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«Wie können wir seelisch erfüllter und reicher leben und die in uns liegenden Möglichkeiten mehr verwirklichen? Welche Wege gibt es, befriedigender mit uns und anderen zusammenzuleben, im privaten Bereich, im Beruf und in der Politik? In diesem Buch haben wir die Erfahrungen vieler Menschen beim Umgang mit sich und anderen zusammengestellt. Es wird deutlich, wie beeinträchtigend Menschen mit sich und anderen leben, aber auch, wieviele Möglichkeiten der seelischen Entwicklung und des förderlichen Zusammenlebens sie haben. Der Leser wird viele der in diesem Buch geschilderten Erfahrungen als seine eigenen Erfahrungen wiedererkennen. Er wird so angeregt, sich stärker seinem Erleben zuzuwenden, und sich mit ihm offener auseinanderzusetzen. Das ermöglicht es ihm, sich selbst besser zu verstehen und eine positivere Einstellung zu sich selbst und dem Leben zu gewinnen.»
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Seitenzahl: 413
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Anne-Marie Tausch • Reinhard Tausch
Wege zu uns und anderen
Menschen suchen sich selbst zu verstehen und anderen offener zu begegnen
Ihr Verlagsname
«Wie können wir seelisch erfüllter und reicher leben und die in uns liegenden Möglichkeiten mehr verwirklichen? Welche Wege gibt es, befriedigender mit uns und anderen zusammenzuleben, im privaten Bereich, im Beruf und in der Politik?
In diesem Buch haben wir die Erfahrungen vieler Menschen beim Umgang mit sich und anderen zusammengestellt. Es wird deutlich, wie beeinträchtigend Menschen mit sich und anderen leben, aber auch, wieviele Möglichkeiten der seelischen Entwicklung und des förderlichen Zusammenlebens sie haben.
«Wege zu uns und anderen» ist das Ergebnis der langjährigen Arbeit des Professoren-Ehepaars Dr. Reinhard und Dr. Anne-Marie Tausch am Psychologischen Institut III der Universität Hamburg.
Außerdem lieferbar:
Anne-Marie Tausch: «Gespräche gegen die Angst»
Anne-Marie und Reinhard Tausch: «Sanftes Sterben»
Wie können wir seelisch erfüllter und reicher leben und die in uns liegenden Möglichkeiten mehr verwirklichen? Welche Wege gibt es, befriedigender mit uns und anderen zusammen zu leben, im privaten Bereich, im Beruf und im politischen Bereich? Können wir uns mehr von den seelischen Beeinträchtigungen befreien, in die wir verstrickt sind?
Diese Fragen haben uns in den letzten zehn Jahren intensiv beschäftigt, in unseren Forschungsarbeiten und auch in unserer psychotherapeutischen Tätigkeit.
In diesem Buch haben wir Erfahrungen vieler Menschen beim Umgang mit sich und anderen zusammengestellt. Es wird deutlich, wie beeinträchtigend Menschen mit sich und anderen leben, aber auch, wie viele Möglichkeiten der seelischen Entwicklung und des förderlichen Zusammenlebens sie haben. Die dargestellten Erfahrungen stimmen mit Einsichten aus Forschungen überein. Auch für unser eigenes Leben sind sie bedeutsam.
Die Erfahrungen vertrauten uns Menschen während unserer dreißigjährigen beruflichen Tätigkeit an. Sie enthalten ihre Sorgen und Wünsche, bewußter und befriedigender mit sich und anderen zu leben. Manchen dieser Menschen begegneten wir in Augenblicken, in denen sie sich in einer Lebenskrise befanden und sich zu klären suchten. Mit vielen Menschen waren wir in Gesprächsgruppen zusammen, die zum Teil im Fernsehen gezeigt wurden. Wir haben sie oft noch Monate oder Jahre danach begleitet.
Viele andere haben sich uns in Briefen oder telefonischen Gesprächen anvertraut. Manchmal hat uns die Flut der Briefe oder Anrufe fast überfordert. Aber wir haben uns immer wieder beschenkt gefühlt durch die persönlichen Erfahrungen dieser Menschen, durch ihre Offenheit sowie ihr Bemühen, sich selbst und anderen tiefer begegnen zu wollen. So erfuhren wir in Begegnungen und Gesprächen eine große Vielfalt von Möglichkeiten, die jeder von uns hat, sich selbst zu zerstören oder zu heilen, andere zu zerstören oder anderen ein Helfer zu sein.
Welche Bedeutung kann dieses Buch für den Leser haben? Er erhält Einblick in die Lebenspfade und vielfältigen Erfahrungen anderer Menschen. In manchem wird der Leser sich selbst wiedererkennen, seine eigenen Erfahrungen, Gedanken und Wege. So wird er angeregt, sich mehr damit auseinanderzusetzen, über seine innere Entwicklung nachzudenken und Klarheit über seinen Umgang mit sich und anderen zu gewinnen.
Wir möchten den Leser bitten, die Erfahrungen und Einsichten über die innere Entwicklung als Anregungen, als Möglichkeiten der eigenen Entwicklung anzusehen. Wichtig ist, daß jeder seinen eigenen Weg geht, daß niemand sich unter Druck setzt und meint, er «müßte» oder «sollte» einen dieser Wege gehen. Die innere Entwicklung jedes Menschen ist einmalig, je nachdem, in welcher Lebenssituation er lebt, in welchem Stadium er sich befindet, was ihm möglich ist und wo er am ehesten Zugang findet. Es kann also sein, daß ein Weg für einen Menschen günstig und hilfreich ist, während für einen anderen unter seinen anderen Lebensbedingungen ein anderer Weg förderlich ist. Wichtig scheint uns auch, daß wir uns und anderen Zeit lassen für die innere Entwicklung, daß wir sie nicht überstürzen und daß wir die Wichtigkeit kleiner Schritte sehen.
In unserem Wunsch, die Erfahrungen vieler Menschen dem Leser in diesem Buch zugängig zu machen, sind wir durch Helga Müller, Cornelia Tausch und insbesondere Daniela Tausch unterstützt worden. Erika Bednarczyk und Gertrud Wriede danken wir sehr für ihren unermüdlichen Einsatz bei der Textverarbeitung vieler Gesprächsausschnitte und der verschiedenen Fassungen des Manuskripts. Unser Lektor Jens Petersen hat durch seine engagierte hilfreiche Arbeit das Werden des Buches sehr gefördert. Herzlich danken wir auch den Menschen, die uns ihre seelische Innenwelt so offen anvertrauten. Wir konnten dadurch viel lernen, unser Leben ist durch sie reicher geworden.
Anne-Marie Tausch
Reinhard Tausch
Viele Menschen leben nach außen hin anders, als sie innerlich fühlen und denken. Sie bemühen sich, sich dem anderen nicht so zu zeigen, wie sie sind. Sie verdecken ihr Erleben. Sie wollen einen anderen Eindruck vermitteln; oft möchten sie sicherer wirken, ihre Angst und Unsicherheit verbergen.
