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Viele von uns sehnen sich nach einem nachhaltigen, vertrauensvollen Verhältnis zu unseren Geschwistern. Anselm Grün – Bruder von sechs Geschwistern – zeigt in diesem Ratgeber auf, wie eine gute Beziehung zu Bruder und Schwester gelingen kann. Dabei schöpft der Bestseller-Autor aus jahrzehntelanger Beratungspraxis. "Freunde kann man sich aussuchen, Geschwister nicht", lautet ein vielzitierter Satz. Bruder und Schwester sind diejenigen, mit denen wir oft die längste Zeit im Leben zusammen sind. Im Idealfall lernen innerhalb der Familie die Jüngeren von den Älteren und es bilden sich intensive Beziehungen, die später auch in Krisenzeiten tragen. Aber gerade weil man schon seit frühester Kindheit zusammen ist, entstehen oftmals auch tiefgehende Konflikte. Die Eltern bevorzugen vielleicht die eine und übersehen die Bedürfnisse des anderen. Mamas Liebling – Papas Prinzessin. Spätestens, wenn es irgendwann, oft Jahrzehnte später, ans Erben geht, brechen alte Konflikte auf. Anselm Grün hat sechs Geschwister. Man unterstützt sich, gerade in schweren Lebensphasen, kommt gerne zu Familien-Feiern und gemeinsamen Urlauben zusammen. Was ist die Basis für solch ein geschwisterliches Verhältnis? Hängt es von den Eltern ab? Entstehen Streit und Probleme durch die Andersartigkeit der Geschwister oder durch bestimmte Familien-Konstellationen? Wie können Krisen bewältigt werden? Und welche Haltungen sind nötig, damit ein gutes Miteinander über lange Zeit Bestand hat? Diesen Fragen geht der bekannte Benediktiner-Pater in seinem neuen seelsorgerlichen Buch nach. Dabei lässt er immer wieder auch biblische Geschichten einfließen, denn darin liegt für ihn ein Schlüssel der Erkenntnis.
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Seitenzahl: 206
Anselm Grün
Geschwisterbande
Eine ganz besondere Beziehung
Knaur e-books
Viele von uns sehnen sich nach einem nachhaltigen, vertrauensvollen Verhältnis zu unseren Geschwistern. Anselm Grün – Bruder von sieben Geschwistern – zeigt auf, wie eine gute Beziehung zu Bruder und Schwester gelingen kann. Dabei schöpft der Bestseller-Autor aus jahrzehntelanger Beratungspraxis.
»Freunde kann man sich aussuchen, Geschwister nicht«, lautet ein vielzitierter Satz. Bruder und Schwester sind diejenigen, mit denen wir oft die längste Zeit im Leben zusammen sind. Im Idealfall lernen die Jüngeren von den Älteren und es bilden sich intensive Beziehungen, die später auch in Krisenzeiten tragen. Aber gerade weil man schon seit frühester Kindheit zusammen ist, entstehen oftmals auch tiefgehende Konflikte. Die Eltern bevorzugen vielleicht die eine und übersehen die Bedürfnisse des anderen. Mamas Liebling – Papas Prinzessin. Spätestens, wenn es irgendwann, oft Jahrzehnte später, ans Erben geht, brechen alte Konflikte auf.
Als ich angefangen habe, über das Thema Geschwister nachzudenken, hörte ich auf einmal viele Geschichten. Die Leute erzählten von ihren Erfahrungen mit den Geschwistern.
Und ich merkte, dass ich in der Begleitung Einzelner jetzt immer auch nach den Geschwistern fragte. Denn die persönliche Situation, in der sich jemand befindet, ist immer auch abhängig von seiner Beziehung zu seinen Geschwistern. Wenn ich Führungsseminare halte, erkenne ich in den Gesprächen, wie die Beziehung zu den Geschwistern sich auch auswirkt auf die Beziehung zu den Mitarbeitern, zu den Chefs und den Kollegen im Führungsgremium. Oft hängen Konflikte mit Mitarbeitern mit nicht gelösten Konflikten zwischen Geschwistern zusammen. Alle fordern von Führungskräften, dass sie Empathie für ihre Mitarbeiter aufbringen sollen. Aber wenn jemand keine Geschwister hatte, fehlt ihm die natürliche Entwicklung der Empathie. Denn im Miteinander der Geschwister lernen wir, mit den andern zu fühlen und sie zu verstehen.
