Gesegnetes Wasser - Margot Douaihy - E-Book

Gesegnetes Wasser E-Book

Margot Douaihy

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Beschreibung

Kette rauchend durch die Sintflut: Die Punkrock-Nonne ermittelt im stürmischen New Orleans.

Nach der Brandkatastrophe im Kloster kämpft Schwester Holiday darum, auf dem rechten Weg zu bleiben. Fest entschlossen, ihr Gelübde abzulegen, arbeitet sie nebenbei in der Detektei der Ex-Brandinspektorin Magnolia Riveaux. Als die beiden einen untreuen Ehemann überführen wollen, finden sie stattdessen die Leiche eines Priesters im Mississippi. Sintflutartige Regenfälle setzen New Orleans unter Wasser – und ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt …

»Es ist aufregend, mit meiner Lieblings-Punkrock-Nonne nach New Orleans zurückzukehren. Schwester Holiday ist die beste Art von Ermittlerin: Sie hat keine Angst vor den dunkelsten Seiten der menschlichen Natur und sucht dennoch ständig das Beste in anderen.« GILLIAN FLYNN.

»Ein rauschhaftes Vergnügen.« PUBLISHERS WEEKLY.


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Seitenzahl: 326

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Nach der Brandkatastrophe ist im Kloster wieder Ruhe eingekehrt, Ostern steht vor der Tür. Schwester Holiday ist nach wie vor unerschütterlich in ihrem Glauben und arbeitet nebenher als Privatdetektivin in der neu gegründeten Detektei von Magnolia Riveaux. Gemeinsam sind sie drauf und dran, einen untreuen Ehemann zu überführen. Doch stattdessen finden sie die Leiche eines Priesters im Mississippi. Schwester Holiday fühlt sich sofort berufen, den Mörder zu jagen. War es ein persönlicher Racheakt? Ein Angriff auf die Kirche? Der Fall muss schnell gelöst werden, denn ein sintflutartiger Regen setzt New Orleans tagelang unter Wasser und droht, wertvolle Spuren zu verwischen …

Der zweite Band der Serie um Schwester Holiday, tätowiert vom Hals bis zu den Zehen und mit einem Goldzahn, der so scharf ist wie ihre Witze.

Über Margot Douaihy

Margot Douaihy lebt in Northampton, Massachusetts, und unterrichtet kreatives Schreiben am Emerson College. Sie ist die Erfinderin der Ermittler-Figur Schwester Holiday, eine Kette rauchende Nonne aus New Orleans, die Verbrechen in ihrem Umfeld aufklärt. »Verbrannte Gnade« ist der erste Band der Reihe, »Gesegnetes Wasser« der zweite. Zu Margot Douaihys Fans zählen u. a. Don Winslow und Gillian Flynn. Ihre Romane wurden von der New York Times und The Guardian als beste Krimis des Jahres ausgezeichnet.

Eva Kemper studierte in Düsseldorf Literaturübersetzen. Sie übertrug aus dem Englischen u. a. Jarett Kobek, Jessie Cave, Emma Stonex und Heather Fawcett.

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Margot Douaihy

Gesegnetes Wasser

Ein Schwester Holiday-Krimi

Aus dem Amerikanischen von Eva Kemper

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

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Karfreitag

7.00 Uhr

7.17 Uhr

8.00 Uhr

8.48 Uhr

9.11 Uhr

9.46 Uhr

10.50 Uhr

11.28 Uhr

11.40 Uhr

12.03 Uhr

12.40 Uhr

13.05 Uhr

13.33 Uhr

14.00 Uhr

14.33 Uhr

15.15 Uhr

15.46 Uhr

16.28 Uhr

16.58 Uhr

17.36 Uhr

18.02 Uhr

19.10 Uhr

21.01 Uhr

22.28 Uhr

23.11 Uhr

Samstag

6.29 Uhr

7.00 Uhr

9.03 Uhr

11.00 Uhr

12.00 Uhr

13.01 Uhr

14.01 Uhr

14.41 Uhr

15.02 Uhr

16.01 Uhr

17.11 Uhr

18.01 Uhr

18.09 Uhr

18.47 Uhr

20.31 Uhr

22.28 Uhr

23.19 Uhr

Ostersonntag

7.00 Uhr

8.45 Uhr

10.18 Uhr

11.02 Uhr

11.30 Uhr

12.31 Uhr

12.49 Uhr

15.03 Uhr

18.05 Uhr

19.26 Uhr

20.02 Uhr

20.31 Uhr

20.58 Uhr

21.23 Uhr

22.01 Uhr

22.20 Uhr

Danksagung

Impressum

Ob es an Gott liegt, der Wissenschaft oder Zauberei, ganz egal – man kann eine gläserne Rosenkranzperle verschlucken und es überleben. Das weiß ich, weil ich an diesem scheußlichen Wochenende eine verschluckt habe und nicht gestorben oder zusammengeklappt bin.

An Ostern dem Tod ein Schnippchen geschlagen. Klassiker.

Nach meinen Gebeten für Klarheit, für Vergebung, für eine Zigarette, für einen Ausweg aus diesem verdammten Schlamassel spürte ich tief in der feuchten Höhle meines Körpers ein unverkennbares Kitzeln. Ich konnte die Rosenkranzperle im schwappenden Gebräu meiner dunklen Eingeweide sogar hören.

Kontraktionen eines winzigen, verborgenen Herzens. Das immer noch schlug. Es atmete Flüssigkeit, wie wir alle es getan hatten. Ein Körper in einem anderen – passgenau eingeschmiegt bereiten wir uns auf das Leben vor. In der flüssigen Nacht im Mutterleib. Bevor das Leben schön oder schrecklich wird, gibt es keine Unterscheidung. Kein Gut oder Böse. Bis wir ins Licht gedrängt werden.

Stundenlang kämpfte die Perle gegen meine Magensäure an und verströmte ihren Segen, ihren Fluch oder einen unerfüllten Wunsch. Alles Verborgene findet einen Weg hinaus, und sei es noch so sorgsam versiegelt.

Eine Glasperle, himmlisch durchsichtig, zäh wie eine Gewehrkugel. Ein solides Gloria Patri. Ein kaltes Gebet in meinem wärmsten Inneren. Als würde man einen Augenblick verschlingen wollen, um ihn zu behalten. Als würde man die Augen schließen und sagen: Das werde ich nie vergessen.

Also ja, ich habe sie geschluckt.

