Mein Bruder Benjamin - Rudolf Presber - E-Book
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Rudolf Presber

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Beschreibung

Rudolf Presbers 'Mein Bruder Benjamin' bietet einen faszinierenden Einblick in das Leben zweier Brüder, die durch unterschiedliche Lebensansichten getrennt sind, aber dennoch eine tiefe Verbindung zueinander haben. Presber nimmt den Leser mit auf eine emotionale Reise durch die Gedankenwelt der Protagonisten und beschreibt einfühlsam ihre inneren Konflikte und Sehnsüchte. Der Roman zeichnet sich durch einen klaren und prägnanten Schreibstil aus, der es dem Leser ermöglicht, tief in die Handlung einzutauchen und die Gefühle der Figuren hautnah zu erleben. Presbers Werk ist ein bedeutendes Beispiel für die deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts und wird sowohl von Kritikern als auch von Lesern hoch geschätzt.

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Rudolf Presber

Mein Bruder Benjamin

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2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-0305-5

Inhaltsverzeichnis

Ertes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Einunddreißigstes Kapitel
Zweiunddreißigstes Kapitel
Dreiunddreißigstes Kapitel
Vierunddreißigstes Kapitel
Fünfunddreißigstes Kapitel
Sechsunddreißigstes Kapitel
Siebenunddreißigstes Kapitel
Achtunddreißigstes Kapitel
Neununddreißigstes Kapitel
Vierzigstes Kapitel
Einundvierzigstes Kapitel
Zweiundvierzigstes Kapitel
Dreiundvierzigstes Kapitel
Vierundvierzigstes Kapitel
Fünfundvierzigstes Kapitel

Erstes Kapitel

Table of Contents

Benjamin!

Ich schreibe Deinen lieben Namen hin, der Dein Name im Taufbuch nicht war, den Dir die Familie gab und das Schicksal bestätigte. Und indem ich ihn hinschreibe Deinen Namen, blüht meine Jugend leuchtend vor mir auf.

Ich bin Dir vorangeschritten im Leben, immer um zehn Jahre, die sich nicht einholen ließen. Du bist mir vorangeschritten im Tode; und eines Tages wird kein Unterschied mehr sein zwischen Dir und mir. Dann steht die Zeit für uns stille, für den einen wie den andern, und langsam verhallen auf deutschem Boden unsere Schritte; und unsere Namen verblassen im Gedächtnis der Lebenden, die uns noch kannten.

Benjamin! Du warst die jüngste Jugend in unserem Hause; warst das frischeste Reislein am alten Hugenottenstamm, der Gütigste unter den Trotzigen, denen der Ahnen Kampf um Recht und Glauben noch im Blute spukte. Du hast das Leben in seiner Blüte geliebt, und es hat Dir mit Blüten vergolten. Für den Kampf unserer dunklen Tage, für den splitternden Bruch mit so vielem, in dem Du erzogen warst und Dich lächelnd wohlgefühlt, wärst Du wohl nicht gemacht, nicht gerüstet gewesen. Und wie Dir gar die verzichtende Weisheit des Alters zu Gesicht gestanden hätte, wer will's sagen, da Du Dein Antlitz, den beseelten Spiegel der Lebensfreude, längst verhüllt und verborgen hast.

Benjamin! Wenn wir, allen Zweifeln zum Trotz, uns doch da drüben wiederfinden sollten, wirst Du, der lebend nicht zu zürnen vermochte, als Verklärter hadern mit mir, daß ich aufschrieb, was ich nun sorgsam schreiben will: Dein Leben?

Ich wag's. Fehler mögen sich in diesen Blättern finden, Irrtümer, Ungenauigkeiten – keine bewußte Entstellung. Weit zurückschweifen mußte mein Blick – wie gern hat er's getan! Denn wie viel Sonne lag auf diesem verlassenen Land! Dann wurden mir Deine Tagebücher Führer, diese ehrlichen Bekenntnisse in ihrer sauberen, fast pedantischen Schrift; und die meinen, knapper, leidenschaftlicher oft im Ton und parteiischer in der Stellung zu Welt und Menschen, ergänzten. Mit alten Leuten sprach ich von Dir, die Dich noch gekannt hatten. Und in ihren Augen war ein warmes Leuchten bei Deinem Namen, und ihre lebendige Liebe grüßte Deinen Schatten.

»Ein unnütz Leben« nanntest Du beim Abschied für immer das Deine. Ist ein Leben wirklich unnütz, aus dem Freude und Frohsinn blüht? Schlägt ein Herz wirklich umsonst, das keine Falschheit kennt? Wir können nicht alle Entdecker sein, Eroberer, Glaubenshelden und Heroen. Auch die Stillen, Gütigen, Frohen, die den Sturm meiden, das Volksgewühl und die Barrikaden, haben ihr Recht. Und wissen vielleicht, nach einem Leben fern allen Schrecken der Schlacht, heldischer zu sterben, als mancher verblutende Held.

Wir haben oft zusammen gelacht, mein Bruder Benjamin; öfter, Aug' in Auge, gelächelt. Und lächelnd gehst Du heute noch neben mir, sorgfältig gekleidet, rotbäckig und mit großen, blauen Augen die wunderreiche Welt betrachtend. Und meine Seele wird froh und feierlich, wenn sie Deiner gedenkt und all der Pläne, Hoffnungen, Irrungen eines Herzens, das nicht zu altern geboren war. Laß sehen, ob etwas, und wenn nur ein weniges, von all dem Glanz und der Fröhlichkeit, die Dein kurzes Leben ausstrahlte, auch diesen Blättern der Erinnerung beschieden ist.

Gibt's ein Jenseits, und bist Du dort – wissender, als ich, Anteil nehmend vielleicht noch aus Sternenferne an dem, was wir Gebrechlichen hier unten so wichtig und so nutzlos planen, fügen und bauen –, so lächle meinem bescheidenen Beginnen mit dem unverlernten Lächeln Deines jungen Erdengangs.

Der Du Blut warst meines Blutes, Träumer meiner Träume, der Du wuchsest in denselben lieben Mauern mit mir, betreut von denselben gütigen Menschen, belehrt von denselben Büchern, gezüchtigt von demselben Schmerz, entzündet von denselben Freuden, erhoben von denselben Liedern, die unsere Mutter, von der Arbeit ruhend, in die Dämmerung des stillen Hauses sang; Du, mir auf ewig verknüpft durch das Köstlichste, Unverlierbare einer schönen, reinen gemeinsamen Jugend, sei mir gegrüßt, mein Bruder Benjamin!

Zweites Kapitel

Table of Contents

Wenn du sehr brav zu sein versprichst, erzähl' ich dir etwas,« sagte Frau Margarete Morgenthau, die auf den Zehenspitzen aus dem Schlafzimmer meiner Eltern kam. Und ohne das Gelübde meiner Bravheit abzuwarten, fügte sie sofort hinzu: »Du hast eben ein Brüderchen bekommen.«

Ich weiß mich noch gut zu erinnern, in unserem kleinen Eßzimmer geschah's, das wir, da nach des Vaters Wort »viel geduldige Schafe« hineingingen, das »Ställchen« nannten. Und unzählige Familienbilder, ernste Herren in Vatermördern und lächelnde Damen mit Büchern und Blumen in den Händen, sahen zu, wie Margarete Morgenthau nach dieser Mitteilung ein weißes Taschentuch ausgebreitet ins Fenster legte. Die warme Julisonne, die hoch am Himmel stand, leuchtete prall darauf. Dieses aber war – viel später hab' ich's erfahren – ein sinnreiches Zeichen für den Gatten Joseph Morgenthau. Der konnte von seinem Arbeitszimmer aus, drüben über der Straße, durch die Zweige des breiten Akazienbaumes dies Fenster sehen und betrachtete es an jenem Sommermorgen andauernd interessevoll. Denn seit unsere Sophie um neun Uhr morgens seine Frau vom Morgenkaffee und dem »Intelligenzblatt« aufgeschreckt: »Ei, Sie möchte doch 'mal gleich erüwwer komme, Frau Morgenthau,« ahnte er ein freudiges Ereignis im Hause seines Freundes Hubert. Nun sagte ihm verabredetermaßen das Tuch: alles ist gut gegangen – das Kind ist da.

Frau Morgenthau war eine der besten Freundinnen unserer Mutter, etwas älter, als diese, wohlbeleibt, mit roten, immer etwas erhitzten Backen und einer pechschwarzen Haarkrone auf dem gutmütigen, etwas breiten Gesicht. Alles an ihr war breit. Auch ihre Hände, die meiner Kindheit viel Gutes getan. Auch ihre Rede, die meinem jugendlichen Ungestüm manchmal zu ausführlich schien und meist mit viel eindringlichen Fragen nach Dingen geschmückt war, die ich bedeutend lieber für mich behalten hätte.

Im Nebenzimmer ließ sich jetzt ein dünnes, quieksendes Stimmchen vernehmen.

