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«Mir scheint, daß wir uns auf nichts so wenig vorbereiten wie auf unser Sterben», schrieb Anne-Marie Tausch 1981 in ihrem Buch «Gespräche gegen die Angst». «Dabei ist der Tod das Sicherste, was in unserem Leben eintreten wird.» Wie können wir lernen, angstfreier mit Sterben und Tod umzugehen? Seit ihrer Krebserkrankung setzte sich Anne-Marie Tausch gemeinsam mit ihrem Mann sehr intensiv mit der Erfahrung und der Bedeutung des Sterbens auseinander. Nach ihrem Tod hat Reinhard Tausch die Arbeit an diesem gemeinsam begonnenen Buch fortgesetzt. Der erste Teil schildert die persönlichen Erfahrungen der Familie Tausch mit schwerer Krankheit und Sterben. Der zweite Teil berichtet von Erlebnissen, die Angehörige und medizinische Helfer bei der Begleitung Sterbender machten. Fast 200 Menschen kommen hier ausführlich zu Wort. Im dritten Teil des Buches werden die Erfahrungen von etwa 400 Menschen dokumentiert, die sich in einer geleiteten Meditation ihr eigenes Sterben vorstellten. Die Autoren zeigen, daß wir mit einer offenen Einstellung gegenüber dem Sterben lernen können, die Begrenztheit unseres Lebens angstfrei anzunehmen.
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Seitenzahl: 534
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Anne-Marie Tausch • Reinhard Tausch
Sanftes Sterben
Was der Tod für das Leben bedeutet
Ihr Verlagsname
«Mir scheint, daß wir uns auf nichts so wenig vorbereiten wie auf unser Sterben», schrieb Anne-Marie Tausch 1981 in ihrem Buch «Gespräche gegen die Angst». «Dabei ist der Tod das Sicherste, was in unserem Leben eintreten wird.»
Wie können wir lernen, angstfreier mit Sterben und Tod umzugehen? Seit ihrer Krebserkrankung setzte sich Anne-Marie Tausch gemeinsam mit ihrem Mann sehr intensiv mit der Erfahrung und der Bedeutung des Sterbens auseinander. Nach ihrem Tod hat Reinhard Tausch die Arbeit an diesem gemeinsam begonnenen Buch fortgesetzt.
Der erste Teil schildert die persönlichen Erfahrungen der Familie Tausch mit schwerer Krankheit und Sterben. Der zweite Teil berichtet von Erlebnissen, die Angehörige und medizinische Helfer bei der Begleitung Sterbender machten. Fast 200 Menschen kommen hier ausführlich zu Wort. Im dritten Teil des Buches werden die Erfahrungen von etwa 400 Menschen dokumentiert, die sich in einer geleiteten Meditation ihr eigenes Sterben vorstellten.
«Sanftes Sterben» ist eine gemeinschaftliche Arbeit des Hamburger Professoren-Ehepaares. Dr. Anne-Marie Tausch starb 1983 an ihrer Krebserkrankung. Professor Dr. Reinhard Tausch arbeitete bis zu seiner Emeritierung am Psychologischen Institut der Universität Hamburg.
Außerdem lieferbar:
Anne-Marie Tausch: «Gespräche gegen die Angst. Krankheit – ein Weg zum Leben».
Anne-Marie und Reinhard Tausch: «Wege zu uns und anderen».
Reinhard Tausch: «Hilfen bei Stress und Belastung. Was wir für unsere Gesundheit tun können».
Erfahrungen von Anne-Marie Tausch und ihren Angehörigen
Ein halbes Jahr nach dem Tod meiner Frau Anne-Marie, im Dezember 1983, hielt ich zusammen mit meiner Tochter Daniela in Stuttgart einen Vortrag über Anne-Maries und unsere Erfahrungen mit ihrer Krankheit und ihrem Sterben. Es war ein sehr bewegender Abend. Über tausend Zuhörer waren gekommen. Obwohl mir manchmal die Tränen kamen, berichteten Daniela und ich fast zwei Stunden lang in einer Atmosphäre großer Aufmerksamkeit und Stille.
In den Tagen danach erreichten uns viele Briefe, in denen Menschen uns dafür dankten, daß wir ihnen einen so persönlichen Einblick in Anne-Maries Krankheit und Sterben gegeben hatten. Eine Frau, die zwei ihrer drei Kinder durch Krankheit verloren hatte, schrieb: «Die Tränen, die ich danach weinen konnte, haben mir wohlgetan. Mir war, als wäre eine Tür nach innen aufgegangen, die ich sonst sorgsam verschließe. In den Erfahrungen Ihrer Frau und in den Ihren habe ich viel Trost gefunden.» Eine gelähmte Frau teilte uns mit: «Ich habe neue Anstöße für meine Lebensbewältigung bekommen. Euer ehrlicher Bericht macht mir nicht nur Mut, ohne Masken zu leben, sondern auch den Mut, ohne Fassaden zu sterben. Ich bin daran, meine Wünsche ‹rund um mein Sterben› allen Traditionen zum Trotz neu zu regeln.» Und eine vierzigjährige Frau schrieb uns: «An diesem Abend hat der Bericht über den Abschied von Anne-Marie Tausch bei mir so viel ausgelöst. Durch dieses Teilhaben an ihrer Krankheit, an Euren Hoffnungen, Schwierigkeiten, durch das Erzählen der nicht immer einfachen Pflegesituation, von Euren eigenen Höhen und Tiefen, vor allem aber durch das Spüren, was das Daheimsein für Anne-Marie bedeutete. Dadurch habe ich deutlich gemerkt, daß dies meine Aufgabe beim Tod meines Vaters werden soll. Ich habe an diesem Abend so unendlich viel Mut geschöpft, soviel Kraft und Willen in mir gespürt. Ich habe aus Euren Worten aber auch klar meine eigenen Grenzen erkannt, daß ich nur so weit gehe, wie meine Kräfte und die meiner Familie reichen.»
Die vielen positiven Reaktionen der Besucher unseres Vortrags waren der Anlaß, in diesem Buch von den Erfahrungen zu berichten, die meine Lebenspartnerin Anne-Marie und wir als Familie während der letzten Jahre ihrer schweren Krankheit und ihres Sterbens machten. Ich denke, der Bericht kann aus mehreren Gründen für viele von Bedeutung sein:
⚪ Wir waren eine Familie, die wie viele andere nie mit schwerer Krankheit und langsamem Sterben konfrontiert worden war.
⚪ Anne-Marie teilte ihre persönlichen Erfahrungen öffentlich mit und gab so Menschen die Chance, angstfreier mit einer Krebserkrankung und mit der Wahrscheinlichkeit des Sterbens zu leben. Es war ihr wichtig, das große Schweigen um diese Vorgänge zu vermindern.
⚪ Sie war darum bemüht, Wege zu finden, trotz fortschreitender schwerer Erkrankung seelisch heil zu bleiben und bewußt und intensiv zu leben. Ihre Botschaft war, in ihren Worten ausgedrückt: Wir brauchen nicht seelisch zu sterben, bevor der Tod eintritt.
⚪ Sie hat Krankheit und Sterben als eine Herausforderung zur persönlichen Entwicklung angesehen. So waren ihre letzten Jahre für sie und für uns Angehörige auch eine Zeit der seelischen Entwicklung, nicht eine Zeit, die gleichsam abgebucht werden muß und nur voller Angst, Trauer und Unglück ist.
⚪ Ihr und mir ist sehr klar geworden: Wie wir auf schwere Krankheit und Sterben reagieren, was wir dabei erleben, hängt sehr entscheidend von unseren Einstellungen, Gedanken und erworbenen Bewältigungsformen ab.
Wichtig ist es mir, zu betonen: Ich berichte nicht über ihre und unsere Erfahrungen, um meine Lebenspartnerin zu idealisieren oder eine Art Vorbild aus ihr zu machen. Auch schreibe ich dies nicht in der Erwartung, daß andere den gleichen Weg gehen sollten. Menschen sind seelisch unterschiedlich, und ihre Lebenssituation ebenfalls. Vielmehr denke ich, daß diese Erfahrungen für manche hilfreich sein können, sich vor einer Krankheit damit auseinanderzusetzen und dann im Falle einer schweren Erkrankung leichter einen Weg zu finden, der für sie angemessen ist, ihren Wünschen und ihrer persönlichen Entwicklung entspricht.
Anne-Marie wurde 1925 in Berlin geboren und wuchs zusammen mit einer Schwester und einem Zwillingsbruder auf. Über ihre Kindheit sagte sie: «Ich war ein sehr lebhaftes Kind, sehr übermütig, sehr ausgelassen, voller Aktivität. Ich habe oft die ganze Klasse zu Streichen angestiftet. Ich glaube, ich war ein recht anstrengendes Kind für die Lehrer. Ich war voller Aktivität und Ideen; für mich war die Schule ein Feld, mich ein Stück zu leben. Ich bin natürlich dann auch viel diszipliniert worden. Ich habe in der Schule sehr viele Rügen und Tadel ins Klassenbuch eingetragen bekommen. Auf dem Zeugnis stand häufig: Sie stört noch immer den Unterricht.»