Wenn ich mich an die vielen Erzählungen über Geschwister erinnere, dann freue ich mich über die guten Erfahrungen, die viele gemacht haben. Viele sind dankbar: Die Geschwister halten zusammen. Nach dem Tod der Eltern kann sich jeder auf seine Brüder und Schwestern verlassen. Alle treffen sich gerne. Und wenn einer in Not ist, darf er auf die Hilfe der andern hoffen. Sie stützen und tragen einander. Wenn einer von den älteren Geschwistern einen runden Geburtstag feiert, kommen auch die Kinder und Enkel. Weil die Geschwister zusammenhalten, hält die ganze Großfamilie zusammen. Man freut sich aneinander und fühlt sich getragen von seiner Familie.
Doch ich hörte auch von vielen anderen Erfahrungen. Da gibt es Konflikte zwischen den Geschwistern. Der eine ist neidisch auf den andern, weil er es weiter gebracht hat. Eine Schwester ist alkoholkrank und kümmert sich nicht um die anderen Geschwister. Aber sie erwartet ständig finanzielle Unterstützung, sowohl von den Eltern als auch von den Geschwistern. Wenn man ihr nicht hilft, dann klagt sie: »Alle sind gegen mich!« Sie möchte ihr Alkoholproblem nicht anschauen und ist vor allem neidisch auf die ältere Schwester, die etwas aus ihrem Leben gemacht hat.
Ein junger Mann erzählt, dass er sich schon als Kind mutterseelenallein gefühlt hat, obwohl er einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester hat. Aber die beiden hatten keinen Draht zu ihrem Bruder. Er galt für sie als Außenseiter. Wenn die Mutter heute Geburtstag feiert, dann fühlt sich der junge Mann völlig ausgeschlossen. Seine Schwester ignoriert ihn. Und mit seinem Bruder kommt kaum ein Gespräch zustande. Nur seine Mutter versucht, ihn in die Familie zu integrieren. Aber offensichtlich hat sie keinen Erfolg.
Die jüngste Tochter des jungen Mannes spürt diese Atmosphäre. Sie bekam einmal, so berichtet ihr Vater, so heftiges Kopfweh, dass er mit ihr und seinem Sohn schon nach einer Stunde die Geburtstagsgesellschaft verlassen musste. Es ging einfach nicht zusammen. Selbst die Enkelkinder der Großmutter spürten, dass da etwas nicht stimmt.
Andere erzählen, dass die Familie früher immer zusammengehalten hat. Doch jetzt hat die Schwester einen Mann geheiratet, der die ganze Familie spaltet. Er redet seiner Frau ein, dass sie von ihren Eltern immer benachteiligt worden ist, dass die Eltern in der Erziehung viele Fehler gemacht haben. Auf einmal wendet sich die Tochter gegen die Eltern, und sie will auch von ihren Geschwistern nichts mehr wissen. Nach einer heftigen Aussprache hat sie ihnen sogar Hausverbot erteilt. Offensichtlich hat sie Angst, dass ihre Geschwister sie verunsichern könnten in ihrer Haltung. Sie hat sich in ihre negative Haltung so hineingesteigert, dass sie niemanden aus der Familie mehr an sich heranlässt.
Das gute Miteinander wird gestört durch Rivalitäten unter den Geschwistern, in anderen Fällen durch die Ehepartner, die manchmal die Harmonie zwischen den Geschwistern trüben und oft sogar einen Keil zwischen sie treiben. Weil ihr Bruder seinen Schwager einmal kritisiert hat, hat die Schwester den Kontakt zu ihm abgebrochen.