«Irgendwo hab ich immer eine Maske auf», sagt eine Frau, 37 Jahre; «wenn ich etwa abends mit Leuten zusammen bin, dann bin ich lustig und fröhlich, und die sagen: ‹Das ist bei dir ja alles gut und schön.› Wenn ich dann nach Hause fahre, fällt die Maske ab.» Sie fährt fort: «Nein, die anderen kennen mich nicht. Sie haben auch alle Masken auf. Das ist wirklich so. Die legen ihre Masken eben nicht ab. Manchmal kann ich jetzt schon meine Maske ablegen, hier und da. Und ich kann heute schon mal sagen, wie ich mich wirklich fühle.»[*]
Rolf, ein Student: «In Situationen, in denen ich Angst habe und mich unsicher fühle, gebe ich mich überlegen und sicher, zum Beispiel im Seminar. Ich tu so, als ob mich das alles kaum etwas angeht und als ob ich alles wüßte und beherrschte. Aber wenn ich dann nach Hause komme, dann bricht alles in mir zusammen. In Wirklichkeit fühle ich mich so unsicher und unterlegen. Aber ich wage nicht, jemandem das zu sagen.» Eine junge Frau: «Ich habe dieses Lächeln an mir, dieses verbindliche, freundliche, Gunst heischende Lächeln. Das hab ich sehr leicht, daß ich lächle und im Grunde traurig bin.» Ihre Schwäche, ihr Unglücklichsein, ihre Unsicherheit versteckt sie hinter einer Fassade; sie möchte glücklicher, stärker wirken.
Oft sind Menschen wenig echt, indem sie ihr Verhalten bewußt oder unbewußt nach einer Rolle oder einem Berufsbild ausrichten. Sie handeln, wie «man» handelt. Manche Männer richten sich nach der Geschlechtsrolle «Mann» aus. Sie bemühen sich, hart zu sein, wenig gefühlsbetont, verbergen ihre Schwächen und Tränen. Nachrichtensprecher im Fernsehen setzen eine «Amtsmiene» auf, Pastoren verändern sich oft in Sprache und Verhalten, wenn sie die Kanzel betreten. Lehrer, Professoren, Richter, Psychotherapeuten verhalten sich gemäß einer Berufsrolle. Ihre Handlungen und Äußerungen entsprechen nicht dem, was sie fühlen und denken. Sie richten sich danach, was ihrer Berufsrolle angemessen ist und was andere von ihnen erwarten. Manche Menschen, zum Beispiel Politiker, verstehen sich als «Träger von Ideologien». Sie handeln als Sprachrohre ihres Parteiprogramms.
Diese Verleugnung der eigenen Person erfahren auch viele Studenten an den Hochschulen: «An der Universität verstecken sich viele Professoren und Studenten hinter einer Maske der Gelehrsamkeit. Kaum einer sagt etwas Persönliches von sich, öffnet sich. Fast jeder versteckt sich hinter Sachlichkeit und Wissenschaftlichkeit.»
Der oft krasse Unterschied zwischen Handeln und Fühlen im Beruf und im Privatleben kommt in den Äußerungen einer Lehrerin zum Ausdruck: «In der Schule werde ich von den Schülern, dem Kollegium und den Eltern als engagierte Lehrkraft sehr geschätzt. Ich komme mit allen gut aus. Dies aber nur, weil niemand von meinem Innenleben etwas weiß. Ich lebe mit einer Fassade, mit einer Maske, die ich nur zu Hause, wenn ich allein bin, abnehme. Dann kann es geschehen, daß ich weine, am Sinn meines Lebens zweifle und mich immer wieder frage, warum ich eigentlich so ungeliebt leben muß. Ich lebe ständig in einem Zwiespalt.»
So leben und arbeiten viele Menschen zusammen, ohne einander zu offenbaren, was sie fühlen und denken. Sie tarnen und verbergen ihre innere Welt.
Zwar empfinden viele die Tarnung in manchen Situationen als vorteilhaft: Konflikte werden vermieden, sie fühlen sich geschützt, andere ahnen nichts von den Schwächen. Doch die Nachteile werden deutlicher, je länger Menschen ihre Fassadenhaftigkeit beibehalten:
⚪ Das Aufrechterhalten von Fassaden und seelischen Mauern ist mit inneren Spannungen und mit ständigen intensiven Anstrengungen verbunden, erfordert Kraft und Energie: «Es kostet mich ungeheuer viel Anstrengung, meine Umgebung nicht merken zu lassen, daß es ständig in mir brodelt.» – «Wenn man ständig eine Rolle einnehmen muß, ständig aufpassen muß, das ist einfach zuviel für mich! Ich fühle mich oft sehr verkrampft.» – «Ich baue leicht eine Fassade vor mir auf. Und ich habe Angst, daß ich sie nicht durchhalten kann.» Die Angst, andere könnten ihre Verteidigungswand durchschauen, führt häufig zu noch stärkerer Kontrolle. Sie versuchen, sich noch sicherer oder unnahbarer zu geben. Dies ist mit einer Vergrößerung der Spannungen und Anstrengungen verbunden.
⚪ Unechtsein und Fassadenhaftigkeit behindern die Entwicklung der seelischen Möglichkeiten. Sie schränken uns ein, uns im Kontakt mit anderen zu verwirklichen und zu erfahren. Wir lernen uns selbst weniger kennen. «Leider gelingt es mir nur selten, wirklich ich selbst zu sein. Ich bin dadurch sehr eingeschränkt und kann nicht zu mir selbst finden, und ich kann mich auch nicht mit mir selbst auseinandersetzen.»
⚪ Fassadenhaftigkeit mindert die seelische Lebensqualität und macht uns gefühlsmäßig leerer. «Ich fühle mich völlig passiv. Ich sehe keinen Sinn in meinem Leben. Es kostet mich sehr viel Anstrengung, meine Umgebung nichts merken zu lassen, und das schon seit Jahren.» – «Ich weiß gar nicht, wie ich eigentlich bin. Ich habe mich über Jahre ständig vergewaltigt und mir das anerzogen. Ich kann gar nicht mehr natürlich sein. Manchmal gab es Augenblicke, wo andere Menschen das mitbekommen haben. Ich habe mir übelgenommen, daß ich mich in meinen Augen habe hängenlassen. Ich meinte, ich müßte immer stark sein … Ich habe manchmal das Gefühl, seelisch tot zu sein.»
⚪ Bei einigen führt das Unterdrücken des Fühlens und der Unterschied zwischen äußerem Handeln und innerem Fühlen zu körperlichen Störungen, zu psychosomatischen Erkrankungen: «Seit zirka zehn Jahren lebe ich in Angstzuständen, was sich auch in Herzanfällen und Weinkrämpfen zeigt», schreibt uns ein 42jähriger Mann. «Meiner Umwelt zeige ich mich nur als Freund und Helfer. Alle halten mich für den großen harten Kerl. Aber die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Nachts wache ich vor Angst auf, mit Hilfe von Tabletten wie Valium will ich dann alles vergessen, aber die Angst kommt wieder. Es führte so weit, daß ich im November einen Herzinfarkt bekam. Weder Ärzten noch Freunden konnte ich mein Herz ausschütten. Oft kommt mir jetzt der Gedanke, meinem Leben ein Ende zu setzen.»
⚪ Menschen mit Fassaden und Schutzpanzern kommen seltener in tiefe Beziehungen zu anderen, in der Partnerschaft, in der Familie, im Betrieb, mit Freunden und Mitmenschen. Die anderen erfahren von ihnen wenig über ihre wirkliche Person und empfinden sie deshalb eher als kühl und ablehnend. Die Mitmenschen wissen nicht, woran sie sind, mit wem sie es zu tun haben. «Ich habe das Gefühl, daß meine Partnerin mir oft was vormacht, und so weiß ich nicht, woran ich bei ihr bin. Und das verunsichert mich.» Die 38jährige Uschi über eine Bekannte: «Hella ist jemand, die sich oft versteckt. Ich möchte sie selbst doch wirklich sehen. Sie hat so ’n ziemliches Stück Fassade. Und das macht mich so mürbe, weil die Beziehung zu ihr für meine Begriffe kalt ist. Das finde ich traurig, weil vieles so lieblos, so arrangiert wirkt. Ich mag es nicht, wenn alles so neutral bleibt. Die echte Hella erleb ich nicht.»