Bei Ausbruch des Krieges war Anne-Marie vierzehn Jahre alt. Ihr Vater, ein Lehrer, wurde zur Wehrmacht eingezogen. In den folgenden Jahren erlebte sie Hunger und Angst; bei einem Fliegerangriff wurde die Wohnung der Eltern zerstört. Im vorletzten Kriegsjahr begleitete sie ihren Vater in Nachtwachen beim Sterben.
Nach Kriegsende studierte sie an einer Pädagogischen Hochschule. Sie wollte Volksschullehrerin werden. «Ich hatte die Sinnlosigkeit und Zerstörung des Krieges erfahren. Ich war hellhörig und wach geworden gegenüber Aggressionen und gegenüber Leiden anderer Menschen, nachdem ich früher ein völlig unbeschwertes Kind gewesen war. Ich hatte den Wunsch, etwas Sinnvolles zu tun, und zwar Menschen zu helfen, friedfertiger miteinander zu leben. Da ich in meinem Beruf mit Menschen zusammensein wollte und da ich gute Beziehungen zu Kindern hatte und auch erfahren hatte, daß ich Schülergruppen in der Nachbarschaft gut unterrichten konnte, wurde ich Lehrerin.»
Zwei Jahre später begann sie an der Universität Göttingen Psychologie zu studieren. Nach ihrem Diplom und einer zweijährigen Arbeit als Assistentin an einer Pädagogischen Hochschule vollendete sie eine Doktorarbeit an der Universität Göttingen. Es war eine empirische Untersuchung darüber, wie Kinder Erwachsene erleben.
Danach ging sie als freie wissenschaftliche Mitarbeiterin an das Psychologische Institut der Universität Marburg, um als Kinderpsychologin zu arbeiten. Ich war damals Assistent an diesem Institut. Wir waren uns bereits Jahre zuvor während des Studiums einige Male flüchtig begegnet. Jetzt spürten wir schnell eine starke Zuneigung und entdeckten viele Gemeinsamkeiten. Ein halbes Jahr später heirateten wir.
Wegen der drei Kinder, die wir in den folgenden sechs Jahren bekamen, nahm sie, abgesehen von einer Ausnahme, keine bezahlte Stelle an. Sie arbeitete jeweils als freie Mitarbeiterin an der Hochschule mit, an der ich tätig war.
«Mein Leben ist dadurch gekennzeichnet, daß ich arbeite mit dem Ziel, anderen zu helfen.» Durch meine Tätigkeit als Dozent für Psychologie an einer Pädagogischen Hochschule bekamen wir viel Einblick in die damals übliche Schulerziehung. Was wir dabei erfuhren, war erschreckend für uns. In mehreren umfangreichen empirischen Untersuchungen wies Anne-Marie nach, daß das Lehrerverhalten sehr autoritär war, daß Schüler durch die starke Neigung der Lehrer, zu lenken und zu dirigieren, wenig Selbstbestimmung und Selbstverantwortung entwickeln konnten. Diese Arbeiten erregten viel Aufsehen. Es wurde offenbar, daß die Schulerziehung junge Menschen wenig auf ein späteres demokratisches Zusammenleben vorbereitete. In anderen Untersuchungen zeigte sie, daß auch das soziale Klima in Kindergärten wenig förderlich für die persönliche Entwicklung war und daß Kinder auch in ihren Familien oft wenig Wärme erhielten, jedoch in starkem Ausmaß gelenkt und dirigiert wurden.
Sie bemühte sich dann, durch Untersuchungen herauszufinden und zu prüfen, wie eine gute Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern beschaffen ist, die das seelische Wohlergehen und die seelische Lebensfähigkeit des Kindes mehr fördert. Alle diese Untersuchungen erschienen zunächst in wissenschaftlichen Fachzeitschriften. Durch unser Buch ‹Erziehungspsychologie› wurde sie einer großen Anzahl von Lehrern, Erziehern und interessierten Laien bekannt (29)[*].
Die folgenden Äußerungen aus einem Interview zeigen, wie sehr diese Arbeit sie erfüllte: «Ich habe mit meinem Mann zusammen viel in der Erziehung gearbeitet. Ich war immer irgendwie beseelt – nicht besessen, aber beseelt von dem Gedanken: Ja, da kannst du zeigen, was Kindern hilft oder sie angstfreier macht oder persönlich entwickelter. Ich denke, es ist das wichtigste, den anderen in seiner ganz anderen individuellen seelischen Welt zu achten, zu begleiten, zu fördern und sich selbst zu entwickeln. Die persönliche Entwicklung in der Familie und Schule sehe ich als wichtigstes Lernziel an» (28).
«Wissenschaft ist für mich mehr als Forschung und Lehre: nämlich Hilfe für die Menschen in Not.» Sehr beeinflußt wurde Anne-Marie durch den Kontakt mit dem amerikanischen Psychologen Carl Rogers, dem Begründer der klientzentrierten Psychotherapie. Seine Ideen und wissenschaftlichen Befunde halfen ihr, wesentliche Möglichkeiten des humanen Zusammenlebens von Menschen zu erkennen und zu fördern (14, 15, 17). Durch seine klientzentrierte Psychotherapie wurde sie angeregt, Kindern und Erwachsenen in Einzel- und Gruppengesprächen zu helfen, sie seelisch zu fördern, ihnen mehr Selbstbestimmung zu ermöglichen, ohne sie zu dirigieren, zu belehren oder zu bewerten. Sie untersuchte die Auswirkungen dieser Gespräche bei unterprivilegierten Kindergartenkindern, bei ängstlichen Schülern, bei alten Menschen über 65 Jahren. Sie führte Gruppengespräche mit Personen, die Schwierigkeiten miteinander hatten, zum Beispiel Richter und inhaftierte Angeklagte sowie alte und junge Menschen.
Über diese Arbeit sagt sie in einem Interview (28): «Viele Menschen leben in einem seelischen Kerker, den sie sich selbst gebaut haben. Etwa aus Angst, abgelehnt zu werden, zwängen sie sich jahrelang in Rollen hinein, die ihnen überhaupt nicht entsprechen. Diese Menschen sind oft verzweifelt und sagen: ‹Ich weiß überhaupt nicht, wer ich bin. Bin ich der, der ich vorgebe zu sein?› Wir erleben es in Gesprächen und Gruppen, wie dann Menschen sagen, daß ihre Fassade allmählich fällt. Neulich schrieb mir ein junger Mann von 28 Jahren: ‹Ich fange an, aus meiner Erstarrung aufzutauen.› Und heute schrieb gerade eine Frau: ‹Ich spüre, wie die Eisenreifen, die um mich gelegt sind, sich allmählich weiten.› Durch meine Forschungen möchte ich wissen: Wie kann ich es einem Menschen ermöglichen, daß er sich seelisch selbst mehr helfen kann?»
Diese jahrelange wissenschaftliche und praktische Tätigkeit, Menschen durch hilfreiche Gespräche zu größerer Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung zu verhelfen, fand ihren Niederschlag in unserem gemeinsamen Buch ‹Gesprächspsychotherapie› (30). Mit ihren Untersuchungen habilitierte sie sich an der Universität Hamburg, war dann Privat-Dozentin und wurde später zur Honorar-Professorin ernannt.
Sie bemühte sich intensiv, ihre Befunde und ihr Wissen Menschen direkt zugänglich zu machen. So führte sie gemeinsam mit mir in den Jahren 1976 bis 1980 im Südwest-Fernsehen 14 Gruppengespräche mit insgesamt über 130 Personen. Durch diese Sendungen erlebten Millionen Zuschauer, wie sich Mitglieder einer Gruppe einander öffnen, sich näherkommen, sich ehrlich mit sich selbst auseinandersetzen und sich ändern. Viele Menschen wurden dadurch angeregt, mehr auf ihre seelische Entwicklung bedacht zu sein.
Daneben war sie immer wieder auch Lernende, als Teilnehmerin in Gruppen am Center von Carl Rogers, auf Seminaren und Workshops und durch Kontakte mit Wissenschaftlern vor allem in den USA.
«Es geht mir darum, Menschen mit meinem Wissen und meinen Erfahrungen zu bereichern.» Im Frühjahr 1978, im Alter von 54 Jahren, begann sie, unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, zu untersuchen, wie hilfreich es für Krebskranke, ihre Angehörigen und für medizinische Helfer ist, wenn sie an einer psychologischen Gesprächsgruppe teilnehmen.
In einem Interview spricht sie über den Anlaß zu dieser Untersuchung: «In einer unserer Fernseh-Gesprächsgruppen war eine Krebspatientin. Sie hat viel mit uns gesprochen, das war ein Jahr vor ihrem Tod. Sie empfand die Gespräche wie eine ‹seelische Aufrüstung›. Und dann kamen eben Anrufe und Anfragen von Krebspatienten zur Teilnahme an Gruppengesprächen. Ich dachte, da stehe ich jetzt mit leeren Händen da. Aber ich sah es als eine Aufforderung für mich an. Ich suchte mir Mitarbeiter und Studenten und reichte einen Forschungsplan ein, den ich auch genehmigt bekam.»
