Gestrandet - Anja Martens - E-Book

Gestrandet E-Book

Anja Martens

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Beschreibung

Viel ist geschehen seit dem Erstlingswerk der Autorin. Die fünffache Mutter zog in den hohen Norden und wechselte den Arbeitgeber. Es geht um Hoffnung aber auch um den Verlust und die Melancholie, Bekanntes zurückzulassen und zu neuen Ufern aufzubrechen. Die Autorin erlebt, dass die Nordlichter entgegen aller Erwartung nicht nur lauwarm glimmen und dass die Arbeit auf einer unfallchirurgischen Station anders sein kann als erwartet. Sie malt mit diesem Buch das Bild ihrer Erlebnisse mit allen Ups und Downs die das Leben für Sie bereithält. Vor etwa zwei Jahren lernte ich die Autorin kennen. Als sie mich nun fragte, das Vorwort für ihr zweites Buch zu schreiben, willigte ich sofort ein. Beim Lesen ihres Manuskripts entdeckte ich manche kleinen Gemeinheiten meinerseits und so manches Wortgefecht zwischen uns. Hierbei musste ich stets schmunzeln, da ich genau weiß, dass die Autorin es als liebevolles Necken und nicht als Boshaftigkeit auffasste. Wir lesen viele Geschichten und Anekdoten aus dem Leben der Autorin und erfahren viel über ihr Leben, die Arbeit, die Familie und wieviel Herz es bedarf, eine große Familie zu haben und in unserem Beruf zu arbeiten.

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FÜR MEINE MÄDCHEN-WG

Viel ist geschehen seit dem Erstlingswerk der Autorin. Die fünffache Mutter zog in den hohen Norden und wechselte den Arbeitgeber.

Es geht um Hoffnung aber auch um den Verlust und die Melancholie, Bekanntes zurückzulassen und zu neuen Ufern aufzubrechen.

Die Autorin erlebt, dass die Nordlichter entgegen aller Erwartung nicht nur lauwarm glimmen und dass die Arbeit auf einer unfallchirurgischen Station anders sein kann als erwartet.

Sie malt mit diesem Buch das Bild ihrer Erlebnisse mit allen Ups und Downs die das Leben für Sie bereithält.

Vor etwa zwei Jahren lernte ich die Autorin kennen. Als sie mich nun fragte, das Vorwort für ihr zweites Buch zu schreiben, willigte ich sofort ein. Beim Lesen ihres Manuskripts entdeckte ich manche kleinen Gemeinheiten meinerseits und so manches Wortgefecht zwischen uns. Hierbei musste ich stets schmunzeln, da ich genau weiß, dass die Autorin es als liebevolles Necken und nicht als Boshaftigkeit auffasste.

Wir lesen viele Geschichten und Anekdoten aus dem Leben der Autorin und erfahren viel über ihr Leben, die Arbeit, die Familie und wieviel Herz es bedarf, eine große Familie zu haben und in unserem Beruf zu arbeiten.

Dr. S.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Moin

August im hohen Norden

September im hohen Norden

Oktober im hohen Norden

November im hohen Norden

Dezember im hohen Norden

Januar im hohen Norden

Februar im hohen Norden

März im hohen Norden

April im hohen Norden

Mai im hohen Norden

Juni im hohen Norden

Juli im hohen Norden

August im hohen Norden

Normandie 2017

PROLOG

24.Februar

Katzenelnbogen, Rheinland-Pfalz

Es gibt Tage, da scheint alles zu misslingen. Schlechte Noten der Kinder und Zurechtweisungen auf Arbeit kommen noch dazu. Ein Schleier legt sich auf meine Seele, ohne dass ich im Moment etwas dagegen tun kann und will. Das schöne Wetter mit herrlichstem Sonnenschein passt so gar nicht zu dem Gefühl des Versagens, was sich in mir ausbreitet. Sehne mich nach Ruhe, Alleinsein, möchte niemanden hören und sehen. Dabei gab es heute auch schöne Momente. Eine Patientin sagte, dass sie froh sei, mich kennengelernt zu haben. Doch in meinem Inneren ging die Balance verloren. Die Seele baumelt im Negativ-Bereich und klebt dort fest.

10. April

Heute ist Sonntag und ein bisschen fehlt mir die Regelmäßigkeit eines Gottesdienstes schon. Ich sitze am Frühstückstisch und höre das beharrliche Ticken der Uhr. Heli schläft heute bei Lena. Sie kam gestern mit ihr nach dem Putzen in der Gemeinde vorbei, fröhlich aufgedreht und erinnerte mich in diesem Moment so sehr an meine Schwägerin. Schnell noch Kuss und Umarmung für Mutter und Schwester und Zack, war sie zur Tür hinaus. Lena stand die ganze Zeit mit einem am Kinn prangenden Pubertätspickel an der Heizung und lachte sich halb schief.

Heute fährt Lissy in den hohen Norden, da morgen ihr Vorstellungsgespräch in Hamburg stattfindet. Die Aufregung steigt, ihre Unruhe bekämpfend hing sie gestern wie hypnotisiert vor der Glotze.

24. April

Heli feierte gestern ihren 16. Geburtstag, fröhlich hüpfend, nach. Lena kredenzte ihr zur Feier des Tages riesige Luftballons mit einer Eins und einer Sechs darauf, die nach Betreten der Wohnung an der Zimmerdecke hängen blieben. Mimi schenkte ihr ein kleines Päckchen mit Ohrringen, Fotos und einem persönlichen Brief. Etwas ungewöhnlich für dieses Alter spielten sie Topfschlagen, Twister, gingen spazieren und vergnügten sich mit Singstar. Lissy und Sophie erzählten parallel dazu im Esszimmer, tauschten sich über ihre Lebenserfahrungen aus. Anschließend spielten wir „Elfer-raus“ und entschieden uns nach einer gefühlten Ewigkeit für einen Film.

