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«Ich hatte einen Untersuchungsplan bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingereicht. Mein Ziel war zu klären, wie hilfreich es für Krebspatienten, Angehörige und Ärzte ist, wenn sie eine Zeitlang an einer psychologischen Gesprächsgruppe teilnehmen. Ich hatte gerade mit dieser Arbeit begonnen, als ein Arzt mir mitteilte, daß ich selbst an Krebs erkrankt sei.» 1983 starb die Psychologie-Professorin Dr. Anne-Marie Tausch an den Folgen ihrer Krebserkrankung. Ihr Buch «Gespräche gegen die Angst» ist eine lebendige Darstellung der Erfahrungen schwer erkrankter Menschen und ihrer Helfer in der Familie, in Krankenhäusern und Arztpraxen. Durch mehrere hundert Gesprächsausschnitte und durch persönliche Erlebnisberichte der Autorin bekommt der Leser einen tiefen Einblick in die seelische, körperliche und soziale Situation der Erkrankten. Vor allem aber zeigt Anne-Marie Tausch die vielen Möglichkeiten und Wege eines angstfreieren, hilfreichen Umgangs der direkt und indirekt Betroffenen mit der Erkrankung auf. In den Gesprächen mit ihnen kommt zum Ausdruck: Sie wollen ihre Gedanken und Gefühle offen aussprechen und die Isolation, in die sie gedrängt werden, durchbrechen. Die vielen Beispiele belegen, daß die Erkrankten durch die Auseinandersetzung mit ihrer Situation und durch die einfühlende Unterstützung anderer lernen können, ihre Erkrankung, ja sogar die Möglichkeit eines nahen Todes, zu akzeptieren und sich persönlich weiterzuentwickeln.
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Seitenzahl: 405
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Anne-Marie Tausch
Gespräche gegen die Angst
Krankheit – ein Weg zum Leben
Ihr Verlagsname
«Ich hatte einen Untersuchungsplan bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingereicht. Mein Ziel war zu klären, wie hilfreich es für Krebspatienten, Angehörige und Ärzte ist, wenn sie eine Zeitlang an einer psychologischen Gesprächsgruppe teilnehmen. Ich hatte gerade mit dieser Arbeit begonnen, als ein Arzt mir mitteilte, daß ich selbst an Krebs erkrankt sei.»
1983 starb die Psychologie-Professorin Dr. Anne-Marie Tausch an den Folgen ihrer Krebserkrankung. Ihr Buch «Gespräche gegen die Angst» ist eine lebendige Darstellung der Erfahrungen schwer erkrankter Menschen und ihrer Helfer in der Familie, in Krankenhäusern und Arztpraxen. Durch mehrere hundert Gesprächsausschnitte und durch persönliche Erlebnisberichte der Autorin bekommt der Leser einen tiefen Einblick in die seelische, körperliche und soziale Situation der Erkrankten.
1983 starb die Psychologie-Professorin Dr. Anne-Marie Tausch an den Folgen ihrer Krebserkrankung. Ihr Buch «Gespräche gegen die Angst» ist eine lebendige Darstellung der Erfahrungen schwer erkrankter Menschen und ihrer Helfer in der Familie, in Krankenhäusern und Arztpraxen.
Außerdem lieferbar:
Anne-Marie und Reinhard Tausch: «Wege zu uns und anderen», «Sanftes Sterben»
Reinhard Tausch: «Hilfen bei Streß und Belastung»
Meine Krebsoperation lag gerade erst drei Wochen zurück, als mein Mann mich fragte, ob ich nicht ein Buch über meine Erfahrungen mit dieser Erkrankung schreiben wolle. Der Gedanke faszinierte mich. Ich setzte mich also an den Schreibtisch und machte die ersten Aufzeichnungen für dieses Buch.
Das Thema Krebs war mir bereits vertraut. Ich hatte ein Jahr zuvor einen Untersuchungsplan bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingereicht. Mein Ziel war, zu klären, wie hilfreich es für Krebspatienten, Angehörige und Ärzte ist, wenn sie eine Zeitlang an einer psychologischen Gesprächsgruppe teilnehmen. Ich hatte gerade mit dieser Arbeit begonnen, als ein Arzt mir mitteilte, daß ich selbst an Krebs erkrankt sei. Diese Diagnose kam für mich sehr überraschend. Ich hatte nie damit gerechnet, Krebs zu bekommen. Ich hatte keine Angst vor dieser Krankheit gehabt, obgleich mein Vater an Magenkrebs gestorben war. Seine Sterbezeit, die Nächte in Doppelstockbetten im Luftschutzbunker des Robert-Koch-Krankenhauses im brennenden Berlin sind mir noch heute sehr schmerzlich in Erinnerung. Ich hatte als Achtzehnjährige manche Nacht an seinem Sterbebett Wache gehalten.
Während der Betreuung der Gesprächsgruppen und der Vorbereitungsarbeiten zu diesem Buch bin ich vielen krebskranken Menschen in Gesprächen begegnet. Ich konnte Einblick nehmen in die innere Welt ihrer Erfahrungen und Empfindungen.
Über all das möchte ich in diesem Buch schreiben. Ich möchte damit die Angst vor Krebs vermindern helfen. Aber ich möchte keine Rezepte geben, wie man am besten mit dem Krebs lebt. Ich denke, jeder muß selbst seinen Weg finden. Vielleicht hilft es, dabei die Wege vor sich zu sehen, die andere Menschen gegangen sind. Ich habe nicht vor, ein wissenschaftliches Fachbuch zu schreiben. Es geht mir vielmehr darum, Erfahrungen und Empfindungen zu vermitteln. Ich möchte Ihnen als Leser vor allem die Möglichkeit geben, sich in den Menschen dieses Buches wiederzufinden oder zu entdecken. Meine Bitte an Sie ist: Lesen Sie dieses Buch möglichst nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen. Sie können an jeder beliebigen Stelle mit dem Lesen beginnen. Überall begegnen Sie Menschen, die leben oder gelebt haben. Keine Person ist erdacht.
Mich haben viele unterstützt, dieses Buch zu schreiben. Es waren insbesondere die Menschen, die sich bemüht haben, mich wieder rasch zu Kräften kommen zu lassen, und die zahlreichen Betroffenen, die mir durch ihre Gesprächsbereitschaft Einblick in ihre persönlichen Erfahrungen mit der Krebserkrankung gegeben haben. Sehr wesentlich war für mich auch die Arbeit und der Gedankenaustausch mit Hildegard Kalliner. Sie hat im Rahmen ihrer psychologischen Doktorarbeit zwei der vier Gesprächsgruppen des Forschungsprojektes mit Krebspatienten und Angehörigen betreut. Weitere Gruppenhelfer waren die Diplom-Psychologinnen Myriam Holzer-Heitmann und Wiebke Pförtner. Danken möchte ich auch Peter Dircks, Rolf Ehlert, Fritz Grimm, Knut Köppen und Marianne Woelk, die im Rahmen ihrer Diplomarbeiten die Krebspatienten der Gruppen betreuen halfen, sowie den Klinikärzten Dr. Marlise Arnal, Dr. Ursula Becker und Dr. Hansjürgen Welk des Allgemeinen Krankenhauses Hamburg-Altona für ihre Teilnahme an den Gruppen. Sehr unterstützt haben mich auch Erika Bednarczyk und Gertrud Wriede durch ihre unermüdliche Abschrift meiner auf Tonband aufgenommenen Gespräche und der diktierten Manuskriptfassungen. Außerdem danke ich Helga Mueller und meiner Tochter Daniela für ihre hilfreiche inhaltliche Überarbeitung des Buchmanuskriptes, die ich aufgrund meiner Augenerkrankung nicht selber durchführen konnte. Mein Lektor Jens Petersen trug durch seine wertvollen Bemühungen wesentlich zur Verständlichkeit und Kürzung des Buches bei. Ich habe das Bedürfnis, allen diesen Menschen für ihre Hilfe und Ermutigung zu danken.
