Der Wolf vom Elk Mountain - Caledonia Fan - E-Book

Der Wolf vom Elk Mountain E-Book

Caledonia Fan

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Beschreibung

Nach dem Tod seiner Frau hat sich Alec mit seinem Husky Ben in die Berge Idahos zurückgezogen und fertigt in seiner Blockhütte Schnitzarbeiten an. Er mag dieses Leben, die Ruhe und die Wildheit der Natur. Eines Tages steht seine Schwiegertochter unerwartet vor der Tür. Sie gibt ihren Sohn Sonny in seine Obhut, damit sie bei ihrem Mann sein kann, der im Krankenhaus um sein Leben kämpft. Alecs selbstgewählte Einsamkeit findet damit ein jähes Ende. Die unschuldigen Fragen des Siebenjährigen und seine kindliche Neugier bewirken eine Veränderung bei ihm. Ohne es zu merken, reißt der Junge eine nie verheilte Wunde auf und Alec muss sich dem stellen, was er bis dahin immer erfolgreich verdrängen konnte: Den Geschehnissen in der Vergangenheit.

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Seitenzahl: 158

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DER WOLF VOM ELK MOUNTAIN

Der Wolf vom Elk Mountain

Caledonia Fan

Impressum

Copyright: Caledonia Fan

Jahr: 2024

ISBN: 9789403733890

Lektorat/ Korrektorat: Caledonia Fan

Covergestaltung: KI-generiert mit canva.com

Verlagsportal: Sweek

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig

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Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los. Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen.

Chad, der Holzfäller

Für Alexander, meinen Bursche,

der als Sechsjähriger

das lebende Vorbild für Sonny war.

Kapitel 1 – Am Feuer

Die Sterne glitzerten am samtschwarzen Himmel wie winzige Diamantsplitter. Keine Wolke war zu sehen, die das Mondlicht hätte abhalten können, welches sich wie eine sanft leuchtende, eisige Decke über die schneebedeckten Hänge und Wälder des Elk Mountain legte.

Grimmiger Frost ließ die Äste der Bäume ächzen und die Zweige im Lagerfeuer knacken. Wenn ein sanfter Wind hineinfuhr und Funken emporwirbeln ließ, antworteten die Flammen mit leisem Fauchen. Außer diesen Geräuschen war nichts zu hören.

Da, ein dünnes Heulen, irgendwo weit oben im Südhang oder sogar auf dem Kamm des mächtigen und steil aufragenden Luchses. Der Wald schwieg. Jeder seiner Bewohner schien den Atem anzuhalten aus Angst, Aufmerksamkeit zu erregen.

Sonnys Kopf ruckte hoch und der Siebenjährige riss die Augen auf.

„Was ist das, Großvater?“, fragte er.

Alec wandte den Blick und sah in den Augen des Jungen das, was der kleine Bursche mit Mühe aus seiner Stimme herausgehalten hatte: Furcht. Verständlich, denn wer das Heulen der Wölfe zum ersten Mal hörte, fühlte schon als Erwachsener einen kalten Schauer den Rücken hinablaufen. Doch der Junge, der bis vor ein paar Tagen in Los Angeles gelebt hatte, zeigte seine Angst nicht.

Anerkennend nickte Alec mit dem Kopf.

„Heute Nacht jagen die Wölfe, Sonny“, gab er zurück. „Sie haben Hunger.“

„Was jagen sie?“

„Was immer ihren Weg kreuzt“, Alec zog seine Handschuhe aus und legte neues Holz ins Feuer, „und was vor ihnen flieht.“

Der Junge brachte ihn dazu, in einer Stunde mehr zu reden als sonst in einem Monat. Er nannte ihn ‚Sonny‘, Söhnchen, denn er mochte den Namen ‚Donovan‘ nicht. Deshalb hatte er ihn kurzerhand in Sonny geändert.

Erneut heulte einer der Wölfe und ein zweiter fiel ein. Der Winter hatte in diesem Jahr viel früher als sonst begonnen. Und er zeigte sich jetzt schon härter als seine Vorgänger. Alec lebte lange genug in den Bergen, um zu wissen, dass das Rudel Hunger litt. Schwache Tiere wie Kaninchen, Iltisse und Marder erfroren auf der Suche nach Nahrung oder in ihren Bauen und nicht selten bestand die einzige Mahlzeit für die Älteren des Packs aus einem dieser hartgefrorenen, kleinen Leichname.