Oft entsteht bei den Erbauseinandersetzungen Streit. Die Familie dachte, sie würden immer zusammenhalten. Doch sobald es darum geht, das Erbe gerecht aufzuteilen, tauchen die Rivalitäten zwischen den Geschwistern auf. Was lange harmonisch wirkte, war doch nur ein Deckmantel, den man über alte Konflikte gebreitet hatte. Jetzt treten die Konflikte, die man lange verdrängt hatte, offen hervor. Auch hier werden die Auseinandersetzungen durch angeheiratete Schwager und Schwägerinnen noch erschwert und oft auch erst durch sie richtig angestachelt.
Bei Gesprächen erfahre ich von den verschiedensten Geschwisterkonstellationen. Da gibt es Geschwister, die sich gegenseitig stützen. Sie fühlen sich getragen durch die Familie. Die Geschwister haben Freude aneinander. Es gibt dabei immer einen Lieblingsbruder, eine Lieblingsschwester, mit der man sich besonders gut versteht, mit der man alle seine Probleme besprechen kann. Dann gibt es Geschwister, die nur noch einen lockeren Kontakt zueinander haben. Man streitet nicht. Aber man hat auch nicht allzu viel Interesse aneinander. Oft erzählen mir Menschen, denen ich begegne, dass die Beziehung zum Bruder oder zur Schwester sozusagen nur noch auf Sparflamme aufrechterhalten wird. Man kann sich bei gemeinsamen Familienfeiern treffen. Aber es entsteht kein persönliches Gespräch. Man wahrt die Fassade von Freundlichkeit. Aber eigentlich hat man sich nichts mehr zu sagen.
Andere haben gar keinen Kontakt mehr zum Bruder oder zur Schwester. Man geht auf Distanz, um sich zu schützen, weil man sich immer wieder aufs Neue verletzt oder kleingemacht fühlt. Über die Jahre ist eine hasserfüllte Feindschaft entstanden. Man bekämpft sich gegenseitig. Man korrespondiert nur noch über Rechtsanwälte. Immer wieder höre ich, wenn ich Menschen begleite, von solchen Fällen. Die Folgen solcher hasserfüllten Beziehungen sind oftmals: Man fühlt sich verletzt, allein, einsam. Ohne die Familie gibt es keinen wirklichen Halt mehr. Die Geschwisterbande, das Familiengefüge ist zu einer Belastung geworden, die einem viel Lebensenergie raubt.
Wenn ich mir solche Geschichten anhöre, bin ich umso dankbarer für meine Familie. Wir sind sieben Geschwister. Wir verstehen uns gut. Wir kommen gerne zu Familienfeiern zusammen. Und auch sonst haben wir immer wieder Kontakt miteinander. Alle fünf Jahre gibt es dann größere Treffen mit all den Cousinen und Cousins, die Verwandtschaft von unseren Müttern her, die aus der Eifel stammen. Meine älteste Schwester, Marie Luise, ist leider letztes Jahr gestorben. Lange habe ich um sie getrauert.
Je älter wir werden, desto wertvoller werden uns Geschwistern solche Treffen. Wir freuen uns aneinander, geben und nehmen Anteil an Freud und Leid.
Immer wieder höre ich zum Glück von einem ähnlichen Zusammenhalt in anderen Familien. Da gibt es doch auch viele Geschwister, die sich nach dem Tod ihrer Eltern gegenseitig stützen. Die Menschen in diesen Familien fühlen sich nicht allein. Sie sind getragen durch ihre Geschwister und deren Ehepartner.
Wenn ich an meine Familie denke und mir die vielen Geschichten von misslungenen Geschwisterbeziehungen anhöre, frage ich mich immer wieder: Was ist der Grund, dass eine Geschwisterbeziehung gelingt? Hängt es nur von den Eltern ab? Entstehen die Probleme durch die Andersartigkeit der Geschwister oder durch bestimmte Geschwisterkonstellationen? Oder projizieren manche ihre eigenen Probleme auf die andern? Weil sie das eigene Leben nicht gut bewältigen, vergleichen sie sich mit den Geschwistern und fühlen sich minderwertig. Diese Minderwertigkeit wird dann oft in Aggression gegen die andern ausagiert.
Wie können solche Probleme bewältigt werden? Was können Eltern dazu beitragen, dass ihre Kinder sich später vertragen? Und was ist der Auftrag der Geschwister für ein gelingendes Leben? Was ist die Herausforderung, der jeder Einzelne sich stellen muss? Welche Haltungen sind nötig, damit ein gutes Miteinander über lange Zeit bestehen kann?