Während ich diese ersten Zeilen des Buches diktiere, habe ich nicht das Gefühl, daß ich das Buch schreibe, sondern daß es durch mich geschrieben wird. Ich erlebe mich als jemand, der eigene Erfahrungen und die anderer gesammelt hat und diese nun weitergibt. Es sprechen also in diesem Buch viele verschiedene Menschen. Ihre Gedanken und Gefühle können so im Bewußtsein anderer weiterleben.
Anne-Marie Tausch
«Die Angst wird regelrecht heraufbeschworen.» Mein Eindruck ist, daß in der Öffentlichkeit im Rahmen der Bemühungen, den Krebs rechtzeitig zu erkennen, viel Angst erzeugt wird. «Die Angst wird regelrecht heraufbeschworen.»[*] Das ist eine Erfahrung, die Krebspatienten immer wieder äußern. Mich macht es betroffen, wie in der Öffentlichkeit mit der Krebserkrankung umgegangen wird. Es wird fast nur Negatives über Krebs geschrieben. In den Massenmedien ist auch viel die Rede davon, den Krebs durch Vorsorgeuntersuchungen zu «bekämpfen», ihn zu «besiegen». Hat dabei niemand an die Betroffenen gedacht, die den «Kampf» verloren haben?
Ich halte das Wecken von Ängsten bei der Vorsorge und die hochtrabenden Reden über das «Besiegen» des Krebses im ganzen gesehen für wenig hilfreich. Meine Erfahrungen mit an Krebs erkrankten, aber auch mit gesunden Menschen sind geradezu gegenläufig: Sie sind abgeschreckt worden, rechtzeitig zur Vorsorge zu gehen, die Angst erschwert es ihnen, Nachsorgeuntersuchungen gelassener entgegenzusehen. Die ungünstigen Auswirkungen dieser Art von Öffentlichkeitsarbeit wird in den Äußerungen der zweiundfünfzigjährigen Katrin offensichtlich: «Ich habe vor der Operation sehr viel Angst gehabt, Krebs zu bekommen, weil man durch Illustrierte und Zeitungen so beeinflußt worden ist. Jeden Tag liest man über Krebs etwas, so daß ich mir sagte: Hoffentlich hast du keinen Krebs. Ich hatte schon furchtbare Vorstellungen. Dann kam der Befund, den mußte ich verkraften, die Bestrahlungen mußte ich verkraften. Aber irgendwie habe ich etwas die Angst überwunden, weil ich jetzt keine Angst mehr zu haben brauche, daß ich Krebs bekomme. Ich habe ihn nämlich. Und diese Angst, ihn zu kriegen, die war ja schon fast hysterisch aufgebaut von allen Medien. Es war fast eine Offenbarung und eine positive Erkenntnis: Du kannst ja weiterleben, und nicht nur ein halbes Jahr. Ich habe hier Mitpatientinnen getroffen, die schon jahrelang mit dem Krebs leben und sich dabei positiv verändert haben.» [22][*]
Ich bin während des letzten Jahres vielen Menschen begegnet, die in panischer Angst davor leben, selber Krebs zu bekommen. Sie haben sich wie Katrin von den Berichten in Illustrierten, Zeitungen und anderen Medien beeinflussen lassen: In ihnen ist die Krebsangst gewachsen. Noch ehe die Erkrankung als tatsächliche Störung in ihre vitale Lebenssituation eingegriffen hat, sind sie beunruhigt, fühlen sich in ihrer Existenz bedroht.
So gestand mir zum Beispiel die Redakteurin eines Dokumentarfilms über unsere Gesprächsgruppen mit Krebspatienten und Angehörigen in einem Gespräch nach den Dreharbeiten ihre Angst vor dem Thema Krebs: «Ich habe zuerst nicht daran gedacht, wie mich das mitnehmen könnte. Ich hatte einfach Angst vor dem Thema Krebs. Ich hab zuerst mal nach allen möglichen Ausreden gesucht, um das Thema nicht bearbeiten zu müssen. Aber dann hab ich mir gesagt: Wenn ich mich dem Thema nicht stelle, dann stelle ich mich mir selber nicht. Ich darf vor mir selber nicht fliehen. Das ist eine Erfahrung, der ich mich nicht entziehen darf und durch die ich reifer werde. Um mich den Krebspatienten überhaupt stellen zu können, bin ich dann zur Krebsvorsorgeuntersuchung gegangen. Das war meine erste, weil ich jetzt erst dreißig geworden bin. Und dann bin ich ein bißchen beruhigter in das Projekt hineingegangen. So komisch das klingt, die Untersuchung hat mich nur zum Teil beruhigt. Wenn ich abends nach den Dreharbeiten plötzlich allein war und das ganze Geschehen des Tages, die vielen Gespräche mit Krebskranken überdacht habe, dann kam auch bei mir die Angst. Ich habe dann auch Schmerzen gespürt an den Stellen, die die Patienten geschildert haben. Die gleichen Symptome traten bei mir auf, obgleich ich doch wußte, ich bin untersucht worden vor drei Monaten.»
Ich bin auch Menschen begegnet, die das Wort Krebs nicht auszusprechen wagten, wenn wir über meinen Gesundheitszustand sprachen. Sie waren meist sehr erleichtert, wenn ich die Erkrankung als erster und wiederholt beim Namen nannte. Dann gingen auch sie, wenn auch zögernd, dazu über, das Wort Krebs zu benutzen. Ein Freund sagte mir: «Ich habe Hemmungsmechanismen, das Wort Krebs auszusprechen. Ich glaube, ich kann in diesem Zusammenhang die Angst vor Krebs in mir selber nicht leugnen. Davon kann ich mich nicht frei machen.»
Sehr beeindruckt hat mich, was Ursula, die als Ärztin an unseren Gesprächsgruppen teilnahm, über ihre Erfahrungen in der Ambulanz berichtete: «Das sehe ich ja auch bei vielen Patienten, die wirklich gesund sind. Sie sind so voller Angst, und durch ihre Angst nehmen sie sich ein Stück ihres Lebens.»
Wie können Betroffene mit der Angst fertig werden, wenn es schon so vielen gesunden Menschen schwerfällt, sich nicht von ihr überwältigen zu lassen? Die durch die einseitigen Berichte in den Medien geförderte Verunsicherung müssen die Erkrankten noch zusätzlich zu ihrer eigenen Angst verarbeiten. Und diese Angst, die ihnen ihre Krankheit bereitet, ist bei den meisten Krebspatienten überwältigend groß.
Katrin: «Die Angst, daß wieder etwas entdeckt wird, die habe ich jedesmal wieder. Weltuntergangsstimmung ist das vor jeder Nachsorgeuntersuchung. Es ist die reine Todesangst.» Maike: «Ein ganz starker wunder Punkt bei mir ist, daß ich unter Angstgefühlen leide. Jetzt, nach meiner zweiten Operation, habe ich fast Angst, mittags einzuschlafen. Ich habe immer Angst, die Kontrolle über mich zu verlieren.» Und wenig später erkennt sie: «Ich nehme mir durch meine Angst viel von meinem Lebensgefühl – was nicht nötig ist.» [22]
Hier spricht die Patientin ein wesentliches Problem an, das schon in der Äußerung der Ärztin zum Ausdruck kam: Menschen bringen sich täglich um ihr Leben. Sie leben nicht wirklich. Die Angst zerrt an ihrer Lebenskraft. Sie ist wie der Kriechstrom beim Auto, der, für den Autofahrer nicht erkennbar, der Batterie Energie entzieht. Angst kostet den Menschen viele Körperkräfte und seelische Energien, die der Gesunde wie der Kranke sinnvoller einsetzen könnte. Deshalb wäre eine öffentliche Krebsvor- und -nachsorge, die darauf bedacht ist, das Aufkommen von Angst zu vermeiden, und die statt dessen die Mündigkeit des Menschen respektiert und ihm Hilfen gibt, selbstverantwortlich für seinen Körper zu sorgen, für alle – Betroffene und Nichtbetroffene – hilfreicher.