Unter der Kälte und Unnahbarkeit, die andere an fassadenhaften Menschen wahrnehmen, leiden diese meist auch selbst. Eine Frau: «Ich komme mir manchmal vor wie hinter einer großen Schaufensterscheibe. Ich möchte so gern Kontakt aufnehmen mit draußen; aber die Scheibe ist so dick, daß ich gar nicht durchkomme. Aber diese Scheibe durch eine Tür zu verlassen – das ängstigt mich stark, und ich versuche, mich dann doch nach allen Seiten abzusichern.»
⚪ Menschen erfahren wegen ihrer vorgespielten Sicherheit, Arroganz oder Fröhlichkeit weniger Hilfe von anderen. Sie zeigen nicht ihre wirklichen Gefühle von Traurigkeit und Einsamkeit und können schwer um Hilfe bitten: «Wenn ich total in der Luft hänge, kann ich auf keinen zugehen und ihm sagen; daß ich ihn brauche», sagt Sophie, 35. «Dabei wünsche ich mir so sehr, zu jemandem hingehen zu können und zu sagen: Ich brauche dich. Aber ich kann es nicht. Ich habe Angst, zurückgestoßen zu werden, das wäre das Allerschlimmste. Und darum gehe ich schon vorher auf Distanz.»
⚪ Menschen mit einem seelischen Panzer neigen dazu, gegenüber anderen mißtrauisch zu sein. Sie nehmen an, daß auch andere sich hinter einer Fassade verstecken und unecht sind. Bruno, etwa 35 Jahre, äußert in einem Gruppengespräch: «Ich könnte keinem vertrauen, also grundsätzlich nicht. Es bleibt immer etwas hängen, wo ich sage: Also ich muß ihm mißtrauen … Und so nagt da eigentlich ständig so ein Mißtrauen in mir.»
Anne-Marie: «Ist das so, daß du viele Menschen als Gegner erlebst?»
Bruno: «Ach, ich würde sagen: Nur!»
Anne-Marie: «Hast du Menschen, die dir irgendwo nahe sind?»
Bruno: «Nein. – Ja, ich hab Bekannte, ich hab Freunde, was man so sagt. Das ist ein schöner Eimer Wasser, wollen wir mal sagen, aber das Wasser ist vergiftet. Auch die Bekannten und die Freunde. Das sieht ja alles schön und klar aus, aber das ist wirklich etwas Faules, ich könnte daran sterben.»
Ein Gruppenmitglied: «Fühlst du dich denn damit wohl?»
Bruno: «Weißt du, indem ich meinen Schutzpanzer hab, fühl ich mich wohl damit.» [61][*]
⚪ Menschen mit Fassaden veranlassen andere dazu, sich ebenfalls hinter Fassaden zu verstecken. Sind Eltern oder Lehrer unecht und fassadenhaft, so übernehmen Kinder und Jugendliche eher dieses Verhalten von ihnen. Verstecken Personen der Öffentlichkeit, etwa Politiker, ihr persönliches Fühlen und Denken, so tragen sie mit dazu bei, daß viele Menschen annehmen, Fassadenhaftigkeit sei ein angemessener Lebensstil.
⚪ Die Angst, abgelehnt, verletzt, nicht verstanden zu werden, die Anerkennung anderer zu verlieren oder vor anderen nicht bestehen zu können, ist der häufigste Grund, der Menschen veranlaßt, sich zu tarnen: «Ich spüre: Wenn andere mich gut kennen, werden sie mich ablehnen.» – «Ich versuche immer die Rolle des Sicheren zu spielen. Ich glaube, daß andere mich nur dann anerkennen, wenn ich sicher bin.» – «Ich habe Angst, daß andere etwas an mir entdecken, worüber sie lachen könnten und womit ich sie enttäusche.»
Viele berichteten uns, daß die Angst, in der Schule, während des Studiums und am Arbeitsplatz nicht anerkannt und abgelehnt zu werden, ihre Fassadenhaftigkeit förderte. Die Folge ist ein kühler, sachlicher, ja manchmal unmenschlicher Umgang, bei dem das gefühlsmäßige Erleben und persönliche Probleme ausgeklammert sind. «Ich habe eben diese wahnsinnige Angst, daß mich keiner versteht und mich alle ablehnen, wenn ich mich gebe, wie ich mich wirklich fühle», sagt eine Studentin. «Ich kann nicht von den Studenten und vom Dozenten verlangen, daß sie in einem Seminar, wo über fachliche Dinge gearbeitet wird, sich mit meinen Problemen beschäftigen.» Diese Aussage ist typisch für Zehntausende unserer Schüler und Studenten.
Durch diese Furcht vor Ablehnung oder Verletzung richten sich viele Menschen nicht nach ihrem eigenen Fühlen und Denken, sondern passen sich dem allgemein üblichen Verhalten und den Erwartungen anderer an. «Ich habe ständig das Gefühl, daß andere etwas von mir erwarten. Und deshalb verhalte ich mich meist so, daß ich die anderen nicht enttäusche. Und so traue ich mich nicht, offen das zu sagen, was ich möchte.» Eine Handelsschülerin, 19 Jahre: «Ich befürchte immer, es kann sich im Unterricht eine Situation herausstellen, in der ich ausgeschlossen bin oder sogar noch mehr: in der alle gegen mich sind, wenn ich meine wirkliche Meinung sagen würde. Und das hindert alle meine Beiträge. Denn ich bemühe mich wahnsinnig, mich wohlzuverhalten und nirgends anzuecken. Ich formuliere sehr vorsichtig, um bloß nicht irgendwo Aggressionen hervorzurufen. Und das paßt eigentlich gar nicht zu dem, wie ich sein möchte.»
Diese Angst, abgelehnt zu werden, hängt entscheidend mit geringer Selbstachtung und geringem Selbstvertrauen zusammen. «Mein schon ewig währendes Minderwertigkeitsgefühl hindert mich daran, mich in der Beziehung zum Partner so zu geben, wie ich wirklich bin.»
⚪ Die Angst vor Nähe ist ein weiterer Grund, gleichsam eine Schutzkleidung anzulegen. Eine Frau, 59: «Obwohl ich nicht kontaktarm bin, empfinde ich fast ständig eine gewisse Angst und Scheu im Umgang mit Menschen, sei es bei Bekanntschaften in der Nachbarschaft, bei Veranstaltungen, aber auch im Berufsleben. Wenn ich öfter mit jemand zusammen bin, so werde ich das unwillkürlich eintretende Gefühl nicht los, nicht mehr frei zu sein – daß ich meine Unabhängigkeit und Anonymität dabei verliere, daß ich von meinem privaten Bereich etwas verraten könnte und daß mir jemand zu nahetritt. Nach einiger Zeit möchte ich mich dann am liebsten wieder in mein ‹Schneckenhaus› zurückziehen.»
Die Sachbearbeiterin Brigitte, 33: «Ich spüre oft, daß ich den Leuten nicht viel bedeute. Besonders bei Leuten, die eine höhere Bildung genossen haben. Da fühle ich mich ihnen sehr unterlegen, unsicher … Ich habe mich immer mehr von den Menschen zurückgezogen. Ich bin so auch viel allein. Der Hauptgrund ist: Ich möchte von den Leuten angenommen, anerkannt werden. Ich hab schon früher in der Schule solche Schwierigkeiten gehabt, Kontakte zu bekommen. Und da hab ich mit dem Clown angefangen. Von außen her war alles gut, und bei mir innen hinein hat niemand geblickt. Ich hielt das für die einzige Chance, akzeptiert zu werden.»