»Merkwürdig,« Frau Morgenthau wiegte mit leiser Mißbilligung ihr Haupt und heftete ihren Blick in den Akazienbaum, »merkwürdig, es hätte ein Mädchen sein sollen. Aber, mein lieber Junge, die Natur spielt wunderbar.«

Ich war zehn Jahre alt und dachte noch nicht viel über das Spiel der Natur nach. Wußte auch damals nicht, daß Frau Morgenthau, die selbst kinderlos, aber kinderlieb war, in den Kreisen ihrer Bekannten eine scheue Verehrung genoß, weil sie stets das Geschlecht eines erwarteten Menschleins aus irgendwelchen Anzeichen in Mienen, Gehaben oder Träumen der Mutter richtig und untrüglich zu bestimmen wußte. Bloß diesmal hatte sie sich offensichtlich geirrt. Es blieb aber, soviel ich weiß, der einzige Fall, in dem Frau Morgenthaus prophetische Sicherheit versagte. Dieser Irrtum der sonst Unfehlbaren aber hatte zur Folge, daß Babykorb und alles Zubehör in rosa ausgeschlagen und verziert war; denn Rosa ist nach ererbtem Brauch die Farbe der Mädchen, Blau aber die Farbe der Jungen. Und Frau Morgenthau hatte einen Zweifel darüber, daß es ein Mädchen sein werde, in ihrer bestimmten Art nicht geduldet; ja sie hatte noch zwei Tage vor der Geburt mit dem Doktor Schilling, unserem Hausarzt, der die Möglichkeit unfehlbarer Voraussage leugnete, einen ärgerlichen Disput gehabt, den meine gute Mutter durch einen besänftigenden selbstgemachten Nußlikör, der von Arzt und Freundin in gleicher Weise geschätzt wurde, gütig beilegte.

Frau Morgenthau begab sich wieder in die Wochenstube, in deren Halbdunkel ich rasch durch die geöffnete Tür einen scheuen, neugierigen Blick warf. Ich sah aber nur ein mir unbekanntes weibliches Wesen von hinten, das sich die Ärmel einer blauen Bluse bis zu den Ellbogen aufgekrempelt hatte und, wie mir schien, sich an einer auf Stühle gestellten, kleinen Badewanne plätschernd zu schaffen machte. Vom Bett meiner Mutter gewahrte ich nur einen Kissenzipfel, spitz und hell, von meinem neuen Bruder überhaupt nichts.

Allein geblieben im »Ställchen«, überließ ich mich einer wunderlichen Gedankenflucht. Nun waren wir mit einmal drei: Mathilde, ich und der Kleine, der da nebenan wimmerte. Wie kam das und warum? Was würde Mathilde sagen, wenn sie aus der Klavierstunde kam? Und erst der Papa, der auf seinem Sonntagmorgengang um die Anlagen jetzt wohl gerade am Eschenheimer Turm angelangt war! Ja, und morgen vor der Religionsstunde, da wollte ich, genau so wie neulich der Seligmann, der eigentlich ein Jude war, aber die evangelische Religionsstunde doch auf Wunsch des Vaters mitnehmen durfte, an das Katheder zu dem Herrn Bauschmidt herantreten und sagen: »Entschuldigen Sie, Herr Bauschmidt, ich habe gestern mittag ein Brüderchen bekommen.« Und nun waren gerade die Tanten nicht in Frankfurt; die wären doch sicherlich gern dabeigewesen, wie das Brüderchen kam!

Ja, wie war es denn gekommen? Und warum gerade heute, am Sonntag? Eigentlich fein, daß es just ein Sonntag war; und daß die Sonne so herrlich schien! Aber nun würden wir sicher später zu Mittag essen, als sonst. Und der wievielte Juli war denn eigentlich heute? Das müßte man sich doch merken. Der siebzehnte – fein, da konnte ich gleich in meinem »Schülerkalender« nachsehen, was da sonst noch … »1762 Peter III. von Rußland wird erdrosselt.« Kein schöner Gedenktag. »1792 Kosciusko siegt bei Dubienka über die Russen.« Schwierige Namen. Gut, daß wir keine russische Geschichte zu lernen brauchten. »1793 Charlotte Corday enthauptet.« Erdrosselt … enthauptet … einen blutigen Geburtstag hat er sich ausgesucht. Und gerade, wie ich mir überlege, wer Charlotte Corday gewesen sein könnte und warum sie wohl enthauptet worden ist, kommt Mathilde aus der Klavierstunde.

Sie ist ein Jahr jünger als ich, aber genau so groß. Ihre zwei langen, kastanienbraunen Hängezöpfe fordern heraus, sie daran zu ziehen; und ich habe häufig dieser Verlockung nicht widerstanden. Dann hatte sie eine Art, mit der schlanken, knochigen Kinderhand mir ganz rasch eine Serie von Katzenköpfen zu verabreichen, die mir heute noch in schmerzhafter Erinnerung ist.

»Du, Mathilde, rat mal, was wir bekommen haben?«

»Ich mag nicht raten.« Das ist nicht wahr; sie fürchtet einfach, daß sie's nicht kann.

»Du bekommst einen Groschen, wenn du's rätst.«

» Zeig' mir erst den Groschen!«

Das geschieht. Die Prüfung ergibt, daß der Groschen zwar echt, aber dreckig ist; was sich daraus erklärt, daß ich ihn vorhin auf der Straße gefunden habe.

»Also nun rat, was wir bekommen haben?«

»Von wem haben wir's bekommen?« Das ist eine sehr gescheite Frage. Denn hätten wir's von Tante Emma bekommen, so wären's – leicht zu raten – Zuckerplätzchen. In diesen sah sie die einzige ganz unschädliche Leckerei für Kinder. Und hätten wir's von Onkel Ammann bekommen, so wären's sicher kleine Kupferstiche, von denen uns allemal der Vater die Hälfte schleunigst wieder abnahm, weil sie aus Romanen stammten, deren Inhalt, geschrieben wie gemalt, für die Jugend durchaus ungeeignet war.

Nach einer Weile des Nachdenkens entschied ich: »Vom lieben Gott haben wir's bekommen.« Und mir war dabei ganz fromm zumute.

Aber Mathilde traute meiner Frömmigkeit nicht. » Dir wird gerade der liebe Gott was schenken, wo du gestern wieder eine Vier im Rechnen gehabt hast!«

»Der liebe Gott fragt nicht nach den Zensuren, wenn er was schenken will. Und übrigens hatte der Karl Zillig auch eine Vier. Und wenn er mir was schenken will –«

»Der Karl Zillig?«

»Nein, der liebe Gott, dann schenkt er eben. Und jetzt behalt' ich meinen Groschen und sag' dir's so. Wir haben ein Brüderchen bekommen.«

Auf diese Weise erfuhr nicht nur meine Schwester Mathilde, sondern auch mein Vater, der eben vom Spaziergang um die Tore gekommen und ins Zimmer getreten war, die Geburt meines Bruders Benjamin.

Viel später erst hab' ich begriffen, warum mein guter Vater, der ein Riese von Mann war, sich jetzt in heller Freude zu der schon in Hut und Mantel aus der Wochenstube huschenden Frau Morgenthau niederbeugte, sie freundschaftlich ans Herz zog und damit mit gedämpftem Jubel äußerte: »Also doch – also doch ein Junge!«

Vierjährig war ihm, knapp vor einem Jahr, ein Söhnchen gestorben. Draußen auf dem schönen Frankfurter Friedhof, zu Füßen der Großeltern, die wir Kinder nicht gekannt, lag sein kleines Grab; und Fuchsien, seine Lieblingsblumen auf der Mutter Blumentisch, blühten links und rechts zur Seite des aufgeschlagenen Marmorbuches, auf dem der Vers zu lesen war:

Du kamst, du gingst mit leiser Spur, Ein lieber Gast im Erdenland. Woher? Wohin? Wir wissen nur Aus Gottes Hand – in Gottes Hand.

Damals haben wir den Tod kennengelernt, Mathilde und ich. Aber begriffen haben wir ihn nicht. Wir mußten still sein und leise in unseren Spielen, denn nebenan, hieß es, war das Ernstchen sehr, sehr krank. Es rief manchmal unsere Namen, aber wenn wir auf Zehenspitzen an sein Bett treten durften, dann drehte es die Augen weg und erkannte uns gar nicht. Und der Doktor Schilling kam und machte nicht, wie sonst, einen Spaß mit uns, wenn er das Zimmer verließ. Und dann eines Abends – die Amsel sang so schön drüben in dem höchsten Zweig des Akazienbaums, und die Scheiben der Morgenthauschen Wohnung blitzten den Sonnenuntergang, wie lauter goldene Spiegel, zurück –, da weinte mein Vater, der große, starke Mann, und der Schmerz schüttelte seinen Riesenkörper. Und wir Kinder wunderten uns sehr, daß man so groß und stark sein und noch so weinen konnte. Und unsere Sophie ging weinend mit Blumen durch unser Zimmer, die waren von Mutters Blumentisch abgeschnitten; das durfte sonst niemals geschehen. Im Nebenzimmer aber schluchzte die Mutter fassungslos über dem Gitterbettchen, in dem das Ernstchen lag. Ganz blaß lag es und still jetzt und rief nicht mehr nach uns und seinem Laubfrosch, den es noch im Fieber immer sehen und füttern wollte. Seine Händchen waren gefaltet. Die halb leeren Medizinflaschen auf dem Tisch klirrten leise, wenn jemand an sein Bettchen trat. Der Vater hatte uns hingeführt, und seine Stimme war von Tränen erstickt, als er sagte: »Gebt ihm noch einen Kuß, Kinder – aber nur auf die Stirn. Streichelt ihm die Händchen – ganz sanft. Und erschreckt nicht – daß er so kalt ist …« Aber wir erschraken doch und schauerten. Und hatten uns krampfhaft fest an den Händen, die Mathilde und ich, als wir wieder ins Ställchen zurückschlichen.