Diesen Fragen möchte ich in diesem Buch nachgehen.
Jeder hat Erfahrungen mit Geschwistern. Denn selbst wenn jemand Einzelkind ist, kennt er genügend Freunde, die Geschwister haben. Oder er denkt an die Geschwister seiner Eltern und die Erfahrungen, die sich damit verbinden. Er freut sich an gelingenden Beziehungen. Aber er leidet auch, wenn die Beziehungen sich problematisch gestalten.
Wer keine Geschwister hat, kennt die Sehnsucht, einen Bruder oder eine Schwester zu haben, mit denen er sich austauschen kann, von denen er sich verstanden fühlt.
Die Erfahrungen, die ich in diesem Buch beschreibe, wird jeder mehr oder weniger für sich oder in seinem Umfeld gemacht haben.
Aber ich möchte mit diesem Buch nicht so sehr problematische Beziehungen und ihre psychischen Ursachen beschreiben. Vielmehr ist es mir ein Anliegen, in den Geschwistern die Sehnsucht nach einer guten Beziehung zu wecken. Die einen möchte ich bestärken in der Dankbarkeit für ihren guten geschwisterlichen Zusammenhalt. Allen, die an ihren Geschwisterkonflikten leiden, möchte ich Wege aufzeigen, wie sie mit schwierigen Beziehungen umgehen können, damit sie nicht ein Leben lang davon belastet werden. Und ich möchte verfeindete Geschwister dazu ermutigen, sich zu versöhnen. Dabei verzichte ich auf eine psychologische Analyse der Geschwisterkonflikte. Natürlich spielen psychologische Erkenntnisse immer auch eine Rolle dabei. Aber ich möchte die Menschen als Seelsorger ansprechen.
Die Beziehung zu den Geschwistern ist etwas anderes als die zu Freunden. Freundschaft ist auch eine Bedingung für das Gelingen des Lebens. Aber Freunde kann man sich aussuchen. Die Geschwister hat man. Geschwister sind die Menschen, die viele am längsten in ihrem Leben an ihrer Seite wissen. Das gibt den Geschwisterbeziehungen eine eigene Tiefe. Im Kreis der Geschwister lernt man die wichtigsten Schritte ins Leben. Man lernt, Konflikte anzuschauen und sich darin zu behaupten, ohne dass man die gute Beziehung zum andern verliert. Und man lernt auch, Rücksicht zu nehmen. Aber gerade weil man schon seit frühester Kindheit mit den Geschwistern zusammen ist, entstehen daraus auch viele Konflikte. Und diese Konflikte müssen bearbeitet werden, damit später ein gutes Miteinander wachsen kann.
Noch eine Vorbemerkung: Ich erzähle hier Geschichten, die mir Menschen anvertraut haben. Das tue ich natürlich mit einer gewissen Scheu. Auf der einen Seite weiß ich, dass konkrete Geschichten mehr transportieren als theoretische Überlegungen. Auf der anderen Seite habe ich die Menschen nicht gefragt, ob ich ihre Geschichten erzählen darf. Daher habe ich versucht, die Geschichten so zu anonymisieren, dass keiner erkennen kann, um wen es sich handelt. Nur wer seine Geschichte erzählt hat, wird sich vielleicht darin erkennen. Aber ich habe mich darum bemüht, die Geschichte so zu erzählen, dass sie für die Leser zu einem Gewinn wird. Und ich habe die Erzählungen wiedergegeben, ohne die Personen zu bewerten oder zu beurteilen. Die Personen, die in diesen Erzählungen vorkommen, sind Spiegel für viele andere. Sie verkörpern Typen von Menschen, in denen sich der Leser oder die Leserin wiederfinden kann.