⚪ Durch eine seelische Panzerung suchen Menschen unangenehme Teile oder Erfahrungen vor sich selbst zu verbergen. Sie haben Angst davor, Eigenschaften bei sich zu entdecken, die sie ablehnen oder die sie verunsichern würden: «Wenn ich über mich selbst nachdenke und zugebe, wie ich mich selbst sehe, dann ist das schlimm. Und deshalb lasse ich mir auch von den anderen nicht in meine Karten gucken. Ich habe Angst vor meiner inneren Leere, die hinter meiner Fassade ist.»
Manche Menschen fürchten, sich selbst näherzukommen, etwa ihrer Traurigkeit oder ihrer eigenen Unzulänglichkeit. Deshalb flüchten sie vor anderen und vor sich selbst hinter eine Fassade, in Beschönigungen, in Unaufrichtigkeit. «Wenn ich jemandem sage, wie aggressiv ich bin, dann bekommt er ein schlechtes Bild von mir. Deshalb verberge ich es, und deshalb kontrolliere ich mich. Aber ich verberge es damit gleichzeitig vor mir selbst.»
⚪ Die Angst, andere zu verletzen, hält viele davon ab, offen und aufrichtig zu sein. «Ich habe mitunter das Gefühl, daß ich mich zwiespältig verhalte, weil ich niemandem weh tun will, gewissermaßen aus Höflichkeit», sagt ein 35jähriger; «es fällt mir schwer, Stellung zu beziehen, weil ich fürchte, ich könnte den anderen verletzen, ihm weh tun, ich finde vielleicht nicht die richtigen Worte. Wenn ich im Gespräch dem anderen zuhöre, ist innerlich in mir so ein Motor, der die Kontrolle übernimmt, auch nur ja dann einzuhaken, wenn’s Höflichkeit, Takt und Erziehung erfordern. So fühle ich mich irgendwie immer unfrei, immer unter Druck gestellt, daß ich dann immer so diese Kopfschmerzen habe.»
⚪ Der Wunsch, andere nicht zu belasten, und die Befürchtung, ihnen ihre negativen Gefühle nicht zumuten zu können, hindern viele daran, echt zu sein: «Ich erzähle meiner Freundin nicht viel von den Streitereien mit meinem Mann. Ich denke, daß ich sie damit belaste, mit meinen Problemen. Früher habe ich ihr schon ab und zu etwas gesagt, um es ihr irgendwie verständlich zu machen, warum ich so gereizt bin. In letzter Zeit aber hat sie öfter gesagt: Renate, du siehst so traurig aus. Und dann sage ich ihr einfach nur: Ach, ich bin nur ein bißchen müde. Ich bin gar nicht traurig. Ich streite vor ihr meine Gefühle ab. Ich weiß nicht, ob das richtig ist. Denn seitdem ist eine ziemliche Verschlechterung in unserer Beziehung eingetreten. Sie spürt die Spannungen, sie liegen ja in der Luft.»
⚪ Mißtrauen anderen gegenüber verleitet viele dazu, sich hinter einer Fassade zu verbergen. Diese soll ihnen vor anderen Menschen Schutz bieten. Hans, ehemaliger Kranführer: «Ich bin immer vorsichtig. Ich leg die Karten nie voll hin. Ich behalt immer einen im Sinn. Das ist so ’ne Art Schutzpanzer. Das hat mich die Zeit gelehrt. Ich bin vorsichtig.»
Auch «gute Ratschläge» beeinflussen viele in ihrem Verhalten: «Man» soll seine Gefühle nicht äußern. «Man» muß sich zusammennehmen. «Man» muß vor anderen auf der Hut sein. Ein Angestellter, 26 Jahre: «Jetzt, wo ich meinen Arbeitsplatz wechsle, sagte mein Abteilungsleiter: ‹Passen Sie auf, daß Sie nicht den gleichen Fehler machen, den Sie hier gemacht haben! Sie müssen immer ein Schlitzohr sein! Sonst werden Sie nie weiterkommen.› Das hat mich zuerst sehr deprimiert, daß ich praktisch nicht so sein kann, wie ich möchte, so offen, hilfsbereit und so kollegial, sondern immer so ein Schlitzohr, egoistisch und so. Und ich dachte mir: Mensch, was ist das für eine Welt, in der du leben mußt.» – Ein 18jähriger schildert, wie ihm geraten wurde, mißtrauisch zu sein: «Die haben mir gesagt: ‹Du bist viel zu offen zu den Menschen. Du darfst nicht immer das Gute im Menschen sehen. Du mußt auch bedenken, jeder ist sich selbst am nächsten. Du traust den Menschen viel zuviel!› Ich hab danach eine lange Zeit bei jedem Menschen immer gedacht: Wie gut ist der eigentlich, wieweit kannst du dem eigentlich trauen? Immer habe ich jedem Menschen gegenüber gleich Angst gehabt. Erst allmählich habe ich mich davon freigemacht und hab gelernt: Wenn ich offen bin, gewiß, dann wird’s nicht leichter. Aber irgendwie komme ich dann besser mit den anderen klar.»
⚪ Manche suchen durch Masken und Fassaden andere über ihre wahren Absichten zu täuschen, um Vorteile zu haben. Sie wollen andere unwissend halten, um sie besser beherrschen und manipulieren zu können. In Verhandlungen etwa verstecken sie ihre wirklichen Absichten hinter Schweigen oder Äußerungen, die nicht ihren ehrlichen Auffassungen entsprechen: «Viele Menschen haben ein Pokergesicht. Sie tragen eine Maske und lassen andere nicht wissen, was in ihnen vorgeht.» Sich hinter Masken und Fassaden zu verstecken, um den anderen zu täuschen, vergiftet aber oft menschliche Beziehungen erheblich, ja kann körperlich krankmachend sein. Besonders bei Menschen, die füreinander eine größere Bedeutung haben, bei Familienangehörigen, in der Partnerschaft oder bei engen Mitarbeitern im Betrieb, sehen wir dies als seelisch sehr schädigend an.
Herrscht ein derartiges Klima im öffentlichen Leben, zum Beispiel bei politischen Verhandlungen, die in den Medien übertragen werden, dann lernen Millionen von Menschen unbewußt diesen Stil des Miteinanderumgehens.
Auch in der Wissenschaft gibt es das «Pokergesicht». Eine schwer verständliche Ausdrucksweise, die als «wissenschaftlich» gilt, ist oft eine Fassade, um die eigene Wissenschaftlichkeit herauszustellen und um sich selbst zu erhöhen. Dahinter steckt häufig die Angst vor Fehlern und Unzulänglichkeiten sowie ein geringes Selbstvertrauen.
⚪ Viele errichten Fassaden, um es bequemer zu haben oder um Nachteile zu vermeiden. Sie spüren unmittelbar die Entlastung, wenn sie in einer Situation ihr Fühlen nicht äußern. Wir haben oft erfahren, daß leitende Personen sich hinter Formalitäten oder bürokratischen Techniken zurückziehen, um Schwierigkeiten und persönliche Risiken zu vermeiden: «Fassaden und Abwehrhaltungen machen mich unangreifbar», sagt ein Abteilungsleiter. «Wenn ich Härte zeige, das schreckt andere ab, mich anzugreifen. Wenn ich an andere appelliere, das lenkt von mir ab. Wenn ich den anderen beschuldige, brauche ich mich nicht selbst zu offenbaren. Ich richte Ansprüche, die ich an mich richten müßte, an andere. Ich lenke von problematischen Teilen meiner Person ab. Ich vermeide Gespräche darüber und schiebe Sachinhalte vor.» Der Dekan eines Fachbereichs an der Universität: «Wenn es für mich schwierig wird, was ich tun soll und wie ich mich entscheiden soll, dann mache ich es rein formal, nach den Vorschriften. Ich habe mir in den letzten Jahren eine Fassade der Selbstsicherheit nach außen hin zugelegt. Diese Fassade schützt mich vor Übergriffen.»
