Geschichten der Pfälzer Oma - ... NichtGanzDichter - E-Book

Geschichten der Pfälzer Oma E-Book

... NichtGanzDichter

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Beschreibung

Die "Pfälzer Oma" alias E.B. blickte auf ein bewegtes Leben zurück! Als die gebürtige Ludwigshafenerin, inspiriert durch einen ihrer Enkel, im Frühjahr 2017 ihre prägendsten Erinnerungen niederschreibt, ist sie fast 87 Jahre alt. Herausgekommen ist eine beeindruckende Sammlung von Zeitzeugenberichten aus der Zeit von 1930 bis 2020. Es ist ein Geschichten- und ein Geschichtsbuch. Mit Einfallsreichtum, hoher Risikobereitschaft und nicht zuletzt einer ungeheuren Schlagfertigkeit hat sich die "Pfälzer Oma" durchs Leben gekämpft! Als Tochter eines Sozialdemokraten war sie "Jungmädel" in der NS-Zeit, sie erlebte in ihrer Pfälzer Heimat Bombennächte und Hungerjahre, stellte sich schützend vor Zwangsarbeiterinnen, verlor zwei Brüder, baute vier Häuser, sie verwies französische Soldaten und eine Rockerbande in die Schranken - und hat Zeit ihres Lebens immer gelacht! Erleben Sie eine packende Zeitreise - und eine ungewöhnliche Persönlichkeit! E.B. lebte bis zuletzt in der Nähe von Ludwigshafen.

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E.B. und NichtGanzDichter

„Do machscht was mit!“

GESCHICHTEN DER PFÄLZER OMA

50 heitere, dramatische, unglaubliche Tatsachenberichte – von 1930 bis 2020

© 2021 NichtGanzDichter

3. Auflage

Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:      978-3-7469-0003-2

Hardcover:      978-3-7469-0215-9

e-Book:             978-3-7469-0216-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Enkels

„Ein deutsches Mädchen trägt keine Ohrringe!“

Kindheit und Jugend im Zweiten Weltkrieg

Die Erzählerin – eine Nachbarin, die mich prägte

Die ersten Bomben

Lehrers Liebling – meine Schulzeit im NS-System

Vom Leben im Luftschutzkeller – wie ich den schwersten Angriff auf Oppau erlebte

Meine Zeit im Lager – Evakuierung mit der Kinderlandverschickung

Das doppelte Lottchen – und eine Zeit ohne Schule

Die spontane Abreise oder: Hör‘ auf dein Gefühl!

Und plötzlich bin ich Schaftsführerin!

„Das sind doch auch Menschen!“ – Tumult im Max-Bunker

Das Flugzeug im Acker

Die versteckten Russen

Mr. Chic und die ersten „Amis“

Die weiße Fahne – der Mann auf dem Bunker

Nachkriegs- und Hungerjahre

„Genießt den Krieg, der Frieden wird furchtbar!“

Chesterfield & Co. – die ersten Zigaretten

Fraternisierung und Fräuleinwunder

Das tägliche Brot – vom Teilen in der Not

Wer in diesen Zeiten stiehlt…

Die Rheinüberquerung im Morgengrauen

Die Schuhe vom Bürgermeister

Mein größtes Handballspiel

Gestoppt zur Sperrstunde – meine Begegnung mit dem „Feind“

Mein letztes Tauschgeschäft

Erinnerung an meine Brüder

Warum ich nie zur BASF kam

Rastlos bei der Arbeit – wie ich mein erstes Geld verdiente

Vom Leben in den 1950er und 60er Jahren

Auf der Suche nach dem „Vielfraß“

(K)ein Mittel gegen Katzen?!

Der Kampf mit dem Messermann

Rumpelstilzchen in Gummistiefeln

Wie ich mein Café baute

Ein Bayer in Oppau

Ein zweifelhaftes Geschäft

Das herrenlose Fahrrad

Ein Gast, auf den ich wartete

Ein wirklich guter Rat

Konfirmanden im Einsatz

Rififi

Der Angstmann

Haus Helga

Ein anderes Lokal

Das Gebiss im Wald

Aus den letzten Jahrzehnten

Der Mensch stammt (nicht) vom Affen ab

Eine unvergessliche Lieferung

Meine Freundin aus Kindertagen

Man sieht sich immer zweimal…

Spurensuche in Berlin – eine Reise in die Vergangenheit meines Mannes

Und plötzlich bin ich schwerkrank oder: Totgesagte leben länger!