„Wie viele sind das?“ Der Junge zog fröstelnd die Schultern hoch und rutschte näher an Alec heran.

„Fünf, vielleicht sechs“, gab Alec zurück. „Der alte Chad sagt, er hat auf dem Luchsberg“, sein Arm wies hinüber zu der mächtigen Silhouette, die im Norden hinter dem See aufragte, „ein Rudel gesehen. Einen Leitwolf und seine Gefährtin, zwei, höchstens aber vier Jungwölfe, die das Jagen noch lernen.“

„Wie jagen sie?“

In Gedanken stöhnte Alec. Er schätzte die Wissbegier des Jungen, aber auf die unzähligen Fragen zu antworten war ungewohnt und anstrengend.

„Das Rudel, also die Wolfsfamilie pirscht ... ähm, schleicht durchs Dickicht, lautlos und wachsam, und sucht nach der Witt... nach dem Geruch eines Tieres. Irgendwann schrecken die Wölfe einen schlafenden Rehbock oder gar einen stattlichen Hirsch auf. Wenn das passiert, bedeutet das meist das baldige Ende der Jagd. Bei diesen Schneemengen ist das Wild chancenlos. Die langen, dünnen Beine sinken zu tief ein und die panische Flucht erschöpft das Tier, weil sie unendlich viel Kraft erfordert. Die Wölfe müssen nur nebenherlaufen und geduldig sein. Sie wissen: Irgendwann wird die Beute aufgeben und sich zum Kampf stellen. Dann ist ihre Zeit gekommen.“

„Und die Wolfsfamilie tötet das Tier?“

Erneut musterte Alec seinen Enkel, doch er sah weder Widerwillen oder Empörung noch Ekel in den dunklen Kinderaugen. Nur echtes Interesse.

„Ja. Sie töten es, weil sie was zu fressen brauchen.“

„Jagen die Wolfskinder auch mit?“

Ein Lächeln brachte das Bartgestrüpp um Alecs Mund in Bewegung. „Wolfskinder heißen Welpen.“ Er stocherte mit einem stärkeren Ast im Feuer und Funken stoben in den Nachthimmel. „Und nein, die sind nicht dabei.“

„Und wo sind die, wenn die anderen jagen? Müssen sie auch mitrennen?“

Alec schüttelte den Kopf. „Die Jagd ist Aufgabe der Alttiere und der Jungwölfe. Jährlinge und Welpen bleiben an einer geschützten Stelle zurück.“

„Wo ...“

Eine knappe Handbewegung schnitt die Frage des Jungen ab. Alec erhob sich.

„Lass uns in die Hütte gehen“, meinte er. „Es ist spät geworden und du frierst. Wenn du magst, erzähle ich dir vor dem Schlafen eine Geschichte von einem Wolf.“

„Eine wahre Geschichte von einem richtigen Wolf, Großvater?“

Er nickte. Die Anrede ‚Großvater‘ war noch immer ungewohnt, aber sie fühlte sich an, als würde ihn jemand in eine wärmende Decke hüllen. Der Junge hatte keinerlei Scheu vor ihm, obwohl Alec am Tag von Sonnys Ankunft in der Hütte kaum mehr als fünf Worte gesprochen hatte. Er folgte ihm wie ein Schatten, redete unaufhörlich und wollte alles wissen. Auch jetzt, als der Bursche aus seinem warmen Pelz geschält worden war und zur Hütte hinüberging, redete er weiter.

Alec warf einen letzten, prüfenden Blick auf das in sich zusammengesunkene Feuer und ließ ihn dann am Waldrand des Luchses hinaufwandern. Nichts war zu hören oder zu sehen.

„Gute Jagd euch“, raunte er, unhörbar für Sonny.

„Es kann losgehen, Großvater“, klang es von oben herab.

Alec lächelte. Er hatte seine abendliche Runde ums Haus gedreht und war eben hereingekommen. Sorgsam klopfte er den Schnee von den Stiefeln, legte seine schwere Jacke ab, hängte sie an den Haken neben der Tür und kletterte die Leiter hinauf. Hier, auf dem Heuboden der Hütte, lag der Junge auf seinem Strohlager zwischen zwei Bärenfellen.