Dann schildert sie die darauf folgenden Ereignisse: «Gerade als wir mit der ersten Gruppe begannen, ging ich zu einer Routineuntersuchung, eigentlich ganz gesund. Da stellte der Arzt bei mir die Diagnose Krebs. Unterstützt durch die Mitarbeiter konnte ich die Forschungsuntersuchung weiter begleiten. Es zeigte sich, daß sich die Menschen in den Gesprächsgruppen wie befreit fühlten. Sie haben gesagt: daß sie über ihre Angst sprechen konnten, das hat ihnen die Angst genommen» (27).
In den folgenden zwei Jahren schrieb sie das Buch ‹Gespräche gegen die Angst›. Ihre wissenschaftlichen Untersuchungen waren dabei nur der Ausgangspunkt. «In diesem Buch empfinde ich mich nicht als Autor, sondern als Medium. Menschen erzählen mir ihre bedeutsamen persönlichen Erfahrungen, ihren Umgang mit der Krankheit oder ihren seelischen Schwierigkeiten. Ich denke, daß das, was Menschen sehr persönlich erfahren, auch für andere Menschen wichtig sein kann. Meine Erkenntnis ist, daß das Persönlichste von Menschen das Allgemeinste ist, wo sich andere wiederfinden können … Ich habe dieses Buch wirklich erst schreiben können, nachdem ich die Krankheit und die Auseinandersetzung mit der Krankheit von der Innenseite her erlebt habe, als Betroffene und nicht von außen als Beobachter. Es heißt ja auch, die Betroffenen sind Experten … Das Buch war in erster Linie eine ganz tiefe Beschäftigung auch mit mir und eine Auseinandersetzung mit den bei der Krankheit aufkommenden Fragen» (27, 28).
Bei einer Routine-Vorsorgeuntersuchung wurde bei Anne-Marie 1978, im Alter von 54 Jahren, ein kleiner Knoten in der linken Brust festgestellt. Eine erste Operation ergab, daß es ein Krebsknoten war. «Ich bekam die Diagnose durch eine Assistenzärztin im Krankenhaus mitgeteilt, die das eigentlich in sehr wenig liebevoller Weise machte. Gott sei Dank hatte ich meine Tochter Angelika bei mir. Und als die Ärztin raus war und die Krankenschwester, da sind wir uns erst einmal weinend in die Arme gesunken. Das war eigentlich so, daß ich meine Tochter sehr trösten mußte. Ich konnte es in vollem Umfang noch gar nicht so begreifen» (25).
Da sie gerade einen Fernsehtermin mit einer Gesprächsgruppe hatte, ließ sie die Operation erst eine Woche später durchführen. Damals machte mir dies Sorge – heute sehe ich es als richtig an. So hatte sie vor der Operation ein gutes Erlebnis und war seelisch gestärkt, mit Leben erfüllt.
Da der Krebs schon weit gestreut hatte, wurden die linke Brust und 17 erkrankte Lymphknoten im umliegenden Bereich entfernt. – Wie Anne-Marie mit der beginnenden Erkrankung umging, hat sie eingehend in ihrem Buch ‹Gespräche gegen die Angst› beschrieben.
«Ich verschweige meine Erkrankung nicht, ich spreche in der Familie, zu anderen Menschen und in der Öffentlichkeit über sie. Das ist hilfreicher für mich, als sie zu verbergen.» Anne-Marie traf die Krebserkrankung völlig überraschend. So war es für sie zunächst sehr schwierig zu akzeptieren, daß sie krank war und sich operieren lassen mußte, zumal sie vorher keinerlei körperliche Beschwerden gehabt hatte. Es war ein sehr bedeutsamer, tiefer seelischer Eingriff in ihr Leben.
Wenige Tage nach der Operation schrieb sie einen Rundbrief an die Teilnehmer der Gesprächsgruppe und an ihre Freunde:
«Vor genau einer Woche bin ich operiert worden; es ist mir die linke Brust abgenommen worden, und viele Lymphknoten sind entfernt worden. Der Befund drei Tage später besagte, alle Gewebsproben sind krebsartig. Und das bedeutet, daß die Gefahr besteht, daß doch die Krebszellen gestreut haben können. Damit hatte ich nicht gerechnet, und es hat mich sehr deprimiert. Irgendwie dachte ich, ich wäre mit der Operation über den Berg.
Es ist mir dann klargeworden, daß ich mich damit auseinandersetzen muß, daß ich mit dieser Krankheit leben muß, gefaßt sein muß, sie wiederzubekommen.
Heute, drei Tage später, sehe ich noch einen Weg vor mir. Es gibt eine Therapie, die etwa zwölf Monate dauert, die mit Hilfe von Tabletten und Infusionen die möglicherweise gestreuten Krebszellen abtöten kann.
Ich hoffe, daß ich in zwei bis drei Tagen hier aus dem Krankenhaus entlassen werde und mit dieser neuen Therapie nächste Woche beginnen kann.
Sie wird mich sicherlich für ein Jahr körperlich etwas reduzieren. Ich muß auch für die Infusion stationär ins Krankenhaus gehen. Aber alle Informationen, die wir eingeholt haben, sprechen für diese Methode, und so will ich mich auch dieser medizinischen ‹Pferdekur› stellen. Ich denke, daß ich seelisch so stabil bin, daß ich diese medikamentöse Einwirkung gut verkrafte.
Ich bin ganz sicher, wenn ich erst einmal diese Krankenhausatmosphäre verlassen habe, daß ich mich ganz schnell wieder erhole und mir auch meine Arbeitsfähigkeit, die ja ein wesentlicher Teil meiner Person ist, wenigstens zeitweise erhalten werde.
Viel zu dieser Hoffnung haben beigetragen die vielen Grüße, anteilnehmenden Worte, liebevollen Gedanken, die ich von so vielen Seiten bekommen habe. Sie summierten sich in mir zu einer inneren Kraft, die mir Zuversicht gibt, das nächste Jahr bei guter seelischer und hinreichender körperlicher Gesundheit zu verbringen.
Wenn Ihr jetzt in mein Krankenzimmer hineinschauen könntet, Ihr würdet kaum glauben, daß ich krank bin. Ich fühl mich auch gar nicht krank. Und das ist schließlich die Hauptsache, um bald wieder gesund zu werden.»
Auch für uns – die Kinder Cornelia, Angelika, Daniela und für mich – kam ihre Erkrankung völlig überraschend. Daniela: «Für mich war es damals unfaßbar, daß das Leben meiner Mutter so bedroht sein sollte. Und ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie sterben sollte oder daß der Tod so nahe dastand.» Cornelia: «Als es dann herauskam, daß es Krebs war und er schon recht verbreitet war, das war besonders für meinen Vater sehr schwer. Wir haben zusammen geweint und sind uns noch näher gekommen. Ich hatte Angst, daß er sich dann auch noch tötet, weil er soviel verloren hat. Ich hatte solche Angst, beide Eltern zu verlieren. Wir haben dann auch darüber gesprochen, und er hat gesagt, daß er es nicht tun würde, und das war mir sehr wichtig.»
Reinhard: «Eigentlich war Anne-Marie diejenige von uns beiden, die körperlich viel leistungsfähiger war. Ich hatte immer gedacht, daß mich viel eher eine lebensbedrohende Krankheit treffen würde als sie. Insofern kam das alles völlig überraschend. Es hat mich zunächst sehr traurig gemacht und niedergedrückt» (25).
In den Tagen und Wochen nach der Diagnose und Operation halfen Anne-Marie Gespräche mit uns und mit Freunden sehr, dieses einschneidende Ereignis mit seinen noch unklaren Folgen anzunehmen: «Ich habe es manchmal bei mir erlebt, daß ich geneigt bin, wenn es mir nicht sehr gutgeht, mich zurückzuziehen. Aber daß meine Familienangehörigen oder Freunde immer gesagt haben: Komm, sprich, was ist es, das dich bedrückt? Es ist nicht so belastend, wenn du uns das sagst, als wenn du dich zurückziehst. Sonst ist eine Mauer zwischen uns, die ist belastender» (26). Daniela: «Es war mir wichtig, daß sie ihre Traurigkeit und ihre Ängste zuließ, sie nicht ignorierte, sondern darüber sprach und sich klären konnte und wieder freier in ihrem Bewußtsein wurde.»
Dies beschreibt auch Anne-Marie in einem Interview: «Für mich waren bei der Krankheit sehr wichtig Menschen in unserem Freundeskreis und in Gruppen, die mir zuhören, die mir helfen, mich mit mir auseinanderzusetzen. Es ist sehr hilfreich, jemanden zu haben, mit dem ich sprechen kann, damit ich mich mit meiner Angst und meinen Sorgen und meinem Kummer auseinandersetzen kann. Ich habe ja auch viele Gespräche mit Krebspatienten geführt, und sie haben gesagt: Daß ich mir meine Ängste und meinen Kummer mal von der Seele reden kann, das hat mich befreit. Also, was hilft, ist Selbstauseinandersetzung und auch das Zulassen von Angst. Ich denke, das schönste für den Erkrankten ist, wenn er gehört wird in dem, was er fühlt. Wenn ihm die Möglichkeit gegeben wird, das auch auszusprechen, ohne abgewürgt zu werden, ohne beschwichtigt zu werden» (26, 28).