Ob Menschen, die sich auf diese Weise vor Schwierigkeiten zu schützen und Bequemlichkeiten zu erlangen suchen, wissen, wie sehr sie damit befriedigende zwischenmenschliche Begegnungen erschweren? Auch wenn wir die unverbindlichen Äußerungen eines Regierungssprechers hören, seine vorsichtig und mit Bedacht gewählten, meist nichtssagenden Formulierungen, dann wird es uns deutlich, daß hier jemand ängstlich vermeidet, seine persönliche Meinung zu sagen oder eine Auffassung, die auf andere ungünstig wirken könnte.
⚪ Ein weiterer Grund für seelische Fassaden ist, daß viele Menschen keine Möglichkeit sehen, ihre Panzer und ihre Mauern zu durchbrechen: «Durch die vielen Jahre der Selbstbeherrschung kann ich lachen, wenn ich innerlich weine. Ich möchte gern ganz frei sein von dieser Maske und Gefühle zeigen und zulassen können. Ich möchte das, aber es geht nicht, ich kann überhaupt nicht mehr weinen.» Bei vielen verstärken und festigen sich die Masken und Fassaden im Laufe der Zeit – es wird immer schwieriger, sie aufzugeben.
Oft wurde diese Fassadenhaftigkeit schon während der Kindheit gefördert. Etliche Eltern, Lehrer und Mitmenschen erziehen andere dazu zu verbergen, was sie fühlen, ihre persönlichen Gedanken zu leugnen. Und viele passen sich dieser Norm schon als Kinder an, aus Angst vor Nachteilen und Strafen und der Vorteile wegen, die sich daraus für sie ergeben. Als Erwachsene sind sie dann tagtäglich mit vielen Menschen zusammen, die auch hinter einer Fassade leben und sich nicht hervorwagen. «Ich habe gemerkt, daß es eigentlich viel natürlicher, normaler wäre, wenn ich mich nach draußen so gebe, wie ich bin. Aber draußen in der Welt, da ist das normal, daß man sich hinter einer Fassade versteckt.»
So ist der Gedanke oder der Versuch von Menschen, die Fassade aufzugeben, mit Angst verbunden – der Angst, sich von etwas zu lösen, was ihnen sehr vertraut ist, was sie lange aufgebaut haben und was sie schützt, der Angst, sich auf Unbekanntes einzulassen, sich schutzlos preiszugeben: «Ich schaffe es nicht, alle meine Stützmauern und Gerüste abzulegen», sagt ein Rechtsanwalt. «Ich weiß nicht, was danach kommt, wenn ich sie beseitigt habe.»
Diese Menschen haben selten Informationen von anderen, die es wagten, ihre Rüstung abzulegen. Dieser Schritt ist zwar zunächst schmerzlich, aber auch befreiend und befriedigend.
Vor allem Menschen mit geringem Selbstwertgefühl wagen es selten, auf ihre Fassade zu verzichten. «Mein Selbstwertgefühl ist auf Null gesunken, weil ich erkannt habe, daß ich vor mir selbst nicht mehr bestehen kann und vor anderen perfektes Theater spiele», sagt ein Mann, 35. «Ich hielt mich für eine stärkere Persönlichkeit, als ich bin. In Wirklichkeit bin ich sehr schwach. Leider muß ich dieses Theater weiterspielen, denn ich fürchte, Schwache werden zertreten. Ich fühle mich sehr elend dabei.»
Die Angst, diese Mauer zu verlassen, die sie schützt, aber zugleich wie ein Gefängnis einengt, beschreibt auch ein 52jähriger Mann: «Ich habe sehr viel Angst, den Schutz abzulegen, den ich anderen Menschen gegenüber seit der Kindheit benutze. Dieser schützt mich nicht nur, sondern er isoliert mich stark und macht mich unglücklich. Noch nie habe ich meine Abwehr anderen Menschen gegenüber so genau wahrgenommen und meinen Widerstand, in mich hineinschauen zu lassen, an mir Anteil nehmen zu lassen, so stark empfunden. Aber auch noch nie habe ich so deutlich gemerkt, wieviel Anspannung und Energie es mich kostet, diese Mauer instand zu halten und sie nicht schadhaft werden zu lassen … Aber im Moment habe ich eigentlich schon die Bereitschaft, auf das Wagnis einzugehen.»
Wie können wir uns persönlich so entwickeln, daß wir mehr wir selbst sind? Wie finden wir zu einer Lebensweise, von der wir sagen können: «Was ich äußere, entspricht dem, was ich fühle und denke.» – «Ich verleugne mich anderen gegenüber nicht.» Was ist hilfreich auf diesem Weg, der sich oft über Jahre erstreckt und dessen Ziel wir kaum je erreichen?
⚪ Der Wunsch, sich von den Einengungen einer Fassade zu befreien, steht oft am Beginn. Eine Frau, 40 Jahre: «Warum trage ich eigentlich eine Maske? Warum lasse ich sie nicht fallen? Das möchte ich gern. Weil ich weiß, in Wirklichkeit bin ich ganz anders. Die Menschen sehen mich nicht, wie ich in Wirklichkeit bin. Ich möchte so leben, wie ich bin. Und auch von den anderen so erlebt werden.» Siegmund, 38 Jahre: «Ich möchte auf andere offen zugehen können und sagen: ‹Seht, so bin ich›, ohne in ein Rollenverhalten zu fallen und zu denken: ‹Was erwartet der andere von mir, wie muß ich jetzt sein?›» Eine Frau: «Zuerst bemerkte ich nicht, daß ich diese Maske habe … Vor einiger Zeit entdeckte ich, daß da offenbar etwas ist, was die Menschen von mir fernhält. Ich bemühte mich ganz verzweifelt, da herauszukommen, und ich wollte mich öffnen. Aber ich weiß nicht, wie ich da herauskommen soll … Ich weiß nur, daß ich das will.» [44]
Dieses Bewußtwerden der Einengung ist ein Anstoß, sich von Fassaden zu befreien.
⚪ Die ersten konkreten Schritte in der Entwicklung, echter zu werden, sind oft: In günstigen zwischenmenschlichen Situationen unternehmen Menschen weniger Anstrengungen, sich anderen gegenüber anders zu geben, als sie sind, besonders dann, wenn ihre Offenheit erwünscht ist. Wenn andere sich hierdurch nicht bedroht fühlen und wenn sie das Gefühl haben, daß ihnen aus dieser Entwicklung keine Nachteile erwachsen, sondern daß sie von den Mitmenschen anerkannt werden. «Dort, wo ich angenommen werde, wie ich bin, kann ich jetzt schon echt und ohne Fassade sein», sagt die Bibliothekarin Nicole. «Durch diese positive Atmosphäre bei den Leuten hatte ich nie das Gefühl, vorsichtig sein zu müssen, daß das jemand verkehrt auffassen könnte.» – «Wenn ich mich bei Leuten sicher fühle», sagt ein 45jähriger, «dann kann ich mich fallenlassen und mich öffnen. Sicherheit ist für mich, daß ich ein Gefühl von Zuwendung habe und die Leute kenne – daß ich darauf vertrauen kann, daß sie mich auch mögen, wenn ich mich anders gebe.» – «Ich habe mich so sicher unter Euch gefühlt», schreibt eine Frau, «daß ich es zum erstenmal schaffte, offen und ehrlich zu mir selbst zu sein. Eure Reaktion darauf hat mich sehr ermutigt und darin bestätigt, die Veränderung anzustreben.» Für manche ist auch das Zusammensein mit Kindern, die meist spontan und ohne Maske sind, eine Hilfe. «Bei meinen Kindern schaffe ich es am ehesten, ich selbst zu sein und ohne Angst», sagt der 35jährige Jakob.