Die Bibel erzählt uns viele Geschwister-Geschichten. Das zeigt, dass das Thema von Gelingen oder Misslingen von Geschwisterbeziehungen uralt ist. Wenn wir die alten Geschichten lesen, können wir durchaus unsere Situation heute darin wiedererkennen. Und wir entdecken in den Geschichten die Gründe für das Misslingen und Gelingen der Beziehungen. Erzählungen sind immer ein Spiegel, in dem wir uns selbst erkennen können. Die Bibel verherrlicht die Geschwisterbeziehungen nicht. Sie beschreibt Brüche, ja sogar das Scheitern der Beziehungen. Aber sie zeigt uns auch, wie gestörte Beziehungen wieder geheilt werden. Ich möchte einige Geschichten betrachten und sie im Licht heutiger Erfahrungen anschauen.
Die erste biblische Geschwistergeschichte ist die zwischen Kain und Abel. Sie endet mit dem Tod des jüngeren Bruders. Kain, der Erstgeborene, erschlägt Abel, den Eva nach ihm geboren hatte, im Zorn.
Die tschechische Kinderpsychologin Jirina Prekop hat aus eigener Erfahrung ein Buch über die Problematik der Erstgeborenen geschrieben. Sie selbst stand als jüngere Schwester immer im Schatten ihrer älteren Schwester, die vielen als schöner, intelligenter, einfach perfekter galt. Daher war die Beziehung zu ihrer älteren Schwester lange Zeit nicht gut. Erst mit 70 Jahren konnten sie offen über ihre Geschwisterkonstellation sprechen.
Die ältere Schwester fühlte sich vom Thron gestoßen, als die jüngere Schwester geboren wurde. Sie versuchte, darauf zu antworten, indem sie sich durch Leistung in den Mittelpunkt stellte. Und sie sorgte scheinbar liebevoll für ihre jüngere Schwester. Aber tief im Innern erlebte sie sich zurückgesetzt. Die jüngere Schwester fühlte sich von der Mutter auch nicht genügend geliebt. Daher war ihr Weg, die Liebe der Mutter für sich zu bekommen, krank zu werden. Denn so hatte sie dann die Mutter wieder viel stärker um sich. Ihre ältere Schwester, Maruska, reagierte darauf, indem sie möglichst viel geleistet hat. Denn auch sie spürte ab diesem Zeitpunkt, dass sie nicht mehr so geliebt wurde wie zuvor.
Jirina Prekop erzählt vom Gebet eines vierjährigen Kindes: »Lieber Gott, ich danke dir für meine kleine Schwester. Ich habe aber nun schon genug mit ihr gespielt. Nimm sie bitte wieder zurück in den Himmel.«
Es gibt offensichtlich bei vielen Erstgeborenen den Wunsch, dass das nächstgeborene Kind sterben solle, damit man wieder die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich ziehen kann.
Diesen Wunsch erkennen wir auch bei Kain, so wie die Bibel uns von ihm erzählt. Kain ist auf Abel neidisch. Es ist das Problem des Erstgeborenen, der aus dem Raum der ihm bislang allein geltenden Liebe herausgedrängt wird. Zum andern aber hat Kain den Eindruck, dass er den schwereren Beruf hat. Er ist Ackerbauer, während Abel als Schafhirte arbeitet. Der jüngere Bruder hat es damit vermeintlich leichter. Dieses Gefühl haben viele Erstgeborene: »Bei mir waren die Eltern immer streng. Meinem kleinen Bruder, meiner kleinen Schwester haben sie viel mehr erlaubt. Die hatten es viel einfacher.«
Dazu kommt, dass das Opfer des Abel von Gott als wohlgefällig angenommen wurde, das von Kain jedoch nicht.
Wir dürfen die Geschichte nicht so auslegen, als ob Gott den Abel bevorzugt und den Kain vernachlässigt hat. Es ist mehr das Gefühl des Erstgeborenen, dass der jüngere Bruder bevorzugt wird: von den Eltern, vom Schicksal, von Gott. Er wird mehr gesehen als der Erstgeborene. Dieses Gefühl, zurückgesetzt zu sein, es schwerer zu haben und weniger angesehen zu werden, erzeugt in Kain einen so starken Neid und einen solchen Zorn, dass er seinen Bruder erschlägt. Die Bibel beschreibt den emotionalen Zustand des Kain so: »Da überlief es Kain ganz heiß, und sein Blick senkte sich.« (Gen 4,5)
Der Zorn war wie Feuer in seiner Seele. Er beherrschte ihn so stark, dass er seinen Bruder nicht mehr offen anschauen konnte, sondern stattdessen zu Boden schaute. Der Drang, ihn zu töten, war schließlich so stark, dass er ihm nicht mehr Herr wurde. So kam es zur Tat.