Zu lächerlich, um wahr zu sein, und trotzdem eine wahre Geschichte.

Sollten Sie jetzt fragen wollen, wie eine erwachsene Frau absichtlich ein Stück Glas verschlucken kann, tun Sie es nicht. Es ist eine dumme Frage. Man macht den Mund auf und runter damit.

Die Frage, die Sie stellen sollten, lautet: Warum? Was hat es mit den Polaroids, der Flut, den Leichen und dem Blutvergießen zu tun?

Das Warum ist entscheidend.

Das Warum zerrt alles an die Oberfläche.

Karfreitag

7.00 Uhr

Schwester Holiday, so will ich genannt werden. Nicht Holiday, nicht Schwester und ganz sicher nicht Holly. Aber ich ließ es durchgehen, wenn Riveaux mich Schwester Goldzahn nannte und dabei auf ihren linken Eckzahn tippte, als würde ich je vergessen, dass ich einen Goldzahn habe. Vielleicht könnte ich es sogar, schließlich haben wir keine Spiegel im Kloster.

Ich war nicht nur Nonne, sondern auch Musiklehrerin an der Saint Sebastian’s, nebenberufliche Privatdetektivin und hauptberufliche Nervensäge für Privatermittlerin Magnolia Riveaux, das Teufelsweib, das die Redemption Detective Agency leitete, mit einem besseren Spürsinn als Sherlock und einer besseren Nase als der edelste Pariser Parfümeur. Wenn der Wind richtig stand, roch Riveaux Regenwolken im Nachbarstaat. Wir hätten leibliche Schwestern sein können, so wie wir uns gegenseitig beschützten und nervten und wertschätzten und enttäuschten. Riveaux war der Kopf, ich war die Bärenfalle. Inklusive Metallzahn. Wenn ich erstmal zugeschnappt hatte, musste man sich schon das Bein abnagen, um mich loszuwerden. Aber wir verstanden einander. Nicht, dass alles eitel Sonnenschein mit Einhörnern gewesen wäre. Eher Hagelstürme mit Kobras.

Riveaux hatte eingewilligt, mich inoffiziell hundert Stunden lang auszubilden, damit ich selbst eine Prüfung als Privatdetektivin ablegen und nach meiner schlechten Vorgeschichte etwas Gutes bewirken konnte. Oder zumindest die Geschichte soweit umschreiben konnte, dass ich mir keine neuen Probleme einbrockte. Als wären Probleme nicht meine wahre Berufung.

Unser Büro lag in einem glutheißen unsanierten Lagerhaus in Carrollton, in der Nähe von Riveauxs Haus. Es war gleichzeitig das Hauptquartier unserer Detektei und ihre Parfümerie. Damit hatte Riveaux ihre beiden Leidenschaften unter einem Dach vereint. Im tropfnass verregneten Frühling war es in den Räumen so drückend, dass sich schon der Gang von einer Ecke in die andere wie Körperverletzung anfühlte. Die Luft war erfüllt von den penetranten Gerüchen all ihrer Mixturen: Jasmin, Pfeffer, Leder und Gewürze, die ich nicht mal für Geld benennen könnte. Von dem Gemisch tränten mir die Augen. Die Decke war hoch, die Außenwand bestand größtenteils aus Fenstern, und die Möbel waren völlig zerschlissen.

Riveaux streckte die Hand über ihren Schreibtisch – verschandelt von einem Dutzend Kaffeeringen und vollgestellt mit Parfumflakons, Bechergläsern und einem überquellenden Aschenbecher –, um mir meine Bescheinigung als Detektivin in Ausbildung zu geben.

»Verlier sie bloß nicht«, sagte sie in ihrem typisch trockenen Tonfall. »Den ganzen Papierkram fülle ich nicht nochmal aus.«

»Ich dachte, für solche Verwaltungssachen hättest du ein Talent«, sagte ich.

»Eher dafür, in Scheiße zu treten.«

»Apropos, was steht heute auf der Scheißeliste?«

Lächelnd schloss sie die Augen, die Wimpern hinter ihren Brillengläsern waren verklebt. »Geh zu Pier 11 und triff dich mit der Klientin. Sie erwartet uns um Punkt acht. Ich hole den Ersatzakku für die Kamera von zu Hause und komme nach.« Sie stellte ein Türmchen aus Münzen für die Straßenbahn auf meine behandschuhte Handfläche.

Angriffslustiger Wind rüttelte an den Fenstern. Ich sah hinaus und entdeckte eine kahle Stelle an einer Palme, wo der Wind die Rinde abgeschält hatte.

Riveaux riss den Klettverschluss ihres Stützkorsetts auf und legte es wieder ordentlich an, dann wickelte sie sich Sporttape um den linken Ellbogen.

»Hoffentlich hilft die Rüstung, dass du nicht auseinanderfällst«, sagte ich.

»Vorsicht, sonst gibt es einen Satz heiße Ohren, auch wenn ich kaputte Knochen habe.«

»Höre ich dann die Engel singen?«

Sie nahm ihren Stock. »Klappe jetzt, sonst bereue ich noch, dass ich dir verziehen habe.«

»Wir haben uns gegenseitig verziehen«, berichtigte ich.

»Mehr, als ich über die meisten Freunde sagen kann.«

»Oder die meisten Nonnen.«

Riveaux hatte sich im Dienst mehr Bandscheiben ruiniert, als ich in der menschlichen Wirbelsäule auch nur vermutet hätte. Jetzt ging sie am Stock, nahm aber keine Pillen mehr. Nicht mal Ibuprofen. Extrem, sicher, aber wenn man etwas macht, dann richtig. Ihre letzte Sünde waren Zigaretten. Meine auch. Zumindest sagte ich mir das. Riveaux wirkte erholt. Jünger. Ihre Scheidung von diesem Drecksack Rockwell war angeleiert. Sie hatte einen klaren Schlussstrich gezogen, jetzt war sie Feuer und Flamme für ein neues Kapitel. Ein doppeltes Comeback. Wir hatten beide einen Neuanfang verdient. Die nackten Glühbirnen des Büros schimmerten sogar in einem göttlichen Gelb, wie die nickenden Köpfe der Goldrute.

Wir hatten unseren ersten offiziellen Fall als Privatdetektivinnen.

Wir würden uns kopfüber in ruhmreiche Taten stürzen. Die Zehen schon über den Beckenrand geschoben, waren wir bereit, ins kalte Wasser zu springen. Feuer verbrannte uns nicht. Schmerzmittel brachten uns nicht um. Heilung war ein Wunder, aber sie tat auch höllisch weh.