„Also“, begann Alec, während er sich langsam neben Sonny niederließ, „ich erzähle dir die Geschichte von einem Wolf, der damals, als das Ganze passierte, noch ein Jährling war. Mit eineinhalb Jahren war er noch zu jung zum Jagen, aber auch kein Welpe mehr. Er hieß Cain.“

Kapitel 2 – Die Nacht

Cain hatte die Unruhe im Verhalten seines Vaters Arim schon vor einigen Tagen bemerkt. Und er kannte auch den Grund: Das Rudel litt Hunger, denn dieser Winter zeigte sich gnadenlos. Nicht nur für die Alttiere, die älteren Geschwister und die Jährlinge. Es gab drei Welpen im Rudel und sie waren noch ziemlich klein. Deshalb sorgten der Leitwolf Arim und seine Gefährtin Rasha, die Mutter der Jungwölfe des Rudels, gemeinsam mit ihren älteren Söhnen und Töchtern heute Nacht für Nahrung.

Neben den drei Welpen unter den tief herabhängenden Kiefernzweigen kauernd hatte Cain den Aufbruch der Jäger beobachtet. Auch ihn hatte Erregung gepackt, seine Flanken bebten und das Blut jagte durch seine Adern, obwohl er noch nie bei einer Jagd dabei gewesen war.

Auch diesmal würde er nicht dabei sein. Er war erst ein Jährling, noch zu jung, um mitzulaufen. Jährlinge hatten die Aufgabe, die jüngeren Geschwister zu beschützen. Und deshalb schmiegte er sich neben die Kleinen, gut verborgen in der Kuhle unter den Kiefernzweigen. Er spürte, dass sie zitterten. Sie waren schwächlich, weil es in den letzten Tagen kaum etwas zu fressen gegeben hatte.

Cara, seine gleichaltrige Schwester, die auf der anderen Seite der Welpen lag, schnaubte ihm ihren warmen Atem in den Nacken und stupste ihn mit der Schnauze an. Er wusste, dass sie ihn verstand. Dass sie seine Ungeduld nachfühlen konnte, den Drang, mitzulaufen mit dem Pack.

Cain legte den Kopf auf die Vorderpfoten und beobachtete, wie ein Käfer über seinen rechten Vorderlauf krabbelte. Einer der Jungwölfe fiepte leise im Schlaf, ein zweiter trat ihm traumverloren in den Bauch.

Cara gähnte. Cain hörte ihre Zähne aufeinanderschlagen, als sie den Kiefer schloss, und das Geräusch, mit dem sie sich die Schnauze leckte. Mit einem wohligen Brummen rollte sich seine Schwester ein wenig zusammen und legte einen Vorderlauf um das unruhig schlafende Junge.

Cain starrte zum Horizont, dorthin, wo sich der dunkelblaue Schnee und der schwarze Nachthimmel berührten. Ab und zu huschte ein glühender Punkt über das funkelnde Firmament oder es zogen zarte, grüne Schleier darüber hinweg, welche die in der Kälte erstarrte Landschaft in ein fahles Licht tauchten.

Cain kniff die Lider zusammen. Die Stille machte ihn schläfrig und auch er gähnte herzhaft. Alles war friedlich, so friedlich, dass er es wagen konnte, kurz die Augen zu schließen...

Das panische, jämmerliche Jaulen eines der Welpen, zeitgleich mit dem wütenden Keckern eines Kiefernhähers, riss ihn aus dem Halbschlaf. Es raschelte, Äste brachen und irgendetwas entfernte sich hastig durchs Unterholz.

Er sprang auf, senkte den Kopf, um unter den schneebedeckten Zweigen der niedrigen Kiefern hindurchzuspähen, und knurrte drohend. Was hatte das Junge? Was war geschehen?

Cara neben ihm fletschte die Zähne. An ihrer Seite drängten sich die kleinen, schlaftrunkenen Geschwister aneinander. Nur zwei! Wo war das dritte?