Die gemischte Veranstaltung

Der rote Knopf oder: Wer einmal Hilfe braucht…

Nachwort des Enkels

Vorwort von NichtGanzDichter, im Juli 2021

Seit vielen Jahren verfasse ich Gedichte und Texte aller Gattungen – und stehe als „NichtGanzDichter“ auf der Bühne. Nachdem im März 2017 mit den „Geschichten eines nicht ganz Dichten“ die besten Anekdoten aus einem zugegebenermaßen ungewöhnlichen Leben in Buchform erschienen sind, war nur wenig später bereits eine neue Idee geboren:

Von den überwiegend skurrilen Erlebnisberichten inspiriert, beschloss meine zu diesem Zeitpunkt 86jährige Großmutter, auf ihre alten Tage ihrerseits die prägendsten und spannendsten Lebensereignisse zu Papier zu bringen. Ich gebe gerne zu, dass ich sie in diesem Vorhaben bestärkt habe, immerhin waren mir viele ihrer Erzählungen bestens bekannt. So schlug ich kurzerhand vor: „Lass uns ein Buch daraus machen!“ Schließlich ist im Leben meiner Oma – bis ins hohe Alter – dermaßen viel Außergewöhnliches (und Amüsantes!) geschehen, dass es mir doch in hohem Maße berichtenswert erschien!

Und so setzte sich die „Pfälzer Oma“, die unter ihren Initialien E.B. auftreten wollte, trotz bereits fortgeschrittener gesundheitlicher Beeinträchtigungen und teils starker Schmerzen an ihren rustikalen Wohnzimmertisch und begann, voller Enthusiasmus drauflos zu schreiben – manches Mal die ganze Nacht! Da jagte eine Geschichte die nächste, am Ende waren es 50 an der Zahl!

Mein Part als sich ihr eng verbunden fühlender Enkelsohn und kreativer „NichtGanzDichter“ bestand fortan darin, aus all den Aufzeichnungen und weiterführenden Informationen, die mir die Großmutter an die Hand gab, ein Buch zu formen! In vielen Fällen wurde ihr Originalbericht, inklusive der herrlichen, teils in Mundart geführten Dialoge, fast unverändert übernommen – und mit der passenden Überschrift versehen! Erläuterungen habe ich immer dort eingefügt, wo sie zum Verständnis der Geschehnisse geboten erschienen. Oder wer weiß heute noch, was es mit den „Christbäumen“ am Nachthimmel auf sich hatte? Manchen Text haben wir auch gemeinsam am Telefon ausformuliert! Personennamen wurden mitunter verkürzt oder verfremdet, doch sind Charakter und Inhalt der Originalaufzeichnungen stets erhalten geblieben – schließlich ist alles genau so passiert! Gerade der pointierte bis forsche Erzählstil der Oma ist es ja, der die Erinnerungen von anno dazumal zu einer unterhaltsamen wie lehrreichen Lektüre auch für nachfolgende Generationen macht!

Somit kommen die „Geschichten der Pfälzer Oma“ – inzwischen in der 3. Auflage – meist heiter, mal dramatisch und tief berührend daher, versehen mit einer gehörigen Portion Witz! Kein Wunder, denn meine Großmutter ist mit einer Lebensfreude und Schlagfertigkeit zu Werke gegangen, von der sich mancher Miesepeter eine Scheibe abschneiden könnte. Angesprochen auf ihr stolzes Alter, wobei ihre Stimme selbst an ihrem 90. Geburtstag noch um Jahrzehnte jünger klang, pflegte sie in ihrer ureigenen Pfälzer Mundart zu sagen: „So alt wird kee‘ Kuh im Odenwald“ – womit sie Recht behalten sollte! Ein anderes Mal stellte sich vor den Spiegel und klagte: „Des is ja furchtbar, ich seh‘ ja aus wie 80!“ – worauf ich entgegnete: „Dann hast du dich aber gut gehalten, du bist 87!“ Man kann sich vorstellen, dass die gemeinsame Arbeit an diesem Buch nicht nur mit Aufwand, sondern mit ebenso viel Freude verbunden war!

