Geschichten zum Zurücklehnen - Caledonia Fan - E-Book

Geschichten zum Zurücklehnen E-Book

Caledonia Fan

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Beschreibung

Ein Junge, der sich aufmacht, um seine entführte Mutter zurückzuholen, und ein Mädchen, das der ersten Liebe begegnet. Ein Maler, der sein Versprechen nicht hält, und ein junger Mann, der in die Welt hinauszieht, um das Kostbarste zu suchen. Ein Förster, der beim Pilzesammeln Seltsames erlebt, und ein Kind, das im Wald Schätze entdeckt. Sie alle sind hier in diesem Büchlein zu finden. Sechs Geschichten laden ein zum Zurücklehnen, Abschalten und - Eintauchen in die Welt der Fantasie und Märchen.

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Seitenzahl: 188

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– Caledonia Fan –

Geschichten zum Zurücklehnen

Eine kleine Sammlung

Zweite Auflage: März 2022

Caledonia Fan

E-Mail: [email protected]

ISBN: 9 9789403659732

Covergestaltung: Caledonia Fan

Coverfoto: Pixabay

„Wenn du Märchenaugen hast,

ist die Welt voller Wunder.“

Victor Blüthgen

Inhaltsverzeichnis

Beim letzten Sonnenstrahl

Das Blau des Wassers

Das Kostbarste

Der Preis der Sylphen

Der Renner

Mittsommernacht

Über den Autor

Leseprobe „Guardians – Das Vermächtnis“

Beim letzten Sonnenstrahl

Die Eingangstür stand sperrangelweit offen und das schlanke Rosenstämmchen, das neben ihr wuchs, war abgebrochen.

Ruckartig blieb Johannes stehen und hielt seine kleine Schwester am Arm fest.

„Was ist?“, fragte sie arglos.

Offensichtlich hatte sie nichts bemerkt. Leise vor sich hin summend war sie neben ihm her gehopst in der Vorfreude darauf, gleich zu Hause zu sein.

„Die Tür ist offen!“ Seine Hand umklammerte ihren dünnen Arm wie ein Schraubstock. „Etwas stimmt nicht!“

Ängstlich sah sie zu ihm auf.

Der Zehnjährige ließ seinen Blick über den liebevoll gepflegten Garten schweifen. Die kleine Holzbank, die der Vater noch gezimmert hatte, war umgeworfen worden. Fußspuren, viel größer als die der Mutter, auf den geplünderten Kohl- und Kartoffelbeeten, überall zertrampelte Wiese und zerknickte Blumen. Das Gatter für die Ziegen war leer, das Tor daran aus den Angeln gerissen. Selbst die Milchkannen, auf deren Sauberkeit die Mutter so sehr achtete, lagen verstreut herum. Ein seltsamer Geruch hing in der Luft, den er nicht kannte.

Angst ergriff ihn. Er wollte nach der Mutter rufen, weil seine Beine wie gelähmt waren, doch er bekam kein Wort aus seiner Kehle.

Sein Korb mit den Pilzen fiel unbeachtet auf den Boden, als er den Zeigefinger auf die Lippen legte und Eva in die Büsche neben dem schmalen Weg drängte.

„Du wartest hier“, flüsterte er. „Egal, was passiert, du rührst dich nicht vom Fleck!“

Ihre großen, blauen Augen waren weit aufgerissen und ihre Lippen bebten. Er wusste, dass er ihr Angst machte, aber er wollte erstmal alleine ins Haus gehen.

Beruhigend strich er seiner Schwester über den blonden Scheitel und nickte ihr noch einmal zu, bevor er sich umdrehte und davonhuschte.

Seine nackten Füße ermöglichten es ihm, sich geräuschlos an die offene Haustür heranzuschleichen. Kurz lauschte er. Es klapperte kein Geschirr und es roch auch nicht nach der abendlichen Kohlsuppe. Die Mutter sang nicht wie gewohnt und als er den Fuß auf die Schwelle setzte, wusste er schon, dass sie nicht da war.