7.17 Uhr

Riveaux schnauzte mich von ihrem Drehstuhl aus an: »Reiß dich zusammen und halt dich an den verdammten Plan!«

Die Übergabe meiner Bescheinigung – nur der Donner spendete Applaus – kennzeichnete den offiziellen Beginn meiner Detektivinnenausbildung. Ich war nicht sicher, was ich zuerst erreichen würde, mein Ewiges Gelübde bei der Diözese, einhundert Stunden Schnüffelei oder das Ende meiner Kräfte.

Ich machte mich auf den Weg, um mich mit unserer Klientin Mrs Jasmine Norwood am Pier 11 des Mississippi River zu treffen. Ich fuhr mit der Straßenbahn zur südlichen Endstation und flitzte durch den Regen zum Ufer.

Wir hatten uns vergeben, aber so richtig vertraute Riveaux mir nicht. Was auf Gegenseitigkeit beruhte. Wir hatten beide hehre Ziele verfolgt, aber es blieb die Tatsache, dass wir einander hintergangen hatten. Vertrauen muss man sich verdienen, ich hatte keines mehr zu verschenken.

Auch mein Gottvertrauen empfand ich anders, seit ich Jack, Schwester T, Voodoo und Schwester Augustine verloren hatte. Aber meine Mutter und der Heilige Geist, ätherische Engel, hauchten mir weise Worte in die Ohren und führten mich zurück auf den rechten Pfad. Mein Glaube machte Schulden, obwohl ich längst bezahlt hatte. Und weiter zahlen würde. Mit Zinsen.

Und niemandem war ich mehr schuldig als meinem Bruder Moose.

Würde mein kleiner Bruder immer wie ein Sohn sein, den ich verloren hatte? Ein verletztes, ängstliches Kind, das ich in einen Wildwasserfluss gestoßen hatte? Spielten alle Geschwister Tauziehen zwischen Trauer und Freude, Wut und Hingabe, oder war es nur bei uns so, den queeren Walsh-Kindern?

Ich wusste nur eines: Auch der Untergang kann köstlich sein. Niemand ist rundum heilig oder sündig. Wunder gibt es überall. In schwarzem Kaffee. In Schutt. In Bruchstücken, die gut genug zusammenpassen, um das Licht einzufangen.

Regen strömte auf mich herab, als ich zum Pier ging, um mich mit Jasmine Norwood zu treffen. Der Rhythmus, in dem er immer wieder kurz aussetzte und dann neu anfing, war reine Folter. Obwohl ich meinen Regenschirm fest umklammert hielt, wurde ich tropfnass. Durchgeweicht bis auf die Socken. Die Feuchtigkeit brannte in meinen Augen. Warum hatte es mich überrascht, als der Deich gebrochen war?

Endlich entdeckte ich im Regenschleier ein grünes Schild mit dem Aufdruck Pier 11.

Genau pünktlich zu unserem Termin mit unserer ersten Klientin.

Ein Teil von Gottes Plan. Wie das Unwetter an jenem heiligen Wochenende. Prüfung um Prüfung, um mich zu taufen und zu sehen, ob ich schwimmen konnte. Weil Wasser läutert und verwüstet. Weil Wasser das Leben erhalten, aber auch blitzschnell beenden kann.

Der Regen knallte auf das Schild, bedrängte es, doch die Worte blieben stehen.

8.00 Uhr

Mrs Norwood hatte der Detektei am Tag zuvor in einer Mail geschrieben: »Ich will, dass Sie alle schmutzigen Geheimnisse von Mr Clay Norwood herausfinden, meinem jämmerlichen Ehemann!«

Wir waren begeistert, als ihre Nachricht auf Riveauxs schickem Computer auftauchte. Unsere baldige Klientin brauchte handfeste Beweise, dass ihr Mann das Ehegelübde gebrochen hatte – eine Geschichte, die so vertraut und vorhersehbar war wie der Aufprall bei einer Arschbombe. Man sollte gar nicht meinen, dass Wasser so wehtun kann, aber das hängt immer vom Winkel ab, von der Art, wie man in eine neue Welt eintaucht. Wie die Ehe. Sie funktioniert nur, wenn man dieselben Illusionen teilt, wenn man die Regeln des Spiels kennt, das man gerade beginnt.

Die Ansichten einer lesbischen Nonne – machen Sie was draus. Oder lassen Sie es und leiden.

Riveaux und ich mussten herausfinden, wie der Tagesablauf der Norwoods aussah und welche Fahrten der Mann unternahm. Wir brauchten Beweise – Belege für Motelbuchungen, die GPS-Daten von Mr Norwoods Auto oder eine Ortung per Tracker, Quittungen für Geschenke an seine Geliebte. Wir würden ihm folgen und diesen Drecksack mit Riveauxs Millionenmegapixelkamera auf frischer Tat ertappen.

In ihrer Mail hatte Mrs Norwood erklärt, sie wolle uns persönlich treffen, bevor wir anfingen. »Offline«, wie meine Schüler gesagt hätten.

Aber ich wartete am Pier 11, und wer nicht kam, war Mrs Jasmine Norwood.

Riveaux brauchte ewig, um den Akku zu holen. Zwanzig Minuten lang betete ich die schmerzhaften Rosenkranzgeheimnisse und verfluchte Wind und Regen, gegen deren verheerende Macht mein Regenschirm nichts ausrichten konnte. Meine Handschuhe, mein Halstuch und meine Hose waren klatschnass, meine praktischen Nonnenschuhe völlig durchweicht.

So viel von meinem Leben in New Orleans schien vorherbestimmt zu sein, sogar die Ereignisse dieser drei höllischen Tage – die damit begannen, dass Riveaux mir meine Ausbildungsbescheinigung sanft in die Hand legte.

Ich rümpfte die Nase über die vor Anker liegende Creole Queen, ein Ungetüm von einem Schiff, das Jazzfahrten anbot und die Touristen mit seiner verzagten, geschönten Version von New Orleans lockte. Als ich seine dämliche Fassade betrachtete, fiel mir etwas auf.

Im Wasser trieb eine Tasche. Nein, ein Tier. Nein. Was gegen das rote Heckrad des Flussschiffs dümpelte, war eine Leiche.

Der Regen fiel wie gläserne Hämmer. Ich rannte über den Pier und schrie nach Hilfe, obwohl ich nichts und niemanden sehen konnte.