Herausgekommen ist eine chronologische Sammlung von Zeitzeugenberichten, die einen Zeitraum von den 1930er Jahren bis zu ihrem letzten Lebensjahr 2020 abbilden. Zu großen Teilen spielt sich das Geschehen in Ludwigshafen und Umgebung ab. Ich muss gestehen, dass mich diese Erzählungen beim Lesen, Hören und Bearbeiten beeindruckt, aber auch immer wieder zum Lachen gebracht haben!

Bei allem, was die Großmutter erlebt und erlitten hat, so hat sie sich eines jedenfalls immer bewahrt: einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit! Dafür hat sie, wenn es ihr nötig schien, keinen Konflikt gescheut – streitbar und kampfeslustig war sie ihr Leben lang! Es gibt so viele weitere Eigenschaften, die die „Pfälzer Oma“ zu einem echten Unikat machen. Neben ihrer unkonventionellen Art wäre die enorme Risikobereitschaft zu nennen – und ihr ständiges Lachen! Darüber hinaus hat sie gerne gebaut: vier Häuser, darunter das Café West in Oppau, an das sich die Älteren vielleicht noch erinnern und von dem mehrere ihrer Berichte handeln! Noch im hohen Alter sagte die Oma zum Enkel: „Wenn ich mich besser bewege‘ könnt‘, würd‘ ich wieder baue‘. Aber wenn du mal baue‘ willsch‘: Kein Problem, ich stell‘ mich danebe‘ und geb‘ die Befehle!“ Ihr größtes Interesse war allerdings nicht von dieser Welt… Für Außerirdische hat sie sich restlos begeistert! Folgerichtig hatte sie mit mir auch eine Vereinbarung: Sobald die Aliens bei ihr landen, würde ich der erste sein, den sie anruft!

Zweifellos hat die Autorin in ihrem Leben neben viel Heiterkeit, einiger Tragik – zwei ihrer Brüder sind im Krieg gefallen – vor allem eines erfahren: Glück! Was dabei oft eine Rolle spielte, war ihr ausgeprägter Instinkt – oder wie sie sagte: „Auf dei‘ G‘fühl kannsch dich verlasse‘!“ Eine glückliche Wendung nahm das Leben der „Pfälzer Oma“ auch dadurch, dass sie seit Veröffentlichung dieses Werkes viele Male auf der Bühne stand und ihre Geschichten vor Publikum zum Besten gab – was ihr Presseberichte, aber auch alte wie neue Bekanntschaften einbrachte!

Man ahnt es schon: ein ziemlich bewegtes Leben und eine ziemlich ungewöhnliche Persönlichkeit – oder wie die Oma es formuliert hätte: „Do machscht was mit!“ Aber lesen Sie selbst! Rückmeldungen, insbesondere von Zeitzeugen, sind willkommen: [email protected].

Los geht es mit einer bemerkenswerten Geschichte, die einen weiten zeitlichen Bogen von der Vorkriegszeit bis hinein in die Hungerjahre spannt.

„Ein deutsches Mädchen trägt keine Ohrringe!“

Diese wunderschönen Ohrringe habe ich mir als Geburtstagsgeschenk über alles gewünscht. Sie waren golden, bestanden aus einer kleinen Kugel und hellblauen Herzen. Ich war sechs Jahre alt und sehr stolz darauf. Die Idee, dass es die Möglichkeit geben könnte, dass jemand von mir verlangt, ich solle meine Ohrringe ausziehen, war für mich undenkbar.

Vier Jahre später, 1940: Ich werde in den Kreis der „Jungmädel“ aufgenommen, und ich bin begeisterte Anhängerin von Adolf Hitler. Mit meiner Begeisterung bin ich damals nicht allein. Wir hatten Heimatabende, da wurde gesungen, ich kenne heute noch die alten Heimatlieder. Es wurde gebastelt, und am Rhein suchten wir Heilkräuter. Mit meiner Freundin Inge bin ich heute noch – und wir sind inzwischen weit über 80 – der Überzeugung: Für uns war es eine schöne Zeit. Zunächst…