Das Innere des Häuschens war verwüstet. Jemand hatte alle Schränke aufgerissen. Die wenigen Sachen, die ihnen gehörten, lagen verstreut herum, verschmutzt und teils zerrissen. Sogar die kleine Truhe mit den Spielsachen war umgekippt. Teller und Tontöpfe fand er zerschlagen auf dem Boden und selbst der Vorratsraum unter den Dielen war gefunden und leergeräumt worden.

Über allem lag dieser seltsame Geruch und mit einem Mal wusste Johannes, was hier passiert war.

„Die Trolle“, flüsterte er in namenlosem Entsetzen. Er hatte davon erzählen hören. Erst letzte Woche war ein Händler vorbeigekommen, der Neuigkeiten mitgebracht hatte. Der Mann berichtete von Dingen, die ihm eine Gänsehaut beschert hatten, von geplünderten Häusern und verschwundenen Menschen. Und von diesem Geruch, den die furchterregenden Wesen zurückließen.

Obwohl er vor Angst schlotterte, wusste er, dass ihm und Eva keine Gefahr mehr drohte. Die Eindringlinge waren weitergezogen. Zum nächsten Haus, zum nächsten Dorf ...

Eva! Sie wartete auf ihn!

Er sprang auf und hastete aus dem Häuschen und durch den verwüsteten Vorgarten bis zu dem Gebüsch, in dem er sie zurückgelassen hatte. Sie war noch da, kauerte am Boden, die kleinen Arme um die Knie geschlungen.

„Ist alles gut?“, wisperte sie und sah hoffnungsvoll zu ihm auf.

Er schüttelte den Kopf. „Komm“, meinte er, „wir gehen ins Haus.“

Nachdem Eva sich in den Schlaf geweint hatte und er – neben ihr auf der Bettkante sitzend – unzählige Male über die blonden Zöpfe gestrichen hatte, schlich er zurück in den großen Raum. Mit bebenden Fingern nahm er ein Schwefelhölzchen aus der roten Holzschachtel, zündete die Petroleumlampe an und setzte sich an den Tisch.

Erst jetzt wurde ihm mit aller Deutlichkeit bewusst, dass er allein war mit der kleinen Schwester. Es gab nichts Essbares mehr im Haus bis auf zwei Kanten Brot, die sie vorhin gefunden hatten. Die Mutter war verschwunden. Mit Sicherheit hatten die Trolle sie mitgenommen.

Entschlossen ballte er die Fäuste. Er würde sie zurückholen. Das konnte nicht schwer sein. Er brauchte nur den Spuren zu folgen, die diese grausamen Eindringlinge hinterlassen hatten.

Aber erst musste er Eva zur Nachbarin bringen. Sie war schon alt, doch sie würde sich um die Schwester kümmern.

Am nächsten Morgen machten sie sich auf den Weg. Eva hielt die Stoffpuppe fest an sich gepresst. Johannes trug ein Bündel mit ihren Kleidungsstücken. Ab und zu betrachtete er seine Schwester liebevoll. Sie war erst sechs und das Verschwinden der Mutter hatte sie verstört. Trotzdem versuchte sie tapfer zu sein.

Er seufzte, als er merkte, wie sie seine Hand umklammerte. „Die alte Lene wird sich freuen, dass du kommst“, versprach er. „Du weißt, wie gern sie dich bei sich hat.“

Eva nickte, doch sie hatte die Unterlippe zwischen die Zähne gezogen und sah starr auf den Weg.

Johannes drückte beruhigend ihre kleinen Finger und verließ dann den schmalen Pfad, der von ihrem Häuschen ins Dorf hinab führte. Die einfachen Katen, die er durch die Bäume von hier aus entdecken konnte, standen eng zusammengerückt. Aber niemand war zu sehen. Unbehaglich fragte er sich, ob die Trolle auch dort alles verwüstet hatten.

Genau wie ihre kleine Familie wohnte Lene, die unendlich viele Jahre zählen musste, nicht bei den anderen Dörflern. Er wusste von der Mutter, dass die Leute Angst vor ihr hatten und sie als alte Hexe bezeichneten.

Eva und Johannes jedoch liebten sie.

Gleich würden sie ihr Haus sehen können. Eva wollte vorauslaufen, doch ihr Bruder hatte mit einem Mal ein ungutes Gefühl. Er ließ ihre Hand nicht los.