⚪ Wenn sie auf Verständnis stoßen, beginnen manche, sich auch in ihrem Beruf mehr so zu zeigen, wie sie sind. So haben uns Lehrer von ihren Bemühungen berichtet, ihre Autoritätsrolle gegenüber den Schülern aufzugeben und zu vermeiden, etwas anders auszudrücken, als sie fühlen: «Ich habe erfahren, daß meine Schüler mich auch ohne Abwehrmauern mögen. Ich brauche nicht mehr anzugeben und den starken Mann zu spielen. Ich bin mir und den anderen gegenüber ehrlicher geworden.» Von den Schwierigkeiten, aber auch von ermutigenden Fortschritten berichtet Alfred, 35: «In Arbeitsgruppen und im Kontakt mit anderen erlebe ich es zum Teil heute noch als bedrohlich, meine Schwäche zu zeigen. Ich mache mich damit verletzbar. Wenn ich aber meine Verteidigungshaltungen aufgab, dann hatte ich einen viel lebendigeren Kontakt zu meinen Arbeitskollegen und Mitmenschen bekommen. Ich habe viel mehr Anteilnahme und Wärme gespürt, wenn ich meine Fassade aufgab.»
⚪ Menschen mit Selbstvertrauen und der Bereitschaft, sich zu wandeln, fällt es oft leichter, ihre Fassaden zu vermindern. «Ich denke, ich muß vorher innerlich aufrüsten, um nach außen meinen Panzer abrüsten zu können», sagt ein 40jähriger. «Aufrüsten heißt Vertrauen zu mir haben, zu mir selbst stehen, mich selbst achten – und bereit sein, auf Äußeres, auf Prestige, Eitelkeit, Ansehen und Anerkennung zu verzichten. Wenn ich innerlich sehr zu mir stehe und mich achte, dann kann ich auch ohne Fassade gegenüber denen sein, die mich nicht darin achten und annehmen. Entscheidend ist: Ich nehme mich selbst an.»
Das Vertrauen zu sich selbst und die Bereitschaft, sich zu sich selbst und ihrer Situation zu bekennen, halfen auch Margot: «Eine Zeitlang habe ich zu niemandem irgend etwas über meine Schwierigkeiten in der Partnerschaft gesagt. Ich sagte mir: Das ist meine Privatangelegenheit. Aber das ist anders geworden. Ich bekenne mich voll dazu, daß es nun einmal so ist, daß unsere Partnerschaft so schiefgelaufen ist. Und ich versuche, nichts mehr zu verstecken. Ich habe mir gesagt: Mensch, wenn die Situation anscheinend wirklich so unveränderbar ist, dann mußt du eben den Tatsachen ins Auge schauen und dich und die Situation so darstellen, wie sie ist.»
⚪ Sich von Erwartungen frei zu machen, von den eigenen und denen anderer, ist förderlich auf dem Weg, echter zu werden. «Ich bin dahintergekommen, daß Erwartungen an mich und an andere mich daran hindern, in einer Beziehung oder in einem Moment wirklich echt, wirklich ich selber zu sein. Erwartungen von mir: Der andere wünscht sich das von mir. Und Erwartungen an mich: Ich müßte der und der sein, und ich müßte mich anderen so darstellen. Und so habe ich mich dann verstellt. Ich lerne jetzt, alle Erwartungen aufzugeben und in jedem Moment der zu sein, der ich bin.»
⚪ Die Teilnahme an einfühlsamen Gruppengesprächen erleichtert es Menschen sehr, fassadenfreier und offener zu werden. Das Klima von gegenseitigem Verständnis, Akzeptierung und Unterstützung – zunächst von dem Helfer geschaffen, dann von den Gruppenmitgliedern übernommen – ist hierfür entscheidend. [40, 54] Jeder zweite, der vor der Teilnahme an einer Gruppe angegeben hatte, er verberge sich weitgehend hinter einer Fassade, erlebte sich ein halbes Jahr danach als wesentlich fassadenfreier. [65] «Die Gruppe half mir, die Maske der Überlegenheit abzulegen. Ich wurde mir selbst gegenüber ehrlicher und den anderen gegenüber mutiger.» – «Meine Einstellung anderen Menschen gegenüber war immer auf Abwehr von Angriffen gerichtet, weil ich glaubte, meine Schwächen verbergen zu müssen. Bei der Gesprächsgruppe erlebte ich, daß ich auch ohne Abwehrmauern akzeptiert werde. Ich komme mir jetzt zwar wehrloser, aber doch stärker vor. Ich brauche nicht mehr anzugeben und den starken Mann zu spielen. Ich bin mir und den anderen gegenüber ehrlicher.»
Die meisten überwinden allmählich ihre Hemmungen und Ängste, die Fassade fallen zu lassen. Bei einigen erfolgt es plötzlich und intensiv, wie es der 18jährige Joachim in einem Brief an uns beschreibt: «Am ersten Tag in der Gesprächsgruppe hatte ich Angst, mich selbst zu zeigen. Aber ich sagte dies niemandem. Ich verdrängte die Angst. Am nächsten Tag brach dann ein Kartenhaus zusammen, das viele Jahre gehalten hatte. Jemand äußerte, daß er mich nicht als echt erlebe. Ich spürte zu meiner Verblüffung, wie ich zunehmend unruhiger wurde. Gespielt kühl wollte ich wissen, was die anderen davon hielten. Es waren einige andere da, die ihn bestätigten. Sie hatten sich nur noch nicht getraut, es mir zu sagen. Ich begann zu zittern. Das durfte doch nicht wahr sein. Innerlich wehrte sich etwas in mir wie eine verletzte Raubkatze, doch ich fühlte mich hilflos. Ich wandte mich an die Helferin, sie wenigstens müsse doch die Echtheit gespürt haben. Aber auch sie fühlte wie die anderen. Da war es aus. Ich hatte das Gefühl, als wäre mir mit einemmal der Boden unter meinen Füßen weggerissen. Ich kam mir so allein vor. Ich hatte den starken Wunsch, aus dem Zimmer zu laufen. Doch auch darin sah ich keine Hoffnung. Nach kurzer Zeit geschah das für mich Merkwürdige. Plötzlich wurde ich ganz ruhig, das Zittern hörte auf, und ich sagte: ‹Wißt ihr, das komischste ist, ihr habt recht.› Auf einmal sah ich, daß ich tatsächlich gespielt hatte, nicht ich selbst gewesen war und das schon jahrelang. Ich konnte es nicht begreifen. Doch ich konnte es mir jetzt eingestehen. Ich hatte das Gefühl, als sei ein seltsamer Druck fort. Ich war erstaunt, daß ich dann alles über mich sagen konnte. Dinge, die ich noch eine Stunde zuvor nicht einmal mir selbst zugegeben hätte, konnte ich auf einmal wie selbstverständlich erzählen. Ich merkte, daß ich bisher kaum wahre Gefühle gezeigt hatte. Mir wurde bewußt, daß ich meine eigenen Gefühle einfach nicht hatte zulassen können, sondern überdeckt hatte. Leise begann ich zu weinen. Ich war verwirrt, aber ruhig.»