Was Anne-Marie wohl am meisten beeinträchtigte, war die Ungewißheit, wie die Krebserkrankung weiter verläuft: «Da kommt irgend etwas auf mich zu, wo ich zur Passivität verurteilt sein werde, wo ich in meiner Aktivität stark eingeschränkt bin, wo ich nur noch Patient bin.» Es war uns weitgehend unklar, wie eine Krebserkrankung verläuft, wie ein ungünstiges Ende aussieht. Würde sie in zwei Monaten sterben? In einem halben Jahr oder in zwei Jahren? Wir hatten lediglich einige Informationen von anderen Krebspatienten. Sie hatten uns auch von sehr unangenehmen Erfahrungen erzählt, etwa von Chemotherapie und Bestrahlungen, durch die sie in ihrer Lebensqualität sehr eingeschränkt worden waren und die doch die Krankheit nicht aufhielten. So lebten wir in großer Ungewißheit, und das belastete uns. Reinhard: «Was mich sehr viel geplagt hat, war: Wie können wir vermeiden, daß sie eine medizinische Therapie unternimmt, die vielleicht ihr Leben etwas verlängert, die aber ihre Lebensqualität sehr einschränkt?» (25)
«Ich wurde durch meine Krankheit damit konfrontiert, mich mit meinem Sterben auseinanderzusetzen.» Keiner konnte uns klare Auskunft über die Heilungsaussichten geben. So konfrontierte sich Anne-Marie gleich nach der Operation auch mit der Möglichkeit, bald sterben zu müssen. In Selbstgesprächen, Gesprächen mit anderen und durch Bücher zu diesem Thema setzte sie sich intensiv mit ihrem möglichen Tod auseinander. Diese Auseinandersetzung begleitete sie während ihrer ganzen Krankheit. In manchen Zeiten fühlte sie sich dem Tod, in anderen wiederum dem Leben näher.
Besonders wichtig war es für sie, daß auch wir, ihre Familie, uns mit ihrem möglichen Tod auseinandersetzten und uns innerlich darauf vorbereiteten, sie gehen zu lassen. Zu Beginn ihrer Erkrankung fiel es uns schwer, ihr mögliches Sterben anzunehmen. Dadurch fühlte sie sich sehr belastet. In einem Interview sagte sie: «Was mich bei meiner Operation und nachher eigentlich so erschreckt hat, ist, daß meine Angehörigen sehr geklammert haben. Wir haben uns vorher gar nicht mit dem Sterben auseinandergesetzt. Wir sind wirklich eine sehr offene Familie, wo alle Probleme auf den Tisch kommen. Wir haben aber überhaupt nie über die Möglichkeit gesprochen, daß einer von uns mal sterben wird, wie das dann so für den anderen ist. Wir haben uns eigentlich auf einen so wichtigen Vorgang in unserem Leben gar nicht miteinander vorbereitet. Wir haben jetzt seit der Operation sehr daran gearbeitet. Für mich ist es natürlich die Konfrontation mit meiner Endlichkeit. Und ich habe das Gefühl, daß also mindestens mein Mann und meine jüngste Tochter das wirklich schaffen, mich gehen zu lassen, während meine zwei anderen Kinder daran noch zu arbeiten haben. Und ich kann das akzeptieren, daß das noch schwer für sie ist. Es wäre für mich ja auch schwer, sie herzugeben, sie loszulassen» (25, 27).
Durch die Auseinandersetzung mit dem Sterben wurden Anne-Marie auch ganz konkrete Wünsche hinsichtlich ihres Todes deutlich. Auf eine Frage der Interviewerin sagte sie: «Ich würde mir wünschen – und das wissen meine Angehörigen auch –, daß nicht eine Todesanzeige mit schwarzem Rand verschickt wird, sondern vielleicht ein farbiges Papier, helles Gelb, oder auch ein Bild von mir dabei. Mein Wunsch ist es auch, daß meine Angehörigen nicht in Trauerkleidung zur Beerdigung gehen und danach. Sondern ich möchte ihnen eigentlich vermitteln: Laßt mich los, es geht mir gut. Begleitet mich, aber begleitet mich nicht zu sehr mit traurigen Gedanken, sondern auch mehr mit einem Gefühl – ja vielleicht ist es übertrieben, wenn ich das sage, und es schockiert vielleicht manche: aber so ein Stückchen auch der Freude. Der Freude, daß ich vielleicht dort bin oder dort hinkomme, wo es ja nicht schlechter ist. Also ich habe so für mich die Vorstellung, daß es vielleicht in manchem sogar leichter wird, da, wohin ich komme, wenn ich gestorben bin. Daß da viel Licht ist, daß da Leichtigkeit ist. Und wenn wir das etwas mehr in unser Bewußtsein hineinbekommen, dann können wir ja im Grunde den Sterbenden fröhlich auf seine Reise begleiten, so wie wir auch einen anderen Menschen zu seiner fernen Reise mit guten Gedanken und Wünschen abfahren lassen und begleiten» (27).
Bei der Auseinandersetzung mit ihrem Tod war für sie auch ein Seminar in den USA sehr hilfreich (20). In einer geleiteten Sterbemeditation stellten sich die Teilnehmer im entspannten Zustand das eigene Sterben und ihren Tod vor. Über ihre Erfahrungen bei dieser Meditation schrieb sie: «Wir erhielten die Instruktion, uns zu entspannen und uns dann vorzustellen, wie es für uns und unsere Angehörigen wäre, wenn wir tot seien. Ich fühlte mich gut, nicht traurig, ich war eher so ganz leicht, nicht mehr ganz da. Ich sah nur ein helles Licht. Es war eigentlich kein Licht mehr, ein Lichterort, ein breites, warmes Lichtfeld. Ich war nicht mehr mit meinem Körper da. Ich konnte nur noch fühlen. Ich fühlte mich eher durchsichtig, ohne feste Abgrenzung nach außen, nur einfach fühlend da, eher schwebend, einfach seiend, ohne Verbindung dorthin, von wo ich kam. Ich spürte auch keine traurigen Gedanken meiner Angehörigen, die sie mir nachschickten. Ich war wohl mit ihrer Erlaubnis gegangen, sie hatten mich freigegeben. Ich fühlte mich ganz frei, frei von der Wirklichkeit, von der ich herkam. Ich war einfach da, körper- und formlos da in einer anderen Wirklichkeit, in der ich intensiv fühlte und die ich als Licht, Helligkeit, Schwerelosigkeit und Leichtigkeit sehr verdichtet erlebte.»
So erfuhr sie in dieser meditativen Übung, daß sie sich vor dem Tod nicht fürchtete. Auch später hatte sie keine Angst vor dem Sterben, sondern eher vor den damit verbundenen körperlichen Schmerzen. Einmal sagte sie in einem Interview, sie wäre sogar etwas neugierig auf den Übergang in eine andere Wirklichkeit.
«Die Auseinandersetzung mit dem Sterben führt mich hin zum Leben.» Diese Auseinandersetzung war für Anne-Marie und für uns sehr hilfreich. Wichtig war, daß Anne-Marie gleich nach der Operation damit begann. Sie war durch diese Klärung freier für das Leben und mußte nicht unnötig Kraft darauf verwenden, die Angst vor dem Sterben zu unterdrücken.
So gewann sie viel für ein intensives Leben in den viereinhalb Jahren, die ihr noch nach der Diagnose blieben. «Ich denke, daß dieses Sichauseinandersetzen mit einem Teil unseres Lebens, der so sicher wie kein anderer kommt und für den wir oft so unvorbereitet sind, uns nicht vom Leben wegführt, sondern eher sogar hinführt. Also, mir ist das so gegangen: Ich bin sehr offen für dieses Leben geworden, dankbar und sehr, sehr bewußt» (25). – «Ich habe bei mir selber die Erfahrung gemacht, nachdem ich so durch diese Angst und diese Schmerzen gegangen bin, daß sich eigentlich eine ungeheure Lebensfreude und Lebensenergie in mir freigesetzt hat» (26). – «Ich denke, daß die Auseinandersetzung mit dem Sterben, mit unserer Endlichkeit uns möglicherweise überhaupt erst wach macht für dieses Leben, um es wirklich rund und voll zu leben» (27).
So wurde sie allmählich offen für beide Seiten: Sie sah die Möglichkeit des Sterbens und sah zugleich optimistisch ihrem weiteren Leben entgegen. Sie lernte, die Krankheit anzunehmen und sich mit ihr wieder dem Leben zuzuwenden.
«Ich kann sehr viel für meine seelische und körperliche Gesundheit tun.» Anne-Marie bemühte sich sehr bewußt darum, seelisch und körperlich gesund zu leben, die ihr noch zugänglichen Möglichkeiten voll auszuschöpfen: «Ich habe sofort danach angefangen und erkannt, ich muß seelisch etwas für mich tun. Es war mir klar: der Spielraum der Einwirkung, den ich habe, ist der seelische. Und wenn ich mich seelisch gleichsam gut ernähre, dann fühle ich mich auch vom Körperlichen her wohler. Und ich habe dann angefangen mit Entspannungsübungen, Hatha-Yoga und Meditation» (25). – «Wichtig war, daß ich vor der Krankheit an Gesprächsgruppen teilgenommen und gelernt hatte, mich offen mit mir auseinanderzusetzen» (28). Bereits sechs Wochen nach der Brustamputation machte sie wieder ihr Jogging. Wir stellten in der Familie unsere Ernährung allmählich um: keinen Industriezucker, kein weißes Mehl, kaum Fleisch, viel Vitamine, Obstsäfte und Gemüse.