Jetzt hatte ihn also der Doktor Schilling doch nicht retten können. Nun war er tot. War dasselbe, wie all die würdigen Herren in Vatermördern da an der Wand und die lächelnden Damen mit den Büchern und Blumen. Nun konnte er gewiß mit all denen, die wir nie gekannt, sprechen im Himmel und ihnen erzählen von uns. Aber vielleicht wußten sie das alles lange schon, auch daß er bald zu ihnen kommen würde. Und wir besprachen miteinander, was wir vom Tode wußten. Sprachen von dem Kanarienvogel, der eines Morgens starr und schmal, wie ein gelber Strich, die Füßchen an den Leib gezogen, neben seinem Futternäpfchen im Käfig gelegen; von dem Spitz der Frau Gruber, den der schwere gelbe Postwagen überfahren hatte, und von dem Dichter Friedrich Rückert, den die Eltern noch gekannt und in Neuses besucht hatten, und der auch plötzlich aufgehört hatte zu dichten und zu atmen und in seinem Apfelgarten umherzugehen. Und aus den Erinnerungen an den Vogel und den Spitz und den Dichter ging uns die frostige Ahnung des unermeßlichen Reiches auf, in das damals der kleine Bruder entschwebt war.

Und an derselben Stelle, da er sich, unter Blumen und benetzt von den Tränen der Eltern, blaß und kalt ausgestreckt, regte sich jetzt ein neues winziges Leben. Schrie sich rot und ballte die Fäustchen.

»Gelt, das ist jetzt das neue Ernstchen?« fragte mich Mathilde am Abend jenes Tages, als wir unseren Abendreisbrei löffelten.

Ich glaub', ich hab' damals ein bißchen gelacht, wie über einen Witz. Denn Kinder fühlen selbst nicht, daß ihre törichten Fragen oft mit furchtlosen Fingern an die dunkelsten Lebensrätsel rühren und an die tiefsten Mysterien.

Wenn ich an jene Jahre denke in meinem Elternhaus! Sie standen unter einem milden freundlichen Stern. Meine Mutter zog die Trauerkleider aus, die sie um den toten Liebling getragen. Mein Vater lachte wieder, nicht nur in die Wiege des kleinen Weltbürgers, sondern auch mit uns »Großen« im Kinderzimmer, wie er viele Monate nicht getan. Auf dem »Hausaltärchen« – so nannte meine Mutter eine besonders schöne alte Kommode, auf der die Bilder all ihrer toten Lieben zwischen schlanken Vasen und kleinen Reliquien standen – war der schwarze Flor abgenommen von dem Kinderbild im Elfenbeinrähmchen. Nur viel blühende Blumen, wie sie die Jahreszeit und der Blumentisch eben hergeben, standen um das lächelnde Bubenköpfchen, das aus großen Augen ins Leben, guckte in sein kurzes Leben. Und die Tanten spielten manchmal wieder etwas fröhlichere Weisen abends in der guten Stube, wo das Pianino stand mit dem gestickten Drehstuhl davor.

Die Tanten … Vier Tanten haben in unserem Leben eine Rolle gespielt. Die eine war in einer nahen Residenz verheiratet mit einem Geheimrat. Das war ein jovialer Herr mit einer mächtigen blanken Glatze, die mittags und abends der Wein von eigenen Weinbergen am Rhein rötlich illuminierte. Sehr »geheim« war kaum, was er trieb; denn er tat sehr bieder und öffentlich seinen kaum aufreibenden Dienst. »Geraten« hat er wohl auch nicht viel, der Herr Geheimrat Ammann, der alle Jahre eine Speckfalte mehr im Nacken ansetzte und alle zwei Jahre einen neuen Orden ins Knopfloch. Seine Frau Hermine war die einzige Schwester unseres Vaters. Groß und schwer, wie er, mit einer mächtigen, aber geraden Nase. »Die Nase ist die Verstandesröhre,« sagte unsere Mutter, »darum ist die Tante Hermine so gescheit.« Und sie war gescheit. So gescheit, daß sie dem vergnüglichen Geheimen viel durch die Finger sah, seinen Jähzorn vor mancher beruflichen Dummheit behütete und, wo sie ihn und die anderen regierte, immer klug im Hintergrund blieb, scheinbar nur besorgt, daß die Läufer richtig lagen im Treppenhaus ihrer kleinen Villa, daß jedes Möbel seinen gewohnten Platz hatte und behielt und sich jeder Gast wohlfühlte an ihrem Tisch oder in ihrem Fremdenstübchen unter den entsetzlich vielen Bildern von Schlachten und Begräbnissen, Königen und Schauspielern, ballspielenden Mädchen und blitzerschlagenen Schäfern, die sich verschworen zu haben schienen, das Muster der Tapete dem forschenden Auge geheimzuhalten. Diese Tante war nur mit »Festen« für unsere Erinnerung verbunden. Sie kam zu Geburtsfesten nach Frankfurt, und wenn ein besonders schönes Konzert im Museum oder ein ganz neues Theaterstück in dem unscheinbaren alten Schauspielhaus gegeben wurde, kam sie auch. Und wenn wir sie in der nahen Residenz besuchen durften, war's auch ein Fest; denn eine gütigere Wirtin war für die Jugend nicht zu denken. Sie besaß einen unerschöpflichen Vorrat an Gelee, fragte nie nach der Zensur und spielte glänzend Halma und Domino, um schließlich doch immer zu verlieren, damit der Partner, der ihr leid tat, seinen Groschen gewinnen konnte. Ich habe sie nie hitzig, nie ungerecht gesehen. Ohne es darauf anzulegen, imponierte sie, nicht nur körperlich, allen, bis auf ihre Köchin, das Mariechen, der überhaupt nichts imponieren konnte, allenfalls eine Vorratskammer, die besser assortiert gewesen wäre als, der Tante ihre, zu der das Mariechen den Schlüssel hatte. Und solche Vorratskammern gab's eben nicht viele.

Die drei anderen Tanten waren Schwestern meiner Mutter, die von Vieren die Jüngste war. Die Älteste, die im Taufbuch den schönen urdeutschen Namen Thusnelde führte, entsprach äußerlich diesem Namen wenig. Sie war klein und rundlich, lebte immer in einer Angst vor irgend etwas und war dabei doch immer quecksilbrig und vergnügt. Bald fürchtete sie, ihr Vermögen zu verlieren, bald von einer ansteckenden Krankheit, die angeblich in der Nachbarschaft aufgetreten, dahingerafft zu werden. Dann hatten sich wieder Mäuse in ihrem Hause gezeigt, und sie besorgte, daß diese ihr im Schlaf über das Gesicht laufen könnten, und sie bedeckte deshalb das bedrohte Antlitz vor dem Einschlafen mit einem Seidentuch. Dann wieder nährte sie die Überzeugung, daß ihr alles Silber gestohlen werden müsse, oder daß der Blitzableiter auf ihrem Hause nichts mehr tauge, und das nächste Gewitter ihr das Dach überm Kopf anzünden werde. Aber es brauchte nur einer über ihre Besorgnisse ungläubig zu lächeln, dann lachte sie mit und war in Dankbarkeit bereit, ihm ein angenehmes Frühstück vorzusetzen oder ihn Sonnabends in ihre Theaterloge ins Schauspielhaus zu bitten. Als Witwe des früh gestorbenen Fabrikanten Benno Braun war sie an dessen Fabrik, die jetzt sein Kompagnon leitete, noch still beteiligt. Daß diese Fabrik in die Luft fliegen würde, war längere Zeit ihre felsenfeste Überzeugung, obschon keinerlei Explosivstoffe in ihre Räume kamen. Sie lebte in mehr als auskömmlichen Verhältnissen, genoß ihr Leben auf schönen Reisen und im Besuch aller festlichen Veranstaltungen, auf denen es von einer Loge aus etwas zu sehen gab. Denn ins Gewühl mischte sie sich ungern, seit sie beim Schützenfest, klein wie sie war, beinahe erdrückt worden wäre und vom Festzug nichts gesehen hatte, als den schmierigen Überzieher ihres Vordermanns, der die fast Zerquetschte von Zeit zu Zeit durch ein rauh nach hinten gebrummtes »Dränge Se nit so!« einzuschüchtern wußte.

Für uns Kinder war die Tante Tüßchen – wie wir sie statt des zu langen und für sie entschieden zu feierlichen »Thusnelde« nannten – ein wahres Juwel. Sie huldigte der Ansicht, daß die Kinder viel zu viel lernen müßten und daß es ein Unsinn sei, die Ärmsten sechs Stunden im Tag auf eine splittrige Holzbank zu drücken, um ihnen von längst verstorbenen Perserkönigen und ebenso toten Griechenhelden Dinge in den Kopf zu setzen, die bestimmt nicht wahr sein konnten. Ihr gütiger Sinn war darauf gerichtet, die kleinen Märtyrer für diese schlimmen Erziehungsfehler einer grausamen Zeit durch kleine Aufmerksamkeiten zu entschädigen, die nicht immer den herzlichen Beifall der Familie fanden, uns Kinder aber begeisterten. Sie selbst hatte ein hübsches, etwas zartes Töchterchen, Cäcilie. Fast gleichaltrig mit meiner Schwester Mathilde wuchs es, blaß, schlank, mit einem Madonnenscheitel, etwas blumenartig heran. »Wie die Lilien auf dem Felde,« äußerte mein Vater oft, halb lachend, halb ärgerlich. Viel später hab' ich verstanden, daß er den botanischen Vergleich aus der Bibel deshalb wählte, weil es ihm vorkam, daß auch Cäcilchen nicht säete und nicht erntete und unser himmlischer Vater ernährte es doch. Ernährte es sogar gut und reichlich und mit viel Süßigkeiten, von denen Tante Tüßchen auf ihren Reisen stets neue wohlschmeckende Spezialitäten entdeckte, mit deren Verfertigern sie in regem Geschäftsverkehr blieb, der sich um die Weihnachtszeit in einer Weise steigerte, die selbst den überbürdeten Postboten auffiel.

