der Mord in der Padoja-Schlucht

Ehe ich morgen vor den Geschworenen erscheine, um mich, des vorsätzlichen Mordes an der Dorothea Kathinka Kabeljau angeklagt, zu verteidigen, muß ich mir selbst, ganz kühl und ruhig, ohne zu beschönigen, ohne zu fälschen, das Bild jener furchtbaren Tage heraufbeschwören, damit ich es meinen Richtern in seiner ganzen grausigen Farbenpracht malen kann.

Niemand versteht, wie ich, geradeich, dazu komme, eine Frau in den späten Jahren ihres Mädchentums in die Tiefe der Padoja-Schlucht zu stürzen. Und dochtatich's; kann's und will's nicht leugnen. Zwar ist der Leichnam nicht gefunden. Dieses fasse ich aber nur als eine bewußte Dauerreklame der Dame auf.

Ich warimmergalant. Als meiner kleinen Schwester das Nachttöpfchen zerbrach, habe ich – vierjährig – dasmeinegeliehen und für sie die Prügel bezogen. Ich war der einzige, der wußte, daß Tante Laura falsche Zähne und keine echteren Locken hatte; denn ich hatte einmal bei ihr übernachtet, als mein Großvater als einziger in der Familie den Keuchhusten bekam. Und ich habe mein Geheimnis bis heute bewahrt.

Bei unseren Kinderspielen heiratete ich immer das Lieschen vom Buchbinder Schulz, das eine Stuppsnase und krumme Beine hatte. Ich wurde auch mit dem Lieschen eingesegnet, weil niemand anders mit ihr in die Kirche gehen wollte. Später, als ichwirklichheiratete, da nahm ich – meines älteren Bruders Braut. Die hatte ich trösten müssen, weil sie der Schlingel sitzen ließ. Und ich ließ mich erst von ihr scheiden, alssiegern den Apotheker heiraten wollte, der das unfehlbare Mittel gegen den Hundefloh erfunden hatte und zu Geld gekommen war.

Damals fing ich anBücherzu schreiben. Ich weiß nicht, ob sie gut waren; aber moralisch waren sie gewiß. Wenn zwei Leute sich darin küßten, so waren sie verheiratet oder verlobt. Und meine Ehen trennte nur der Tod im letzten Kapitel. Es gibt Bösewichter darin, aber keine weiblichen. Die Frauen, die darin vorkommen, sind alle wohlgesittet und in guten Jahren. Sind edel und hilfsbereit und gut gekleidet. Trotzdem ernährten sie mich nicht. Die Bücher nämlich.

Ich nahm also die leitende Stellung an einer belletristischenZeitschriftan. Das stand auch in den Zeitungen; und diese eilige Bekanntgabe meiner Pläne wurde mein Unglück. Durch diese Notiz unter »Mosaik« wurde ich zum Schwerverbrecher.

Ehe ich mich der neuen Aufgabe widmete, unternahm ich eine Erholungsreise und mietete mich auf dem »Ulirothkopf« ein. Der Ulirothkopf ist ein Berg, der damals eigentlich erst erfunden wurde. Er hat einen »Höhenkurort«, der besteht aus einem Hotel, einem Teich, einer Allee und einem Aussichtstempel. In dem Hotel riecht's egal nach zerlassenem Fett, an dem Teich riecht's nach toten Fischen, in der Allee riecht's nach lebenden Kühen, und in dem Aussichtstempelchen riecht's nach Kindern. Man sieht von dem Ulirothkopf aus elf Seen. Auf dem Prospekt. Am Tage meiner Ankunft, dem 4. Juli, sah man zwar keine elf Seen, denn es war Regenwetter, aber sehr viel mehr Damen. Nicht mehr ganz junge Damen. Die saßen in der Halle in Schaukelstühlen um zwei Spiritusöfchen und waren in sehr malerische Tücher gewickelt. Einige trugen Kneifer auf der Nase und hatten Emporlesebücher in den Händen. Andere häkelten. Alle sprachen von den Obermüllers aus Bremen, die eben abgereist waren, weil Herr Obermüller Frostbeulen bekommen hatte. Nicht gut sprachen sie; denn die Tochter der Obermüllerschen hatte sich hier oben mit einem Referendar verlobt, der sich nicht einmal vorgestellt, bloß verlobt hatte. Und sie sprachen auch von den Meyers aus Frankfurt, die eben angekommen waren. Nicht gut sprachen sie; denn die Meyers hatten vier Hutschachteln für zwei Damen bei sich und wollten an einem Tischchen für sich allein essen, nicht an der großen Tafel. Dieses macht fünfzig Pfennige mehr pro Tag und Person und einen schlechten Eindruck.