Wir sind sehr beeindruckt von den seelischen Vorgängen, die bei Menschen eintreten, die echter werden:
⚪ Sie werden seelisch lebendiger, selbstbestimmter, haben mehr persönliche Kraft: «Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie ich früher gelebt habe», berichtet eine Frau. «Es muß unheimlich anstrengend gewesen sein, hinter dieser Fassade zu leben.» – «Ich brauche nicht mehr viele Gedanken daran zu verschwenden, wie ich auf andere wirke!» Menschen verbrauchen ihre Energien nicht mehr zur Aufrechterhaltung ihrer Fassade. Teile ihrer Persönlichkeit, die vorher verkümmert waren, werden neu belebt. Diese Auswirkungen wurden in Untersuchungen bestätigt: Personen, die sich überwiegend als echt einschätzten – die zum Beispiel zugaben, wenn sie sich schwach und unterlegen fühlten –, waren freier von psychoneurotischen Beeinträchtigungen. [54]
⚪ Menschen kommen in ehrlichere und tiefere Beziehungen mit anderen, wenn sie ihre Fassaden, Rollen und Masken aufgeben. Die Furcht, von anderen nicht angenommen zu werden, erweist sich oft als unbegründet. Joachim: «Nach der Gruppe begann ich mich in ganz anderem Licht zu sehen. Ich hatte jahrelang die Überzeugung gehabt, daß jeder, der mein wahres Selbst sehen würde, mich sicherlich ablehnen müßte. So aber spürte ich nun gerade, wenn ich ich selbst war, viel mehr Zuneigung. Am Anfang fiel es mir noch recht schwer, diese Zuneigung von anderen anzunehmen. Doch ich muß sagen, es ist wunderbar, was ich heute alles erfahre. Leute kommen auf mich zu und sagen, sie würden mich ganz anders erleben, viel ruhiger, offener, und ich wäre ihnen so viel lieber … Ich habe in den letzten Monaten und Wochen Erfahrungen gemacht, die mein Leben wirklich lebenswert machen. Ich weiß, daß es mir nicht immer so gutgehen kann. Aber ich weiß heute, daß das auch zu meinem Leben gehört. Und daß ich immer die Möglichkeit habe, zu anderen hinzugehen und ihnen zu sagen, wie es mir geht, und auf ihr Verstehen hoffen kann. Vielleicht irre ich mich, aber meine momentanen Erfahrungen weisen mich in diese Richtung.» Nicole ist erstaunt, wie positiv andere ihre Offenheit aufnahmen, im Gegensatz zu ihren Befürchtungen: «Ich habe eben am Telefon meinem Vater zum erstenmal in meinem Leben gesagt, daß es mir seelisch schlecht geht. Und er hat gesagt, dann komm doch mal, daß wir uns aussprechen. Und ich dachte immer, er tobt gleich los, wenn ich ihm das sage. Weil er sonst immer sagte: Alle Neurotiker müßte man ins Arbeitslager stecken oder erschießen.»
Dagegen berichtet uns ein Priester, Leiter einer großen Schule, der gemeinsam mit uns an einem siebzehntägigen Gruppenseminar in den USA teilnahm, in einem Brief über seine Schwierigkeiten, die er auf Grund seiner größeren Offenheit im Umgang mit Kollegen hat: «Menschen fürchten sich. Viele, mit denen ich zusammen lebe, sind einfach nicht offen. Sie lassen weder mich noch jemand anderen wissen, wie sie wirklich sind. Sie fühlen sich durch mich bedroht und verschließen sich noch mehr als vorher. Ich fühle mich fremd, und das ist schmerzlich. Ich denke: Diejenigen, die frei sind, sie selbst zu sein, verschrecken andere, die noch nicht so sein können. Wenn ich versuche, sie zu ermutigen und mit ihnen zu sprechen, ernte ich oft zuerst Mißtrauen und Angst. Die Menschen müssen glauben, ich habe irgendeine geheime Absicht. Und das ist entmutigend für mich. Aber ich werde es weiterhin versuchen. Es wird eben nur langsam vorangehen.»
Geringere Fassadenhaftigkeit ermöglicht vielen den Weg zu tieferen, lebenswerteren Freundschaften und erfüllten Partnerschaften. Renate: «Die Kontakte mit Bekannten, Freunden und Kollegen haben sich verbessert. Der Kreis meiner Freunde ist zwar kleiner geworden, aber die Beziehungen sind sehr viel intensiver. Ich merke, daß die Leute gern zu mir kommen oder auch ihre Sachen gern mit mir bereden wollen. Ich lasse mich auch nicht mehr auf irgendwelche oberflächlichen Gespräche mit Leuten ein. Und das kommt auch gar nicht so unbedingt schlecht bei Leuten an, wenn ich ihnen ganz klar sage: Red mal nicht herum, warum rufst du eigentlich an? Ja, und dann sagen sie es. Ich habe auch das Gefühl, mir ist mein Leben einfach zu schade und zu kurz, daß ich um irgendwelchen Scheiß immer herumrede. Und so habe ich die Erfahrung gemacht: Je offener ich bin, je günstiger ist es für mich und meine Freundschaften.»
Die Möglichkeit, durch eine größere Ehrlichkeit sich selbst und anderen gegenüber intensivere Freundschaften und Beziehungen eingehen zu können, dabei aber auch oberflächliche Beziehungen aufzugeben, zeigen die nachfolgenden Äußerungen. Reinhold: «Margret und ich haben sogenannte Freunde verloren, weil sie von uns gegangen sind, als sie merkten, daß wir begonnen haben, uns nach unseren Erfahrungen zu richten und nicht nach ihren oftmals offenen und versteckten egoistischen Vorstellungen. Und wir haben in zunehmendem Maße Freunde bekommen, die leben wollen wie wir: offen zu- und füreinander und uns in unseren eigenen Erfahrungen achtend. – Jetzt leben wir echter, bewußter, ohne Maske, wir fühlen uns zugleich freier, uns und den anderen viel näher.» – «Ich bin anspruchsvoller in meinen Beziehungen geworden», sagt Therese, «weil ich lieber mit Menschen zusammen bin, die echter sind. Mich ärgern die Versteckspiele, die ich früher auch mitgemacht habe. Ich weiß jetzt mehr, daß ich von bestimmten Personen etwas will, von anderen nicht.»
Verstellen sich Menschen nicht mehr, so fällt es ihnen leichter, anderen ihre persönlichen Gedanken und Gefühle mitzuteilen. «Ich kann den Menschen freier und offener entgegentreten und meine eigenen Wünsche und Gedanken besser äußern. Ich kann jetzt einfach über mich reden und muß nicht immer auf Sachen ausweichen, zum Beispiel: ‹Ich möchte mir einen Fotoapparat kaufen, weißt du nicht, welches da der beste ist?› Ich kann auch eher auf den anderen eingehen. Und ich kann jetzt von mir aus mal jemand einfach ansprechen. Das finde ich gut.»
Oft geht diese Selbstöffnung einher mit größerem Mut und weniger Angst vor anderen und sich selbst. «Ich bin mutiger geworden, meine Gefühle zu äußern, freier, meine wahre Meinung zu sagen und andere Menschen um etwas zu bitten.» – «Ich habe keine Angst mehr, abgewiesen zu werden. Mir fällt es leichter, spontaner zu sein, zu sagen, was ich im Moment empfinde.»