„Warte hier“, raunte er, „ich schaue erst mal, ob sie da ist, und dann hole ich dich.“

Eva nickte gehorsam und er lief um die Felsgruppe herum, die den Blick auf die Kate der Alten versperrte. Nach drei Schritten blieb er wie angewurzelt stehen und schaute auf das Bild, das sich ihm bot. Mühsam versuchte er, das Grauen zu fassen.

Lene würde sich nie wieder um Eva kümmern. Weggeworfen wie eine nutzlose Strohpuppe lag die alte Frau neben der zertrümmerten Haustür. Ihre gebrochenen Augen starrten blicklos in den Himmel.

Die Trolle waren hier gewesen und hatten schlimmer gewütet als bei ihnen zu Hause.

Er schluckte schwer, denn er erkannte, dass er die kleine Schwester mit sich nehmen musste auf seine gefährliche Reise. Niemand, nicht einmal der Priester im Dorf würde sie bei sich aufnehmen. Ihre Mutter war von der Dorfgemeinschaft verstoßen worden und das galt ebenso für die Kinder.

Rasch drehte er sich um und kehrte zu Eva zurück.

„Lene ist nicht da“, beschied er ihr auf ihren fragenden Blick hin. „Ich muss dich mitnehmen.“

Evas Augen leuchteten auf. Das war ihr geheimer Wunsch gewesen. „Ich bin ganz brav“, versprach sie, „und ich werde nicht jammern oder weinen.“

„Das darfst du auch nicht. Schließlich müssen wir Mutter finden. Das wird ein langer Marsch und wir werden im Freien schlafen und Beeren und Pilze essen.“

„Das ist nicht schlimm“, versicherte sie.

„Gut.“ Johannes seufzte und sah zurück zum Hügel, wo wie ein Gruß zum Abschied der Dachfirst ihrer Kate zwischen den Baumwipfeln hervorlugte. „Dann gehen wir jetzt.“

Sie wanderten vier Tage. Die erste Nacht verbrachten sie in einer Höhle im Wald, eng aneinandergeschmiegt und trotzdem vor Kälte zitternd. In der zweiten schliefen sie am Feuer eines Holzfällers und in der dritten in der Hütte eines Köhlers. Jeden, dem sie begegneten, fragten sie nach den Trollen. Die Spur, welche die wüste Horde hinterlassen hatte, war unübersehbar und die beiden Kinder folgten ihr.

Der Weg führte vorbei an zerstörten Gärten und geplünderten Häusern. Oft fanden sie nur noch rauchende Trümmer und so mancher Bewohner hatte den todesmutigen Versuch, Heim und Habe zu verteidigen, mit dem Leben bezahlt. Deshalb ging Johannes immer allein in die verlassenen Behausungen und suchte nach Essbarem. Den Anblick wollte er Eva ersparen.

Am Abend des vierten Tages begegneten sie Elmar, einem reisenden Händler, der schon öfter bei ihnen gewesen war und der Mutter Ziegenkäse abgekauft hatte. Er erkannte sie wieder und nahm sie auf seinem Eselskarren mit ins nächste Dorf. Im Wirtshaus bezog er ein Zimmer und bestellte für die ausgehungerten Geschwister heiße Suppe. Als Eva satt und zufrieden im Bett lag und schlief, erzählte Johannes dem freundlichen Mann, wohin sie unterwegs waren.

Der Händler machte ein bedenkliches Gesicht. „Nur ihr beide?“, fragte er zweifelnd. „Habt ihr keine anderen Verwandten?“

Johannes schüttelte den Kopf.

„Am liebsten würde ich ganz allein gehen“, gestand er, „aber ich weiß nicht, wem ich meine Schwester anvertrauen soll.“

Elmar nickte verstehend. „Dein Mut ehrt dich, mein Junge“, meinte er nach einer Weile. „Ich halte deinen Plan für sehr gefährlich, aber vielleicht schaffst du es ja tatsächlich. Deshalb werde ich für drei Nächte ein Zimmer bezahlen, damit die Kleine ein Dach über dem Kopf hat. Bis dahin musst du die Trollfeste erreicht haben. Du hast großes Glück: Unten im Gastraum sitzt der alte Freder. Er ist in seiner Jugend einmal dort gewesen und weiß, wie du hingelangen kannst. Komm, lass uns hinuntergehen und mit ihm reden.“