«Jetzt zerfrißt mich der Krebs.» Wie tief die Krebsangst in den Menschen verwurzelt ist, wurde mir auch an den vielen gutgemeinten Briefen deutlich, die ich nach meiner Operation von Freunden erhielt. Da war unter anderem von der «schockierenden Krankheit» die Rede, die mich «befallen» habe. Sehr eindrucksvoll schildert Heidi, wie sie ihre Krankheit erlebt: «Der Name Krebs als solcher sagt mir, daß mich irgend etwas langsam zerfrißt. Ich denke: Jetzt zerfrißt dich der Krebs. Aber du weißt nicht, wie lange … wann … was noch kommt, und irgend etwas geht im Körper vor. Das sitzt da irgendwo und breitet sich aus. Und du weißt gar nicht, wo das ist. Und nicht mal mein Arzt kann mir im Moment sagen, wo es ist. Das geht da irgendwo vor sich hin, schleicht, zerfrißt so langsam.» [22]
Viele Gesunde und vor allem auch Erkrankte verbinden mit dem Wort Krebs die Vorstellung von einem frühzeitigen, abrupten Lebensende: «Für mich ist Krebs zum Teil identisch mit dem Tod. Das ist doch so mit dem Endgültigen verbunden.» Ehemann: «Da ich gar keine Information hatte über Krebs – wie schnell es gehen kann –, dachte ich: Mein Gott, es kann in zwei Monaten schon zu Ende sein.»
Tatsache ist, daß nur sehr wenige Krebskranke innerhalb weniger Wochen sterben. Die Vorstellung eines raschen Todes trifft also nicht zu. Eine Krebspatientin: «Ich weiß noch, wie damals meine Kusine zu mir sagte: Selbst wenn das nun irgendwie weitergegangen sein sollte, so zwei bis drei Jahre hast du ja wenigstens noch. Darauf war ich überhaupt nicht gekommen. Das war mir ganz neu. So hat man sich da hineingesteigert.»
«Man kann sagen, man ist ein Krüppel.» Das sind die Worte einer brustamputierten Krebspatientin. Die meisten Frauen, denen eine oder beide Brüste entfernt werden mußten, erleben sich als «verstümmelt», als «nicht mehr vollwertig». Mir erging es zunächst ebenso: Als ich das erste Mal nach der Operation in den Spiegel sah, erschien mir der Anblick sehr fremd. Ich war erschrocken. Heute mag ich meine «Kinderbrust». Ich habe sie als einen Teil meiner Person akzeptiert.
Warum kommen sich Frauen nach Brustamputationen verstümmelt oder verkrüppelt vor? Ich denke, daß dieses Gefühl in hohem Maße auf die Darstellung, auf die Vermarktung des Frauenkörpers in den Medien und auf die schon zur Tradition gewordene Tatsache zurückzuführen ist, daß Männer in der weiblichen Brust, oft losgelöst von der Person, ein besonderes Sexualobjekt sehen. Viele Frauen machen sich diese Vorstellung zu eigen. Der makellose Frauenkörper mit den «auf Hochglanz polierten» Brüsten wird uns als Ideal- und Lustobjekt angepriesen. Er wird auf Titelseiten von Illustrierten und in der Werbung gezielt als Kaufanreiz eingesetzt. Welche zusätzliche Erschwernis für Menschen mit einer Körperbehinderung! Maike: «Ich möchte es den anderen nicht sagen, daß ich brustamputiert bin, weil ich vermute, daß sie dadurch abgeschreckt werden. Aber ich lege in den anderen damit irgend etwas hinein, sonst würde ich nicht so denken.» Und wenig später erklärt sie: «Ein Jahr bevor meine Brust amputiert wurde, habe ich von einer Bekannten gehört, sie sei brustamputiert. Es war ein Schock für mich. Ich habe gedacht, sie ist jetzt nur noch halbseitig. Sie ist als Frau nicht mehr so schön. Ich glaube, daß die anderen das von mir heute auch denken.»
«Gerade wenn man aus dem Krankenhaus entlassen wird, braucht man Hilfe.» Die geradezu leidenschaftlichen Bemühungen im Rahmen der öffentlichen Krebsvorsorgeprogramme stehen im krassen Gegensatz zu dem offensichtlichen Mangel an Hilfsangeboten bei der Nachsorge für die an Krebs erkrankten Menschen.
Schmerzlich empfinden die Betroffenen ihre Hilflosigkeit, wenn sie nach Operationen aus dem Krankenhaus entlassen werden. Die Ungewißheit ihres Gesundheitszustandes lastet auf ihnen. Zumeist werden sie nicht darüber informiert, wie ihre Behandlung weiterläuft, was weiter auf sie zukommt. Die Angst lähmt ihre körperlichen Wiederherstellungskräfte. Sie fühlen sich allein gelassen. Doris, die seit über zehn Jahren mit ihrer Krebserkrankung lebt, berichtet: «Für mich ist das Leben im Grunde genommen nur halb soviel wert, trotz aller medizinischen Erkenntnisse und lebensverlängernden Maßnahmen, wenn da im Hintergrund immer die Angst schmort. Da fühlt man sich doch ziemlich allein gelassen. Ich finde, gerade wenn man aus dem Krankenhaus entlassen wird, braucht man Hilfe, dann müßte da irgend jemand sein, zu dem man gehen kann, mit dem man sich über die Angst unterhalten kann, der einen versteht. Es wird soviel für die Krebsvorsorge getan, aber das Allerwichtigste vergessen sie: die Betreuung hinterher.» [22]
Doris weiß, worüber sie spricht: Sie hat schon achtundzwanzig Operationen hinter sich. Der Krebspatient Lothar sagt bei einem ähnlichen Gespräch: «Mein Gott, die Armen, denen das noch bevorsteht! Wie wenig Hilfe haben sie im Grunde genommen zu erwarten. Was könnte man tun? Gesprächsgruppen halte ich für sehr wichtig – und mehr Informationen für die Ärzte, die sie dann den Patienten weitergeben könnten.» Viele Krebspatienten klagen darüber, wie schwer es für sie ist, eine Gesprächsgruppe zu finden. Auch berichten sie über ihre entmutigenden Erfahrungen mit Behörden. Doris: «Ich habe bei Behörden erlebt, daß man recht abweisende Antworten erhält, wenn man um Hilfe bittet. Aber ich kann mich inzwischen dagegen wehren. Ich hatte jahrelang das Gefühl, ich laufe nur mit Boxhandschuhen herum und muß mich gegen Gott und die Welt wehren. Und das kostet wirklich sehr viel Kraft.»
Warum werden diesen durch ihre Erkrankung entkräfteten und verängstigten Menschen solche Behördengänge unnötig erschwert? Warum können zum Beispiel Anträge auf Behindertenausweise nicht schneller bearbeitet werden? Ich selbst warte seit einem Jahr auf meinen Ausweis.