Die Tanten Emma und Leonis waren Zwillinge. Sahen sich auch sehr ähnlich. Nur war Emma kleiner, weicher und stiller, Leonis etwas stattlicher, unternehmender und geräuschvoller. Da die eine nur heiraten wollte, wenn auch die andere sich dazu entschlösse, und da leider nun immer gerade dann ein Freier der einen erschienen war, wenn die andere just unbestürmt blieb, so hatten sie, nicht immer leichten Herzens, beide eine hübsche Anzahl Körbe ausgeteilt und waren schließlich beide alte Jüngferchen geworden, die unter uns in der ersten Etage ihr stilles behagliches Leben führten, eine für die andere sorgend, Blumen ziehend, wundervolle Stickereien anfertigend und lange Briefe an alte Pensionsfreundinnen schreibend, mit denen sie eigentlich nichts mehr gemein hatten, als die Erinnerung an französische Konversation, spartanische Mahlzeiten und deutsche Kochrezepte. Beide Tanten aber spielten wundervoll Klavier. Ein angeborenes großes Talent war in beiden durch viel Fleiß und Energie zu ansehnlicher Höhe entwickelt. Es mag sein, daß die Erinnerung in dankbaren Menschenherzen manches verstärkt und übertreibt; daß sie aus Braven schon Heilige, aus Kunstfertigen schon Wunderwirker macht – aber mich dünkt, ich habe nie mehr, auch nicht in den ausverkauften Konzerten berühmtester Meister, so seelenvoll, so einfach, so ans Herz greifend Bach, Mozart, Chopin spielen hören, wie damals als Junge von den Tanten. Und alles auswendig. Das Kind staunte, wenn diese kleinen, festen Hände in fabelhaften Läufen über die weißen Tasten geisterten und den dunklen Raum füllten mit einer zwingenden Kraft der Melodien, die fast körperlich das kleine lauschende Herz bedrängten, streichelten, erhoben. Den dunklen Raum – das war das Merkwürdige an den beiden Tanten. Sie übten wohl unten in ihrer Wohnung auch am Tage. Aber wenn sie anderen erlauben sollten, zuzuhören, wenn sie »oben« bei uns auf dem gestickten Drehstuhl unter dem großen Ölbild meines Vaters, auf dem er wie ein gönnerhafter Polenkönig aussah, am Piano sitzen sollten, mußte es die Dämmerstunde sein. Und das wob für uns Kinder noch etwas unsagbar Feierliches und Geheimnisvolles um ihr Spiel, wenn der Körper der Spielenden mehr und mehr ins Dunkel verschwamm, nur ein Licht des Abends noch auf der Stirn lag und die Hände noch ein wenig aufleuchteten. Und schließlich war es, als ob's der Raum selbst sei, der klinge; als ob gar kein menschliches Wesen dieser zauberischen Töne geschickter Urheber sei. Und wir saßen, Mathilde und ich, mäuschenstill aus dem Teppich von weichen Fuchsfellen. Wallfahrer, nach beschwerlichem Weg den Kalvarienberg entlang, oben angekommen vor dem goldenen Herzen der wundertätigen Madonna, können nicht mit innigerem Schauer den anschwellenden Sang der dankenden Beter vernehmen, als wir Kinder damals den Gesang des herrlichen Instrumentes.

Drittes Kapitel

Table of Contents

Die Taufe des Bruders war das erste ganz große Fest in der Familie, dessen ich mich entsinne.

Ich freute mich auf den neuen Samtanzug, den ich zum erstenmal anziehen durfte, auf den vielen Kuchen, auf die Rede des Pastors und darauf, daß ich sicherlich an diesem Tag länger aufbleiben durfte.

Der Samtanzug war denn auch sehr schön. Erst viele Jahre später hab' ich auf einem Bilde, denn ich bin darin photographiert, entdeckt, daß er quer über die Brust eine Naht hat. Was nicht die Regel bei Samtanzügen ist und wohl daher kam, daß der meine aus einem Rock meiner Mutter hergestellt war. Der Kuchen war wirklich reichlich, und der Pastor Knospe redete sehr lange.

Und alles war, während er redete, so still, daß man Tante Tüßchens Seidenkleid, das ihr ein bißchen eng geworden war in den Nähten, zuweilen krachen hörte, wenn der Pastor Knospe Atem holte. Das tat er aber oft und lang und sah dabei nach der Decke, als ob ihm der Leitfaden für die Fortsetzung seiner Gedanken da oben vom Plafond herunterkommen müsse.

Zunächst äußerte er, es sei schön, daß wir uns hier alle im Zeichen des christlichen Sakraments zusammengefunden hätten, und wir sollten uns alle der Weihe dieser Stunde wohl bewußt werden. Dann sagte er, daß dieser kleine »Hermann Otto Wilhelm« jetzt ein Christ sei, wenn er auch noch nichts davon wisse. Das sei aber das Schöne und Heilige am Himmel, daß er sich in seiner Gnade bereits derer annehme, die sich so etwas noch gar nicht verdienen konnten. Dann sprach er von den Aposteln und wie sie getauft hätten – aber da verlor ich ein wenig den Faden, weil unten auf der Straße jemand »Frische Erdbeeren« ausrief. Und die heilige Taufe sei ein Symbol – an dieser Stelle kniff mich Mathilde heftig in den Oberarm und fragte mich, was das sei ein »Symbol«; worauf ich ihr antwortete, sie sei eine Gans. Denn ich wußte es selbst nicht. Und dieses Symbol der heiligen Taufe verbinde nun dieses liebe Menschenkind noch inniger mit uns allen. Hier senkte Frau Margarethe Morgenthau bescheiden ihre große schwarze Haarkrone, denn sie hatte an diesem Vormittag erst die Synagogensteuer bezahlt.

Meinem Vater, der nicht sehr kirchlich gesinnt war, mochte die Rede ein bißchen lang scheinen. Er sah zweimal verstohlen auf die Uhr. Meine gute Mutter, die noch etwas blaß und schmal aussah, saß in einem geblümten Seidenkleide, sehr feierlich aufgebaut, zwischen zwei rund geschnittenen Oleandern, die sonst unten am Hauseingang das Glasdach flankierten, und deren glänzend grüne Zweige sie jetzt kitzelten, wenn sie den Kopf bewegte. Der Senator Buck, der persönlich, wie sein Titel, übriggeblieben war aus der stolzen Zeit der Freien Reichsstadt und mit seinem pergamentnen Vogelskopf aussah wie ein Pharao der siebzehnten Dynastie, dem sie einen weißen Schäferbart zu tief unter den Hals gehängt haben, lehnte geschlossenen Auges am weißen Kachelofen und bewegte die Lippen, hinter denen nicht mehr allzuviel Zähne standen. Es sah sich an, als ob er die ganze Rede emsig memoriere. Seine Gattin stand, gereckt und sehr geschmückt, neben dem Onkel Ammann, der all seine Orden angelegt hatte, die nicht recht zu dem rotgewürfelten Schnupftuch paßten, das der eifrige Schnupfer häufig an die geräumige Nase führte. Herr Morgenthau, der nicht gut hörte, erkundigte sich von Zeit zu Zeit bei der Tante Geheimrat, die majestätisch in einem dunklen Atlaskleid die Situation beherrschte, was der Pfarrer eben gesagt habe. Frau Morgenthau aber senkte meist, bescheiden, die schwarze Haarkrone.

Die drei Tanten Tüßchen, Emma und Leonis standen im Halbkreis vor dem Pastor Knospe, der bald die eine, bald die andere anzusprechen schien, und hielten abwechselnd den Täufling, dessen Kopf wie ein rosafarbenes Pünktchen in all dem blendenden Weiß der Kissen und Spitzen lag. Tante Tüßchen sah dabei aus, als ob sie dieses gefährliche Amt mitten im Seesturm verrichte, und als ob sie erwarte, daß der nächste furchtbare Windstoß ihr die teure Last vom Arm über die Reeling in den Atlantischen Ozean fege. Tante Emma übernahm das Kind mit überirdisch lächelnden Augen, als ob es nicht im Steckkissen, sondern auf der heiligen Gralschüssel läge. Tante Leonis aber, die Hauptpatin, die den Rufnamen »Wilhelm« bestimmt hatte, hielt das Bündel Spitzen, wenn die Reihe an sie kam, krampfhaft fast in Gesichtshöhe vor sich hin, bis ihr die Arme zitterten. Hinter ihr hielt sich im Arrangement der Dekorationsbäume, deren Zweige Tante Tüßchen ängstlich mied, weil sie fürchtete, Läuse zu bekommen, unsere Sophie bereit, das Kindchen aufzufangen, wenn die Kraft der Tante Leonie dieser ungewohnten Zumutung nicht mehr gewachsen sein sollte.

Hermann Otto Wilhelm aber, der winzige Mittelpunkt der feierlichen Zeremonie und dieser erlesenen Versammlung, benahm sich für sein Alter außerordentlich gesittet. Die rosigen Fäustchen links und rechts ans Köpfchen gelegt, guckte er mit runden blauen Äugelchen unverwandt an den Plafond, als ob er erwarte, daß sich dieser auftun und irgend etwas Himmlisches dort herauslassen werde, segnend oder auch nur um die erschrecklich lange Taufrede durch überirdischen Eingriff zu beendigen. Erst als ihm das Taufwasser von der Stirn über das Näschen und in das suckelnde Mäulchen lief und er enttäuscht geschmeckt hatte, daß es sich wider Erwarten nicht um Milch handle, zog er ein bedrohliches Schippchen. Dann brüllte er los, laut und ergiebig.

So war es zu verstehen, wenn auch nicht angenehm, daß Herr Morgenthau durchaus nicht mehr hörte, daß der Pfarrer noch betete; was Herr Morgenthau, als guter Beobachter, vielleicht auch aus den gefaltet erhobenen Händen hätte folgern können. Aber er folgerte nicht und begann seinerseits bereits geräuschvoll mit der Gratulation.