Unter anderem hatten wir eine Schaftsführerin, Hella, die suchte sich schließlich eine Stellvertreterin. Da kam sie auf mich! Nun hatte ich eine ganze Schar Mädchen, die ich herumkommandieren konnte. Und ich gebe es zu: Mir machte das unheimlich Spaß! Ihr werdet es nicht glauben, aber wir konnten marschieren wie die Jungen, schließlich haben wir das gelernt! Da marschierten wir an den Rhein und sammelten zum Beispiel die schon erwähnten Heilkräuter. Natürlich bin ich vorher mit meiner Schar noch singend an unserem Haus vorbeimarschiert. Meine Mutter kam ans Fenster, und als sie mich sah, hat sie die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen: Aber von mir war sie schon allerhand gewohnt… Mit Kräutersammeln war es allerdings bald vorbei, schließlich hatten wir Krieg! Schon bald fielen die ersten Bomben auf Oppau. Am Tag kamen dann die Amerikaner mit ihren Flugzeugen und nachts die Engländer – oder war es umgekehrt? Genau weiß ich das nicht mehr.

In dieser Zeit kam Hella, die Schaftsführerin, eines Tages auf mich zu und sagte: „Deine Ohrringe kannst du aber jetzt ausziehen.“ Ich entgegnete: „Nein, die ziehe ich nicht aus!“ – „Dann kannst du nicht in die Führerinnen-Schule kommen. Ein deutsches Mädchen trägt keine Ohrringe!“ Ich erzählte alles meiner Mutter, und die war der Ansicht, dass ich die Ohrringe ausziehen könnte, sie wären auch etwas kindlich. Nein. Egal, wer es ist, ich lasse mir keine Befehle erteilen! Ohrringe blieben an den Ohren!!! Meine Mutter kannte mich genau. Sie wusste, dass nur ich allein bestimme, wann ich sie ausziehe.

Eigentlich hätte ich diese Ohrringe gerne ausgezogen. Ich war schon nahe dran, nachzugeben, denn sie waren tatsächlich ziemlich kindlich. Dann geschah Folgendes: Das ganze Jungvolk hatte sich am Willersinn-Weiher in Ludwigshafen getroffen. Tausende Jungen und Mädchen saßen um das Wasser herum. Es war ein tolles Fest! Um genau zu sein: Es war die Feier, mit der wir die Sommersonnenwende begingen. Feuer brannten, und all die heimeligen Lieder wurden gesungen. Als die Feier vorbei war und ich auf dem Heimweg, stieß ich mit unserer Gruppenführerin, A., zusammen. Die hatte eine Schar Mädchen um sich. Als sie mich sah, kam sie etwas näher und sagte so halblaut: „Du weißt, warum“ – und zeigte mit dem Finger auf meine Ohrringe. Ich sah sie nur an und ging weiter. Man kann sich bestimmt denken, dass das Ausziehen der Ohrringe für mich kein Thema mehr war.

Wie ging es weiter?

1945 – Krieg aus. A., die Gruppenführerin, wird von den Franzosen verhaftet, sie muss ein Jahr in Frankreich verbringen. Über die Umstände ihrer Inhaftierung ist mir nichts Näheres bekannt. Später sah man sie mit Sportwagen durch Ludwigshafen rasen, wird erzählt, und sie hat ein hohes Alter erreicht.

Aber was wurde aus den Ohrringen? Von 1945 bis 1948 herrschte in der Pfalz – und nicht nur dort! – eine große Hungersnot! Wir hatten zwar Lebensmittelkarten, und ab und zu wurde irgend etwas aufgerufen, das es jetzt angeblich dafür gab. Es war aber so wenig, dass man damit allein nicht überleben konnte! Also ging man auf die Äcker – stehlen – und auf den Schwarzmarkt. Da konnte man tauschen, wenn man etwas hatte! Ich erwähne oft, dass Kardinal Frings aus Köln damals von der Kanzel predigte: „Es ist keine Sünde, wenn die Menschen in dieser Zeit Lebensmittel organisieren.“ So war ich ohne schlechtes Gewissen dabei. 1945, 1946, 1947 – das waren sehr harte Jahre! In dieser Zeit war ich fast jeden Tag auf dem Land unterwegs und versuchte, etwas zu „organisieren“. Die Bauern behaupteten zwar, sie hätten selbst kaum noch etwas zum Tauschen, die Franzosen hätten ihnen alles abgenommen. Aber oft hatten sie doch noch etwas übrig. Die Züge waren damals übervoll, die Menschen saßen auf den Dächern und hingen an den Seiten wie Trauben. Autos gab es zu dieser Zeit nicht – höchstens Militärfahrzeuge.