Der Schreck ließ Cain das Herz in der Brust wummern. Erneut hörte er das klägliche Jaulen, weiter entfernt jetzt, dann schlug es in ein kurzes Fiepen um und verstummte jäh.

Er senkte die Schnauze in den Schnee, drehte einen engen Kreis um ihre Schlafkuhle, suchte die Spur, die davon wegführte. Scharfer Raubtiergeruch drang ihm in die Nase, nur wenige Schritte von ihrem Lager entfernt. Ein Berglöwe!

Er riss den Kopf hoch und hob die Lefzen. Seine Nüstern bebten, als er die Witterung prüfte. Der lautlose Jäger war in Richtung des Elk Mountain verschwunden. Cain wusste nicht genau, wohin, aber wenn er sich beeilte, konnte er ihn vielleicht noch erreichen.

Ein kurzer Blick zu Cara. Auch sie war angespannt, ihre Flanken zitterten, als sie die Nase in den Wind hob. Er erkannte, dass sie den Puma ebenfalls gewittert hatte.

Um den einen Welpen zu retten, musste er die beiden anderen und seine Schwester hier zurücklassen. Schutzlos. Doch würde er überhaupt eine Chance haben? Er hatte noch nie einen Berglöwen gesehen, aber Ruve war bereits einem begegnet, denn eines Tages brachte der ältere Bruder einen unverwechselbaren Geruch mit ins Rudel, samt einer üblen Verletzung an der Flanke. Jeder aus dem Pack hatte die Angst riechen können, die er verströmte und die nur durch die Erleichterung, dem Jäger entkommen zu sein, gemildert wurde.

Cain winselte. Er konnte den Kleinen nicht mehr hören. Die Laute vorhin und die nun herrschende Stille ließen ihn fürchten, dass er zu spät kommen würde und der Berglöwe seine hilflose Beute bereits getötet hatte. Unentschlossen sah er erneut zu Cara zurück. Seine Schwester knurrte ihn an und schnappte nach ihm, eine Aufforderung, endlich zu verschwinden.

Mit einem Satz verließ er die Kuhle unter den Zweigen. Das Junge musste zurückgebracht werden! Die Verantwortung für die Kleinen trug er, nicht Cara.

Weißer Schnee stiebte zwischen seinen Läufen auf, als er durch den Wald bergauf hetzte. Das aufgebrachte Krächzen des noch immer schimpfenden Hähers blieb hinter ihm zurück.

Da! Die Spuren des Verfolgten!

Weit auseinanderliegende, riesige Tatzenabdrücke, die verrieten, dass der Jäger tatsächlich die steile Westflanke des Elk Mountain hinaufgeklettert war.

Ein verzweifeltes Heulen wollte aus Cains Kehle aufsteigen, aber er bezwang es. Er befand sich auf der Jagd, genau wie Arim, Rasha und seine älteren Geschwister in diesem Augenblick. Nun musste er zeigen, dass er das, was er im letzten Jahr bei seinen Brüdern Firt und Gond spielerisch balgend gelernt hatte, nutzen konnte. Ruhe, Geduld und Ausdauer. Niemals aufgeben. Der Welpe war vielleicht schon tot, doch der Puma würde gewiss wiederkommen. Und das durfte keinesfalls geschehen.

Nur noch ein paar Sätze, dann würde der Wald enden. Weiter oben gab es nur noch einzelne und noch höher gar keine Bäume mehr. Cain wusste, dass Deckung wichtig war, und er hoffte, dass die Schneetiefe reichte, um geduckt weiterzuschleichen und so nicht vorzeitig entdeckt zu werden. Bei einem Angriff wollte er die Überraschung auf seiner Seite haben. Dass der Puma zurücksah, war unwahrscheinlich, aber falls, würde die Katze bestimmt anhalten und sich zum Kampf stellen. Pumas waren Einzelgänger und die teilten nicht.

Flecken aus vom Mond beschienenem Schnee blitzten zwischen den schwarzen Stämmen auf. Der Waldrand. Die Spur führte geradewegs hinauf auf den kahlen Westhang des Elk Mountain.

Cain brach durch die letzten, tiefhängenden Zweige und verharrte reglos. Sein Blick strich über den Schnee, durch dessen makellose Unberührtheit sich die Tatzenspur zog wie ein hässlicher, dunkler Riss. Weit oben am Hang bewegte sich ein grauer Punkt, schnellte aufwärts in ausladenden Sätzen.