Als Strafe für die Ermordung seines Bruders muss er fortan ruhelos herumlaufen. Gott schützt den Kain durch ein Kainsmal, sodass niemand ihn umbringen darf.
Karl König, ein Kinderarzt aus Wien, der nach seiner Emigration nach Schottland in Camphill eine heilpädagogische Einrichtung gegründet hat, beschreibt das Brüderpaar so: Kain muss den Fluch seines Vaters – »Verflucht sei der Acker« – auf sich nehmen. »Sein Rücken ist krumm und seine Schultern gebeugt unter der Last seines Schicksals, das er trägt.«[1]
Abel hingegen »ist ein Träumer. Er horcht auf die Stimme seiner Stimmungen und Gefühle. Er folgt dem Fluge seiner Gedanken und sehnt sich zurück in die Heimat, aus der er einst gekommen war.«[2] Karl König meint, jeder Erstgeborene trage etwas von Kain an sich und jeder Zweitgeborene Züge Abels.
Kain lebt die Pflicht. Abel nimmt das Leben leichter. Doch mir scheint es gefährlich zu sein, wenn man die Erstgeborenen, Zweitgeborenen oder Drittgeborenen zu sehr auf eine bestimmte Rolle festlegt. Natürlich kann man sich fragen, was typische Merkmale der Geschwister sind, je nachdem, wie sie in der Abfolge der Kinder in der Familie geboren wurden. Aber jedes Kind ist auch einmalig. Wenn ich versuche, meine eigenen Geschwister allzu sehr nach einem vorgegebenen Schema einzuordnen, werde ich ihnen nicht gerecht.
Ich möchte einfach jedes meiner Geschwister so sehen, wie es ist.
König meint, dass nicht die emotionale Intelligenz der Kinder verschieden ist, sondern das soziale Verhalten. Das kann durchaus sein. Aber entscheidender als der Charakter jedes einzelnen Geschwisters ist für mich, wie sie zueinander stehen. Ob sie bereit sind, ihre Verschiedenheit zu akzeptieren, sodass jedes der Geschwister seinen Platz in der Familie findet und niemand bevorzugt wird.
Es kann hilfreich sein, sich zu fragen, was typisch ist für den Erstgeborenen, den Zweitgeborenen oder den Drittgeborenen. Für König gibt es nur diese Kategorien. Das vierte Kind ist für ihn wieder Erstgeborener, das fünfte Zweitgeborener und das sechste Drittgeborener. Aber wir sind dann immer in Gefahr, jedes Kind in ein Schema zu pressen. Jeder Mensch ist einmalig und einzigartig. Die Rolle in der Geschwisterreihe mag eine Rolle spielen. Aber niemand wird dadurch für sein ganzes Leben festgelegt.
Die Bibel beschreibt, dass Kain viele Nachkommen zeugte. Abel blieb kinderlos. Das heißt aber auch, dass wir alle Nachkommen Kains sind und uns diese Problematiken des Erstgeborenen und des Geschwisterneides von Anfang an in die Wiege gelegt sind. Und wir sind nicht nur Kinder des Kain, sondern von Eltern, die in ihrer Geschichte entweder gute und heilsame oder aber schlechte und krank machende Erfahrungen mit ihren Geschwistern gemacht haben. So geben die Eltern ihre Erfahrungen an die Kinder weiter.
Oft höre ich in Gesprächen, dass der Streit der Geschwister schon Vorläufer hatte. Der Vater war mit seinen Geschwistern zerstritten, oder die Mutter hatte keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie. Seit Jahrzehnten ist es in der Familie so. Es sind letztlich immer wieder die Kinder Kains, die mir ihre Geschichte vom Geschwisterkonflikt erzählen. Sie setzen fort, was ihnen ihre Eltern oder Großeltern vorgelebt haben.