Als ich meinen Namen in das Fremdenbuch eingetragen hatte – bescheiden klein unter die Riesenbuchstaben eines Ökonomierats aus Hannover – und von der Treppe zufällig zurücksah ins Vestibül, beugte sich eine spindeldürre Dame, die keinesfalls als solche auffiel, über das Buch. Sie schien sehr befriedigt von der Lektüre. Sie hatte weit herausgekämmte rotblonde Haare und – ich weiß nicht, warum – ein lila Band darin, das sich wie der kühne Schienenstrang einer Hochgebirgsbahn durch die Wellen der Frisur zog und sehr neckisch mit ganz kleinen Muscheln benäht war. Außerdem trug sie einen goldenen Kneifer mit Konkavgläsern, am vierten Finger einen Siegelring mit einer Krone im Stein und hieß Dorothea Kathinka Kabeljau.

Dies sagte sie mir am Abend bei Tisch, denn sie saß neben mir. Die andern wußten es offenbar schon. Auch daß ihre Mutter adlig gewesen – der Siegelring, dacht' ich –, war am Tische bekannt. Wie ich aus dem diskreten Lächeln des Ökonomierats aus Hannover und seiner Damen gegenüber entnahm. Die Mutter hieß »Luja« – wieso, weiß ich nicht, ich hätte auch diesen Namen eher für eine Bezeichnung für Seife oder Fruchtbonbons gehalten. Luja wurde in ihrer Jugend nur »das Baroneßchen« genannt, war hinreißend schön und berauschend talentvoll. Sie starb deshalb früh. Vom Vater, der bürgerlich war und nicht schön, war nicht die Rede. Doch existierte er bestimmt. Die Tochter sahihmoffenbar ähnlich; denn – ich sagte das schon – die Mutter war hinreißend schön.

Die Herrschaften gegenüber sprachen von den elf Seen, die man nicht sehen kann, und von dem Spaziergang in der Allee, in der es nach Kühen roch, und von dem Spaziergang nach dem Tempelchen, in dem immer gerade ein Baby ein natürliches Bedürfnis verrichtete, wenn sich ein Kurgast dort niederlassen wollte. Dieses aber wurde nur diskret angedeutet.

Dorothea Kathinka Kabeljau aber sprach nur von sich. Und von der Mutter, dem hinreißend schönen, berauschend talentvollen Baroneßchen, als dessen Fortsetzung sie sich gewissermaßen auffaßte. Die Beteiligung des Vaters blieb durchaus im Dunkel.

Sie ließ durchblicken, daß ichihrdiesen bevorzugten Platz am Tische zu verdanken hätte. Die »Geistigen« müßten »zusammenhalten«, sagte sie; und sie aß sehr viel Hammelkeule mit Bohnen dazu. Und sie freute sich, gehört oder gelesen zu haben, daß ich die Leitung einer illustrierten Monatsschrift übernehme, sagte sie; denn hier könne man wahrhaft Gutes und Großes wirken. Dazu aß sie eine Portion Kirschenkompott, die eine bescheidene vegetarisch lebende Familie in Zeiten der Not durchaus genügend ernährt hätte. Es sei schade, meinte sie, daß ich ihre Mutter nicht gekannt habe, die Luja hieß und das Baroneßchen genannt wurde. Es sei eine bedeutende Frau gewesen. Sie selbst habe sie leider auch nicht gekannt; aber sie freue sich,michkennen zu lernen. Dazu aß sie zwei Mohntörtchen, wodurch die ökonomische Berechnung des Nachtischs nicht aufging und der Ökonomierat aus Hannover ohne Mohntörtchen blieb. Er bestellte grollend dafür Harzer Käse, was seine Beliebtheit am Tische nicht erhöhte.