Während dann die Eltern mit den Gästen sich zum Taufschmaus niederließen, die Damen sich noch ein Tränchen wischend, die Herren schon in munterem Männergespräch, bekamen wir, Mathilde und ich, im Ställchen dicke Schokolade mit Napfkuchen. Bei welcher Gelegenheit ich der Schwester meinen felsenfesten Entschluß mitteilte, so rasch wie möglich Pfarrer zu werden. Denn mir gefiel das sehr, daß einer, weil er einen langen schwarzen Rock anhatte, darin er aussah wie ein Lichthütchen, und oben weiße Bäffchen trug, so andauernd in die anderen hineinreden konnte, ohne daß sie etwas sagen durften, bis er ganz fertig war. Dabei brauchte er selbst das Kind gar nicht zu halten. Und nachher bekam er weißen Putenbraten und gemischten Salat, eine Eisspeise und sogar Schaumwein, und wurde nach all diesen Genüssen in einem gemieteten Einspänner nach Hause gefahren.

Mathilde ihrerseits meinte, daß wiederum Begräbnisse, die doch auch vom Pfarrer besorgt werden müßten, gewiß nicht so lustig seien. Da gab es weder Putenbraten noch Eisspeise, noch Sekt, aber leicht nasse Füße und einen Rachenkatarrh. Im Hinblick auf diese dunklere Seite der Seelsorge wurde ich wieder schwankend in der eben getroffenen Berufswahl.

Wir gingen ins Schlafzimmer, wo Hermann Otto Wilhelm in seinem immer noch rosafarbenen Korb lag und sich verdientermaßen ausschlief von Rede, Taufwasser und Gebrüll. Wir setzten uns rechts und links an den Korb, dessen Farbe durch Frau Morgenthaus irrtümliche Prophezeiung bestimmt war, und tauschten ganz leise, das sanft schlummernde Brüderchen nicht zu wecken, unsere Eindrücke und unsere Gedanken über die Orden des Onkels Ammann, über die Haarkrone der Frau Morgenthau, über die Kosten eines Einspänners, das Alter des Senators Buck, die Verwendung der Reste des gemischten Salats und den mutmaßlichen Wohlgeschmack des Schaumweins. Dann wurden wir still, denn die Amsel sang so schön von dem Akazienbaum in den Abend, der den Wolken die goldenen Säume lieh.

»Findest du,« fragte Mathilde plötzlich und sah dabei mit ihren großen, lieben, braunen Augen in den Korb, »findest du, daß er jetzt als Hermann Otto Wilhelm anders aussieht wie vorher?«

Ich fand das nicht und sagte es ihr.

Und sie nach einer Weile: »Ich meine, weil er doch jetzt ein Christ ist.«

»Ja,« nickte ich, »das ist er jetzt; aber er weiß es noch nicht.«

»Vielleicht,« Mathilde machte ein nachdenkliches Gesicht, »vielleicht wissen viele, viele Menschen gar nicht, was sie sind. Und nur der liebe Gott weiß es.«

»Das ist ja auch genug, wenn der's weiß.«

»Ja, vielleicht.«

Dieses merkwürdige Religionsgespräch hatte uns feierlich gestimmt, und wir hörten wieder auf die Amsel. Bis sie fortflog in den Abend.

»Du, Adolf, du bist doch auch getauft, nicht wahr – und ich auch – und wir wissen gar nichts mehr davon, als was uns die anderen erzählen. Das kann wahr sein und kann auch nicht.«

»Es ist wahr. Papa lügt nie.«

»Mama auch nicht. Aber irren können sie sich doch. Ich meine aber, man sollte recht, recht viel behalten von dem, was man erlebt hat – damit man später nicht immer bloß den anderen glauben muß.«

»Das sollte man wohl.«

Eine Weile schwieg Mathilde. Ihr hübsches Köpfchen arbeitete.

Es war schummrig geworden im Zimmer. Der alte Schrank knackte. Von drüben über dem Korridor hörte man gedämpftes Lachen der Taufgesellschaft.

»Du, Adi, wollen wir uns vornehmen – wir beide –, daß wir den Tag heute ganz, ganz fest im Gedächtnis behalten und wer da war und die Rede und all das, und wie wir hier zusammengesessen haben?«

»Das wollen wir, Mathilde!«

Wir reichten uns feierlich, wie nur Kinder sein können, die Hand über den Korb, in dem das Brüderchen lag und lächelte.

»Und später« – sie beugte sich über die weißen Kissen, in denen Hermann Otto Wilhelm, die Fäustchen am Kopf, seinen ersten Christenschlaf tat, und ihre dicken kastanienbraunen Mädchenzöpfe kringelten auf die gestickten Engelchen der Decke – »und später, wenn er groß ist, erzählen wir's ihm. Alles.«

»Das wollen wir wirklich tun!«

Und wir haben Wort gehalten. Er hat später durch unsere Erzählungen alle Einzelheiten von seiner Taufe so genau und lückenlos erfahren und gekannt, wie wir selbst. Von der Ankunft der Tante Tüßchen angefangen, die gewohnheitsmäßig zu früh kam, aus Furcht, was Unterhaltsames zu versäumen, bis zur Abfahrt des Pfarrers in dem Einspänner, der zwei Stunden hatte warten müssen, weil der Rauentaler so blumig und so kühl war, den der frohgelaunte Vater »nur für die Herren« nach aufgehobener Tafel noch selbst aus dem Keller geholt hatte.

*

Er hieß also nun Hermann Otto Wilhelm. Der Rufname war Wilhelm.

Niemand hat ihn je so gerufen. Und wenn er später unter ein Papier von Wichtigkeit seinen Namen schreiben mußte, gab's immer ein kleines Zögern und Besinnen. Denn die Familie nannte ihn nur Benjamin, abgekürzt »Ben«, und die Freunde auch.

Zum erstenmal aber hörte ich den Namen nennen an einem Sonntag. Das war nicht lange nach der Taufe.

Da sah unser Vater mit uns beiden, Mathilde und mir, lächelnd zu, wie das Brüderchen gebadet wurde.

»Ein rundes Kerlchen ist's,« sagte er zur Mutter, die das Köpfchen, das in ihrer hohlen Linken lag, einseifte mit der rechten Hand. Und seine Stimme klang froh und stolz, als er so sprach. Später hab' ich mich erinnert, daß er schon viel weiße Fäden hatte damals im starken, schwarzen Schnurrbart; und so mag sich sein Stolz wohl erklären.

Dann zog er uns beide, Mathilde und mich, dicht an sich. Und während wir ein bißchen überspritzt wurden, alle drei, von Wassertropfen und Seifenschaum, fragte er: »Habt ihr auch eure biblische Geschichte gut im Kopf, ihr zwei Strolche?«

»Wir sind jetzt beim Riesen Goliath,« erzählte Mathilde, »der war von Gath und sechs Ellen und eine Handbreit hoch, und das Gewicht seines Panzers war fünftausend Lot Erzes …«

Ich aber schwieg, denn ich wußte nicht recht, wo wir in der biblischen Geschichte hielten, weil ich in der letzten Religionsstunde meine Rechenaufgaben gemacht hatte.

Aber der Vater schien gar nicht an den Riesen Goliath von Gath zu denken und auch nicht an mein schuldbewußtes Schweigen. »Im ersten Buch Mose steht's,« belehrte er, »da, wo Joseph, der des Pharao Minister geworden, die geängstigten Brüder empfängt. Da sagt Juda zu Joseph: »Wir haben einen Vater, der ist alt, und einen jungen Knaben, in seinem Alter geboren; und sein Bruder ist tot, und sein Vater hat ihn lieb.«

»Was du bibelfest bist,« bewunderte die Mutter und seifte.

»Ich hab's gesucht und nachgelesen. Und nun behalt' ich's. Und weiter heißt's da: »Der Knabe kann nicht von seinem Vater wegkommen; wo er von ihm käme, würde er sterben.« Und dieser Knabe, der von Jakobs Söhnen der jüngste war und der letzte, hieß Benjamin. Der da –« und des Vaters schlanke Männerhand, die kräftig und doch so edel geformt war, wie ich selten eine Hand gesehen, legte sich behutsam auf das nasse Kinderköpfchen. » Der – der ist unser Benjamin. Und er soll Glück bringen im Lande Kanaan und in Ägypten!«

Seit dieser Stunde hieß Hermann Otto Wilhelm nicht anders als Benjamin und, da der Name bald zu lang befunden wurde, einfach »Ben«.

Mathilde aber, die alles gern wörtlich nahm, fragte mich nachher ganz kleinlaut, ob denn der Vater nach Kanaan auswandern wollte und wo das läge.

Ich aber spürte, daß er das wohl nur so bildmäßig gemeint habe, und daß uns der kleine Benjamin auch in Deutschland Glück bringen könne.

Nicht bloß in Kanaan und Ägypten.

Viertes Kapitel

Table of Contents

»Auf seine Vaterstadt ist jeder stolz. Und hätte sie nichts Besonderes, als einen alten Kirchturm mit goldenem Gockelhahn und ein paar winklige Höfe, in denen alte Leiterwagen stehen.