Nachdem Johannes dem Alten die ganze Geschichte erzählt hatte, stützte der mit sorgenvollem Gesicht die Ellenbogen auf den Tisch und faltete die Hände. Er überlegte lange und rieb sich ab und zu das von einem eisgrauen Bart bedeckte Kinn. „Die Trolle sind nicht die Monster, als die sie gelten“, meinte er bedächtig und sog an seiner Pfeife. „Einst lebten sie und die Menschen friedlich nebeneinander. Mein Großvater hat noch Handel mit ihnen getrieben. Aber irgendwann setzte jemand das Gerücht in die Welt, dass sie kleine Kinder fressen und Neugeborene aus ihren Wiegen rauben. Von da an wurden sie verfolgt und gejagt.“

Er nahm einen Schluck Bier aus seinem Humpen, stellte ihn wieder auf die fleckige, hölzerne Tischplatte und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum vom Bart. „Sie rotteten sich zusammen, zogen sich in eine riesige Eishöhle tief in den Schneebergen zurück und wählten den Stärksten aus ihrer Mitte zum König.“

Er hob die Hand und deutete aus dem Fenster auf eine weiß überzuckerte Gebirgskette in der Ferne, über deren Grat gerade die Sonne versank. „Da sie aber dort nichts anbauen können und niemand mehr mit ihnen handelt, gehen sie auf Raubzüge und sammeln Vorräte. Ja, sie sind nicht zimperlich dabei, doch sie sind keine Mörder.“

„Keine Mörder?!“ Johannes war empört aufgesprungen und ballte die Fäuste. „Die alte Lene ist tot und wir ... ich habe auch andere Tote gesehen!“

„Setz dich wieder“, beschwichtigte Freder ihn und nickte den besorgt herüberspähenden Tavernengästen beruhigend zu. „Ich bin sicher, der Tod der Greisin war ein Unfall. Sie ist gebrechlich gewesen. Ein kräftiger Schubs, ein Anschlagen mit dem Kopf und bumm – aus. Die anderen Toten waren Männer mit Waffen, die meinten, die Trolle aufhalten zu können, stimmt’s? Und auch wenn diese nicht morden – wehren tun sie sich wohl.“

Er nickte bekräftigend.

„Sie haben unsere Mutter mitgenommen!“, klagte Johannes. Für einen Moment bröckelte seine Tapferkeit und Tränen traten ihm in die Augen. Ärgerlich blinzelte er sie weg.

„Du sagtest, sie kann guten Ziegenkäse machen. Die Trolle sind grobschlächtig, aber nicht dumm. Sie werden sie für sich arbeiten lassen. Schließlich haben sie eure Ziegen mit weggeschafft. Zugegeben, das war nicht sonderlich klug, denn die haben in der Höhle im Berg kein Futter und werden deshalb keine Milch geben. Wenn du den Trollkönig so weit bringen kannst, dass er sich auf einen dauerhaften Handel mit Käse einlässt, darf deine Mutter vielleicht heimkehren. Oder –“, er stockte kurz, „ist sie sehr schön?“

„Die Schönste der Welt“, gab Johannes leise, aber inbrünstig zurück.

Freder wiegte sorgenvoll den Kopf. „Hm, das ist nicht gut“, meinte er bedächtig. „Es heißt, der Trollkönig sammelt schöne Dinge wie Trophäen. Er schließt sie in Eis ein, damit er sie immer wieder betrachten kann. Ich weiß nicht, ob an den Geschichten etwas Wahres ist, aber sollte deiner Mutter dieses Schicksal zugedacht sein, wirst du sie wahrscheinlich nicht zurückgewinnen.“

„Ich werde es auf jeden Fall versuchen“, versicherte Johannes mit fester Stimme.