Der Psychotherapeut Tilmann Moser sieht in Kain auch eine Kraftquelle. Er erzählt, dass ihn als Kind auf dem Bild des romantischen Malers Schnorr von Carolsfeld Kain »mehr interessiert hat als der langweilig gottgefällige Abel mit seinen aufsteigenden Opferrauchwölkchen. Ich wusste intuitiv früh, dass ich zu frommen Opfertierrauchnebeln nicht geeignet war und eher fliehende Rauchstürme zu verursachen wusste. Ich schaute den Wolken von Kain neugieriger nach als den guten Rechenschaftssäulen des theologischen Bravlings Abel.«[3] Seine Verwandtschaft mit dem zornigen Kain – aber nicht mit dem Brudermörder Kain – hat er schon auf seinen Kinderbildern entdeckt. Da ist er neben seinen vier jüngeren Geschwistern mit einer tief eingegrabenen Zornesfalte zu sehen. »Ich als der neidische Älteste hatte allen Grund, auf so viel jüngere Rivalen zornig zu sein.«[4]
Manchmal stört ihn diese Zornesfalte. Denn häufig wurde er von seinen therapeutischen Kollegen als »zorniger Aufrührer gegen allzu viel Orthodoxie im analytischen Beruf« angesehen. Doch er kann bekennen: »Meine Zornesfalte ist mein Kainsmal und zugleich meine Kraftquelle.«[5] Doch er möchte nicht auf dieses Merkmal festgelegt werden. Er hat auch liebenswürdige Züge. So schreibt er über sein Temperament, das er schon als Kind im Umgang mit seinen vier Geschwistern entwickelt hat: »Zwischen liebenswürdig und zornbebend geht mein Temperament hin und her, und ich muss es halt leben, weil es kein besseres gab.«[6]
Die biblische Geschichte von Kain und Abel ist ein Spiegel, in dem wir uns selbst erkennen können. Aber zugleich sollten wir mit Tilmann Moser festhalten, dass wir durch kein biblisches Bild ganz und gar bestimmt sind. Die biblischen Bilder zeigen immer nur Teilaspekte unserer Persönlichkeit. Und es ist unsere Aufgabe, unsere Veranlagungen, die wir gerade im Miteinander mit den Geschwistern schon früh erkennen, zu kultivieren und zu verwandeln.
In der Geschichte von Jakob und Esau geht es auch um die Frage nach dem Erstgeborenen. Aber das spielt hier eine untergeordnete Rolle. Entscheidender sind in diesem Fall die verschiedenen Charaktereigenschaften. Esau war jemand, der Bärenkräfte besaß. Die Bibel beschreibt ihn noch dazu als einen stark behaarten Typ. Jakob dagegen war mehr der schlaue, gerissene Bruder, der auf seinen Verstand setzte. Man könnte sagen: Die zwei Brüder stellen zwei Seiten dar, die jeder in sich trägt. Jakob steht für die bewusste, die rationale Seite. Esau für die unbewusste Seite − das Dunkle, das Erdhafte, für den Schatten. Beide Brüder sollten sich eigentlich ergänzen, anstatt sich zu bekämpfen.
Aber man kann sie eben auch als Brüder sehen, die miteinander in Konkurrenz stehen. Dabei sind sie Zwillingsbrüder. Also geht es nicht nur um den Konflikt des Erstgeborenen und Zweitgeborenen, sondern um die Verschiedenheit der Brüder. Und es geht um die Frage, wie die so verschiedenen Brüder aus der Feindschaft zur Versöhnung kommen.
Esau war eigentlich der Erstgeborene. Doch Jakob, sein Zwillingsbruder, kaufte ihm das Erstgeburtsrecht ab und nutzte dazu eine Situation, in der Esau müde vom Feld kam. Er wollte in diesem Moment gerne etwas von dem Linsengericht essen, das Jakob gekocht hatte. (Gen 25,29−34)
Jakob nutzte die Situation für seinen eigenen Vorteil aus. Er ist der Schlauere, der Gewieftere. Jakob, der Muttersohn. Esau arbeitet für den Vater und mit dem Vater, mit ihm hat er eine gute Beziehung. Jakob macht es sich lieber bei der Mutter bequem. Die Mutter hilft ihrem Lieblingssohn, dass er auch den Segen des Erstgeborenen vom Vater bekommt. Sie verbünden sich gegen den Vater und seinen Lieblingssohn und setzen sich mit ihren Tricks durch.