»Auf dem Dach des Domes von Mailand, im Anblick der Peterskirche in Rom wird dem Deutschen noch der Gedanke an seinen alten Kirchturm auftauchen! und bei aller Bewunderung der Künste des Pellegrino Pellegrini und des Lombarden Bramante wird er in leiser, innerlicher Abwehr dankbar protestieren: »Mein Kirchturm daheim war aber auch schön; und so ein wunderlicher Gockelhahn für die Spitze ist weder dem Pellegrino Pellegrini noch dem Lombarden Bramante eingefallen.« Und durch die bunten Säulengänge der Alhambra oder über den Riesenhof der Omarmoschee die scheuen Schritte lenkend zum heiligen Stein, der Adams erste Fußstapfen spürte und bewahrte, wird er plötzlich das liebe winklige Höfchen aus seiner Heimatstadt vor seiner Seele Augen aufsteigen sehen; und die rostigen Ketten an dem alten Leiterwagen werden durch seine Erinnerung klirren mit einem seltsamen Heimwehton. »Dafür ist er ein Deutscher!«

Der Professor Kunkel war auch ein Deutscher, freilich kein angenehmer. Aber so viel ich der Art entnahm, wie er, der Festrede des Kollegen Wendelin mit verkniffenem Lächeln lauschend, das Kinn in den zu engen Kragen zwängte und die Unterlippe kaute, mißfiel ihm diese schwungvolle Art, den Schülern und deren Angehörigen von ihrer Heimatliebe zu reden. Dieses aber hielt den Redner auf dem mit den deutschen Farben geschmückten Katheder unter den buntgereihten lebensgroßen Kaiserbildern nicht ab, in seine dunkle, männlich schöne Stimme, die zu seiner ganzen Erscheinung gut paßte, noch mehr Wärme zu legen, als er, uns Abiturienten direkt anredend, fortfuhr:

»Wenn einer aber erst, wie Ihr, meine lieben Abiturienten, in Frankfurt geboren ist! …

»Frankfurt – ein wichtiges Kapitel deutscher Geschichte, deutscher Städteherrlichkeit schlägt rauschend seine wunderbunten Seiten auf. Erzgeschiente Römerkohorten streben auf sorglich gebauter Heerstraße den Höhen des Taunus zu und schlagen rastend ihr Lager am Main. Karl, der Frankenkaiser, sucht, die Sachsen zu besiegen, seinem Heere die gefahrlose Furt durch den Fluß und gibt der kleinen Merowingersiedlung den Namen. Der Fromme Ludwig baut sich hart ans Ufer die Kaiserliche Pfalz. Der längst als Hauptstadt des Ostfränkischen Reiches zu Glanz und Ansehen gekommenen Stadt verleihen kaiserliche Gunstbriefe immer neue Rechte. Die Messen zu Ostern und im Herbst ziehen aus allen deutschen Gauen Kaufleute und Käufer, Wundertäter und Schaulustige in Scharen heran. Die Goldene Bulle bringt der durch Gewohnheitsrecht zur Wahlstadt gewordenen die feierliche Bestätigung; und seit der zweite Maximilian unter den bunten Bildern der Fassade durch die spitzbogige Tür des »Römer« ins Rathaus der Reichsstadt schritt, empfingen hier, wo wir heute versammelt sind, die deutschen Kaiser das Zeichen ihrer Macht: die Krone …«

So ungefähr hatte auf dem geschmückten Katheder da vorn, umgeben vom gesamten Lehrerkollegium, das andächtig zuhörte oder Andacht heuchelte, der Professor Richard Wendelin gesprochen, derjenige unter unseren Lehrern, der es in Klugheit und Güte am besten verstanden hatte, unseren jungen Herzen nahe zu kommen.

Wir Abiturienten saßen, die meisten im ersten Frack, die anderen im schwarzen Rock, nicht ohne Stolz zu seinen Füßen. Hinter uns, nach Klassen geordnet, das ganze humanistische Gymnasium. Vor uns, nur durch den breiten Gang getrennt und durch das kleine inselartige Podium, auf dem der Oberlehrer Münzer einsam, wie ein vergessener Robinson, am Bechsteinflügel hockte, wo er den musikalischen Auftakt und den Schlußgesang der Feier zu leiten hatte, saßen die geladenen Verwandten der Schüler und die Freunde der Anstalt.

Der Professor Wendelin sagte damals bestimmt noch mehr und vermutlich äußerst Gescheites und sicherlich sehr Wichtiges. Zuweilen flatterten auch noch Fetzen seiner schönaufgebauten Rede, die er, nur selten einen flüchtigen Blick auf die Blätter in seinen weißen Handschuhen werfend, frei zu halten bestrebt war, in mein Ohr und Bewußtsein. So hörte ich noch Betrübliches über die Leidenszeiten der Stadt im Dreißigjährigen Krieg, der aber ebensowenig wie der Siebenjährige dem Wohlstand Frankfurts dauernd schaden konnte. Dabei sah Professor Steidel, unser letzter Ordinarius, ein sonst gütiger Mann, der für unsere Leidenszeit etwas spät, einen der übelsten und verknöchertsten Schultyrannen abgelöst hatte und deshalb für unser Empfinden eine Glorie um das bebrillte Haupt trug, meinen Mitschüler Moritz Veilchenstock bedeutungsvoll an. Veilchenstocks in Südafrika reich gewordener Vater versteuerte einige siebzig Millionen und hatte gestern, dankbar für das gerade noch bestandene Abitur des Sohnes, der Naturaliensammlung des Gymnasiums ein ausgestopftes Krokodil und den kunstvoll präparierten Riesenschädel eines Nilpferdes geschenkt.

Ich vernahm auch noch einige sanft mißbilligende Bemerkungen über den Herrn von Dalberg, den Fürstprimas des Rheinbundes, und über die Besetzung Frankfurts durch Napoleon. Mir fiel ein, daß damals, wie erzählt wurde, der Chef des Hauses Bethmann, die Plünderung der Stadt abzuwenden, aus eigenen Mitteln den französischen Truppen unzählige Wagen Käse entgegenfahren ließ. Und mich kam plötzlich, da ich, zu lange mit dem Knoten meiner ersten weißen Halsbinde beschäftigt, nur rasch und dürftig gefrühstückt hatte, ein großes Gelüsten an nach einem einzigen gutbelegten Käsebrötchen. Denn diese Feier im alten Römersaal dauerte nun schon zweieinhalb Stunden; und nach dem Professor Wendelin war noch die lateinische Abschiedsrede unseres Primus Nathan Geyer zu erwarten: » De dignitate feminarum Roma antiqua.« Ich gebe zu, daß mir an jenem Vormittag im April die Stellung der Frau im alten Rom ziemlich gleichgültig gewesen wäre, selbst wenn sich Nathan Geyer dazu entschlossen hätte, mich auf deutsch darüber zu belehren. An die lateinischen Ausführungen dieses durch seine Gründlichkeit gefürchteten Musterschülers aber dachte ich, und mit mir wohl die meisten meiner Konabiturienten, nur mit leisem Schauer.

Inzwischen tagte da vorn noch, in den Ausführungen des Professors Wendelin, die deutsche Nationalversammlung. Die Schüsse, die den General Auerswald und den Fürsten Lichnowsky töteten, knatterten sehr wirkungsvoll aus den geschilderten Pöbeltumulten heraus; und wenige Minuten später schritt der Legationerat von Bismarck durch die Eschenheimergasse nach dem Bundesratspalais, wo er – ein mutiger Versuch seines Königs – den verärgert scheidenden Bundesgesandten Herrn von Rochow ersetzen sollte.

Meine Gedanken waren wieder wo anders. Sie verweilten beim Bundesratspalais, bei dessen Bau – eine Geschichte, deren bloße Andeutung meine auf Anstand haltende Tante Emma sehr empören konnte – der sonst mit dem Raum sehr üppig schaltende Baumeister leider einen gewissen, selbst für Diplomaten nicht entbehrlichen geheimen Platz einzubauen vergessen hatte.

Diese Ideenverbindung brachte mich wieder auf Tante Emma und meine Familie, die vollzählig, wie ich wußte, diesem feierlichen Akt meiner Entlassung aus der Schule ins Leben beiwohnen wollte, und die ich in dem Gewühl der »Verwandten und Freunde der Anstalt«, das da vor mir unter den lebensgroßen Bildern der Kaiser sich unruhig ausbreitete und an den Türen noch staute, beim besten Willen nicht entdecken konnte. Das Mittelstück dieser geladenen Versammlung zu sehen war mir allerdings durch den Bechsteinflügel, an dem eben der Oberlehrer Münzer den Schlaf bekämpfte, sehr erschwert. Ich konnte nur, ein wenig vorgeneigt, durch die blankglänzenden Beine des Instruments hindurch meine behutsamen Nachforschungen anstellen.

Gerade zog da vorn unter sichtbarem Beifall und zur größten Genugtuung des vortragenden Professors Wendelin, der selbst Reserveoffizier bei einem Infanterieregiment, seit Orléans Inhaber des Eisernen Kreuzes und darauf vielleicht stolzer war, als auf seinen Professortitel, der schneidige General Vogel von Falckenstein, als siegreicher Preuße, mit der Division Goeben in Frankfurt ein. Die Zeil herunter nach der Hauptwache. Ich erinnerte mich aus meinen frühesten Jahren der meiner kindlichen Naivität unverständlichen Aufregung, die dieser preußische Einzug in die Frankfurter Familien gebracht. »Plünderungen« waren angesagt und erwartet. Daß verschiedene Gebäude »dem Erdboden gleich gemacht« werden würden, war an der Börse und im Café Milani eine ausgemachte Tatsache; man wußte nur noch nicht, ob die Paulskirche und die Judengasse dazu gehören würden. Tante Tüßchen, die sich bewußt war, immer auf Preußen geschimpft zu haben, erwartete stündlich das Eintreffen der Guillotine. Frau Morgenthau hatte persönlich, ihre Nachtruhe opfernd, ihr Silber im Garten hinter dem Holzstall vergraben und später, als sie's erleichterten Herzens wieder ausgrub, einen silbernen Suppenlöffel zu wenig vorgefunden, dem die Gute lange nachtrauerte. Einer resoluten aus Ostpreußen eingewanderten Freundin meiner Eltern aber, die ihr Haus ganz besonders bedroht sah, war es auf unerklärliche Weise gelungen, durch Wachen und Bajonette bis zum General Vogel von Falckenstein selber in sein Hotelzimmer vorzudringen, den sie zu seiner größten Überraschung mit einem Fußfall und den stürmisch hervorgestoßenen Worten grüßte: »Herr Jeneral, Vaterchen und Großvaterchen haben unter Preußen jedient« … Und dann war alles sehr harmlos – freilich dafür recht kostspielig –, aber in bester Ordnung gekommen. Und einer von den beiden furchtbaren Kürassieren, die in blankem Küraß, mit gespannten Pistolen, auf hohen Rappen, der Infanterie voran, unterm Stahlhelm das geängstigte Publikum scharf fixierend, die Zeil hinunter trabten, hatte sich später – mein Vater erzählte das oft mit schmunzelndem Behagen – als biederer Weinreisender entpuppt, der den verblüfften Frankfurter Patriziern ganz gemütlich seine nicht billigen Saarweine andrehte.