«Die Krankheit zeigt noch deutlicher: Wer bin ich und wo steh ich.» Mit diesen Worten beschreibt Myriam, eine Psychologische Helferin in einer unserer Gesprächsgruppen, eine Erfahrung, die sie im Laufe ihrer Arbeit gemacht hat: Jeder reagiert unterschiedlich auf die Krankheit. An der Art und Weise, wie der Erkrankte mit ihr umgeht, läßt sich zumeist erkennen, wie er vorher gelebt hat, was für ihn wichtig und bedeutsam war.
Der Krebspatient Carsten neigte bereits lange Zeit vor der Entdeckung seiner Erkrankung dazu, sein Leben in Akten zu ordnen. Zu den Treffen unserer Gesprächsgruppen erschien er jedesmal mit einem dicken Ordner, in dem er alle ihm zugänglichen Informationsbroschüren und Zeitungsausschnitte zum Thema Krebs abgeheftet hatte. Auch berichtete Carsten in der Gruppe, daß er sich seinen Tag genau einteile: «Ja, so habe ich mein Programm. Abends bin ich ein bißchen stolz darauf und sage: Das habe ich geschafft, und das habe ich nicht geschafft. Das kann ich nächstes Mal besser machen! Das ist zwar reichlich etepetete, aber es hilft mir übers Nachdenken hinweg.» Carsten konnte seiner Krankheit nur mit Sachlichkeit und großer Distanz entgegentreten. Er führte auch Tagebuch über seinen Körper, er schrieb täglich auf, welche Medikamente er nahm, registrierte körperliche Beschwerden und Temperaturschwankungen und kontrollierte täglich zweimal sein Gewicht. Geringfügige Verschlechterungen seines Zustandes kennzeichnete er mit einem, drastische Verschlechterungen mit zwei Ausrufungszeichen. Und zwei Wochen vor seinem Tod trug er drei Ausrufungszeichen in sein Buch ein. So hat er die letzte Zeit seines Lebens dazu benutzt, Buch über seine Krankheit zu führen. Er hatte gehofft, den verzweifelten Wettlauf mit der Krankheit zu gewinnen. Sein Ordner war Ausdruck seiner Verzweiflung, die er nur versachlicht ertragen konnte.
Auch in Gesprächen mit anderen Krebspatienten wird deutlich, daß sie sich selbst in ihrer Reaktion auf die Krankheit wiedererkennen. Alwine: «Ich sitze so voller Angst. Diese Angst habe ich im Grunde genommen schon immer gehabt, obwohl ich das manchmal nicht zugebe.» Mein Schulfreund Gerhard: «Ich kann natürlich in der Krankheit nur mich leben – so, wie ich bin. Ich habe in meinem Leben viele Dinge allein getragen, die wirklich auch manchmal schwer waren. Deshalb ist es für mich nichts Fremdes, daß ich so umgehe mit meiner Krankheit. Das ist eigentlich eine Fortsetzung meines bisherigen Lebens. Wenn etwas Belastendes in meinem Leben war, das habe ich immer schon so für mich allein abgemacht. Das hängt wohl mit meiner Erziehung zusammen.»
Gerhard spricht einen wichtigen Bereich an: unsere Erziehung. Führt man seinen Gedanken weiter, ergibt sich eine deutliche Perspektive: Nicht nur Gesundheitserziehung sollte in die Schulen und Familien hineingetragen werden, sondern ebenso «Krankheitserziehung». Durch sie könnte sich der einzelne mit Fragen wie den folgenden auseinandersetzen: Wie lebe ich mit einer Krankheit? Durch welches Verhalten mache ich mich seelisch noch kranker? Welche Möglichkeiten habe ich, mich mit meiner Krankheit auseinanderzusetzen? Kann ich lernen, sie als einen Teil meiner Person zu akzeptieren? Wie kann ich mir ein seelisches Heilklima schaffen, wenn ich körperlich erkrankt bin? Vielleicht lernen wir aufgrund der Beschäftigung mit solchen Fragen, nicht vor Krankheiten zurückzuschrecken.
«Ich denke, daß meine Ehekrise nicht nur mit der Krankheit zu tun hatte.» Dieser Zusammenhang wird Ilse in einer Gesprächsgruppe bewußt. Sie hatte ihre gescheiterte Ehe zunächst als eine Folge ihrer Brustamputation angesehen. Nach mehreren Gruppengesprächen erkennt sie, daß sie in ihrer Ehe schon immer ihre Bedürfnisse zurückgestellt hat. Sie erzählt, daß ihr Mann noch immer einen Schlüssel zu ihrer Wohnung besitze, obwohl er seit langem mit einer anderen Frau zusammenwohne. Sie bringe nicht den Mut auf, berichtet sie, den Schlüssel von ihrem Mann zurückzufordern. Auch in ihrer Krankheit stellt sie sich zurück und schafft sich nicht den für sie nötigen Raum. Sie lebt sich selbst in ihrer Ehe, ihrer Krankheit und in der Gruppe. Myriam, die Psychologische Helferin ihrer Gruppe, sagt: «Auch in der Gruppe hat Ilse manchmal so wenig Raum für sich beansprucht. Sie hat auch gesprochen, aber sie war mehr ein Mensch, der zugehört hat.»
Auch die Beziehungsprobleme, die viele Frauen nach einer Brustamputation zu bewältigen haben, liegen häufig mehr in ihrer eigenen Person, in ihrer Selbsteinschätzung begründet als in der empfundenen Ablehnung ihres Partners. «Das war doch mein ganzer Stolz», trauert eine Krebspatientin ihrer amputierten Brust nach. Ihr Mann dagegen tröstet sie: «Ich habe dich doch nicht wegen der Brust geheiratet.» [4]
Aus einer Statistik geht hervor: Ist die Beziehung auch vor der Operation unbelastet und liebevoll, so trennt sich der männliche Partner nach der Brustamputation entgegen den Befürchtungen vieler Brustkrebspatientinnen nicht von seiner Frau. [52] Viele brustamputierte Frauen haben über Wochen, Monate oder Jahre eine unüberwindliche Scheu, sich nackt vor ihrer Familie zu zeigen. Oft verwehren sie sogar ihrem Mann den ihrer Meinung nach schockierenden, abstoßenden Anblick. Diese Scheu ist meist nur zu einem geringeren Teil auf das Verhalten der Familie zurückzuführen. Diese Frauen leben sich selbst. Personen, die im allgemeinen weniger von ihrem Inneren mitteilen, haben vermutlich auch größere Schwierigkeiten, anderen ihren vernarbten, durch Amputationen veränderten Körper zu zeigen.
«Meine Hoffnungslosigkeit macht mich seelisch fertig.» Viele Erkrankte machen sich durch ihre Ängste und negativen Vorstellungen von ihrer Krankheit, durch ihre Verschlossenheit und ihre ungesunde Lebensführung zusätzlich krank.