Auf meiner anderen Seite saß ein hübsches, junges Mädchen, die immer rot wurde, wenn sie mir die Saucen reichte. Sie erinnerte mich mit ihrem glattgescheitelten Haar und ihren langbewimperten Augenlidern an ein Bild der heiligen Cäcilie im Museum zu Brüssel oder Antwerpen. Und ich mußte, während Dorothea Kathinka Kabeljau sprach, immerzu denken: ob diese heilige Cäcilie nicht die Katalognummer 243 habe. Denn ich habe zuweilen den Zahlen-Drall.

Für den Abend war Mondschein prophezeit. Der Hausknecht machte das. Er war aus dem Tessin und sehr wetterkundig. Sonst fehlte ihm jedes Talent und ein Vorderzahn. Ökonomierats hatten schon den einzigen Kahn auf dem Teich – er hieß »Möwe«, roch nach Teer, war immer halb voll Wasser und sehr hart in den Rudern – für eine »Venezianische Nacht« bestellt. Es regnete aber, so daß Ökonomierats statt der venezianischen Kahnfahrt in der Halle Tarock spielten und auf das Wetter, die Temperatur, den Teich, den Kahn und eine Familie in Hannover, die nicht mit ihnen verkehren wollte, schimpften.

Ich stand in dem Glasbau der Vorhalle und sah in den Regen und überlegte mir, warum ich bei solchem Wetter ausgerechnet 1095 Meter über dem Meeresspiegel mich befinden müsse. Zum ersten fiel mir ein, daß 1095 die Kirchenversammlung zu Clermont war, auf der Papst Urban II. den ersten Kreuzzug empfahl; und daran anschließend beschäftigte ich meine Gedanken damit, daß im Jahre meiner Zimmernummer – »48« im ersten Stock – Cäsar über den Rubico ging und Pompejus in Ägypten erstochen wurde. Da stand Dorothea Kathinka Kabeljau neben mir, lächelte und hatte immer noch das lila Bändchen mit den vielen Müschelchen im Kaar.

Sie teilte mir mit, daß sie einen Zyklus »Mondgedichte« geschrieben oder eigentlich mehr unbewußt »empfangen« habe, an den sie hier die letzte Feile zu legen denke. Und sie pries mich, daß ich in meiner neuen Stellung die Lyrik pflegen werde; wovon ich noch gar nichts gesagt hatte. Ich hatte überhaupt nichts gesagt. Weder von Lyrik, noch vom Mond, noch von meiner Stellung, noch vom Übergang Cäsars über den Rubico. Aber Dorothea Kathinka Kabeljau gehörte – und ich sage das wirklich nicht nur, weil ich sie später umgebracht habe und weil man von Toten, insbesondere von solchen, die man selbst dazu gemacht hat, nur Gutes reden soll – gehörte zu den seltenen Menschen, die immer schon wissen, was die anderen sagen wollen oder werden oder gegebenen Falles gesagt hätten. So daß sie recht gut unter Trappisten hätte leben und sich entfalten können, ohne an Fähigkeit und Lust zu dem, wassieKonversation nannte, einzubüßen. Von jenem Abend weiß ich nur noch, daß der Mondnichtkam und Dorothea Kathinka Kabeljau nicht aufhörte von ihm zu reden. Immer mit Beziehung auf ihre Gedichte, von denen ein mir unbekannter Doktor Brettsäger gesagt hatte: das Himmelslicht selber fingere silbern hindurch.