Ich sprang ins verwirbelte Wasser. Versuchte, die unförmige Gestalt ans Ufer zu bringen, aber es war unmöglich, als wollte ich mein zehnfaches Gewicht ziehen. Der Kopf war aufgedunsen. Eine Halbglatze umgeben von langen, feinen Haaren. Die toten Hände hinter dem Rücken gefesselt, an den Gelenken, Handfläche an Handfläche, in verdrehter Gebetshaltung.

Wieder rief ich nach Hilfe, hielt mich mühsam an der Oberfläche und verschluckte mich am Regen und dem dreckigen Flusswasser.

»Warum zum Teufel schwimmst du?«, rief Riveaux mir vom Steg aus zu, die Augen mit beiden Händen abgeschirmt.

»Ruf die Polizei!« Ich musste den Kopf in den Nacken legen, um zu schreien. »Hier ist eine verdammte Leiche im Wasser!«

»Bring sie ans Ufer! Zieh sie her!« Wie Riveaux da stand, mit ihrem schlaffen roten Regenhut und dem erstaunlich niedlichen übergroßen Regenmantel, wie sie aus Leibeskräften brüllte und ihren Stock auf den Boden stampfte, sah sie aus wie der stinksaure Bär Paddington. Habe ich an diesem Freitagmorgen wirklich nur Wut bei Riveaux erkannt? Wut kann wunderbar Enttäuschung überspielen. Traurigkeit. Auch unaussprechliche, vielleicht sogar unbegreifliche Gefühle.

Ich hielt mich am roten Heckrad fest und zog mich ein wenig hoch, halb draußen, halb im schlammigen Wasser, mit einer Hand hielt ich die Leiche fest, damit der Mississippi sie nicht mitriss.

Der aufgedunsene Kopf war marmoriert wie halbverwestes Fleisch. Das Gesicht war ins Wasser getaucht. Bei dem Versuch, mich mit dieser massigen Leiche über Wasser zu halten, versagte ich immer wieder.

Versagen, das passte zu mir. Wenigstens blieb Gott seiner Linie treu.

Minuten später hob ein Polizist die Leiche weit genug aus dem Wasser, dass die Sanitäter sie greifen und ganz herausziehen konnten. Atemlos hustete ich Wasser. Ich brauchte eine Zigarette.

Ich streckte einem bulligen Sanitäter die Hand entgegen und wurde auf die Betonkante des Kais gezogen. Stark und schwach zugleich stand ich nach meiner Entdeckung unter Strom, aber ich konnte es nicht ausstehen, dass ich Hilfe brauchte, dass ich überhaupt Menschen brauchte. Die Kraft des Sanitäters war unerschrocken, selbstsicher, die leibhaftige Überzeugung. So präsent in seinem Körper zu leben, statt im Hamsterrad des Verstandes eingesperrt zu sein. Fühlte sich mein Bruder Moose auch so, wenn er die Soldaten im Einsatz zusammenflickte? Von mir hatte er seinen Mut jedenfalls nicht gelernt.

Der trommelnde Regen ließ Einzelheiten verschwimmen, verwischte Konturen, ich konnte nicht einmal meine eigenen Tattoos erkennen. Sie wirkten wie hässliches Geschmiere. Auf eine makaber faszinierende Art hielt das Wasser mich gepackt.

Die Leiche aus dem Fluss war genau wie ich ganz in Schwarz gekleidet. Ich beugte mich näher und sah, dass beide Augen herausgerissen waren. Die Augenbrauen fehlten. In die aufgeschwemmten Wangen waren große Kreuze gebrannt.

Jemand hatte versucht, das Gesicht des Toten auszulöschen.

Doch trotz der brutalen Verletzungen erkannte ich den Mann. Ich kannte sein gesichtsloses Gesicht.

Er war Pater Reese.

8.48 Uhr

Ich bekreuzigte mich und ließ mich auf die nassen Knie fallen.

»Pater Reese.«

»Kennst du den Kerl?« Ein Windstoß riss Riveaux den Hut vom Kopf. Sie sprang hinterher, bekam ihn nicht zu fassen, und der Hut verschwand in der schneidenden Luft.

»Mein Priester«, sagte ich. »Pater Reese war vierzig Jahre lang an der Saint Sebastian’s.«

Seine Haut sah aus, als wäre sie gekocht worden. Meine eigene fühlte sich ohne Handschuhe und Halstuch an wie geschmort.

Ich zog meine völlig aufgeweichte, breiige Ausbildungsbescheinigung aus der Tasche. Ein Wunder, dass sie eine ganze Stunde überlebt hatte.

Polizisten trafen ein, riegelten den Bereich ab und spannten Flatterband. Das gelbe Plastik knatterte im unnachlässigen Wind.

Riveaux und ich sahen jämmerlich aus. Wie ersäufte Ratten. Die Polizisten und Sanitäter bewegten sich mit raschen, geschmeidigen Schritten. Als wollte er uns verschlingen, strömte der Regen auf uns herab. Höhere Gewalt und alles, was wir nicht kontrollieren können, macht uns gleich.

Der augenlose Pater Reese. Kaum noch ein Mensch, eher ein Relikt, das aus einer vergessenen Grube gefischt wurde. Trotzdem war ich sicher, dass er es war.

Herr, erhöre mein Gebet. Gibst du mir vielleicht mal die Kurzfassung von deinem göttlichen Plan? Verdammter Scheiß.

Am schmutzigen Ufer des schmutzigen Flusses dieser juwelenfarbenen Stadt, die ich liebte, schöpfte ich wieder Atem. Es regnete so heftig, dass eine Palme sich das Genick brach. Wie die Erinnerung an den besten Sex, den man je hatte, lockt New Orleans ebenso, wie es erlöst. Es ist der Schweiß, den man nie los wird. Ein Sirenengesang. Was verzaubert, wickelt einen auch ein, und dann ist man am Arsch.

Ich hustete immer noch Wasser aus, mein ganzer Körper war schwer, wie ein Sandsack kniete ich am dreckigen Ufer. Es war Karfreitag, und Pater Reese war verschnürt wie ein Osterschinken; da soll noch einer sagen, Gott hätte keinen schrägen Sinn für Humor.