Besonders deutlich zeigt sich dies an Karens Umgang mit ihrer Krebserkrankung. Sie lehnt sich und ihren Körper, der durch eine kleine Narbe gekennzeichnet ist, ab. «Das ist für mich die größte Kränkung, daß ich mir sagen muß: Die Krankheit hat mich in solchen Strudel hineingeworfen. Und ich komme mir vor wie jemand, der da so zappelt und kämpft, aber der nicht sieht, daß da schließlich noch irgendwo ein Ufer ist. Und da komme ich dann an meine Hoffnungslosigkeit heran.» Ihre Krankheit, sagt Karen, habe sie «in ein tiefes Loch gestürzt». Jeder Tag sei für sie eine Anstrengung, das Erwachen eine Konfrontation mit dem Todesurteil: Ich habe Krebs. «Dieses Grau in Grau, wenn mich der Gedanke überfällt: Du hast ja Krebs. Ich erlebe so selten, daß ich mal fröhlich aufwache, mich auf den Tag freue. Ich muß richtig kämpfen, um den Tag zu beginnen. Ich wache mit dem Gefühl der Schwere und des Kummers auf. Irgendwie ist dieses Gefühl immer gegenwärtig: Du hast Krebs.» Karen erfährt eine Erschütterung ihrer ganzen Person, ihres bisherigen Lebens: «Ich erlebe mich seit der Operation als eine ganz andere Person als vorher. Von meiner Sicherheit und der geringen Angst vor dem Tod ist nichts mehr übriggeblieben. Es ist eine unheimliche Kränkung für mich, daß ich mich als feige erlebe und diese wahnsinnige Panik spüre – Angst auch vor dem Tod.»
Ängste und seelische Qualen bestimmen Karens Leben. Sie spricht von ihrem «schwersten Jahr». Ihre Hoffnungslosigkeit – das «große Grauen», wie sie es nennt – nimmt zu. Ihr gestörtes Körperschema macht ihr zu schaffen. Sie hat ihre Diagnose wie ein «Todesurteil» aufgenommen, spricht vom «Stigma», fühlt sich «ohnmächtig», «kraftlos» und «leistungsunfähig». Sie stellt ihr ganzes bisheriges Leben in Frage: «Wenn ich die Bilanz meines Lebens ziehe, macht es mir Angst.» Sie spürt, daß es ihr in ihrer beruflichen Tätigkeit als Krankenschwester schwerfällt, «auf andere so zuzugehen, wie ich möchte», daß sie sich vor den Nöten der Patienten «zurückzieht», daß sie nicht mehr die Kraft hat, in ausreichendem Maße auf deren Bedürfnisse einzugehen. Diese Kraftlosigkeit führt dazu, daß sie sich noch mehr Einsatz, noch mehr körperliche und seelische Kräfte abverlangt, um ihrem Selbstbild, nach dem sie vor der Operation gelebt hatte, wenigstens annähernd zu genügen. Immer wieder quälen sie Zweifel: «Hoffentlich kannst du es kräftemäßig überhaupt noch. Diese Gefühle lähmen mich so und erschweren mir die Arbeit, die mir sehr wichtig ist. Manchmal fressen mich die schwarzen Gedanken auf. Wirklich!»
So versinkt sie tiefer in Depressionen und Mutlosigkeit. Sie ist schließlich seelisch so krank, daß sie «die ersten Schritte, die die schwierigsten sind», nicht mehr zu gehen wagt. Erst nach vielen Gesprächen, die ich mit ihr führte, erkennt sie die Notwendigkeit, die Hilfe anderer Menschen zu erbitten und anzunehmen: «Ich muß seelische Hilfe haben, damit ich wieder leben kann, damit meine Lebensqualität anders wird. Ich quäle mich im Moment sehr. Und ich kann das überhaupt nicht erzählen, was für seelische Qualen das sind. Ich fühle mich unlebendig, fast wie tot. Ich habe erfahren, daß die seelischen Schmerzen viel schlimmer sind und viel mehr die Person zerstören oder angreifen als die körperlichen Schmerzen. Mit denen kann ich leben. Das Sich-seelisch-wie-tot-Fühlen ist für mich die Hölle auf Erden. Und das schlimmste ist, man kann dann nicht mehr um Hilfe bitten, wenn diese Schwelle überschritten ist, wenn ich so innerlich resigniert habe. Wenn ich um Hilfe bitte, gehört dazu ein wenig Hoffnung und Zuversicht. Es kommt mir so schizophren vor: In der Gegenwart für die Zukunft zu arbeiten und gleichzeitig davon ausgehen zu müssen, daß es die Zukunft für mich vielleicht gar nicht gibt. Das ist ein doppelter Kampf: einmal der seelische und dann auch der mit dem Körper, weil ich ja auch körperlich sehr beeinträchtigt bin. Da arbeite ich an zwei Fronten: Wenn ich denke, daß ich bei der einen eine Besserung erreicht habe, dann kommt der nächste Kampf. Ich muß jetzt erst mal lernen, wieder leben zu wollen, eine andere Einstellung zu dieser Krankheit zu bekommen. Meine Hoffnungslosigkeit macht mich seelisch so fertig, daß ich kaum noch zu irgend etwas fähig bin. Und Hoffnung ist das wichtigste, sonst kann ich ja gar nicht leben.»
Karen hat sich schließlich in eine Gesprächspsychotherapie begeben. Sie berichtete mir, daß sie um zwei therapeutische Gespräche pro Woche gebeten habe, weil sie spüre, wie nötig sie diese seelische Hilfe brauche. Ich war sehr erleichtert, denn Karens Stimme am Telefon klang schon ein wenig zuversichtlicher.
Ich denke, daß Karens Gefühle für viele Krebspatienten charakteristisch sind, die sich einkapseln und zunehmend seelisch verarmt dahinleben, angefüllt mit Angst, ohne Zukunftspläne, in totaler Hoffnungslosigkeit. Obwohl ihre Gedanken Tag und Nacht um ihre Krankheit kreisen, setzen sie sich nicht offen und ehrlich mit ihr auseinander. Sie haben nicht mehr den Mut dazu.
Ihre Wege, einer Auseinandersetzung mit sich selbst und der Krankheit auszuweichen und ihre Lebens- und Zukunftsangst zu überdecken, sind vielfältig. Sie nehmen jede Gelegenheit wahr, sich «durch Tricks oder irgendwie sonst» abzulenken. Sie versuchen, sich mit Beruhigungstabletten oder Alkohol zu betäuben. Manchen drängt sich immer wieder der Gedanke an Selbstmord auf.
So leben viele Krebspatienten oft jahrelang ständig in einem Zustand der Bedrohung und der Zukunftslosigkeit. Fast nie mehr tritt Sicherheit in ihr Leben ein. Das Todesurteil begleitet sie auf Schritt und Tritt, der Gedanke, daß ihr Leben befristet ist, läßt sie nicht mehr los. «Also, ich gebe mir eigentlich immer nur noch ein Jahr. So lebe ich.» – «Auf Zeit lebe ich eigentlich immer, das ist sehr unangenehm. Ich bin nicht auf das Leben eingestellt, wie ich das früher war.»
Die sich bei vielen Krebspatienten ausbreitende pessimistische Lebenseinstellung tritt in vielen alltäglichen Situationen in Erscheinung: «Mein Mann sagte: ‹Komm, wir kaufen ein hübsches Kleid.› Da sagte ich: ‹Wozu brauche ich das noch. Ich brauche kein neues Kleid.›» – «Es war Ausverkauf, und ich kaufte mir einen Anorak. Den habe ich doch tatsächlich eine Nummer größer gekauft. Ich hab mir gesagt: Den könnte dann meine Tochter weitertragen.»
Manche Krebspatienten belasten sich zusätzlich mit der Vorstellung, im Falle eines plötzlichen Todes müsse ihre Wohnung aufgeräumt sein. Über Wochen, Monate oder Jahre steht der Tod an ihrer Seite. Eine Gruppenteilnehmerin sagt: «Ich fang schon an, alles aufzuräumen, damit andere nicht in meinen Sachen herumwühlen.» Ursula, Ärztin in der Gesprächsgruppe, entgegnet ihr: «Es tut mir weh, daß du aufräumst. Könntest du nicht was anderes tun, etwas, das dir Freude macht?»