Sie redeten bis in die Nacht. Freder erklärte den Weg und alles, was er über die Trollfeste wusste. „Wenn du angekommen bist, suche einen Troll, der dich verstehen kann. Einige von ihnen sprechen noch die Sprache der Menschen. Hast du einen gefunden, erkläre ihm, warum du gekommen bist. Lass dich nicht abweisen! ​Er wird dich zu seinem König bringen. Erweise ihm den Respekt, der ihm zusteht, und halte deine Gefühle im Zaum. Du hilfst deiner Mutter nicht, wenn du ihn verärgerst. Sei also schlau und vorsichtig. Überlege, bevor du sprichst. Schlage ihm einen Handel mit Ziegenkäse vor. Er wird nicht widerstehen können. Und ... falls du nichts erreichen kannst, komm zurück. Deine Schwester braucht dich. Du bist für sie verantwortlich. Sie kann hierbleiben, solange du unterwegs bist, aber du musst zurückkommen. Egal, ob mit oder ohne Mutter.“

Johannes schluckte. Die beiden Männer sahen ihn ernst an, als würden sie erwarten, dass er nach dieser langen Reihe von Ermahnungen und Anweisungen seinen Plan aufgeben würde.

Doch das kam nicht in Frage. Tief atmete er durch. ​„Ich gehe bei Sonnenaufgang“, verkündete er entschlossen.

Das Tal lag noch in Nebel gehüllt, als er sich auf den Weg machte. Elmar, der Händler, hatte ihn bis ans Dorfende begleitet und war dort stehen geblieben. Ein letztes, aufmunterndes Nicken und Johannes wandte sich dem Gebirge zu.

Ihn plagte ein schlechtes Gewissen, denn er hatte sich nicht von Eva verabschiedet. Die Schwester schlummerte noch selig, als er in die Kleider geschlüpft und hinter Elmar aus dem Zimmer geschlichen war. Der Händler hatte versprochen, ihr alles zu erklären, und auch Freder wollte sich um die Kleine kümmern.

Rasch schritt der Zehnjährige aus, denn der Weg, der vor ihm lag, war weit und gefahrvoll. Morgen würde er die Schneeberge erreichen und hinaufsteigen. Der Zugang zur Feste war für Trolle gemacht und nicht für Kinder, die nur halb so groß waren wie diese. Doch Johannes war voller Zuversicht. Nach all dem, was Freder erzählt hatte, erschien ihm seine Mission nur noch halb so gefährlich. Er würde bis zum Trollkönig vorstoßen und von ihm angehört werden. Und wenn der auch nur einen Funken Verstand besaß, dann ließ er die Mutter und die Ziegen ziehen, denn nur so konnte er weiter Käse erhalten.

Bis zum Mittag kam er gut voran. Ab und an hob er den Blick zu den schneebedeckten Gipfeln. Seine Augen suchten nach dem Eingang einer Höhle. Immer wieder vergewisserte er sich anhand der einfachen Zeichnung, die ihm Freder gemacht hatte, dass er auf dem richtigen Weg war. Nachdem er im Schatten einer hohen Kiefer die Hälfte seines Brotkantens und einen Apfel hungrig verschlungen und sich mit einigen Handvoll kalten Wassers aus dem Bach erfrischt hatte, wanderte er weiter. Der Weg stieg beständig an.

Am Abend erreichte Johannes wie geplant die Hütte eines alten Holzfällers, dem er die Münze zeigte, die Freder ihm mitgegeben hatte. Der zahnlose Mund des Alten murmelte etwas Unverständliches, aber seine Hand wies auf den Stall neben seinem Heim.

Johannes fand sauberes Stroh und sogar Heu, woraus er sich eine weiche Schlafstatt bereitete. Die Ziege, die den Eindringling in ihrer Behausung gleichmütig duldete, spendete ihm Wärme. Zugedeckt mit Freders löchrigem, uraltem Schaffell schlief er tief und traumlos und erwachte am nächsten Morgen frisch gestärkt. Der wortkarge Holzfäller reichte ihm einen Becher Milch und aus dem Bartgestrüpp drang ein Murmeln, das Johannes als gute Wünsche für den weiteren Weg deutete.

Er dankte dem Alten, hob die Hand zum Gruß und wanderte wieder los, immer in Richtung der Berge. Am späten Vormittag änderte sich die Landschaft. Die Bäume blieben unter ihm zurück und wichen Büschen und windzerzausten Krüppelkiefern. Es wurde steiler und manchmal musste er anhalten, um zu verschnaufen.