Man muss nicht an Gott oder eine höhere Macht glauben. Die Leiter von Megakirchen sind irre, die »religiöse Rechte« ist weder religiös, noch hat sie recht, und die meisten Radioprediger haben so viel Substanz wie der Glaube, man könnte fliegen, wenn man Klebstoff schnüffelt. Aber Pater Reese aus dem Fluss zu ziehen, das können Sie mir glauben, war eine Art Geburt. Ein neuer Grund, morgens aufzuwachen, eine neue Tür zur Erlösung.

Mit solchen Sachen kannte ich mich aus. Mit vierunddreißig war ich die jüngste Dienerin der Schwestern vom Erhabenen Blut, mit vierzig Jahren Abstand, aber wir waren auch nur noch zu zweit. Noch sechs Monate bis zur Feier meines Ewigen Gelübdes. Ich hatte mich in meiner Routine, in meinem schlichten Zimmer unseres bescheidenen Klosters in New Orleans eingelebt. Kein Auto, kein Handy, kein Fernseher, kein Schnickschnack. Kein eigenes Geld. Wer etwas von mir wollte, musste einen Brief schreiben oder sich persönlich blicken lassen. Die Menschen, die misstrauisch wurden oder Mitleid hatten, verstanden es nicht. Mein jetziges Leben war voller Sinn und Güte, viel mehr als die meisten modernen Existenzen mit ihrem hirnlosen Blödsinn und ihrer Heuchelei. Es galten klare Regeln, und ich hielt mich an sie.

Meistens.

Wieder betrachtete ich Pater Reese’ Leiche. Jemand hatte seinem Leben ein Ende gesetzt, seinen Leib dem hungrigen Wasser überlassen. Seinen Geist hat das Göttliche genommen, es hat seine Seele auf eine andere Ebene gehievt. Auf seinem verstümmelten Gesicht war noch ein Ausdruck zu erkennen, eine Sehnsucht. Selbst im Tod, wenn man längst fort ist, drängt das eigene Ich zurück, es drängt nach Hause.

9.11 Uhr

Sirenen gellten. Derb und abgerissen. Wie der Pulsschlag des Teufels. Die Spurensicherung arbeitete im strömenden Regen mit stiller Konzentration. Nach Hunderten Einsätzen gehen solche Abläufe in Fleisch und Blut über.

In dem neu aufgebauten Sanitätszelt entdeckte ich ein bekanntes Gesicht.

»Sie?« Es war Mickey, der Sanitäter mit dem brunnentiefen Grübchen am Kinn. »Ach du Scheiße, Schwester Holiday. Wie oft muss ich Sie denn noch sehen?«

»Sooft ich die Retterin spielen muss.« Ich schlug ein Kreuz.

»Bei dem Typen ist nicht mehr viel zu retten«, sagte Riveaux auf ihren Stock gestützt.

Unter ihrem weiten Regenmantel drückte Riveaux etwas an sich, wahrscheinlich ihre Kamera. Mickey legte mir ein Handtuch um die Schultern und half mir auf einen Klappstuhl aus Netzstoff, den er gerade aufgestellt hatte.

Pater Reese war ein Kleingeist gewesen, der häufig zu Tagungen und Vorlesungen gefahren war und uns sonntags, wenn er doch mal in der Stadt war, mit halbherzigen Predigten zu Tränen gelangweilt hatte.

Unser zweiter Priester sprang für ihn ein. Pater Nathan war vor drei Monaten aus Ascension Parish zu uns gekommen – ein beherzter junger Priester, frisch aus dem Seminar. Reese hatte ihn einarbeiten sollen, dabei war Nathan derjenige mit einer tieferen, bedeutsameren Beziehung zu Gott. Das merkte ich daran, wie er predigte und betete. An der Stille, die er zuließ. Pater Nathan war etwas Besonderes. Er nahm Anteil. Er stand einem zur Seite, so wie Schwester T. Wir waren in einer schweren Lage Freunde geworden. Verbündete, weil uns etwas einte, was man nicht vortäuschen kann: wahrer Glaube.

Und ja, Reese kannte nicht einmal meinen Vornamen, aber ein so brutales Ende hatte er nicht verdient.

Ich würde herausfinden, was passiert war, wie beim letzten Mal.

Krähen huschten über das Ufer hinweg wie schwarze Flammen. Detective Reginald Grogan stolzierte als klassischer Südstaaten-Ahab ins Blickfeld: überheblich, groß und angespannt wie eine Faust, die nur darauf wartete, jemandem die Nase zu brechen. Höchstwahrscheinlich mir. Seine fixen Ideen hatten Altersspuren in sein Gesicht gegraben.

Sergeant Ruby Decker folgte mit einem Schritt Abstand, sie bewegten sich perfekt synchron. Zwei Gliedmaßen derselben Behörde.

»Schwester Holiday«, sagte Sergeant Decker ohne jeden Versuch, ihre Missbilligung zu verbergen, »Sie haben ein Talent dafür, zur falschen Zeit am falschen Ort aufzutauchen.« Der Regen prasselte heftig auf das Zelt.

»Gott hat mir viele Talente geschenkt«, sagte ich. Das Handtuch fühlte sich weich und warm auf meinem Körper an, aber ich spürte, wie meine Augen sich mit jedem Husten weiter röteten.

Grogan brachte seine Lippen dicht vor mein Gesicht und öffnete leicht den Mund, ohne etwas zu sagen. Sein Atem roch nach zwei Wochen altem Tabaksaft und Kaffee, der erst im Hals kratzt und einen dann zur Toilette sprinten lässt.

Er richtete sich auf und musterte Riveaux von oben bis unten. »Warum sind Sie hier, Junkie?«

Riveaux ging nicht darauf ein, aber ich bemerkte ihr leichtes Zucken. »Eine Klientin hat uns angeheuert, Mrs Jasmine Norwood.«

»Den billigen Abklatsch einer Nonne und eine Drogensüchtige?« Grogan lachte. »Wofür? Um in einem lesbischen Gebetskreis Pillen einzuwerfen?«

Ich ging dazwischen, auch wenn der Regen meine Stimme dämpfte. »Wir arbeiten an einem Fall.«

Riveaux nickte. »Redemption Detective Agency, Registernummer 6– «

»666?« Grogan war nicht witzig, benahm sich aber, als hätte er die Comedy erfunden. Hielten sich alle Polizisten für Götter? Oder nur die, die ich kannte?

»Liegt Ihr Boot nicht hier in der Nähe im Yachthafen?«, fragte Riveaux Decker. »Das, auf dem Rock und ich mit Ihnen und Sue den letzten vierten Juli gefeiert haben?«

Was bezweckte Riveaux damit? Wollte sie ihre Fähigkeiten als Ermittlerin und ihr Gedächtnis beweisen? Oder Decker daran erinnern, dass sie früher Kolleginnen waren? Kumpel?