«Bei jedem Wehwehchen habe ich Angst: O Gott, fängt das schon wieder an mit dem Krebs.» So oder ähnlich haben einige unserer Krebspatienten die Angst beschrieben, die sie überfällt, wenn sie leichte körperliche Beschwerden als Anzeichen für eine weitere Ausbreitung des Krebses in ihrem Körper deuten. «Wenn der Gesundheitszustand nicht so gut ist, bin ich sofort in Panik», schreibt mir Matthias. Die Gruppenteilnehmer sprachen häufig von der «Angst im Nacken»: Wann bilden sich wo Metastasen? Dies führt oft zu vollkommenen Fehldeutungen kleinster körperlicher Unpäßlichkeiten. «Bei jedem Wehwehchen habe ich Angst: O Gott, fängt das schon wieder an mit dem Krebs.» Und Ilse sagt ergänzend dazu: «Die Angst ist da. Da merke ich, auf welchem schmalen Grat wir gehen.»
Bei manchen Krebspatienten geht die Entmutigung bei auftauchenden körperlichen Beschwerden so weit, daß sie alles in Frage stellen, insbesondere sich selbst und ihre Arbeit: «Ich möchte wirklich losschlagen und schreien: Ich bin nicht die Person, die das leisten kann. Meine ganzen negativen Gedanken und Gefühle, die ich hatte, sind hochgekommen. Ich hätte mein ganzes Leben wegwerfen können, so schlecht habe ich mich gefühlt. Nur weil ich eine kleine Erkältung habe, meinen Magen spüre und Angst habe, daß alles wieder losgeht damit.» Das Mißtrauen gegen den eigenen Körper ist groß, die frühere Sicherheit verloren. Selbst wenn den Krebspatienten sehr gute Heilungschancen von ihrem Arzt in Aussicht gestellt werden, bleibt da der Stachel der Ungewißheit: «Ich kann das nicht vergessen, so ein Zweifel ist immer da. Ich frage mich, warum ich das bei einer so günstigen Prognose nicht vergessen kann. Selbst wenn ich mir sage, zu neunzig Prozent darf ich damit rechnen, gesund zu bleiben, habe ich dann Angst, zu den anderen zehn Prozent zu gehören.» Bei einer guten Bekannten habe ich erlebt, daß sie jahrelang das Ergebnis der Vorsorgeuntersuchung anzweifelte, obgleich es ihre Vermutung, daß sie an Unterleibskrebs leide, nicht bestätigte. Sie ging so krankmachend mit sich um, daß sie sogar dem ihr schriftlich vorgelegten Arztbericht mißtraute. Sie hatte sich die Diagnose Unterleibskrebs gestellt und war nicht mehr davon abzubringen. Sie unterstellte ihrer Tochter – einer Ärztin –, mit dem behandelnden Arzt gemeinsame Sache zu machen, ihr einen verfälschten Arztbericht vorgelegt zu haben. Sie «produzierte» immer neue Krankheitsbeschwerden, unter denen sie dann tatsächlich litt. Nur mit Mühe gelang es ihr zeitweise, aus diesem krankmachenden seelischen Klima, das sie sich selber schuf, herauszufinden.
Die Ergebnisse einer Untersuchung bestätigten, daß viele Krebspatienten die Angst vor ihrer Krankheit als eines der Probleme angeben, die sie am stärksten belasten. [6] Sie leiden unter der Angst «vor dem ausbleibenden Heilerfolg», «vor Wiedererkrankung», «vor dem Tod». Fast alle von uns befragten Krebspatienten leiden auch unter seelischen Schwierigkeiten. Zum Beispiel erleben sie sich als «emotional unstabil», «nervös», «unausgeglichen», «hilflos»; sie klagen über «Demütigungen», «Depressionen», «Schlaflosigkeit».
«Ich kann mich selbst nicht richtig einschätzen.» Der Erkrankte ist oft starken Stimmungsschwankungen unterworfen. Keiner kann ihm die Frage beantworten: Bin ich schon gesund oder noch krank? So wird er häufig in der Einschätzung seines Gesundheitszustandes von heftigen Zweifeln geplagt. Doris: «Obgleich ich so viele Operationen hinter mir habe, weigere ich mich ganz einfach, mich als krank einzustufen. Aber da liegen echt Schwierigkeiten bei mir. Ich kann mich selbst nicht richtig einschätzen. Ich fühle mich manchmal gut und manchmal ganz schlecht. Das ist ganz klar. Aber dadurch, daß ich nicht krank wirke, nicht krank aussehe, werde ich auch meistens von meiner Umwelt verkehrt eingeschätzt.» [22]
Diese Schwankungen zwischen Hoffnung und Resignation können auch für die behandelnden Ärzte zu einem Problem werden. Ein Arzt in einer Gesprächsgruppe: «Das macht es für den Partner und vielleicht auch für den Arzt doch so schwierig. Auf der einen Seite wollt ihr als gesund angesehen werden, und dann sagt ihr wieder: ‹Heute fühl ich mich aber schlecht. Nun mußt du aber Rücksicht nehmen.›» [22]
Manche Krebspatienten fühlen sich nicht nur zwischen Krankheit und Gesundheit hin- und hergerissen, sondern auch zwischen der Erwartung, weiterleben zu können, und der Todesgewißheit: «Es gibt Tage, da habe ich das Gefühl: Du wirst ganz alt. Du willst deine Enkelkinder noch kennenlernen. Das steht fest. Und es gibt Tage dann, da habe ich das Gefühl: O Gott, du kannst in den kommenden Jahren sterben. Und dann kriege ich eine Angst, das ist grausam.»
Es scheint vor allem der Gedanke an einen vorzeitigen Tod zu sein, der viele an Krebs erkrankte Menschen so beunruhigt. Eine Vierundfünfzigjährige: «Ja, der Tod ist in mein Leben getreten. Ich kann mich ihm nicht mehr entziehen. Und so schwanke ich immer zwischen dem Gedanken: ‹Ja, er ist selbstverständlich, das wissen wir alle›, und gleichzeitig erlebe ich ein starkes Aufbegehren gegenüber dem Tod und eine wahnsinnige Wut gegenüber dem Schicksalhaften. Ich sollte mich mehr mit dem Tod auseinandersetzen, aber ich schiebe ihn sehr weit weg.»
«Ich bin mir selber fremd geworden.» Krebspatienten haben mir in Gesprächen mitgeteilt, daß es ihnen schwerfällt, sich von ihrem alten Selbstbild zu trennen, mit dem sie vor ihrer Krankheit jahrzehntelang gelebt haben. Sie erfahren durch ihre Krankheit, daß sie mit ihrem Körper zeitweise nicht mehr so uneingeschränkt rechnen können wie früher. Sie spüren, daß sie mehr Rücksicht auf ihn nehmen, sich mehr um ihn kümmern müssen. Bei einigen der Krebspatienten ist das Bild, das sie von ihrem Körper haben, durch Operationsnarben oder Amputationen entstellt. Beim Blick in den Spiegel glauben sie: «Ich habe keine erotische Ausstrahlung mehr als Frau.» – «Man ist – man kann sagen – ein Krüppel. Auch ohne Spiegel sind diese Gefühle da.»
Auch ich habe meinen Körper zunächst abgelehnt. Ich erinnere mich deutlich an das folgende Erlebnis: Wenige Wochen nach der Brustamputation turnte meine jüngste Tochter Daniela mit mir. Plötzlich nahm sie meine Hand und führte sie an mein Gesicht. Sie wollte, daß ich es streichle. Ich fühlte mich unfähig, diese einfache Handlung auszuführen, und begann zu weinen. Ich spürte, daß ich – ohne es zu merken – ein tiefes Unwertgefühl gegenüber meinem Körper entwickelt hatte. Dieses Gefühl, weniger wert zu sein, bezieht sich bei den meisten Krebspatienten nicht nur auf den Körper, sondern ergreift die ganze Person, entfremdet den Betroffenen zunehmend von sich selbst.