Mit jedem Meter, den er an Höhe gewann, nahm die Kälte zu. Er holte den dicken Reiseumhang aus dem Bündel und legte ihn um. Immer öfter hauchte er in seine klammen Hände. Der Weg war an manchen Stellen vereist und tückisch, seine Schuhe drohten mehrmals abzurutschen. Der Wind wurde stärker und pfiff ihm um die frostgeröteten Ohren. Er brachte unzählige winzige Eiskristalle mit sich, die wie Nadeln ins Gesicht stachen, als wollten sie Johannes damit zur Umkehr bewegen.

Nachdem er eine besonders schwierige Steigung überwunden hatte, blieb er keuchend stehen und schaute zurück ins Tal. Klein und verträumt lagen weit unter ihm die Katen des Dorfes im Schein der Mittagssonne. Neben ihm gluckerte der Gletscherbach. Er hob den Kopf und sah sich suchend um. Direkt vor ihm war der große Felsbrocken, der wie ein Schweinskopf aussah. Er hatte über Freders Vergleich gelacht, aber jetzt, als er den Felsen sah, musste er zustimmen.

Zwei Stunden lagen noch vor ihm nach Aussage des Alten. Abschätzend musterte er den Stand der Sonne, die den Berggrat überschritten, seinen Pfad aber noch nicht erreicht hatte​. Vor Einbruch der Dunkelheit musste er bei der Eishöhle sein. Was dann kam, wusste er nicht. Aber eines war klar: Wenn die Trolle ihm kein Quartier für die Nacht gewährten, würde er in den Schneebergen erfrieren.

Unbehaglich zog er bei diesem Gedanken die Schultern hoch, packte sein Bündel mit dem Brotkanten und Freders Fell fester und machte sich wieder auf den Weg.

Als sich eine Öffnung im Fels vor ihm auftat und der Pfad geradewegs dort hineinführte, wusste er, dass er am Ziel war.

Er blieb stehen und duckte sich instinktiv hinter einen schulterhohen Felsbrocken. Wachen, sagte er sich und musterte beklommen den Eingang, vor dem zwei struppig behaarte und zerzauste Wesen standen. Wieso? Hat Freder nicht gesagt, jeder könne in die Festung? Vielleicht ist das heute nicht mehr so ...

Johannes schluckte schwer. Er hatte noch nie einen Troll gesehen. Aus der Entfernung erschienen sie ihm riesenhaft, um einiges größer als Elmar, und beide hielten einen hölzernen Speer in der Faust. Die Erzählungen von Lene und Mutter hatten sie in seiner Fantasie als turmhohe, furchterregende Monster erstehen lassen. Mehr Augen als Menschen sollten sie haben, aber wie viele es genau waren, wusste keiner zu sagen. Es wurde nur immer wieder gewarnt, dass man nicht direkt hineinschauen durfte, weil jeder, der es wagte, seinen freien Willen verlor. Ihr Fell enthielte Eisennadeln, die einem die Haut aufrissen, wenn man damit in Berührung kam. Ihre Hände würden fast über den Boden schleifen, so lang seien ihre Arme.

Was er jetzt vor sich sah, beruhigte Johannes. Die Trolle ragten nicht turmhoch auf und ihre muskelbepackten Arme waren nur wenig länger als normal. Allerdings endeten sie in Pranken von der Größe eines Schubkarrenrades. Die grobschlächtigen Wesen hielten sich gebückt, wodurch tatsächlich der Eindruck entstand, dass die kräftigen Hände am Boden schleiften. Ihr Fell war verfilzt, von undefinierbarer Farbe und sicher kratzig. Stellenweise sah man kahle Hautstellen. Da drin gibt es ganz bestimmt keine Eisenspitzen, versicherte sich Johannes im Stillen.

Die Wächter hatten ihn bemerkt und beäugten ihn misstrauisch. Beklommen schluckte er. Was hatte Freder gesagt? Einige Trolle verstehen noch die Sprache der Menschen. Wenn du einen solchen findest, erkläre ihm, warum du gekommen bist.