»Ja, stimmt«, sagte Decker mit zusammengebissenen Zähnen.

Grogan senkte den Blick auf Pater Reese’ Leiche. »Mal Spaß beiseite, Maggie, Glückwunsch zu der Detektivgeschichte. Aber jetzt müssen Sie sich verziehen. Weg hier.« Er scheuchte uns mit seinen großen Händen beiseite.

Grogan war ein harter Hund. Wer weiß, was der Mann schon alles gesehen, welchen Schmerz er in sich aufgenommen hatte. Wie viele Fälle ungelöst geblieben waren. Die Schnüffelei lag ihm im Blut, genau wie mir. Grogans alter Herr Albert Grogan war der Polizeichef von New Orleans und ist schon lange tot. Mein Vater Frank Walsh, der noch lebte, für mich aber gestorben war, arbeitete als Polizeichef von New York. Polizeiarbeit war beängstigend, keine Frage. Aber das gab ihnen nicht das Recht, Menschen ungestraft zu bedrängen, zu töten, zu schikanieren. Ich beobachtete, wie Grogan die Kontrolle an sich riss.

»Der hat ja eine Laune«, sagte ich.

»Ich habe gehört, dass Grogan und seine Frau wieder Probleme haben«, erzählte Riveaux. »Das kann ich nachempfinden.«

Riveaux und ich bauten gerade wieder Vertrauen zueinander auf, aber Decker und Grogan waren eindeutig längst nicht so weit, sich wieder mit ihr zu vertragen. Mein Dad meinte mal, wenn man die Polizei verlässt, ist man raus. Für immer.

Ich wollte Riveaux keinen zusätzlichen Ärger einbrocken, aber ich konnte mich nicht zurückhalten und fragte die Mordermittler: »Können Sie Ihre Arbeit nur machen, wenn niemand zusieht? Haben Sie Lampenfieber?«

Decker war aufgebracht. »Was haben Sie – «

»Was Schwester Holiday sagen wollte«, unterbrach Riveaux und straffte die Schultern, »ist, dass wir einen untreuen Ehemann beschatten sollen, damit unsere Klientin bessere Konditionen bei ihrer Scheidung erwirken kann. Sie wollte uns heute Morgen hier persönlich unseren Vorschuss geben.« Riveaux war ernst geworden. Sie hielt ihren Detektivausweis hoch. Ihre Brillengläser waren beschlagen. »Wir haben nichts zu verbergen.«

Grogan schnaubte, der Regen wurde heftiger. »Ich sehe hier keine Klientin, Sie etwa?« Er spuckte braunen Tabaksaft in den nassen Wind.

»Sie hat der Detektei gestern eine Mail geschickt.«

Mit einem Räuspern zog ich mein Handtuch um mich. Decker starrte auf meine tätowierten Finger und den Schmutz unter meinen Nägeln.

»Wenigstens habe ich Pater Reese gefunden, bevor er weggetrieben wurde«, sagte ich.

»Früher oder später hätten wir ihn auch gefunden«, sagte Grogan.

»Sie sind neidisch, dass ich wieder im entscheidenden Moment da war.«

Wie sich Grogans Gesicht veränderte, wie sich seine Lippen zusammenzogen, zeigte deutlich, dass ich einen Nerv getroffen hatte. Genau wie ich es gewollt hatte. Er konnte es nicht ausstehen, dass ich seine wunden Punkte fand.

»Wann haben Sie ihn im Wasser entdeckt?« Er konzentrierte sich wieder.

»Um zwanzig nach acht, da drüben.« Ich zeigte auf das rote Heckrad der schwimmenden Touristenfalle.

Die Mordermittler ließen mich tropfnass sitzen und überlegten laut, während die Leute von der Spurensicherung in weißer Schutzkleidung, mit Handschuhen und Kapuzen, Fotos machten und Hinweise in Tüten packten. Eine weiße Frau ging tief in die Hocke, strich sanft das regennasse Gras zur Seite und legte etwas frei, das ich von meinem Sitzplatz aus nicht sehen konnte. Ein Stückchen weiter suchte ein anderer Experte den Boden mit einer Pinzette ab.

»Was, wenn Mrs Jasmine Norwood eine Finte war?« Riveaux schob ihre Brille auf der Nase nach oben.

Ich lachte über die Finte. Keine Ahnung, warum. Es war, als würde man sich auf die Lippe beißen, während man einparkt oder versucht, sich an einen Namen zu erinnern. Es gab keinen Grund. Ich weiß nicht, ob mein Glaube aussetzte oder wieder zum Leben erwachte, aber es fühlte sich an, als würde tief in meinem Herzmuskel ein Motor aufdrehen.

Diese Energie bei einem neuen Fall war etwas Heiliges. Sie lenkte meinen ganzen manischen Eifer auf einen Punkt. Ein Ziel. Wir würden diesen Fall zusammen knacken, Riveaux und ich.

Der Regen trommelte absurd heftig aufs Zelt. Pater Reese war eine abgestreifte Hülle, eine traurige Erinnerung an menschliche Grausamkeit. Das größte Rätsel Gottes.

Vielleicht hatte uns jemand eine Falle gestellt. Für jeden vernünftigen Menschen wäre es das Signal gewesen, die Beine in die Hand zu nehmen, die Detektei in die Tonne zu hauen, bevor sie richtig Form angenommen hatte, und uns all die Qualen zu ersparen, die der Fund der Leiche über uns bringen würde.

Aber der schnellste Fluchtweg führt genau durch die Mitte. Es ist auch der gefährlichste Weg. Wie Moses’ Gang durch das geteilte Rote Meer.

9.46 Uhr

Riveaux fuhr mich zurück zur Saint Sebastian’s – meiner Schule, meinem neuen Zuhause –, bevor es zur zweiten Stunde schellte. Es war ein Wunder, dass mein Unterricht freitags erst um zehn begann, und weil es Karfreitag war, wurde er auch früher beendet.

Ich musste mit Pater Nathan sprechen und herausfinden, was er wusste.