Die Selbstentfremdung ist auch Inhalt des nachfolgenden Gespräches zwischen Gerhard und mir. Wir haben es etwa ein Jahr nach seiner Operation geführt:
GERHARD:
«Ja, es ist traurig. Ich bin mir selbst fremd geworden.»
ANNE-MARIE:
«So daß das Bild, das du von dir hast, gar nicht mehr existiert?!»
GERHARD:
«Ja – als wäre es nicht das richtige Bild gewesen. Ich habe mich in mir selbst geirrt, in der Vorstellung meiner Person, was und wer ich bin. Und die Momente, in denen ich wirklich fröhlich sein kann, die werden immer seltener.»
ANNE-MARIE:
«Du hast dich selbst fast ein bißchen lebendig begraben?!»
GERHARD:
«Ja, ich fühle mich so hölzern auch, so verhärtet. Und ich bemühe mich so stark, in meiner Arbeit noch das Beste zu geben. Da laß ich mich nicht gehen. Vielleicht ist es auch so, daß ich mich durch die Arbeit nicht so von dieser Resignation schlucken lasse. Da setze ich mich voll ein. Es fällt mir einfach leichter, für die anderen dazusein. Ich kann mich dann auch freuen, wenn sie mir sagen, daß es gut ist, was ich mache.»
ANNE-MARIE:
«Aber so für dich selbst sorgen …»
GERHARD:
«… das gelingt mir nicht so richtig. Ich bemühe mich schon.»
Im Laufe unseres Gespräches erkennt Gerhard: «Ich muß etwas ändern. Das ist mir durch unser Gespräch heute deutlich geworden. Ich muß diese kleinen Schritte gehen und etwas für mich tun, mich ernst nehmen. Vielleicht hab ich dann auch die Kraft, anderen zu sagen, daß ich an Krebs erkrankt bin, und empfinde mich dann nicht mehr so als eine Zumutung.»
ANNE-MARIE:
«Ich denke, du bist dann eine Zumutung, wenn du dich von dir selbst entfremdest, wenn du dich einkapselst, dich lebendig begräbst. Das belastet mich in einer Freundschaft viel mehr, als wenn einer sich mitteilt, wenn er sich elend fühlt, aber mir dann auch mal sagt: ‹Jetzt geht’s mir wieder gut.›»
Gerhard spürt deutlich, wie belastend und anstrengend es auf die Dauer für ihn wird, ein Bild von sich aufrechtzuerhalten, dem er nicht mehr entspricht. Andererseits spürt er auch die Angst davor, das «sichere Ufer» seines bisherigen Lebens zu verlassen. Dieses Zögern und Schwanken ist verständlich, denn er weiß ja nicht, wohin diese Wandlung seiner Person ihn führen wird. Er weiß nicht, ob seine seelischen und körperlichen Kräfte ausreichen werden, ein neues Bild von seiner Person zu formen, in das die Krankheit einbezogen ist und das er akzeptieren kann. So wird er hin- und hergerissen zwischen dem Verhaftetsein an dem alten Bild seiner Person und den doch spürbaren neuen Erfahrungen, die er mit sich selbst und seinem erkrankten Körper macht.
Die Erschütterung des Selbstbildes und des Selbstwertgefühls von Krebspatienten dokumentiert auch unsere Befragung: Jeder dritte gibt Schwierigkeiten an, die im Zusammenhang mit seinem Selbstwert stehen, zum Beispiel Minderwertigkeitsgefühle, die durch eine Selbstfindungskrise ausgelöst werden. [6]
«Mein Bruder tut alles, um seine Krankheit geheimzuhalten.» Viele Krebspatienten strengen sich sehr an, ihre Krankheit zu überspielen. «Man will das möglichst von der Familie fernhalten. Schon als ich aus dem Krankenhaus kam, hatte ich mir vorgenommen: Du willst jetzt so tun, als ob gar nichts gewesen ist. Ich habe dann aber doch gemerkt, daß ich das nicht schaffe. Aber ich wollte mir nicht anmerken lassen, wie mir wirklich zumute ist. Das hat mich nervlich sehr geschlaucht, denn man hat doch auf die Dauer nicht mehr die Kraft, immer nur tapfer zu sein. Es ist also gar nicht so richtig, wenn man sagt: Es ist nichts gewesen.»
Einer großen Zahl von Krebspatienten fällt es schwer, über ihre Erkrankung zu sprechen und sich mit ihren Gefühlen auseinanderzusetzen. Dies trifft insbesondere für Männer zu. Bezeichnenderweise nahmen viermal so viele Frauen wie Männer an unseren Gesprächsgruppen teil. Eine Krebspatientin erzählte mir von ihrem Kuraufenthalt: «In der Kur, da saßen die Männer immer nur an der Bar, betranken sich und sangen ‹Ach du schöner Westerwald›. Sie hatten Augen zum Sterben – todunglückliche Augen. Sie haben gelacht und gegrinst und getrunken! Ich vermute, daß das wohl auch durch ihre Erziehung bedingt ist. Ein Junge weint doch nicht, und so was.»
Sehr viele Männer bemühen sich, ihr Verhalten an diesem «Idealbild», das ihnen von Kindheit an vorgehalten wird, auszurichten. Es ist für sie zu einem Verbot geworden: Ein Mann darf nicht weinen! Er muß Gefühle der Trauer und Verzweiflung vor anderen verbergen, muß allein mit ihnen fertig werden. So schrieb mir zum Beispiel ein katholischer Geistlicher, der in der Telefonseelsorge arbeitet: «Ich muß gestehen, daß es mir kaum möglich ist, mit meinem Bruder über diese so einschneidende Krankheit in seinem Leben zu sprechen. Ich habe den Eindruck, daß es gerade jungen Männern, die von Hodenkrebs befallen sind, außerordentlich schwerfällt, über diese Krankheit zu sprechen. Mein Bruder tut alles, um seine Krankheit geheimzuhalten. Er möchte die Krankheit verdrängen.»
Viele halten es auch für notwendig, ihre Krebserkrankung in ihrem Berufsleben vor den Kollegen geheimzuhalten, da sie Benachteiligungen fürchten. Carsten: «Es werden große Leistungen von mir verlangt. Die Lieferwerke wollen Wachstumsraten sehen. Wenn die nicht kommen, dann werde ich abgesägt. Deshalb wissen die Lieferwerke nicht, was mit mir los ist. Und Kunden, die das durch Zufall mitbekommen haben, bitte ich inständig, das bloß nicht einem Lieferwerk mitzuteilen.»
Warum verschweigen so viele Menschen ihre Krankheit? Was hindert sie daran, offen mit dieser Krankheit als einem Teil ihrer Person zu leben? Bei meiner Suche nach einer Antwort auf diese Fragen bin ich noch auf einige weitere Gründe gestoßen:
«Ich kann den anderen nicht vertrauen. Ich weiß nicht, wie sie damit umgehen, darum tue ich alles, um meine Krankheit geheimzuhalten.»
⚪«Ich habe Angst, daß es sie bedroht, wenn sie hören, daß ich Leukämie habe.»
⚪«Ich befürchte, daß sie mich dann entweder mit Samthandschuhen anfassen, oder man meidet mich ’ne ganze Weile. Es stört mich einfach, wenn die Leute das wissen, daß sie mir deswegen nur noch schöne Dinge sagen oder unehrlich sind, weil sie Angst haben, daß sie mich verletzen. Ich weiß nicht, woran das liegt, daß sie mir dann nicht ehrlich ihre Meinung sagen – was sie von mir im Moment denken.»