Anne-Marie wollte nicht ein Leben als Patientin führen, das heißt passiv auf die medizinischen Behandlungen warten und überwiegend damit beschäftigt sein. Sie ließ sich schon sieben Tage nach der Operation aus dem Krankenhaus entlassen. Heute verstehe ich, daß sie sich gegen die Krankenhausatmosphäre wehrte, gegen das «Behandeltwerden», das viele Patienten daran hindert, aktiv für sich zu sorgen. Sie wollte seelisch so viel wie möglich für sich sorgen und ihre Zeit nicht in so hohem Maße medizinischen Methoden opfern, deren Wirkungen ihr eher fragwürdig erschienen. Auch in den folgenden Jahren, bei der Bestrahlung und der Chemotherapie, ließ sie sich, wenn irgend möglich, ambulant behandeln, blieb höchstens ein bis zwei Tage im Krankenhaus, obwohl die Autofahrten zur Klinik sie auch belasteten.
Sehr wichtig für ihr Wohlbefinden war ihre Geborgenheit in der Familie. Hier fand sie auch die notwendige Unterstützung in ihrem Bemühen, für sich zu sorgen. Ihre Tochter Daniela: «Ich weiß, ich kann ihr nicht ihre Krankheit abnehmen, ich kann sie nicht gesund machen. Aber ich kann ihr helfen, mit der Krankheit umzugehen, für sich zu sorgen oder ihr dabei helfen, zum Beispiel zur Krankengymnastik zu gehen, so die ersten Schritte zu machen. Für mich kam damals auch eine Wende in der Beziehung. Früher war ich es immer, die hilflos war, weil ich eben lange krank war; und jetzt war ich diejenige, die Hilfe geben konnte. Von daher ist seit dieser Krankheit auch so eine Wechselbeziehung eingetreten zwischen uns, also ein Wechsel zwischen Mutter und Kind: Mal bin ich die Mutter und sie das Kind oder umgekehrt. Eigentlich sind wir ja eher so wie zwei Freunde geworden» (25).
Von großer Bedeutung war für Anne-Marie, daß sie ihre Arbeit fortsetzte. Sie fuhr weiterhin zu Vorträgen, sogar zu Fortbildungskursen in die USA. Vor allem arbeitete sie schon bald nach der Operation an ihrem Buch ‹Gespräche gegen die Angst›. Auch beschäftigte sie sich zunehmend mit indischer und chinesischer Philosophie und schrieb Gedichte für ihre Kinder, über einen möglichen Tod und über ihre Gefühle.
Sie suchte sich jeden Tag lebenswert und reich zu gestalten. Sie machte viele Spaziergänge, ruhte sich zwischen der Arbeit aus. Besonders wichtig war, daß sie nicht gegen die Erkrankung und gegen ihr Schicksal ankämpfte, sondern lernte, die Erkrankung anzunehmen und mit ihr zu leben.
Zweieinhalb Jahre nach der Operation begann sich Anne-Maries gesundheitlicher Zustand langsam zu verschlechtern. Wie äußerten sich die zunehmenden körperlichen Beeinträchtigungen?
⚪ Eine fortschreitende Muskelentzündung führte zu Juckreiz und Hautrötungen, auch im Gesicht, beeinträchtigte ihre Bewegungsfähigkeit und gab ihr ein Gefühl körperlicher Schwere.
⚪ Ihre Augenerkrankung – die Netzhaut wurde teilweise nicht hinreichend durchblutet – verschlimmerte sich. Schließlich konnte sie nur noch mit Hilfe eines Fernseh-Lesegerätes lesen.
⚪ 1981 traten weitere Krebs-Metastasen am Schlüsselbein auf, die sie nach einiger Zeit operieren ließ.
⚪ Im November 1982 – neun Monate vor ihrem Tod – wurden haselnußgroße Krebsknoten in der Halsregion entdeckt, und feine Metastasen schienen sich im Brustraum zu entwickeln. Entgegen ihrer ursprünglichen Abwehr ließ sie Bestrahlungen vornehmen, da sonst die Gefahr bestand, daß die Durchblutung des Gehirns und damit ihr Bewußtsein beeinträchtigt würde.
⚪ Auf Grund dieser Bestrahlungen gingen die Krebsknoten zurück. Doch im Winter 1982 erlitt sie eine schwere Virusinfektion in einem Rückenmarksegment – eine Gürtelrose –, die vermutlich mit der Schwächung des Immunsystems durch die Bestrahlung zusammenhing. Sie hatte sehr starke Schmerzen und war zwei Monate lang bettlägerig. Die Ärzte nahmen an, die Schmerzen würden von Tumoren im Rückenmark verursacht, die auf dem Röntgenbild schwach zu erkennen waren. Dies führte bei den Ärzten und uns zu der falschen Annahme, sie würde binnen kurzem sterben. Sie erholte sich jedoch wieder und leitete im März 1983 sogar ein sechstägiges Seminar in der Schweiz.
Bei einer Untersuchung, kurze Zeit nach dieser Reise, wurde Wasser in der Lunge festgestellt. Da ihre Atmung hierdurch sehr erschwert wurde, mußten in den vier Monaten bis zu ihrem Tod über zwanzig Punktionen durchgeführt werden, da sich die Lunge immer wieder mit Wasser füllte. Drei Wochen lang hatte sie einen Lungenkatheter, der die Flüssigkeit fortlaufend absaugte. Während dieser letzten vier Monate lag sie überwiegend im Krankenhaus; sie ließ sich jedoch so oft wie möglich zumindest für einige Tage oder über die Wochenenden nach Hause entlassen, um nicht zu sehr in der Klinikatmosphäre zu leben.
Da ihre Blutwerte und ihr allgemeiner körperlicher Zustand relativ gut waren, gab sie dem Drängen des Arztes nach und unterzog sich einer starken Chemotherapie. An den Tagen, an denen sie die Medikamente nahm, litt sie unter Schmerzen, Übelkeit und Müdigkeit. Sie verlor die meisten Haare. Trotz dieser belastenden Umstände begann sie, in der Klinik gemeinsam mit Helga Mueller, einer Mitarbeiterin von der Universität, an einem Buch über die Sterbemeditation zu arbeiten, und fuhr gemeinsam mit mir zu einem zweitägigen Seminar in die Schweiz.
Wenn ich heute auf diese Zeit der intensiven medizinischen Therapie zurückblicke, muß ich Anne-Marie in ihrer großen Zurückhaltung gegenüber den Behandlungen recht geben. Viele dieser Prozeduren haben damals ihre Lebensqualität erheblich beeinträchtigt.
«Ich kann auch bei fortschreitender schwerer Erkrankung und wahrscheinlichem Sterben mein Leben noch lebenswert gestalten.» Anne-Marie bemühte sich intensiv darum, «seelisch heil zu bleiben», wie sie es nannte, obwohl ihr Körper sich dem Sterben zuneigte. Ihr tägliches Ziel war es, «nicht zu sterben, wenn man noch lebt, sondern zu leben, während man stirbt».
Sie verhielt sich nicht passiv, richtete nicht alle Hoffnungen und Energien auf die medizinische Behandlung, sondern übernahm die Verantwortung für ihr seelisches Wohlbefinden und tat viel für sich. Sie lebte diese Jahre der Krankheit seelisch sehr intensiv. So gesehen war die Krankheit in vielem für sie eine Bereicherung: «Ja, es ist ein Geschenk. Und wenn ich gefragt würde: Willst du dieses Leben noch einmal wieder leben?, würde ich mich für dieses Leben entscheiden, auch mit der schweren Krankheit» (25).
Im folgenden möchte ich schildern, was sie in den letzten Jahren bereicherte und was es für sie bedeutete, «seelisch heil zu bleiben».
Das nicht mehr Mögliche loslassen. Anne-Marie lernte, alles das loszulassen, was ihr durch die Krankheit zunehmend verwehrt wurde, zum Beispiel intensiv zu arbeiten, anderen zu helfen, sportlich aktiv zu sein, einen gesunden Körper zu haben. Es fiel ihr schwer, auf alle diese ihr so wichtigen Dinge zu verzichten. «Also, ich war ja wissenschaftlich tätig, ich hatte drei Kinder, ich hatte eigentlich immer einen Zettel, wo draufstand, was zu machen ist. Und ich freute mich dann, wenn ich Dinge durchstreichen konnte. Heute ist das nicht mehr so. Das war auch schwer für mich, weil ich daraus – so glaube ich – viel Bestätigung für meine Person gezogen habe. Und das hat ja nun keine Gültigkeit mehr für mich» (28).
Auf Grund ihrer Krankheit war sie nun mehr und mehr auf die Hilfe anderer angewiesen: «Was sehr schwer für mich war, ist meine Hilflosigkeit; ich muß immer bitten, bitten. Ich bin eigentlich mein Leben lang ein Mensch gewesen, der anderen geholfen hat. Jetzt bin ich plötzlich in die Situation gekommen, Hilfe zu erbitten. Das ist fast bitter gewesen für mich. Bis ich mir klargemacht habe: Anne-Marie, du hast es doch so schön gefunden, anderen zu helfen. Jetzt gib doch anderen mal die Möglichkeit, dir zu helfen. Und so allmählich kann ich es annehmen und lerne es. Und bekomme dann auch soviel Liebe herüber von anderen. Und die sagen mir, wie schön es ist, daß ich ihnen die Gelegenheit gebe. Ich weiß es ja eigentlich auch. Bloß wäre ich gerne der andere, der hilft. Und manchmal denke ich: Na ja, vielleicht bin ich jetzt noch ein Stückchen dazu da, anderen Gelegenheit dazu zu geben» (26, 28).