Ihm wurde klar, dass er keine Chance hatte, den Puma rechtzeitig einzuholen. Der kleine Bruder, der noch nicht einmal einen Namen erhalten hatte, war verloren. Und es war seine Schuld. Die Aufgabe, die Welpen zu beschützen, während das Pack jagte, hatte Arim ihm übertragen. Eine hohe Verantwortung, denn das Überleben des letzten Wurfs sicherte den Fortbestand des Rudels.

Heiße Scham mischte sich in den Zorn, der ihm das klare Denken zu vernebeln drohte, während er sich wieder in Bewegung setzte und der Spur folgte. Nicht in riesigen Sprüngen wie der Räuber, nein, er schlich durch die vorgegebene Fährte, eng an den Schnee gepresst und bemüht, ihn nicht aufzuwirbeln.

„Was ist ein Puma, Großvater?“

Alec hatte während des Erzählens vom Heuboden hinunter in den Wohnraum gestarrt und das Tanzen der Flammen im Kamin beobachtet. Jetzt wandte er seinem Enkel den Blick zu.

„Eine Raubkatze, Sonny, viel größer als Ben. Und sie wiegt dreimal so viel wie er.“

Der Junge reckte den Kopf, spähte auf den vor dem Kamin dösenden Siberian Husky hinab und riss die Augen auf. „Viel größer als Ben?“

Alec nickte. „Und sie ist gefährlich. Sie schleicht sich an und schlägt zu, ohne ein Geräusch zu machen.“

„Hat der kleine Wolf überlebt?“

Alec hörte die Angst in der Stimme des Jungen und für einen Augenblick kam ihm der Gedanke, dass Cains Geschichte wohl noch nicht für einen Siebenjährigen geeignet war. Aber Sonny war sein Enkel. Er lebte jetzt hier bei ihm in der Wildnis der Rockies von Idaho und keiner konnte sagen, wie lange.

„Das erfährst du morgen“, versetzte er rau. „Jetzt schlaf.“

„Aber Ruve, ist der wieder ...“

„Morgen, Sonny. Es ist spät.“

Der kleine Bursche verzog schmollend die Lippen, fügte sich aber und schob sich tiefer zwischen die Bärenfelle.

Alec strich ihm mit seiner schwieligen Hand über den blonden Schopf. Dann stieg er die Leiter hinunter. Unten legte er noch einen Kloben Buche auf das Feuer, schenkte sich einen Bourbon ein und setzte sich in den Schaukelstuhl. Gedankenverloren kraulte seine Linke Ben den Kopf, während er an seinen Sohn dachte, der seit sieben Tagen mehr als tausend Meilen entfernt in Denver um sein Leben kämpfte.

Clark hatte nach der Schule beschlossen, in wärmeren Gegenden leben zu wollen. Idaho erschien ihm unerträglich. Es lag wohl am Erbe seiner Mutter, die aus Hawaii stammte, die aber die kalten Berge geliebt hatte. Also war sein Sprössling aufgebrochen, angeblich um die Familie seiner Mutter kennenzulernen. Doch er kehrte nie zurück. Die Postkarten, die er schrieb und die verrieten, wo er sich gerade herumtrieb, wurden weniger. Irgendwann kam dann ein längerer Brief und aus dem Umschlag fiel ein Foto. Clark, Arm in Arm mit einem blonden Mädchen. ‚Unsere Hochzeit, Maui, Juli 2011‘, stand auf der Rückseite. Es war ein kleiner Stich ins Herz gewesen. Irgendwie hatte er immer gehofft, dass Clark zurück nach Hause kommen würde. Doch die Blondine im kurzen Strandkleidchen, das Meer mit dem blauen Himmel von Hawaii im Hintergrund und die nicht erhaltene Einladung zu dieser Hochzeit sprachen eine deutliche Sprache. Sein Sohn hatte ein neues Zuhause gefunden.

Später kam noch einmal ein Brief, in dem Clark mitteilte, dass er in einer Spedition arbeitete und dass Hailey schwanger war. Auch in diesem Umschlag war ein Foto gewesen. Ein Truck, schwarz und chromglänzend. ‚Und das ist mein Baby‘ hatte Clark auf die Rückseite geschrieben, das ‚MEIN‘ in fetten, schwarzen Buchstaben.