⚪«Wenn ich wieder gesund werde, ja, dann hat keiner gewußt von meiner Krankheit. Und alle diese Gedanken: Ist sie jetzt noch krank oder nicht? – von all diesen Fragen werde ich verschont. Es gibt Zeiten, in denen ich diese Fragen nicht aushalten könnte und unter ihnen zusammenbrechen würde. Das wäre schlimm für mich. Ich will nicht die Angst haben müssen, daß ich an Ansehen bei den anderen verliere und in ihren Augen nicht mehr so leistungsfähig bin.»
⚪«Ich hab mir auch mal überlegt, warum ich daran so festhalte, daß meine Krankheit geheimgehalten wird. Da ist ein ganz starker Widerstand in mir, so als wenn ich mich schützen muß, mit aller Macht.»
⚪«Meine geringere Leistungsfähigkeit hat mein Selbstwertgefühl so verringert, daß ich nicht auch noch sagen kann, daß ich Krebs habe.»
Die in diesen Äußerungen zum Ausdruck kommenden Hauptmotive für das Verheimlichen der Krebserkrankung sind: Das Selbstwertgefühl dieser Menschen ist durch ihre Erkrankung verringert, und sie nehmen an, daß andere sie auch als Menschen von geringerem Wert einstufen, wenn sie von ihrer Krankheit erfahren. Und ferner: Sie müssen sich intensiver mit ihrer Erkrankung auseinandersetzen, wenn sie anderen von ihr erzählen. Und das wollen viele vermeiden.
Ich stelle mir das Leben hinter einer Fassade von Gesundheit und vollkommener Leistungsfähigkeit für Menschen, die ständig von Gefühlen der Unzulänglichkeit und der körperlichen Reduziertheit beherrscht werden, sehr anstrengend vor. Sie verbrauchen sehr viel Energie, um sich ständig zu kontrollieren, um die Fassade nach außen aufrechtzuerhalten. Dieses Unechtsein muß zu enormen inneren Spannungen führen.
Doch die Fassade bietet diesen Menschen nur einen scheinbaren Schutz. Der Druck und die Spannungen wachsen. Sie handeln gegen sich selbst: Sie können ihre Gefühle nicht leben. Wie viele Situationen mag es tagtäglich geben, in denen sich Krebspatienten, die ihre Krankheit vor anderen verheimlichen, zusätzlich schaden? Da sie nur wenige Mitwisser ihrer Krankheit haben, wird es für sie zu einem Problem, wem sie davon erzählen können und wem nicht.
Nach meiner Erfahrung hängt der Grad des Verheimlichens beziehungsweise Eingestehens der Krebserkrankung sehr eng mit dem Selbstwertgefühl des einzelnen zusammen: Ein Mensch, der den Wert seiner Person gering einschätzt, erwartet eher, daß andere ihn herunterstufen, wenn sie um seine Erkrankung wissen. Gerhard spricht von «gesundheitlicher Verarmung». Er hat das Gefühl, daß ihm etwas weggenommen worden ist: ein Stück seiner Gesundheit, seine Leistungsfähigkeit. Durch die Verheimlichung seiner Krankheit bringt er sich um die Anerkennung, die andere ihm geben könnten, weil er trotz seiner Erkrankung noch so viel leistet. Er verschenkt die Möglichkeit, auf diese Weise sein Selbstwertgefühl zu stärken.
«Ich habe ein großes Bedürfnis, mich zu isolieren.» Viele Krebspatienten berichten in den Gesprächsgruppen, daß sie häufig einen großen Teil des Tages im Bett verbringen, ohne daß medizinische Gründe dafür vorliegen. Sie haben das Bedürfnis, sich zu «verkriechen», die Decke über den Kopf zu ziehen. Sie wollen ihre Umwelt nicht mehr wahrnehmen und ziehen sich vor ihr zurück: «Manchmal bin ich auch erst mittags aufgestanden. Ich verkrieche mich in mich selbst. Es ist ganz schlimm. Ich bin menschenscheu geworden. Ich habe immer das Gefühl, mich guckt jeder an und denkt: Was hat die bloß?» Wenn eine solche Isolierung von anderen nur eine vorübergehende Phase in einem Klärungsprozeß ist, dann kann Ruhe, das In-Ruhe-gelassen-Werden für den Erkrankten eine wichtige Erfahrung sein. Sie ermöglicht es ihm, sich mit seinen schmerzlichen Gefühlen, die durch die Krankheit in ihm ausgelöst werden, mit seiner so plötzlich veränderten Lebenssituation auseinanderzusetzen und in dieser Auseinandersetzung zu sich selbst zu finden. Doch wenn der Erkrankte in der Isolierung verharrt, wenn sie zu einem Dauerzustand zu werden droht, gefährdet sie seinen körperlichen und seelischen Heilungsprozeß. Er verlernt das Hoffen, reduziert sein Selbstbild auf das eines Todkranken. Gerhard: «Ich habe gespürt, daß ich ein großes Bedürfnis habe, mich zu isolieren. Ja, es gibt zwei Welten: Da ist die eine Seite, da sind die Gesunden, und da ist die andere Seite, da sind die Kranken. Und die Kluft ist unheimlich groß, unüberbrückbar. Ich bin auf der anderen Seite. Und das fing damit an, daß ich spürte, daß ich eine schwere Krankheit habe, und fürchtete: Es ist Krebs. Ich hatte sofort das Gefühl: Ich bin jetzt nicht mehr auf der Seite der Gesunden.»
Manche Krebspatienten werden durch ihre Erkrankung daran gehindert, ihren bisherigen Freizeitaktivitäten nachzugehen, oder sie geben sie aus eigenem Antrieb auf. Die fünfundzwanzigjährige Almuth, die ihre an Krebs erkrankte Mutter zu den ersten beiden Gruppentreffen begleitet, beklagt sich über deren Passivität: «Also, meine Mutter macht überhaupt nichts mehr. Körperlich ja – da hat sie schon Gewaltmärsche gemacht. Das ist alles okay. Aber das Seelische … Sie vergißt sogar, den Hund rauszulassen. Sie liegt bis nachmittags um vier Uhr im Bett, weil sie eben nichts mit sich anzufangen weiß.» Empört reagieren darauf zwei andere Krebspatienten: «Du darfst nicht die Geduld verlieren. Die Darmkrebsoperation deiner Mutter liegt doch erst wenige Monate zurück.» Die Gruppenmitglieder haben Verständnis für die Mutter, die weinend beteuert: «Ich möchte es gern so machen, wie ich es früher gemacht habe. Wir haben wirklich viel unternommen. Aber ich mag nirgendwo hinfahren. Das kann mein Mann gar nicht verstehen.»
Diese Frau litt an ihrer Passivität. Und zusätzlich belastete sie, daß ihre Angehörigen ihre Antriebslosigkeit und Unfähigkeit, mit der Krebsdiagnose seelisch fertig zu werden, nicht akzeptieren konnten. Durch ihre Krankheit war sie von ihren gewohnten Aktivitäten – Reiten, Reisen, Parties usw. – abgeschnitten. Sie fühlte sich isoliert und stand vor einer für sie verwirrenden Leere. Es ist eine schwierige Aufgabe, die oft viel Zeit und Geduld in Anspruch nimmt, diese Leere mit neuen Werten zu füllen.
«Ich habe mit meiner Krankheit keine Chance, weil ich seelisch nichts für mich tue.»