Die beiden Priester hatten sich das Pfarrhaus der Saint Sebastian’s geteilt. Wie WG-Mitbewohner. Oder Gefangene. Oder ein Liebespaar. Wenn man eine Unterkunft teilt, entstehen Bündnisse und Rivalitäten. Schwer zu unterscheiden. Nathan war nicht wie die anderen als männlich gelesenen Geistlichen, die ich in New York oder New Orleans kennengelernt hatte. Er fiel nicht auf die vorgespielte Ehrfurcht von Kirchgängern herein. Er ließ sich nicht von den wohlhabenden Leuten täuschen, die sich mit ihren Kirchenspenden einen schnellen Einlass durch die Himmelspforte erkaufen wollten. Heuchler.

Durch ein rasches Rosenkranzgebet fand ich wieder zu mir. Im Kloster duschte ich eine Minute eiskalt, trocknete mir mit einem Handtuch die Haare und zog saubere schwarze Ordenskleidung an. Während ich meine Bluse zuknöpfte, las ich die Tattoos, die von meinem Kiefer bis zu den Zehen reichten. Eine biblische Plage aus Tinte. Wörter, Gesichter, Namen und Bilder, die mit meinem Nervensystem verschmolzen waren, Farben, die sich von Tag zu Tag veränderten. Linien, die Nina früher berührt und geküsst hatte. Jetzt wurden meine Tattoos von den schwarzen Handschuhen und dem Halstuch verdeckt, die ich immer noch jeden Tag trug, obwohl Schwester Honor es nicht verlangte. Alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen. Dem würde jede Nonne zustimmen. Ich hatte es mir selbst zur Regel gemacht. Es war meine Uniform als schnüffelnde Nonne.

Niemand konnte mich entziffern, und genau so gefiel es mir. Für Fremde sah ich wohl aus wie ein unbeschriebenes Blatt.

Bevor ich mich eilig auf den Weg machte, kippte ich in der Klosterküche eine Tasse grässlichen Kaffee herunter. Die Brühe war so bitter, dass sie mir die Kehle verätzte. Wie ihre Bitte um Vergebung nach unserem letzten Zank hatte Schwester Honor – frömmelnder Superfan Gottes, neben mir die letzte verbliebene Schwester des Ordens – auch das Kaffeekochen vermurkst. Ihr Stolz kam ihr in die Quere. Schwester Honor konnte oder wollte nicht um Hilfe bitten, und nachher spielte sie das Opfer. Ihre Lieblingsrolle.

Keine große Überraschung.

In meinem Musikraum atmete ich erst einmal durch, während die Glocke läutete und der Regen draußen noch stärker wurde. Die Sintflut dröhnte in meinen Ohren. Sie waren verstopft von Schmutz aus dem Fluss, Duschwasser und wer weiß was noch. Ich legte den Kopf schief, hüpfte auf und ab und ließ meine Ohren weinen.

Ryan Brown (der Nörgler), Fleur, Aisha und Rebecca meldeten sich mit »anwesend«, als ich die Liste durchging, hoben aber nicht den Blick. Ich rief immer noch »Prince Dempsey« auf, obwohl ich wusste, dass ich keine nervige Antwort bekommen würde. Der kleine Klugscheißer hatte so oft die Schule geschwänzt, dass er seinen Abschluss nur noch durch einen heiligen Erlass bekommen könnte. Keine Ahnung, ob den anderen auffiel, dass Prince so oft fehlte. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt ihren Handflächen, die mit ihren Handys verwachsen waren. Wo Jesu Stigmata sein Opfer belegten. Ich hätte stocksteif im Traktorstrahl eines Raumschiffs schweben können, meine Schüler hätten es nicht bemerkt. Das Hier und Jetzt hatte keine Bedeutung. Niemand war mehr irgendwo.

Der Kurs Gitarrenensemble für Fortgeschrittene war für die Gruppe eine Vertrauensübung. Wir lernten und probierten und scheiterten gemeinsam. Aber im Grunde war ich allein.

»Morgen.« Mehr brachte ich als Begrüßung nicht zustande.

Die einzige Antwort war ein lautes Rülpsen von Ryan Brown.

»Handys weg«, sagte ich, »wir wollen anfangen.«

Ein Grummeln und Stöhnen ging durch den Raum. Wenigstens hier waren sie unisono.

Herr, vergib mir meine niedrige Toleranzschwelle für Deppen, für Teenager aus reichem Haus mit Anspruchsdenken.

Nach dem Synchronschwimmen mit Pater Reese’ Leiche im Fluss widerstrebte es mir, Unterricht abhalten zu müssen. Ich wollte losziehen und kämpfen. Es gab Spuren zu finden. Einen Mörder zu entlarven. Ich musste mit Pater Nathan reden. Mir noch einmal den Fundort der Leiche ansehen. Ich war immer noch nicht sicher, ob ich Riveaux vertrauen konnte, und ganz sicher, dass ich der Polizei nicht vertrauen konnte. Eine weitere Leiche in meinem Blickfeld. Eine weitere verlorene Seele an diesem Freitag mit biblischen Regenfällen. Keine Mrs Jasmine Norwood. War sie eine Ablenkung, eine Täterin oder ein zweites Opfer?

Die ganze Zeit stürmte es, scheußlich und unablässig, wie schnappende Fangzähne.

Meine Million Stunden Schnüfflerausbildung hatten begonnen, und ich musste losschnüffeln. Ein paar Tricks hatte ich mir schon von Riveaux abgeschaut – sie trat immer zurück, um das Gesamtbild zu sehen.

Anweisungen anderer hatte ich noch nie gut folgen können. Als ich siebeneinhalb war und Moose fast sechs, hatte ein blasser Student versucht, uns im YMCA das Schwimmen beizubringen. Moose war es langsam angegangen. Ein Zug nach dem anderen. Ich war am tiefen Ende ins Becken gesprungen und hatte um ein Wunder gebetet.

Jahrzehnte später stürzte ich mich immer noch kopfüber ins Unbekannte.