Dass er von seinem Bruder ausgebootet wird, erzeugt in Esau einen unbändigen Hass. Er möchte Jakob am liebsten töten. Doch dieser flieht auf den Rat seiner Mutter zu deren Bruder Laban. Dort wirbt er um dessen Tochter Rahel.
Doch jetzt trickst Laban den Jakob aus, indem er die weniger schöne Tochter Lea in der Dunkelheit mit ihm schlafen lässt.
Jakob muss 14 Jahre lang hart arbeiten, um endlich beide Töchter zu bekommen. Letztlich trickst er seinen Schwiegervater aus und nimmt ihm einen Großteil seines Besitzes. Anscheinend ist Jakob jetzt auf dem Höhepunkt seines Erfolgs angekommen. Doch da meldet man ihm, dass sein Bruder Esau ihm entgegenkommt. Und jetzt hat er auf einmal Angst. Er hat das Gefühl, Esau würde kommen, um ihn umzubringen. Er weiß, er muss sich nun seinem Bruder stellen. Und damit auch dem Schatten, den sein Bruder Esau für ihn darstellt.
Jakob und Esau stehen für zwei Seiten, die in jedem von uns vorhanden sind: für die vitale und die schlaue Seite, für die helle und dunkle Seite, für das Männliche und Weibliche in uns. In dem berühmten Kampf mit dem Engel stellt sich Jakob dem eigenen Schatten. Und er wird gesegnet, weil er sich damit seiner eigenen Dunkelheit gestellt hat. Aber er wird bei diesem heftigen Kampf auch an der Hüfte verletzt. Er muss von nun an langsamer gehen und wird sich seiner eigenen Verletzlichkeit fortan immer bewusst sein. Jakob ist erst jetzt, im Moment seiner Niederlage, dazu fähig, seinem Bruder Esau wirklich zu begegnen. Er wirft sich siebenmal vor seinem Bruder zu Boden, um ihm seine Ehrerbietung zu zeigen. Esau umarmt ihn, und die beiden versöhnen sich miteinander.
Die Geschichte zeigt, wie auch heute Versöhnung zwischen Geschwistern gelingen könnte.
Es kommt vor allem darauf an, dem anderen auf Augenhöhe zu begegnen. Oft sind die Geschwisterkonflikte dadurch bedingt, dass jeder vor allem etwas darstellen und sich im besten Licht zeigen will. Aber jeder hat auch eine Schattenseite. Und wenn ich den Bruder bekämpfe, bekämpfe ich damit oft auch meinen eigenen Schatten. Ich projiziere das, was ich bei mir selbst nicht annehmen kann, auf den Bruder. Er ist gleichsam wie ein Spiegel, in dem ich die eigene Wahrheit erkennen könnte. Doch viele wollen nicht in den Spiegel schauen und sich mit ihrer eigenen Wahrheit aussöhnen. Sie wollen lieber den Spiegel zertrümmern, damit er sie nicht mehr an die eigenen Schwächen erinnert. Ein wichtiger Weg zur Versöhnung ist deshalb, dass ich mich meinen eigenen Schattenseiten stelle. Ich überlege mir, woran mich mein Bruder, meine Schwester erinnert. Was regt mich an ihr oder an ihm so auf?
Was mich wütend macht, das ist ja auch in mir.
Wenn ich den Bruder und die Schwester genau betrachte und mich dabei selbst wiederfinde, kann ich den ersten Schritt auf einem Weg der Versöhnung gehen und mich mit mir selbst aussöhnen. Das ist nicht leicht. Das zeigt uns der Kampf Jakobs mit dem Engel Gottes. Oder ist es vielleicht sogar Gott selbst – die Geschichte lässt das offen. (Gen 32,23−33) Es ist jedenfalls ein Kampf auf Leben und Tod.