In der Nacht träumte ich von dem Doktor Brettsäger, der mir mit silbernen Fingern in den Mund griff und versuchte, das Zäpfchen vom Gaumen zu reißen. Ich kam deshalb etwas müde zum Frühstück auf der nassen Terrasse; aber gerade noch recht, um Ökonomierats im erbosten Kampf gegen einige Wespen über dem Geleetöpfchen zu unterstützen. Wofür ich die Belehrung erhielt, daß wer hier länger als zwei Tage bleibe, unbesehen reif für ein Irrenhaus sei. Was mir nicht angenehm zu hören war, da ich – um die Vorteile der Pension zu genießen – für drei Wochen fest gemietet hatte. Es erwies sich, daß für mich an dem letzten Frühstückstischlein gedeckt war, an dem schon Dorothea Kathinka Kabeljau mit einem Notizbuch saß und mich anlächelte. Beim Frühstück habe sie ihre besten Gedanken, sagte sie. Das mochte wohl richtig sein; keinesfalls aber gehörte es zu diesen besten Gedanken, daß sie mir alsbald mehrere Gedichte rezitierte – von sich; für anderes versagte ihr monomanes Gedächtnis. Die Gedichte beschäftigten sich liebevoll mit Wespen und Schmetterlingen und waren für Menschen sehr unangenehm. Sie reimten sich zwar hinten, und es gehörten offenbar immer vier Zeilen zusammen; aber sie wirkten doch nicht so.

Ich schützte einen Spaziergang nach dem Tempelchen vor. Dorothea Kathinka Kabeljau hatte es bereits besungen. In zwei Sonetten, die ich hören mußte, während wir den Kuhweg der Allee entlang gingen. Der Weg, der Kuhschmutz und die Sonette endeten gleichzeitig. Das Tempelchen war voller Kinder, die es teils mit Sandspielen unwohnlich machten, teils Unsinniges an seine weißen Säulen kritzelten. Dies veranlaßte Dorothea Kathinka Kabeljau, mir die seltsamsten Beispiele der Frühreife aus ihrer Jugend zu erzählen. Ihren ersten Vers hatte sie mit kaum sechs Jahren in das Fremdenbuch eines Aussichtspunktes bei Niederbreisach eingetragen. Er lautete:

Die Sonne scheint – es blüht die Au – Anna Kathinka Kabeljau.

Ohne die Dichtung überschätzen zu wollen, wies sie darauf hin, wie sich hier die früh entzündete Phantasie in der Frühlingsmalerei der ersten Zeile mit der energischen Realistik der Verwendung des Familiennamens in der zweiten mische. Hierin sei gewissermaßen die Entwicklungsrichtung ihres Talentes angedeutet, wie ihre letzte Arbeit, ein Gedicht in Prosa: »Der Regenmacher,« beweise, das sie bei Beobachtung des wetterkundigen Hausknechts aus dem Tessin konzipiert habe. Sie hatte es durch einen glücklichen Zufall bei sich. Weshalb sie allsogleich die Kinder samt ihren Fräulein aus dem Tempelchen vertrieb und es mir vorlas. In diese Vorlesung hinein läutete die Dinerglocke. Aber da ich, wie die Dichterin meinte, die einmal empfangene Stimmung durchaus festhalten müsse, las sie ohne Übereilung zu Ende. Ich kam, halb unsinnig vor Hunger, zur Tafel, als gerade der Pudding gereicht wurde. Das Nachservieren erhöhte den Pensionspreis um eine Mark, ohne daß dadurch die bereits kalten Speisen wärmer wurden.

Als ich nach Tisch in tiefer Erschöpfung auf meinem Zimmer gerade ein Nickerchen machte, erschreckte mich der eintretende Zimmerkellner sehr, der mir im Auftrag von Fräulein Kabeljau ein Essay brachte. Es war vor drei Jahren in einer Sonntagsbeilage zum »Budweiser Beobachter« erschienen, handelte von der poetischen Sendung der Dorothea Kathinka Kabeljau und hatte, wie es schien, einen Mann zum Verfasser, der der gepriesenen Dichterin verständnisvoll und gütig, aber der deutschen Sprache verständnislos und feindlich gegenüberstand. Beim Nachmittagskaffee bedauerte es die im Budweiser Beobachter Gefeierte schmerzlich, daß sie mir irrtümlich das falsche Blatt geschickt habe. Sie habe mir nämlich den weit tiefer schöpfenden Aufsatz aus der »Iserlohner Tagespost« unterbreiten wollen. Was sie nun nachholte. Und damit ich in der genußreichen Lektüre nicht gestört werde, nahm sie mir so lange den Kaffee weg und beobachtete scharf meine Züge. Und ich fühlte mich Sklave dieser entsetzlichen konkaven Brillengläser, die meine seelischen Regungen bei Genuß fremden Ruhms kontrollierten.