Während meine schweifenden Gedanken so in der Vergangenheit, in Ruhm und Mißgeschick meiner Vaterstadt herumwühlten, hörten meine Augen nicht auf, zwischen den Beinen des Bechsteinflügels in der Menge der Teilnehmer am Festakt meine Verwandten zu suchen.

Sie waren, ich wußt' es, ziemlich vollzählig erschienen. Nicht nur um mich unter den aufgerufenen Abiturienten im Schmuck des ersten Fracks zu sehen; auch Benjamin sollte von Sexta nach Quinta aufrücken. Man raunte sich mit heimlich leuchtenden Blicken in der Familie zu, die Möglichkeit sei gegeben, daß er »Primus« werde. Das hatte er nun freilich nicht gemacht; und es gehörte der ganze fröhliche Optimismus, der ihn auszeichnete, dazu, sich das einzubilden und in Andeutungen vorzubereiten.

Als der Ordinarius der Sexta die Platzfolge der nach Quinta versetzten Schüler, vorlas, ergab sich's, daß Benjamin als Fünfzehnter unter Zweiunddreißig diese höhere Stufe humanistischer Gelehrsamkeit erklomm. Also zwar ganz schön in der Mitte, aber doch keineswegs eine ernste Konkurrenz für den rothaarigen Siegmund Simon, der seit der untersten Vorschulklasse in jedem Diktat »Null Fehler« schrieb und in den vier Jahren nur viermal – alljährlich am Versöhnungsfest – den Unterricht versäumt hatte.

Jetzt hatte mein Blick die ganze Familie Simon entdeckt, den Bankier selbst und vier mäßig blühende Töchter, alle rothaarig und reichlich mit Sommersprossen gesprenkelt. Dicht hinter diesen wuscheligen Mädchenköpfen, die den Anschein erweckten, als sei da mitten im Saal Feuer ausgebrochen, gewahrte ich jetzt Tante Tüßchens überaus festlichen, mit Rosen geschmückten Hut. Sie hatte ihr in Perlmutter gefaßtes Opernglas in der Hand, das sie durch den größeren Teil ihres Lebens begleitete, und kaute diskret etwas, das ihr sicherlich als ein segensreiches Prophylaktikum gegen irgendeine in der Menge drohende Ansteckungsgefahr empfohlen war, das aber, nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, nicht lieblich schmeckte.

Neben ihr saßen die Eltern. Der Vater, wie immer bemüht, durch die wuchtige Masse seines riesigen Körpers die hinter ihm Sitzenden nicht um den Genuß des Ausblicks zu bringen, die Mutter mit verklärtem Glückslächeln bald ihren Abiturienten suchend, bald ihren Jüngsten, von dem in der allzu reichen Vortragsfolge dieser »Progressionsfeier« noch eine Deklamation zu erwarten war, bald einen stolzen Blick zur Seite werfend auf das strahlende Brautpaar, das übermorgen in der St. Katharinenkirche für immer verbunden werden sollte.

Vorn sprach jetzt der Oberlehrer Kappel, der den mitleidlosen Spitznamen führte »Oberlehrer Zappel«, weil alles an ihm zappelte. Seine Arme und Beine waren im Unterricht und auch sonst, wenn er redete, in einer beständigen nervös zuckenden Bewegung; und er war anzusehen, als ob er geradeswegs aus einem Ameisenhaufen käme. In Anbetracht dieser Eigentümlichkeit war sein Thema: »Der Tanz in der Antike«, nicht sehr glücklich gewählt. Tante Tüßchen, die ihr Opernglas nicht vom Auge ließ, hat mir später gestanden, daß sie geglaubt habe, der merkwürdige Mann gedenke seinen Vortrag durch Andeutungen charakteristischer Tänze der Alten anschaulich zu erläutern.

Während der Oberlehrer Kappel bemüht war. nachzuweisen, daß die »Orchesis« der Hellenen nicht nur rhythmisch schöne Bewegungen geboten, sondern die gesamte Kunst des Gebärdenspiels mitumfaßt habe, sah ich hinüber zur Schwester Mathilde, deren lächelnde Augen im Blick ihres Verlobten, des aufrecht in allem Glück die Würde wahrenden Hauptmanns Kurt von Möckwitz ruhten.

Mir fiel das Gespräch ein, das ich gestern in der Dämmerung des »Ställchens« mit meinem Brüderlein Benjamin über Verlobung, Hochzeit und Geschwisterliebe gehabt, und das den folgenden denkwürdigen Verlauf genommen.

»Adolf,« sagte Benjamin, indem er mit Hilfe von Bauklötzen seine auf dem Plateau des ungeliebten lateinischen Übungsbuches von Ostermann aufgebaute Pappfestung gegen jeden feindlichen Angriff verstärkte, »das ist doch eigentlich komisch, gelt, daß die Mathilde diesen Donnerstag mit dem Kurt einfach fortgeht von uns?«

»Gott, so einfach ist das schließlich nicht mit dem Fortgehen. Sie hat den Kurt voriges Jahr in Pyrmont kennengelernt; dann hat er die Eltern besucht, hat sich mit ihr verlobt, weil sie ihm gefallen hat, und hat dann –«

»Ja, das hat er alles – aber ich finde das komisch. Die Mathilde gehört doch hier ins Haus. Der Kurt könnte ja grad so gut dem Papa seinen Bücherschrank mitnehmen, weil er ihm gefällt, oder die Madonna über dem Sofa in der guten Stube.«

»Das ist doch nicht dasselbe, Ben. Die Mathilde ist kein Schrank und eine Madonna ist sie auch nicht. Und er hat sie doch gefragt, der Kurt, ob sie will. Und sie hat »ja« gesagt.«

»Warst du dabei?«

»Nein, aber ich weiß es.«

» Warum hat sie aber bloß ja gesagt? Verstehst du das, Adi? Sie hat den Papa lieb, sagt sie, und hat die Mama lieb, sagt sie; und uns, dich und mich – nun, uns hat sie doch auch lieb. Und niemand hat ihr was getan. Und da kommt in der Allee in Pyrmont ein fremder Herr und sagt: »Mein Fräulein, Sie haben dies Buch auf der Bank am Erdbeertempelchen liegen lassen.« Und da wird sie rot und sagt: »Entschuldigen Sie, das ist gar nicht mein Buch.« Und da sagt er: »Ja, aber es gehört auch mir nicht.« Und dann zieht er noch einmal den Hut und sagt: »Dann verzeihen Sie, Fräulein, ich heiße Kurt von Möckwitz.« Und das verzeiht sie ihm und sagt, sie heißt Mathilde Mewes. Und jetzt nimmt er uns die Mathilde fort, weil er am Erdbeertempelchen in Pyrmont ein Buch gefunden hat, das ihr gar nicht einmal gehört hat.«

»Ja,« lach' ich, »lieber Ben, wenn man's so schildert, ist's allerdings recht wunderlich. Aber der Kurt hat doch dann die Mathilde zum Hotel begleitet; und mittags bei der Kurmusik hat er sich unserer Mutter vorgestellt, nicht wahr. Und dann haben sie Touren zusammen gemacht im Wagen nach Hameln ins Rattenfängerhaus und mit der Bahn nach Hildesheim zum tausendjährigen Rosenstock – und da hat er die Mathilde eben liebgewonnen und sie ihn.«

»Aber wir haben sie doch auch lieb. Haben sie länger lieb, als er, besser lieb.«

»Besser, Ben? Anders vielleicht, aber nicht besser.«

Benjamin überlegt. »Glaubst du, Adi, daß er sie – geküßt hat? Beim tausendjährigen Rosenstock?«

Die Frage ist mir nicht angenehm. Ich bin selbst in dem Alter, in dem man das Schönste auf den Fluren sucht, um – nun um es nicht gerade als Buchzeichen in die »Antigone« zu legen. Habe auch, mich den Scherzen ruppiger Kommilitonen über die Beziehungen der Geschlechter schamvoll fernhaltend, des öfteren schon über das Wesen der Liebe nachgedacht; aber gerade über die Gefühle der um ein Jahr jüngeren Schwester, die mir bisher Kamerad war, nachzudenken, ist mir peinlich.

»Ich bin nicht dabei gewesen,« weich' ich aus.