Jetzt war das Jahr 1947 gekommen, ich war siebzehn, und kein Mensch wusste, was er essen sollte. Eines Tages sagte ich zu meiner Mutter: „Rechne damit, dass ich heute Abend mit leerem Rucksack zurückkomme!“ Ich machte mich auf den Weg zu einem Dorf – und überlegte, schon bald wieder zurückzufahren. Weit und breit war nämlich nichts aufzutreiben! Doch der Zug fuhr nur einmal am Tag. Somit hatte ich noch vier Stunden Zeit, und die musste ich jetzt irgendwie überbrücken. So lief ich schon fast entmutigt in ein Haus, in der Hoffnung, etwas Essbares zu finden. Ich redete mit der Frau, die ich darin antraf – und auf einmal kam die kleine achtjährige Tochter dazu und sagte zu ihrer Mutter: „Guck‘ mal, was das für schöne Ohrringe sind!“ Da machte mir die Mutter ein Angebot: „Wenn ich die Ohrringe haben könnte, gebe ich dir 40 Pfund Weizen.“

Das war für mich die neue Erkenntnis, jetzt ziehe ich diese blauen Herzen aus! Für 50 Pfund werde ich diese hergeben – und ich habe sie sofort ausgezogen!

Das Mädchen war überglücklich. Die Frau nahm meinen Rucksack und wollte gerade in die Scheune gehen, um den Weizen zu wiegen. Da rief ich: „Moment mal, ich komme mit!“ Ich wusste nämlich, dass bei den Bauern auf der Dezimalwaage nicht nur gewogen, sondern manchmal auch betrogen wurde. Eigentlich kannte ich mich mit so einer Waage überhaupt nicht aus! Aber ich stellte mich neben das Gerät und beobachtete genau, wie die Frau das alles machte. Sie meinte: „Ich glaube, es stimmt so.“ – „Na, ein bisschen muss noch drauf“ – und eine Schaufel Weizen kam noch dazu! Ich habe zwar alles beobachtet, aber ob das wirklich so richtig war, das weiß ich bis heute nicht.

Als ich mit dem prall gefüllten Rucksack zuhause ankam, war meine Mutter völlig überrascht. Sie konnte kaum glauben, dass die Ohrringe nicht mehr da waren. Ehrlich – ich war froh, dass ich sie endlich ausgezogen hatte!

Die Erzählerin – eine Nachbarin, die mich prägte

1930 kam ich in Oppau zur Welt. Damals gehörte der Ort noch nicht zu Ludwigshafen, und die Pfalz gehörte noch zu Bayern. Mein Vater Philipp verdiente sein Geld als Maurerpolier, meine Mutter Friederike kümmerte sich um mich und um meine drei Brüder.

Als kleines Mädchen konnte ich mir mein Leben ohne Frau Denzer nicht vorstellen. Sie wohnte mit Ehemann in unserem Haus in Oppau, und es war noch alles friedlich. Noch gab es keinen Fliegeralarm. Frau Denzer war stark übergewichtig, konnte kaum laufen und wurde liebevoll von ihrem Ehemann umsorgt.

Er war ein großartiger Maler! In unserem Haus hingen viele Bilder von ihm, er gab auch Unterricht in Malerei. Beide Denzers waren schwerhörig – deshalb war das immer ein lautes Leben! Früh morgens las er seiner Frau die Zeitung vor, die ganze Zeitung! Sie lebten im Erdgeschoss. Obwohl die Fenster geschlossen waren, hörte jedermann, bis drei Häuser weiter, jedes Wort, das vorgelesen wurde – trotzdem kamen nie Beschwerden von Anwohnern.

Mittags saß Frau Denzer auf einem breiten Stuhl, den ihr Mann in unseren Hof für sie hingetragen hat. Da saß, wie eine Königin – die weiten Röcke umhüllten den breiten Stuhl – Frau Denzer und erzählte aus ihrem Leben, und mindestens acht Kinder aus der Nachbarschaft saßen um den Stuhl und hörten gebannt zu! Sie konnte ununterbrochen über Begebenheiten aus ihrem Leben plaudern, jeden Tag. Sie war einfach eine begnadete Erzählerin!