In einem Interview äußerte sie sich ein Jahr vor ihrem Tod noch einmal darüber, wie sehr sie sich bemühte, die äußeren Aktivitäten loszulassen: «Ich bin eigentlich ein Mensch gewesen, der viele Außenaktivitäten gemacht hat, sich sehr für andere Menschen eingesetzt hat. Und das hat mir eigentlich ein gutes Gefühl von mir selber gegeben. Und ich mußte dann erst damit klarkommen, daß das ja nicht mehr so sein kann in dem Umfang. Und wo bleibe ich dann mit meinem Gefühl der Nützlichkeit? Das war so der Hader der letzten Monate oder Jahre. Und ich habe mir an meinem Schreibtisch wochenlang einen Zettel gemacht, da stand drauf: ‹Jeder weiß, wie nützlich es ist, nützlich zu sein. Kaum einer weiß, wie nützlich es ist, nicht nützlich zu sein.› Das konnte ich nicht akzeptieren für mich. Und das war die Lernaufgabe. Und ich habe eigentlich erst jetzt erkannt und vielleicht auch akzeptieren gelernt, daß es in meinem Leben nicht mehr soviel darauf ankommt, etwas zu machen, sondern zu sein – zu sein mit meiner ganzen Person, in dem gegenwärtigen Moment präsent und anwesend zu sein und in dieses Sein mein inneres Wesen hineinzugeben. Und ich bin mir dann auch selber nahe, und ich spüre, daß ich mich auch mit mir selbst wohl fühle und nicht mehr so dieses Außenlob der Bestätigung brauche, nützlich für andere zu sein. Ich denke, vielleicht bin ich dadurch nützlich, daß ich anderen die Gelegenheit gebe, mir zu helfen, denn ich bin ja in vielen Situationen, durch die Augen und auch durch die Muskelentzündung, sehr auf Hilfe angewiesen. Und das war kürzlich bei dem Seminar in der Schweiz meine tiefste Erfahrung dort für mich, daß Menschen auf mich zugekommen sind, weil ich es nicht mehr in dem Maße kann. Und es war auch eine sehr beglückende Erfahrung für diese Menschen. Vielleicht besteht mein Dasein oder Sein darin, den andern die Möglichkeit zu geben, ihrerseits jetzt auf mich zuzugehen und sich in ihrer Aktivität zu verwirklichen. Das ist schwer. Es ist noch immer mit großer Traurigkeit für mich angereichert – aber ich bekomme auch sehr viel» (25).
«Ich sehe, wie viele Schönheiten die Natur einem schenken kann, oder was wir selber in uns haben.» In dieser Zeit erschloß sich Anne-Marie intensiv ihren allmählich kleiner werdenden Umkreis. Auf kurzen Spaziergängen und Fahrradtouren entdeckte sie bewußt die Schönheiten in ihrem nahen Umfeld. «Ich habe das selber bei mir erfahren, daß man plötzlich die kleinen Schönheiten des Lebens wiederentdeckt, die einfach überall sind. Ein bißchen ist es mir auch so passiert, daß ich wie so ein Zeitraffer oder mit so einer Autobahnwahrnehmung durchs Leben gegangen bin: nur das Ziel erreichen. Dann war wieder das nächste Ziel. Ich habe nicht rechts und links geguckt. Und jetzt geht es mir so, daß ich sehe, wie viele Schönheiten etwa auch die Natur einem schenken kann oder was wir selber in uns haben. Wir brauchen nicht diese großen Reisen zu machen, sondern da ist eine ganze Menge an positiven und kreativen Möglichkeiten in uns» (26). Ihre Tochter Cornelia: «Einmal sagte sie zu mir: ‹Wie ist es schön, die Blätter jetzt zu sehen, die Blätter sind jetzt anders. Wenn man langsam geht, kann man mehr erleben.›»
So reagierte sie auf jede neue körperliche Einschränkung damit, daß sie sich irgend etwas erschloß, was seelisch eine Erweiterung für sie war. Wenn sie viel liegen mußte, dann führte sie viele Telefongespräche, mit Freunden oder Menschen, die ihre psychotherapeutische Hilfe brauchten. Oder sie ließ sich vorlesen. Sie arbeitete viel mit Tonkassetten, die sie besprach, verschickte und besprochen wieder zurückerhielt.
Statt Tennis oder Waldlauf machte sie jetzt Atemtherapie, Hatha-Yoga und Feldenkrais-Körperübungen. Dies brachte ihr zugleich innere Ruhe und eine Erweiterung des Bewußtseins. Auch Meditation half ihr, intensiver und bewußter zu leben.
Für ihre Fähigkeit, die ihr noch verbleibenden Möglichkeiten auszuschöpfen, möchte ich zwei Beispiele geben: Vier Monate vor ihrem Tod fuhr sie zu einem sechstägigen Seminar in die Schweiz. Cornelia: «Nachdem sie fast zwei Monate wegen der Gürtelrose fest im Bett gelegen hatte, dachten wir eigentlich alle, daß sie nicht mitkommen würde. Aber sie hat es doch noch geschafft. Wir haben alles geplant, wie es mit dem Transport geht. Sie wurde mit einem Rollstuhl in das Flugzeug gebracht und nachher rausgetragen. Während des Seminars lag sie in einem Liegestuhl, unter hundertzwanzig Menschen. Sie scheute sich nicht, als Kranker unter den Menschen zu sein.» – Ich selbst hatte zunächst Bedenken, als sie mit mir über ihren Entschluß sprach, in die Schweiz zu fahren. Wird sie es schaffen? Was werden die Teilnehmer dazu sagen? Das Ungewöhnliche war, daß es für die meisten eine positive Erfahrung war, ihr mit ihrer Krankheit zu begegnen. Für Anne-Marie selbst waren diese Tage mit den hundertzwanzig Menschen ein Höhepunkt. Sie sagte etwa eine Woche vor ihrem Tod: «Ich wünschte, ich wäre gleich nach dem Seminar gestorben.»
Sieben Wochen vor ihrem Tod ließ sie sich für eine Woche aus dem Krankenhaus beurlauben. Sie war sehr geschwächt. Wir fuhren nach Basel zu einem seit längerem festgelegten Termin und verbrachten dort mit hundertsechzig medizinischen Helfern einen Tag, um über unsere Erfahrungen und Einstellungen im Zusammenhang mit Krankheit und Sterben zu sprechen und mit ihnen eine Sterbemeditation durchzuführen. Aus den vielen Briefen, die wir nachher bekamen, wissen wir, daß Anne-Marie trotz oder wahrscheinlich wegen ihrer schweren Erkrankung für die Teilnehmer sehr hilfreich war.
«Ich bin fähig geworden, liebevoll mit meinem Körper umzugehen und für ihn zu sorgen.» Zuerst fiel es Anne-Marie schwer, die körperlichen Beeinträchtigungen anzunehmen. «Ich mußte mich mit meinem reduzierten Körperbild auseinandersetzen. Das ist es auch, was für alte Menschen ansteht. Man hat da ein Gebrechen und da Schmerzen. Man muß ein Stück die äußere Schönheit loslassen oder die vollständige Gesundheit. Es ist ein Prozeß des Loslassens» (27). – «Ich hab mich – wie so viele anandere Patienten – abgelehnt. Ich kam zuerst überhaupt nicht klar mit meinem Körper, der mir nicht voll zur Verfügung stand. Ich hatte ihn eigentlich mein Leben lang – er funktionierte, er war da. Er bekam mal eine Überholung mit Urlaub, ich konnte immer über ihn verfügen. Ich konnte immer mit ihm rechnen» (28).
Allmählich lernte sie, in eine gute Beziehung zu ihrem beeinträchtigten Körper zu kommen. «Ich muß viel für meinen Körper sorgen, ich muß ihn eincremen und was weiß ich alles, Dinge, die mir sehr fremd waren, die ich erst lernen mußte. Oder ausruhen und hören: Was braucht er jetzt? Ich spüre aber, dadurch bin ich überhaupt in einer Beziehung zu ihm. Früher war das so eine Kumpelei, jetzt ist es so, er ist mein Freund. Und das ist eine ganz kostbare Erfahrung für mich. Und sie hat mich, glaube ich, auch dazu gebracht, den Anspruch loszulassen, wieder ganz gesund zu werden» (25).
Diese annehmende Beziehung zu ihrem Körper erleichterte es ihr auch, für ihn zu sorgen. «Ich habe eigentlich immer für andere gesorgt – und das fand ich schön. Und das gibt auch jedem irgendwie ein tolles Gefühl. Und dann bin ich so auf mich zurückgeworfen worden. Gestern abend sagte ich zu meinem Mann: ‹Es ist mir so schwergefallen, für mich zu sorgen.› Aber die Krankheit erfordert das. Ich habe mich erst sehr dagegen gewehrt. Aber gestern abend stieg vor mir auf: Ach, du tust das eigentlich jetzt genauso gerne für dich wie für jemand anderen. Und ich will damit ausdrücken, daß für mich der Wert meiner Person dadurch auch so stark herauskommt.» Dadurch, daß sie sich als kranken und beeinträchtigten Menschen annehmen konnte, wurde sie fähig, sich um ihren Körper angemessen zu kümmern.