Alec seufzte, was Ben den Kopf heben und mit leisem Winseln zu ihm hochzuspähen ließ. Dieses verdammte, vierzig Tonnen schwere, verchromte Baby lag nun einhundertzwanzig Meter unterhalb des Highway 50 zerschmettert in einem Bachbett. Und Clark, sein Junge, auf der Intensivstation des Traumazentrums in Denver, Colorado.

Vor vier Tagen hatte Hailey Sonny hergebracht.

Er war mit Ben im Wald gewesen. Auf dem Rückweg sprang der Husky voraus und verbellte dann jemanden oder etwas. Es kam selten jemand zu seiner Hütte. Chad höchstens, der Holzfäller und Fallensteller, der oberhalb des Sees auf der anderen Seite des Flüsschens wohnte. Oder Frank, ein Jäger aus Elk City, der ab und zu bei ihm übernachtete. Bens hartnäckiges Lautgeben ließ darauf schließen, dass er Besuch hatte.

Als er aus dem Wald trat und den Range Rover sah, wurde ihm klar, dass es ein Fremder war. Aber noch mehr staunte Alec, als eine zierliche, blonde Frau ausstieg. Sich bei diesem Schnee über den vereisten Pass zu wagen, dazu gehörte etwas.

Ein scharfer Pfiff rief Ben an seine Seite. Langsam ging er auf den Wagen zu, den Hund neben sich behaltend.

„Alec?“, fragte sie und ihre Stimme klang dünn, ein bisschen furchtsam.

„Der bin ich“, gab er knapp zurück und musterte sie. Sie war jung, fast noch ein Mädchen. Aber das Gesicht ...

„Und wer sind Sie?“

„Hailey. Und Donovan.“ Sie öffnete die hintere Tür des Autos und ein kleiner Junge kletterte heraus.

Ist sie vollkommen verrückt geworden? Das war das Erste, was Alec bei ihrem Anblick in den Sinn kam. Sie hat ein Kind mitgenommen auf diesen Höllentrip über den verschneiten Pass!

Mit einer Hand hob sie einen himmelblauen Kinderkoffer vom Rücksitz, mit der anderen schob sie den Jungen vor sich, als wäre er ihr Schutzschild.

„Wir brauchen Ihre Hilfe“, stieß sie hervor und Alec sah, dass sie zitterte. Wer weiß, wie lange sie schon hier auf ihn gewartet hatte.

Kurz darauf saßen sie in der Hütte. Er hatte Tee gekocht und sie redeten. Eigentlich redete Hailey und er hörte zu. Sie erzählte von ihrem Leben in Los Angeles, von Clark, von dem Unfall und dass sie gern an seiner Seite im Krankenhaus sein würde, aber niemanden habe, der sich um Donnie kümmern könnte. Leider hätte sie keine Möglichkeit gehabt, ihr Kommen anzukündigen oder ihn vorher zu fragen, ob er vielleicht ...?

Sein Blick war zu dem blonden Jungen gewandert, der auf dem Fell vor dem Kamin saß und mit Ben spielte. Der Husky genoss die Aufmerksamkeit, ließ sich kraulen und jaulte vor Freude, während Alec sich vorzustellen versuchte, wie sich sein Leben veränderte, wenn er Haileys unausgesprochener Bitte zustimmte.

Hailey schwieg. Anscheinend ahnte sie, dass das in Ruhe überlegt werden musste.

Als er am nächsten Morgen mit dem Jungen und dem Hund vor der Hütte stand, den zweiten Kinderkoffer neben sich und dem Auto nachschauend, wusste er, dass ihm ein großes Geschenk gemacht worden war. Er hatte seine Schwiegertochter kennenlernen dürfen. Das Mädchen im kurzen Strandkleidchen, das er vom Foto kannte, war kein Mädchen mehr, sondern eine starke Frau, die Clark unsagbar liebte. Und sein Enkel würde bei ihm wohnen. Wie lange, war ungewiss. Aber Alec nahm sich vor, jeden einzelnen Tag zu genießen.