Auch Erwachsene lauschten ihr manches Mal und waren ganz in ihrem Bann. Ich habe später, als sie im Krieg ausgebombt wurde, erfahren, dass sie auch in dem Mehrfamilienhaus, in dem sie mit ihrem Mann fortan lebte, jeden Tag eine große Schar Menschen um sich hatte. Sie wurde von allen geliebt, und alle hörten ihr zu!

Sehr gerne sprach Frau Denzer von ihrer Familie – es muss eine tolle Familie gewesen sein! Auch erzählte sie von ihrem jüngsten Sohn. Der ging eines Tages fort und sagte: „Ich gehe zur Fremdenlegion!“ Für diejenigen, die es nicht wissen: Das ist eine Söldnertruppe der Franzosen, die in der ganzen Welt in Kriegsgebiete geschickt wird. Man kann sich dort auf längere Zeit verpflichten und wird gut dafür bezahlt.

Auch nach zehn Jahren hatte sich ihr Sohn noch nicht gemeldet. Ich glaube, sie war darüber unglücklich. Gesagt hat sie das aber nie. Eines Tages, Frau Denzer saß wieder von einer Meute Kinder umgeben auf ihrem Thron, öffnete sich das Hoftor, und ein toll aussehender Mann, braungebrannt, fremdländisch wirkend, betrat den Hof. Wir waren ganz still! Da sprang Frau Denzer – die nicht gehen konnte! – auf, rannte durch den Hof… und ein Schrei: „Martin!“ Es war ihr „verlorener“ Sohn! Ich hörte nur, wie er sagte: „Mutter!“

Wie tragisch dieses Wiedersehen war, wussten wir als Kinder natürlich nicht. Aber alle waren sie nun da! Herr Denzer hat geweint, das weiß ich noch. Aber warum er das tat, ahnte ich damals nicht. Nun war Martin zurück – und… er konnte genauso erzählen wie seine Mutter! Jetzt hörten sie alle seine Geschichten, die er in der Fremdenlegion erlebt hat!

Da sagte meine Mutter zu mir: „Martin hat eine Freundin mitgebracht, ich hoffe, dass du sie freundlich grüßt, wenn sie nachher kommt. Sie heißt Fräulein Etzkorn.“ – „Ach, was ein Name, ha, ha, ha, Etzkorn!“, platzte es aus mir heraus. „Untersteh‘ dich, dass du lachst!“ Ich habe geschworen, dass ich nicht lache – habe auch nicht gelacht.

Am nächsten Tag musste ich in der Metzgerei für meine Mutter etwas einkaufen. Mit einer Freundin betrat ich den Laden… und wer stand an der Theke? Frollein Etzkorn!!! Ich flüsterte mit meiner Freundin, erzählte „von wegen Etzkorn“, und es wurde gekichert, wie man das als kleines Mädchen eben so macht. Dann hörten wir Frollein Etzkorn, wie sie in ganz geschwollenem Hochdeutsch sagte: „Ja, ich hätte gern ein viertel Pfund…“, sie läuft hin und her, betrachtet die Wurst, „ein viertel, ein viertel, ein viertel Pfund… ach, ich weiß noch nicht!!!“ Ein Schrei von uns – und wir stürmten aus dem Laden! Vor dem Geschäft standen wir und lachten ohne Pause, und immer wieder sagten wir: „ein viertel Pfund, ich weiß noch nicht!“

Dann kam die dünne Etzkorn doch tatsächlich heraus, genau auf mich zu: „Das sage ich deiner Mutter!“ Meine Mutter war eine ruhige, zurückhaltende Frau. Sie meinte nur: „Fräulein Etzkorn hat mir alles erzählt.“ Ich sagte: „Mamme, ich erzähl‘ dir jetzt mal, warum wir so g‘lacht haben.“ Und ich erklärte es ihr: „Ich hätte gern ein viertel, ein viertel Pfund, ich weiß noch nicht.“ Da fing meine Mutter ebenfalls an zu lachen, und so lachten wir gemeinsam. Jedenfalls ist Frollein Etzkorn durch ihre „schrullige“ Art noch mehrmals aufgefallen!