Menschen lernen, anderen mitzuteilen, was in ihrem Fühlen und Erleben von großer Bedeutung ist. Sie äußern, wie sie sich selbst sehen, wie sie sich fühlen. Der andere erhält so Einblick in ihre Erlebniswelt. So mag jemand sagen: «Ich hatte solche Schuldgefühle, ich konnte nächtelang kaum schlafen.» Oder er spricht über seine persönlichen Gedanken und Gefühle: «Ich werde es kaum schaffen.» – «Ich bin jemand, der sehr verschlossen ist.» – «Ich bin gern mit Ihnen zusammen.»
Mit Selbsteröffnung ist allerdings nicht die unbegrenzte Offenlegung der sogenannten Intimsphäre jedem beliebigen Menschen gegenüber gemeint. Es ist vielmehr eine seelische Wandlung, durch die wir fähig werden, uns den Menschen zu öffnen, die diese Offenheit verstehen und als eine Bereicherung der Beziehung ansehen. Wir meinen mit Selbstöffnung auch nicht die Mitteilung aller Gefühle, etwa eines Anflugs von Ärger, Unlust oder Langeweile, bei denen wir spüren, daß sie rasch vorübergehen und nicht bedeutsam für die Beziehung zum anderen sind.
In einem Klima gegenseitigen Vertrauens, in dem sich Menschen angenommen fühlen, fällt es den meisten leichter, sich zu öffnen: «Bei Menschen, denen ich mich zumuten kann, habe ich es jetzt schon des öfteren gewagt, ehrlich über meine Gefühle zu sprechen.»
Manche wagen und lernen es am ehesten, sich gegenüber Familienangehörigen zu öffnen: «Ich bin echter geworden. So daß ich jetzt meinen Angehörigen sage, wenn mir etwas gefällt oder wenn mir etwas nicht gefällt. Ich vertrete öfter meine Meinung. Zwar mit einem großen Unsicherheitsgefühl, aber ich geb mir dann richtig einen Ruck und denke: Einmal mußt du es ja lernen. Ich merke, wie es mir jetzt oft leichterfällt, einmal etwas von mir zu erzählen.» Eine Mutter berichtet, wie sie mehr Offenheit in ihrer Familie zu erleben beginnt: «Was das Verhältnis von mir und meinen Kindern angeht, so erzählen wir uns jetzt mehr, was uns privat bedrückt, was wir machen. Wir tauschen einfach mehr persönliche Eindrücke aus. Sie erzählen mir dann auch, was sie erlebten und woran sie rumknabbern. Das war vorher eigentlich nicht so. Das war auch mein Fehler, mein Verhalten. Ich habe immer versucht, mich zu vertuschen oder im Hintergrund zu verstecken – nach dem Motto: Das geht meine Kinder nichts an, das ist mein Problem. Wir sind jetzt offener zueinander.»
Partnerschaften sind ein weiterer Bereich, in dem Menschen es wagen und lernen, sich zu öffnen. Barbara, 37: «Unsere Partnerschaft ist offener geworden, weil ich einfach nicht mehr herunterschlucke. Wenn ich Unklarheiten verspüre, mache ich einfach den Mund auf und rede darüber und versuche, auch Hans zum Reden zu bewegen.» Eine 42jährige Frau sagt: «Ich denke, wir beide versuchen, unsere Probleme und Konflikte vorsichtig, schonend genug anzusprechen. Und wir sind auch mit viel Verständnis aufeinander eingegangen, und es hat auch Entsprechendes gebracht. Früher habe ich es so erlebt, daß Andreas möglichst überhaupt nicht aus sich herausgekommen ist. Das, was er gesehen oder empfunden hat, das war alles sein Problem. Das hat er für sich behalten, und er hat nur vor sich hingemurrt und war mürrisch. Ja, er hat es heruntergeschluckt. Er hat nur Ablehnung signalisiert, und ich konnte nie damit umgehen. Ich wußte ja nie: Was ist es? Wie ist es? Dadurch konnte ich Andreas nie verstehen oder auch nie hilfreich sein. Das war so meine ganze Ohnmacht. Jetzt ist mir das alles bewußt geworden.»
Auch gegenüber Freunden oder Bekannten lernen Menschen, sich mehr zu öffnen. «Ich habe unter meinen Freundinnen Mut gefunden, meine Schwächen aufzudecken, mich auch mit meinen Kanten und Ungereimtheiten und mit Unausgegorenem zu zeigen, und – was das Schönste ist – das Gefühl bekommen, auch damit angenommen zu werden.»
Joachim, 17, berichtet von seiner Erfahrung in der Schulklasse: «Meine Mitschüler finden, seitdem ich offener bin, bin ich auch für sie viel zugänglicher, menschlicher geworden. Seitdem haben sie mir auch viel von sich erzählt, wahrscheinlich, weil sie sich nicht mehr so minderwertig bei mir vorkamen, weil ich ja so eine Fassade des Sicheren und Problemlosen hatte. So übe ich mich sehr darin, nicht mit meinen Schwierigkeiten und mit meinem Innern für mich zu bleiben.» – «Ich zeige mich jetzt so im Unterricht, wie ich bin, ohne mich zu verheimlichen und ohne Panzer», sagt ein Lehrer. «Ich zeige meine Unzulänglichkeiten und auch meine Fehler. Und auch das, was ich schön und gut finde.» – «Verbessert hat sich, daß ich gelernt habe, freier zu sein, freier zu leben, mich Konflikten zu stellen, auch wenn ich weiß, das geht bitter für mich aus. Auch wenn ich negative Reaktionen zu erwarten habe, sage ich trotzdem meine Meinung. Das hat mir schon eine Menge gebracht. In der Firma akzeptieren mich die anderen jetzt ganz anders. Früher habe ich mich immer so wie ein Aal durchgewunden, immer jede Möglichkeit mitgenommen, aber immer an dem Problem vorbei, nicht mittendurch. Und jetzt gehe ich direkt darauf zu, und das ist eine starke Verbesserung.»
Beeindruckend ist für uns im folgenden Beispiel, wie sich eine junge Universitätsdozentin bemüht, in ihrem Berufsalltag menschlicher zu werden: «Früher habe ich gedacht: Die merken das nicht und verstehen das nicht. Meine Probleme, die muß ich für mich lösen, da darf ich niemand anderen mit belasten. Ich war immer strahlend, immer vergnügt, immer ausgeglichen, immer ruhig. Das hat die vielleicht auch irgendwie aggressiv gemacht. Von mir ist da nie etwas durchgekommen. Seitdem ich den Leuten aber erzähle, daß ich Schwierigkeiten habe, da öffnen sie sich mir. Weil ich vorher immer das Bild von mir gegeben habe: Bei mir ist alles okay, und ich bin toll, und ich bin glücklich, ich habe immer einen Haufen Kraft, bei mir könnt ihr alles abladen. Und die kamen immer mit ihren Problemen zu mir, aber ohne daß sie mich wahrnahmen, eher so als seelischen Mülleimer. Jetzt haben sie ein ganz anderes Verhältnis zu mir. Es erleichtert sie ungeheuer, daß auch ich Schwierigkeiten habe. Der menschliche Kontakt ist sehr viel besser geworden. Es ist viel mehr Offenheit. Häufig klopft es an meiner Tür in meinem Uni-Zimmer. Auch Leute, die früher gelegentlich auf der Treppe mit mir gesprochen haben oder im Seminar, die kommen jetzt und wollen einfach nur reden. Das finde ich toll. Ich bin irgendwie menschlicher geworden, dadurch, daß auch ich mich mal gezeigt habe – auch, daß ich mich manchmal schlecht fühle.»