Neben Hatha-Yoga-Übungen waren Entspannungs- und Vorstellungsübungen für sie körperlich und seelisch sehr hilfreich. «Ich habe für mich das Gefühl, ich bin dadurch der Krankheit nicht so ausgeliefert. Ich kann aktiv etwas für den Körper tun, Selbstheilungskräfte mobilisieren. Und während ich hier liege, habe ich deutlich das Gefühl, ganz tief entspannt zu sein. Ich werde ganz warm. Die Vorstellungen im entspannten Zustand sind auch eine angstfreie Auseinandersetzung mit der Krankheit. So habe ich wirklich keine Angst, mir meine Krebszellen im Körper vorzustellen und in der Vorstellung zu sehen, wie mein Abwehrsystem in Form der Blutkörperchen gegen die Krankheit arbeitet und sie zu vermindern sucht. Seelisch ist es für mich auch sehr bedeutsam, diese entspannte Vorstellungsübung zu machen, weil ich mich einfach mit mir selber gut fühle. Ich stelle mir dabei auch glückliche, gesunde Situation in meinem Leben vor, wo ich mich seelisch sehr wohl fühle. Ich mache es jeden Tag, so daß in mir das Bild entsteht, daß ich mich mit mir trotz der Krankheit seelisch und körperlich wohl fühle» (25).
Die Entspannungsübungen halfen ihr auch, die Schmerzen anzunehmen – und nicht gegen sie anzukämpfen. «Also ich bin wirklich kein Held im Ertragen von Schmerzen, wirklich überhaupt nicht. Wenn ich Schmerzen habe, dann bin ich kreuzunglücklich und gebe dem auch nach und laß das zu.»
So fühlte sie sich ihrem Körper näher, aber gleichzeitig auch ein Stück unabhängiger von ihm. Sieben Wochen vor ihrem Tod sagt sie in einem Interview: «Trotz der Befunde: Der Geist oder die Seele sind wach. Und das möchte ich mir eigentlich auch erhalten. Es ist beides da: einerseits die ganz enge Beziehung zum Körper und das Gefühl, von ihm abhängig zu sein, andererseits auch wieder ein Stück das Gefühl der Unabhängigkeit: Du kannst im Seelisch-Geistigen noch voll leben, auch wenn du einen sehr stark reduzierten Körper hast» (28).
«Meine Erfahrung in meiner Krankheit ist es, daß die Tür zum wirklichen Leben nicht nach außen aufgeht, sondern nach innen.» Durch die zunehmenden Einschränkungen in den äußeren Aktivitäten wandte sich Anne-Marie immer mehr ihrem inneren, seelischen Bereich zu: «Das, was uns irgendwo das Leben bereichernd und wertvoll machen kann, haben wir in uns. Das brauchen wir nicht von außen an uns heranzuführen. Eigentlich sind es meist die Dinge von außen, die uns eher ablenken von uns selbst, von der Begegnung mit uns. Ich merke in dieser Krankheit so stark die Begegnung mit mir selbst» (28). So kam sie zunehmend mehr mit dem Reichtum in sich selbst in Berührung.
In ihren Unterlagen fand ich folgende Notiz: «Sich selbst entdecken: sich selbst als Partner haben, in sich einen Ort des Zutrauens entdecken und spüren, daß sich der Zugang zum eigenen Inneren öffnet, zur inneren Karriere.» In einem Fernsehinterview drückte sie diese Erfahrung so aus: «Ich bin ja auch recht abgeschnitten von Informationen dadurch, daß ich nur schwer lesen kann. Und dadurch, daß ich nicht mehr so beweglich bin, bin ich sehr ans Haus gebunden. Aber ich spüre, daß ich eigentlich sehr viel in mir habe und daß ich mir da so einen inneren Raum in mir erschließen kann. Ich habe eben gemerkt, die Tür geht nicht nach außen auf, wie ich es jahrelang gedacht habe, sie geht nach innen auf. Ich spüre, ich habe diesen Lebensimpuls in mir. Und das gibt mir so ein Zutrauen zu diesem neuen Leben. Aber das ist ein Prozeß. Oft rutsche ich noch in dieses alte Leben hinein, in das Leben der Aktivitäten und Außenaktivität. Aber dann komme ich an die Grenze meiner körperlichen Leistungsfähigkeit, muß mich dann zurücknehmen und erkenne: Das ist es nicht mehr» (25).
Auch wir Angehörigen haben uns mehr Ruhe gegönnt und sind in der Begegnung mit Anne-Marie, mit ihrem Sterben, mehr uns selbst begegnet. Ihre Tochter Cornelia: «Ich habe für mich dadurch auch wieder mehr Ruhe gelernt. Ich habe jetzt selber ein Bedürfnis nach mehr Ruhe, und nicht diese Hektik von einer Sache in die andere, so daß ich mich also dadurch auch geändert habe. Es hat mich auch nachdenken lassen, was so mein Sinn im Leben ist.» – Ihre Tochter Daniela: «Ich habe mich häufig zu ihr ins Bett gelegt. Wir haben nebeneinander gelegen, manchmal Musik gehört und hinausgeguckt. Es war so eine ganz tiefe Art des Zusammenseins. In ihrer Gegenwart wurde ich ganz ruhig und konnte einfach nur sein, ihre Hand halten.»
«Den anderen durch das eigene Sein seelisch bereichern und beschenken.» Begegnungen und Gespräche mit anderen Menschen waren für Anne-Marie bis in die letzten Wochen hinein sehr wichtige Erfahrungen, aus denen sie immer wieder Kraft schöpfte. Sie bekam Liebe und Unterstützung von sehr vielen Menschen außerhalb der Familie.
Viele empfanden die Begegnung und die Gespräche mit Anne-Marie als sehr bereichernd – trotz oder gerade wegen ihrer Wandlung durch die Krankheit. Dazu hat sich Anne-Marie im Schweizer Rundfunk geäußert: «Unabhängig vom Alter können wir mit unseren gefühlsmäßigen Erfahrungen eigentlich immer noch ein wertvoller Partner sein, auch als kranker oder alter Mensch dem gesunden jungen Menschen. Wir werden zwar in unserem Körper reduziert. Aber die seelische Funktionsfähigkeit, das Mitfühlen, das Anteilnehmen braucht nicht reduziert zu sein. Hier können wir im Gegenteil noch wachsen. Also dieser Gefühlsreichtum, den jemand hat und den er weitergeben kann, der ist unabhängig vom Alter. Das kann im ganz hohen Alter sein, das kann selbst auch auf dem Sterbebett sein. Durch das eigene Sein, durch die eigene Entwicklung können wir den anderen seelisch bereichern und beschenken» (27).
«Ich lebe jetzt von Augenblick zu Augenblick.» Die Auseinandersetzung mit dem Sterben half Anne-Marie, zeitloser, weniger verplant zu leben: «Das Merkwürdige ist auch: seit ich spüre, daß da eine Endlichkeit meines Lebens ist, daß ich dadurch eigentlich jetzt unendlich Zeit habe. Ich lebe zeitloser. Ich habe so mehr das Gefühl, das Leben fließen zu spüren. Und ja – wohin es geht, ich weiß es auch nicht. Und das finde ich sogar schön … Also, ich habe auch ein bißchen so gelebt: wenn … dann … Ich habe so viele Menschen gesprochen, die sagten: ‹Wenn die Kinder erst groß sind, dann …› Oder: ‹Wenn ich mein Examen habe, dann …› Aber wer weiß denn, ob das dann ist? Ich habe Menschen getroffen mit der Diagnose einer schweren Krankheit, die sagten: ‹Ich habe ja noch gar nicht gelebt.› Und das finde ich so wichtig: Jetzt, hier, auch wenn wir miteinander jetzt sprechen, das ist doch eine wichtige Lebensminute für uns. Ich will nicht sagen, daß ich jede Minute wirklich gegenwärtig leben kann. Aber ich sehe Dinge dankbarer, bewußter und intensiver … Ich habe die Erfahrung gemacht: Sorg dich nicht um die nächste Zukunft. Deine nächste Zukunft ist der nächste Augenblick. Und so lebe ich jetzt von Augenblick zu Augenblick. Ich möchte so gern den Menschen vermitteln, daß sie nicht warten, bis eine Krise auf sie zukommt, sondern daß sie leben, den jetzigen Moment, den heutigen Tag» (28).
Auch wir Angehörigen lernten, uns mehr der Gegenwart zuzuwenden. Daniela: «Die Gegenwart zu leben, da steckt soviel Kraft drin, so daß ich die Schwierigkeiten des Heute bewältigen kann. Ich lerne, ein Kind des Augenblicks zu sein. Auch als ich wußte, sie wird die nächste Woche sterben, da war das für mich so: Jetzt habe ich sie noch, und jetzt möchte ich sie jeden Moment ganz intensiv erleben. Ich konnte dann in die Gegenwart eintauchen und die Zukunft vergessen.»