Er fasste sich ein Herz, schob sich hinter dem Felsbrocken hervor und marschierte auf den zu, der ihm am nächsten war. Mit jedem Schritt schien dieser zu wachsen. Als er schließlich vor dem Wächtertroll stand, reichte er ihm nicht mal bis zur Hüfte. Um in sein finsteres Gesicht sehen zu können, musste er den Kopf in den Nacken legen. Dabei bemerkte er entgegen allen Schilderungen nur zwei Augen, in die er nicht zu blicken wagte und die im Vergleich zu dem massigen Körper winzig erschienen. Das Kinn war kantig und die Haut faltig, grau und spärlicher behaart als der Rest des Ungetüms. Dessen Nase ähnelte einer Gurke und die großen Ohren standen vom Kopf ab wie Scheunentore.

„Verstehst du mich?“, fragte er zaghaft.

Das zottelige Wesen brummte unwillig und machte eine ruppige Geste in Richtung des zweiten Wächters.

Er begriff und stapfte hinüber zu diesem. „Ich möchte zu eurem König“, erklärte er.

Der Trollwächter zog die buschigen Augenbrauen zusammen und musterte ihn.

„Bitte“, beeilte sich Johannes hinzuzufügen.

„Warum?“ Die Stimme des Hünen knarrte wie ein schlecht geschmiertes Gartentor.

„Ich ... ich will ihm einen Handel anbieten“, gab Johannes hastig zurück und dachte dankbar an Freder, der diese Antwort vorgeschlagen hatte.

Der Troll kratzte sich träge den behaarten Bauch. Dann zog er die gurkenförmige Nase hoch und spuckte den Rotz in den Schnee neben sich.

Angewidert wandte sich Johannes ab, als er den Geruch erkannte, den er bei sich zu Hause erstmals wahrgenommen hatte.

„Handel?“, knarrte sein Gegenüber, überlegte kurz und bellte ein, zwei Brocken in einer unverständlichen Sprache zu dem zweiten Wächter hinüber. Dann drehte er sich um und lief in die Höhle hinein.

„Komm!“, befahl er über die Schulter und Johannes beeilte sich, ihm zu folgen.

Die rauen Felswände wurden nach wenigen Metern zu Flächen aus glattem, glänzendem Eis. Sie schimmerten wie Spiegel und ließen das Innere der Höhle in einem unwirklichen Blau erstrahlen. Die Festung der Trolle war unerwartet hell, obwohl sie tief in den Berg hineinführte. Dampfwölkchen bildeten sich vor dem Mund von Johannes und sein Blick wanderte an glitzernden Säulen empor, die höher aufragten als die höchsten Kiefern des Waldes. Ab und zu sah er andere Trolle, die ihn unverhohlen anstarrten. Trotz der klirrenden Kälte, die ihn zittern ließ, trug keiner von ihnen Schuhe oder Kleidung oder gar ein umgehängtes Fell. Der Frost schien den Wesen nichts auszumachen.

Die gigantische Höhle schien ein verzweigtes Labyrinth zu sein. Längst hatte er in dem Gewirr aus Gängen, Gewölben und Kammern die Orientierung verloren. Würde er den Rückweg allein finden?

Irgendwann kamen sie an einen klaftertiefen, kreisrunden Abgrund, der die Mitte der Feste zu bilden schien. Über dem gigantischen Loch wölbte sich eine riesige Kuppel. Ganz oben schien das Eis sehr dünn zu sein, denn es schimmerte Sonnenlicht hindurch, das die Höhle bis in die tieferen Stockwerke erhellte und Fackeln unnötig machte.

So müssen die Paläste der Könige aussehen, von denen Lene immer erzählt hat, dachte Johannes staunend.

Steile und beängstigend schmale Pfade aus Eis schmiegten sich an die Wände der tiefen Klamm, wanden sich spiralförmig abwärts und verbanden so die tieferen Stockwerke miteinander. Der barfüßige Troll ging mit sicheren Schritten voran, als sie einen dieser rutschigen Abstiege betraten. Es gab kein Geländer oder Seil zum Festhalten und Johannes musste höllisch aufpassen, um nicht abzurutschen auf dem glatten Untergrund.

Der Troll führte ihn bis an ein großes, zweiflügeliges Tor in der dritten Ebene. Dort brummte er für eine der beiden davorstehenden Wachen wieder ein paar seiner unverständlichen Worte und deutete auf seinen menschlichen Begleiter. Dann drehte er sich um und verschwand.