»Wie nett, dass Sie sich auch blicken lassen, Schwester Holiday.« Ich musste mich nicht erst zur Tür umdrehen. Der überlegene Tonfall und das knallende t in Schwester verrieten mir, dass es das Wissenschaftsgenie Rosemary Flynn war. Seit es im letzten Halbjahr im Ostflügel gebrannt hatte, teilten wir uns den Klassenraum. An diesem Morgen lag ihre Anspannung wie ein Kribbeln in der Luft. Vielleicht pochte im Porzellangefängnis ihres eleganten Körpers doch ein echtes Herz. Ich konnte es nicht sagen. Als ich mich dann doch umdrehte, bemerkte ich, dass Rosemary Flynn wie immer verdammt hübsch aussah. Rotblonde Haare in einem strengen Dutt. Rubinroter Lippenstift. Ein lebhaftes – verschmitztes? – Aufblitzen in ihren grauen Augen. Sie stand gerade, der ganze Körper so stark und aufrecht wie die brutale Strenge im großen Zeh einer Ballerina. Spöttisch lächelte sie mich an. Zwischen uns war entweder Hass oder Begierde. Vielleicht beides. Jedenfalls kein Desinteresse. »Sie haben die Morgenbesprechung verpasst«, sagte Rosemary und trommelte mit den roten Fingernägeln auf ihre symmetrisch verschränkten Arme.

»Ich würde ja gern plaudern, aber …« Ich zeigte auf meine Schüler, die sich gegenseitig Plektren an den Kopf warfen. Natürlich musste ich mit Rosemary, Pater Nathan und allen anderen über Pater Reese’ Tod sprechen, auch mit den Schülerinnen und Schülern. Jeweils unter vier Augen. Aber das musste bis nach dem Unterricht warten. Unsere Schüler hatten schon so viel durchgemacht. Man konnte über sie schimpfen und sich beschweren, klar, aber sie waren immer noch meine Schützlinge. Und wenn sie etwas verbargen, war es meine Aufgabe, das herauszufinden. Die Polizei fand nicht einmal eine Nadel in einem verdammten Nadelhaufen.

Rosemary winkte mich mit ihrer aufs Peinlichste manikürten Hand näher, und ich entfernte mich von den Schülern. Sie zog die Augenbrauen hoch und fragte mit gesenkter Stimme: »War Pater Nathan bei Ihnen? Wir können ihn nicht finden.«

»Was?«, flüsterte ich. Mir drehte sich der Magen um.

Sie seufzte. »Seine Geschichtsklasse wartet auf ihn, und Schwester Honor sucht schon den ganzen Morgen nach ihm. Ich dachte, weil Sie beide verschwunden waren und sich gut verstehen, waren Sie vielleicht zusammen.«

Ich trat auf den Flur und bedeutete Rosemary, mir zu folgen.

»Pater Reese ist tot«, sagte ich. Donner ließ das Dach erbeben. Die altersschwachen Lichter im Flur flackerten.

»O nein.« Sie blinzelte ehrlich erschrocken. »Ist er im Schlaf verschieden?«

Ich war ihrem Gesicht so nah, dass ich ihr Rosenparfum riechen konnte. Es war ein ganz samtiger Duft, der mich fast zum Weinen brachte. »Ich habe ihn heute Morgen im Fluss gefunden. Ermordet. Gefesselt und aufgeschlitzt.«

Rosemary schnappte nach Luft, schlug eine Hand vor den Mund und hielt sie dort, als könnten ihr sonst die Lippen aus dem Gesicht springen. »Nein.«

Ich trat vom linken auf den rechten Fuß und versuchte, sie nicht anzustarren, aber die Spannung des Augenblicks und die Möglichkeit, dass sie die Nerven verlieren könnte, hielten meinen Blick gebannt.

»Wo zum Teufel ist Nathan?« Mein Herz setzte einen Schlag aus. Es sah Pater Nathan nicht ähnlich, einfach zu verschwinden. Und das an dem Morgen, an dem ich den toten Reese gefunden hatte.

Rosemary zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe beide zuletzt gestern gesehen. Bernard hat im Pfarrhaus nachgesehen und gesagt, dass er niemanden gefunden hat.«

Bernard Pham, mein Kumpel, Hausmeister der Saint Sebastian’s, brachte alles in Ordnung, was die Leute vermurksten. Auch Gottes Chaos. Außerdem machte er experimentelle Noise-Musik, was manche nicht verstanden, aber ich mochte ihn dadurch noch mehr. Er war ein solider Typ. Hätte Bernard gesagt, dass der Himmel auf uns herabstürzt, was er im Grunde gerade tat, hätte ich ihm geglaubt.

Pater Nathan hatte kein Handy, also konnten wir ihn nicht anrufen oder orten.

»Ist Ihnen in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«, fragte ich Rosemary. »War irgendetwas anders als sonst?«

Sie sagte: »Aus meinem Labor sind Gummihandschuhe verschwunden. Das ist mir bei der wöchentlichen Inventur aufgefallen. Auch Testzubehör. Ich dachte, das sollte ich Ihnen sagen.«

»Sie machen jede Woche Inventur?« Ich war ein wenig beeindruckt.

Ich bekreuzigte mich und überdachte die Informationen.

Pater Harold Reese war tot. Der alte Priester, den ich seit fast zwei Jahren gekannt hatte.

Pater Nathan Troy wurde vermisst. Der junge Priester, den ich seit drei Monaten bewunderte.

Ich hoffte, dass Nathan sich nur verspätete. Oder sich irgendwo verlaufen hatte. Er durfte nur nicht im Fluss treiben, Gott bewahre. Oder etwas mit dem Mord zu tun haben. Möglich war alles; selbst gute Menschen sind zu barbarischen Taten imstande. Bei dem Gedanken wurde mir übel.

Ich streckte den Kopf in unser Klassenzimmer und sah Bleistifte aus den Hartschaumdeckenplatten ragen wie verirrte Raketen, die sich in einen unschuldigen Mond gebohrt hatten.

Auf dem Flur sah ich Rosemary unverwandt in die Augen, sie sollte nicht den Blick abwenden.

»Ich muss Pater Nathan finden«, sagte ich.

Sie legte den Kopf schief. »Und wenn er nicht gefunden werden will?«

Obwohl sie sich immer gab, als wüsste sie alles, half sie selten und hatte kaum etwas beizutragen. Keine Informationen. Keine Hinweise. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass Rosemary Flynn ein Teil des Puzzles besaß. Eines Puzzles, das sich jedes Mal veränderte, wenn ich es ansah.

10.50 Uhr

Als sie Schwester Honor im Flur entdeckte, ließ Rosemary Flynn mich vor dem Klassenzimmer stehen. Mit erhobenem Kopf eilte sie pflichtbewusst unserer Mutter Oberin nach, zu der Schwester Honor automatisch geworden war.

Lieber heiliger und wahrer Herr im Himmel, warum neigen Menschen so sehr dazu, jemanden oder etwas zu verehren? Warum klammern wir uns an Menschen und Tiere und Orte, die uns nicht brauchen und uns nicht behalten können?