Mir ging es ähnlich: Wenn ich mir vorstellte, wie sich Anne-Maries Krankheit verschlechtern könnte, wenn ich daran dachte, daß sie sterben würde, dann empfand ich immer wieder starke Traurigkeit und Schmerzen, fühlte mich hilflos und ausgeliefert. Aber immer wenn ich im Moment lebte, wenn ich mir nachts vergegenwärtigte, sie liegt neben mir, sie lebt, fühlte ich mich besser. In der Gegenwart kann ich etwas tun. Ich habe das aktive Tun, wie anstrengend es auch immer war, als befriedigender empfunden als alles Grübeln über das, was sein wird. Wenn ich wirklich im Moment war: Der Moment war immer zu ertragen, auch in ihren letzten Stunden und Minuten.
«Wenn ich mich dem Fluß des Geschehens anvertrauen kann, dann brauche ich vor nichts mehr Angst zu haben.» Anne-Marie hatte zwar gleich nach der Krebsdiagnose begonnen, sich mit ihrer Erkrankung und dem möglichen Tod zu konfrontieren. Aber die neu auftretenden Krankheitssymptome und plötzlichen Verschlechterungen erforderten es immer wieder erneut, sich mit den zunehmenden Beeinträchtigungen auseinanderzusetzen. Dies fiel ihr nicht leicht: «Jede Krankheitsattacke ist eine solche Herausforderung. Dann versuche ich, seelisch wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Und dann kommt wieder etwas Neues dazu, was mich kräftemäßig umwirft. Also, da bin ich noch lange nicht soweit, daß ich das alles so in größter, tiefster Gelassenheit ertragen kann. Ich habe immer noch nicht genug Geduld mit mir. Dieses wirklich einsichtsvolle Umgehen mit mir, dieses nachsichtige, also da bin ich noch weit entfernt. Wer mich von früher kennt, der findet es phantastisch, wie geduldig und gelassen ich bin; aber ich begegne mir ja selber und weiß, wie es wirklich um mich steht» (28).
Bei diesen seelischen Schwierigkeiten waren für sie Gespräche mit anderen hilfreich, durch die sie mehr Klarheit über ihre Gefühle bekam. In einem Interview sieben Wochen vor ihrem Tod sagte sie: «Als ich zwei Monate zu Hause fast immer nur im Bett lag – meine Familie hat sich immer bemüht, daß einer im Haus war –, konnte ich das nicht mehr aushalten und fing an zu weinen und sagte: ‹Ich bin doch nicht mehr zumutbar für euch.› Da sagte Reinhard zu mir: ‹Ich glaube, du bist nicht mehr zumutbar für dich selber.› Das war der Punkt: Ich konnte mich nicht mehr ertragen. Es stimmte, das traf genau den Nagel auf den Kopf. Es hat mir sehr geholfen, diese ehrliche Aussage, also dieses Zurückgeworfensein auf mich» (28).
Die Auseinandersetzung mit dem Sterben beschäftigte sie mit dem Wechsel von körperlicher Verbesserung und Verschlechterung immer wieder. Auf die Frage der Interviewerin, ob sie die Angst vor dem Tod bewältigt habe, sagte sie: «Das ist ja der Lebensprozeß. Ich bin jetzt durch ganz große Tiefen gegangen. Und ich kann auch nicht sagen, ob die nächste Situation, in der ich denke, daß ich sterben muß, daß ich sie wieder so erleben werde, ob ich die letzten Phasen auch wirklich angstfrei erlebe. Ich kann nur sagen, für mich war es jetzt in dieser tiefen, schwierigen Situation ein Stück Realität, das Sterben. Und ich hatte das Gefühl, schon etwas von dieser Wirklichkeit weggerückt zu sein. Aber es ist nicht so, daß man das in der Tasche hat, ablegen kann und sagen kann, darauf kann ich zurückgreifen. Keineswegs. Es ist nicht so etwas, was wir abhaken können, sondern es kommt immer wieder eine Erschütterung, es kommen immer wieder Zweifel und ganz tiefe Trauer. Aber dann spüre ich doch, wenn ich dann da wieder durch bin, daß ich einfach das Leben anders sehe. Ich bin ja auch noch sehr schwer krank, und bis ich wieder eine Lebenskraft gespürt habe, das hat lange gebraucht. Und jetzt habe ich eine Lebensbejahung, vielleicht so intensiv und bewußt, wie ich sie noch nie gehabt habe. Nicht, daß ich jetzt am Leben klammere. Aber ich habe diese tiefe Dankbarkeit für dieses Stück Lebenszeit, das ich jetzt erlebe, vielleicht auch noch erleben werde.»
Auf die Frage, ob sie der Gedanke an das Sterben beunruhige, sagte sie ein Jahr vor ihrem Tod: «Ach, er macht mich schon traurig. Neulich saßen Reinhard und ich zusammen, und wir hatten so das Gefühl, wir haben noch Pläne für zwanzig Jahre: Was wir noch schreiben wollen und angehen wollen. Das ist die eine Seite. Und die andere: Als es mir im letzten Sommer sehr schlecht ging – ich mußte viel absagen, Vorträge und Seminare, überwiegend liegen, und ich mußte noch mal eine Operation machen und eine neue Therapie –, da habe ich so gedacht: Du mußt das Leben loslassen. Und ich habe eigentlich gespürt: Ich bin auch dafür bereit» (25).
Im Verlauf dieser Auseinandersetzung entwickelte sie auch genaue Vorstellungen über ihr Sterben: «Ich möchte eigentlich sehr bewußt sterben. Ich bin bereit dazu, und ich habe so das Vertrauen in mir, daß wenn ich mich bei den Schmerzen tief entspanne, daß ich sie vielleicht dann nicht so stark empfinde. Ich würde mir wünschen, ich könnte bei ganz klarem Bewußtsein in dem Augenblick meines Todes sein. Und ich weiß auch, daß ich im Augenblick meines Sterbens allein sein möchte, nicht mehr abgelenkt durch andere, sondern wirklich in dem Augenblick des Geschehens zentriert» (25, 27).
Zu diesem Wunsch kam sie durch die Sterbemeditation: «Als ich neulich mit Studenten eine Sterbemeditation machte, da habe ich die Erfahrung gemacht: Du möchtest alleine sein im Augenblick deines Sterbens. Ich möchte nicht mehr durch irgend etwas abgelenkt werden. Ich habe lange gebraucht, bis ich das Reinhard gesagt habe, weil ich dachte, das verletzt ihn vielleicht. Und dann sagte er: ‹Ach weißt du, das kann ich gut verstehen. Ich glaube, es ginge mir genauso.› Und da dachte ich, wie wichtig es ist, daß wir miteinander reden. Jetzt weiß ich auch, was er sich wünscht» (27, 28).
«Ich habe ein wachsendes Vertrauen und lasse das Geschehen auf mich zukommen.» Mit dem vermehrten Bemühen, die fortschreitenden körperlichen Beeinträchtigungen und auch ihr wahrscheinliches Sterben anzunehmen, fühlte sich Anne-Marie entspannter und in einem größeren Geschehen aufgehoben. Auf die Frage einer Interviewerin, welche Ziele und Wünsche an das Leben sie noch habe, antwortete sie sieben Wochen vor ihrem Tod:
«Es ist mir in den letzten Monaten so klar geworden, daß die wirklichen Entscheidungen nicht in meiner Hand sind. Ich habe einen gewissen Spielraum, und den kann ich ausnutzen. Ich kann mit mir gesundmachende Erfahrungen machen oder ich kann mich noch zusätzlich krank machen durch Ängste. Also, ich habe diesen Spielraum, wie ich etwas erlebe. Aber was mit mir geschieht, das habe ich nicht in der Hand.»
Interviewerin: «Wer hat das denn in der Hand?»
Anne-Marie: «Ja, ich denke, irgend etwas Höheres, das über uns Menschen hinausgeht. Die einen nennen es Gott, die anderen nennen es Universum, wen auch immer man sich darunter vorstellen mag, so: Dein Wille geschehe. – Also manchmal ist es sehr schwer, aber es ist doch meine Erfahrung: Wenn ich annehme, was ist, das ist mir eine ungeheure Hilfe. Und wenn ich mich immer mehr diesem Fluß des Geschehens anvertrauen kann und denke: Du brauchst das Ruder nicht in der Hand zu halten, wenn du dich dem Strom anvertraust. Das ist noch schwer, da möchte ich noch viel stärker hinkommen. Denn dann brauche ich überhaupt vor nichts mehr Angst zu haben und nichts zu befürchten. Dann werde ich auch die Kraft bekommen, die ich brauche, um irgend etwas Neues durchzustehen. Aber das ist erst so ansatzweise in mir da, dieses Gefühl: Vertrau dich an. Deine Pläne, die sind vielleicht gar nicht immer diejenigen, die sich erfüllen werden, vielleicht sind es nicht einmal die richtigen für mich. Das hilft mir eben auch, keine Wünsche zu haben. Natürlich möchte ich meine Bücher noch fertigschreiben, das wäre toll. Aber ich bin damit nicht mehr so verhaftet. Ich erwarte es nicht. Ich lasse es auf mich zukommen» (28).