»Ich finde die Küsserei überhaupt dumm,« entscheidet Benjamin und beginnt die preußische Infanterie aufzustellen. »Was haben sie davon?«

Mir fällt ein, daß Benjamin jetzt unbewußt aus den Spuren der skeptischen Philosophie des Katers Hiddigeigei wandelt, dessen Bekanntschaft mir die letzte Weihnacht vermittelt hat. Mathilde und ich haben uns auf dem Sofa unter den Zimtsternen und Wachslichtem des Christbaums noch den »Trompeter« abwechselnd vorgelesen. Und als ich, denn die Reihe war an mir – ich glaube, sehr gefühlvoll – das Lied Jung-Werners las: »Nein gedenk' ich, Margarete,« ist sie plötzlich, mit den Tränen kämpfend, aufgesprungen und in ihr Zimmerchen geeilt. Ich Hab' mit meinem goldgeschnittenen Trompeterbuch ziemlich dumm auf dem Sofa dagesessen, ein wenig verdutzt in Anton von Werners Illustrationen geblättert, dann einige Zimtsterne von den Goldfäden genommen und sinnend vertilgt, und schließlich nachdenklich das Kuvert aufgehoben, das der Schwester bei ihrer Flucht aus dem Briefmäppchen auf den Teppich gefallen war. An sie adressiert, Poststempel »Pyrmont«, mit dem Datum des August.

»Sie kennt uns alle doch viel, viel besser,« räsonniert Benjamin weiter, während er, ziemlich unmilitärisch, hinter die auf ihren blauen Beinen marschierende Infanterie attackierende rote Husaren aufbaut, »und dann läuft sie uns einfach mit dem fremden Mann fort. Warum denn? Weil er ihr den tausendjährigen Rosenstock gezeigt hat oder weil er ihr ein schmieriges Buch nachgetragen hat?«

»Schmierig, Ben, war das Buch nicht,« berichtige ich. Das kann ich. Ich weiß, daß das Buch noch ganz neu und sogar unaufgeschnitten war. Denn Kurt hatte es, wie er später gestand, eine Viertelstunde ehe er's hinter Mathilde hertrug, erst selbst in der Buchhandlung am Kurtheater hinterlistig gekauft.

»Was findet sie eigentlich so Besonderes an ihm?« Benjamins Stimmung ward feindlich. Die Eifersucht quält sein kleines Herz, das der stets frohen und gütigen älteren Schwester in Zärtlichkeit zugetan ist. »Er hat einen blonden Bart – den haben viele. Ich auch, wenn ich groß bin. Er hat Schmisse im Gesicht, weil er studiert hat. Hätt' er besser gefochten, hätt' er keine.«

»Na, sieh mal, Ben, er hat zum Beispiel den Krieg mitgemacht –«

»Das hat Herr Lützelmann auch.«

Herr Lützelmann ist der hilfreiche Mann, der alle vierzehn Tage meinem Vater die Hühneraugen schneidet. Er hat, als Kind, die Blattern gehabt, was man ihm noch ansieht, und trägt den Kopf tief in den runden Schultern, wie eine mißtrauische Schildkröte. Ein Sprachfehler macht seine an sich lebhafte Unterhaltung nicht angenehmer. Die Wahl zwischen Herrn Lützelmann und unserem Schwager Kurt wäre also auch bei anderen jungen Damen kaum zweifelhaft gewesen.

»Kurt ist ein gescheiter Mann, ist weit gereist. Bis Afrika –«

»Er hätt' aus Afrika nicht wiederzukommen brauchen!« trotzt Benjamin.

»– ist der Freund eines Fürsten.«

»Ach – dem sein' Fürst sein Land ist so klein, daß es auf meinem Atlas gar nicht mal draufsteht!«

»Er hat viel gelesen und gelernt.«

»Das kann er ihr alles hier erzählen.«

»Ja, Ben, aber er möcht' die Mathilde gern für sich allein haben.«

»Das ist eben die Gemeinheit –«

»Ben!«

»Jawohl, eine Gemeinheit!«

Und jetzt geschieht etwas Sonderbares. Benjamin, der seine Bleisoldaten liebt, wie Julius Cäsar die zehnte Legion, wie Friedrich Wilhelm I. seine Riesengarde kaum geliebt haben kann, fegt wütend mit dem Kinderarm über Infanterie und Husaren hin, daß sie reihenweise umfliegen; zerstört sein kunstvolles Festungswerk so gründlich, daß Ostermanns lateinisches Übungsbuch mitsamt den Panzertürmen vom Tisch fliegt.

»Ben – aber Ben!«

Das hübsche ehrliche Bubengesicht zuckt im Kampf gegen die Tränen; aber der Wille ist zu schwach noch, zu undiszipliniert. Die dicken Tropfen laufen ihm glitzernd über die Backen. Ein fassungsloses Schluchzen schüttelt seine Brust und würgt seinen schmalen Hals.

»Sie soll – soll bei uns – bleiben!«

Und jetzt liegt der kleine Kerl zwischen meinen Knien, niedergeworfen von Schmerz und Scham, und weint in meine Hände, die sein heißes Köpfchen aufrichten wollen.

Und ich weiß und fühl's, das ist das erste große, wirkliche Leid, das den kleinen verwöhnten Liebling der Familie, das Nesthäkchen, im Innersten aufrüttelt.

… Und siehe, da ist es Ben, der mich von Ben erlöst.

Eben hab' ich noch mit einem seltsamen wehen Gefühl der Szene gestern im Ställchen gedacht, hab' noch das unstillbare Schluchzen des Jungen, das mir die eigene Wehmut um den nahen Verlust weckte, im Ohr gehabt, da hör' ich – von da vorn, vom geschmückten Katheder – eine wohlbekannte, helle schmetternde Stimme:

»Die Löwenbraut. Von Adalbert von Chamisso.«

Der Schüler der Sexta, heute nach Quinta aufgerückt, Benjamin Mewes, zwar bloß Fünfzehnter in der Klasse, aber im »Deutschen« der Beste, darf »nach eigener Wahl« ein Gedicht aufsagen. Und der Schlingel hat, das war sein wohlbehütetes Geheimnis, die »Löwenbraut« gewählt. Eine seltsame Huldigung an die treulose Schwester. Ein Trotz und Trost in der Allegorie.

»Mit der Myrte geschmückt und dem Brautgeschmeid, Des Wärters Tochter, die rosige Maid, Tritt ein in den Zwinger des Löwen; er liegt Der Herrin zu Füßen, vor der er sich schmiegt.«

Ich sehe zu den Eltern hinüber. Der Vater sitzt vornübergeneigt und schmunzelt in seinen starken angegrauten Schnurrbart. Die Mutter lächelt stolz-bescheiden. Ihr Junge sagt Chamisso auf! Tante Leonis schließt die Augen und bewegt die Lippen. Sie kennt hundert Gedichte auswendig und mehr, auch die »Löwenbraut«, und spricht jetzt, seelisch gesammelt, halblaut jedes Wort mit.

»O wär' ich das Kind noch und bliebe bei dir, Mein starkes, getreues, mein redliches Tier –«

Benjamins Blick sucht Mathilde. Die hat verstohlen ihre Hand in die Rechte Kurts gelegt. Beide sind sehr beglückt, daß man so eng sitzt; daß so viele Menschen da find, und daß keiner sich um sie kümmert. Das starke, getreue und redliche Tier geniert sie weiter nicht.

Benjamins Kinderstimme zürnt und droht:

»Es fiel ihm ein, daß schön ich sei, Ich wurde gefreiet, es ist nun vorbei –«

»Warum schreit er so?« sagt hinter mir der Seligmann. Und leise zu mir: »Ist in Eurer Familie jemand taub?«

Auch das Lehrerkollegium ist aufmerksam geworden auf den ungeheuren Stimmaufwand, mit dem Benjamin das Zwiegespräch zwischen der bräutlichen Wärtertochter und dem angeblich redlichen, aber immerhin gefährlichen Tier zu schildern unternimmt. Professor Kunkel schüttelt mißbilligend den Kopf. Professor Wendelin sucht durch diskret beschwichtigende Handbewegung den Rezitator pantomimisch zu milderer Tonart zu bestimmen. Oberlehrer Münzer am Flügel gibt Lebenszeichen und scheint erstaunt, daß da vorn plötzlich von einem Löwen die Rede ist. Als er einschlief, tanzten die alten Griechen um den Altar des Zeus.

»Und draußen erhebt sich verworren Geschrei, Der Jüngling ruft: »Bringt Waffen herbei; Ich schieß' ihn nieder, ich treff' ihn gut!««

»Dein Bruder will wohl aufs Theater?« sagt hinter mir der Seligmann. »Er soll Stunden nehmen beim Erwin Schuster.«

»Der Erwin Schuster wird überschätzt,« flüstert unser Primus Geyer, der gewohnheitsmäßig alles überschätzt findet.

Während die beiden hinter mir das Zanken kriegen, der Seligmann und der Geyer, über den Wert der Schusterschen Menschendarstellung im Frankfurter Schauspielhaus, erledigt Benjamin da vorn erst die geschmückte Braut, dann durch tödlichen Schuß des Bräutigams auch den Löwen.

Aber es ist ersichtlich, seine volle Sympathie ist bei der toten Bestie. Für den Bräutigam hat er nichts übrig.

Fünftes Kapitel

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Ein wenig hat sich diese ablehnende Stellung dem Schwager gegenüber schon drei Tage später bei der Hochzeitsfeier geändert.

Der Pfarrer Knospe, der als junger Geistlicher schon die Eltern getraut hatte, hielt – woraus eine freundschaftliche Unterredung mit meinem Vater auf der Progressionsfeier im Römer vielleicht nicht ohne Einfluß war – eine zwar sehr lange, aber auch recht warmherzige Rede, in der vom lieben Gott nicht allzuviel und von dem Apostel Paulus, der sonst alle seine Predigten beherrschte, gar nicht die Rede war. Dagegen empfahl er uns allen, uns »untereinander zu lieben«, wobei er sich auf die Autorität des Apostels Johannes berief, der sich im hohen Alter noch in die Gemeinde tragen ließ und ermahnte: »Kindlein, liebet euch untereinander.«