6. Mai

Friedel hat das Haus bei Ebay-Kleinanzeigen inseriert. Heute um fünf Uhr kommen schon die ersten Interessenten zum Besichtigen. Ich bin genervt, da ich diesem Thema nicht entfliehen kann, es immer präsent ist und ich unter Daueranspannung stehe. Am liebsten will ich mir eine Decke über den Kopf ziehen und dass mir gesagt wird: „Alles wird gut!“

Nach der Arbeit halte ich kurz am Segelflugplatz, wo mich ein Hauch von Raps- und Blütenduft umweht und sich die Vögel einen Gute-Nacht-Gruß zurufen. Alles scheint so friedlich. Auf Station habe ich Herrn D. ein paar Geschichten vorgelesen. Er ermuntert mich, sie zu veröffentlichen.

Ein letztes tiefes Einatmen, dann fahre ich weiter nach Katzenelnbogen, in mein Noch-Zuhause. Seufz.

9. Mai

Freier Tag, was man so frei nennt. Ich habe heute der Personalabteilung meine Kündigung übermittelt. Mutti darüber informierend höre ich: „Musst du denn wirklich schon kündigen?“ Lissy kommt nach Hause und berichtet von einer Eins in Mathe, was an ein Wunder grenzt. Nach dem Mittagessen, bestehend aus Kartoffeln, Gurkensalat und Spiegelei, spurtet sie zur Englisch-Nachhilfe. In der unmittelbaren Nachbarschaft tuckert ein Rasenmäher. Um 17.00 Uhr besichtigen weitere Personen unser Haus.

10. Mai

Das junge, nette Ehepaar S. durchschritt begeistert das Haus und plante bereits diverse Umbaumaßnahmen. Mein geliebtes „bb“ (benmost bore= Schottisch für „geheimer Ort“),mein Refugium, löste Worte wie: „Oh, wie süß!“ aus. Herr S. entschuldigte sich nach der Besichtigung für das Eindringen in unsere Privatsphäre.

12. Mai

Heute erschien Ehepaar S. mit Baufachmann und Bankfrau. Ich staune über die geplanten Umbaumaßnahmen vom Fensterwechsel bis hin zum Herausreißen der Wände, um eine Wohnküche entstehen zu lassen. Fehlende Gelder scheinen jedenfalls kein Problem zu sein. Inmitten dieser innenarchitektonischen Besichtigung holt mich Susi zum Walken ab. Mit freudigem „Hallo“ begrüßt sie unsere Haus-Interessenten, da sie sich selbstverständlich kennen. Heute fand außerdem der Lehrer-Marathon in Diez statt. Fühle mich allein und überfordert.

17.Mai

Lissy schrieb heute ihre erste Abi-Klausur in Deutsch, von der sie meinte, dass sie keinen „Fluss“ hatte. Nun bleibt nur, abzuwarten.

29. Mai

Vögel zwitschern, Nebel steigt auf aus den Tälern. Innerlich nehme ich allmählich Abschied von den lieblichen Hügeln. Am Morgen durch die völlig abgeschiedenen Ortschaften zu fahren, hat etwas Unwirkliches. Nach der Arbeit kommen Fredi und Friedrich. Kiste um Kiste füllt den Hänger und Friedrich bastelt begeistert, um jeden Zentimeter zu nutzen. Es ist immer noch Platz, also schleppe ich Regale, Matratzen, Schlitten und alte Laken zum Stopfen herbei. Fredi steht nach dem Einpacken und beim Anblick von den Rücklichtern etwas unschlüssig vor der Garage, so dass ich ihn auf einen Kaffee hineinbitte. Zwischendurch werden seine sonst fröhlichen Augen immer wieder etwas traurig, wenn wir auf das Thema Umzug zu sprechen kommen. Schließlich verabschiedet sich Fredi und ich springe in die Dusche.

7. Juni

Nun ist es notariell bestätigt, unser Haus ist verkauft an Ehepaar S.. Eine unwirkliche Situation. Beobachte mich aus der Ferne.

24.Juni

Ich sitze am Frühstückstisch und aus der Grundschule klingt „Du bist gewollt, kein Kind des Zufalls“, eine Mut machende Einstimmung auf den Tag. Gestern sangen die Schulklassen am Gymnasium und gaben ein Konzert. Die Frau neben mir und ich mussten lachen, denn selten hörte man so schief singende und unmotivierte Sänger.

29.Juni

Fredi rattert schon den zweiten Tag durch unseren Garten. Nicht mehr lange, dann wird kein weißhaariger, verschmitzt lächelnder Eierlieferant mehr vor der Tür stehen. Lissy schläft noch, ganz geschafft vom missglückten theoretischen Führerscheintest. Diese Tage beinhalten so viel Gefühlschaos.

9. Juli

Ich sitze an meinem Windrad, auf meiner vertrauten Holzbank, die mir in den letzten zwei Jahren ein wichtiger Ruhepunkt geworden ist. Das Feld vor mir ist übersät mit Heuhügeln, das leise Summen des Windrades wirkt vertraut und beruhigend.

In knapp drei Wochen ziehen wir nach Schleswig-Holstein. Mein vierter Umzug von einem Bundesland zum nächsten löst bei allem Gottvertrauen dennoch Trauer aus. Trotzdem spüre ich allmählich eine gewisse Ruhe und Gelassenheit. Gestern feierten Lissy und Heli mit ihren Freunden Abschied. Sie organisierten eine Fotorallye quer durch Katzenelnbogen. Ein Asylant wurde rekrutiert, Lissys Freundin Lilly über die Straße Huckepack zu tragen. Der Arme!

Ich dachte, ich sei gefestigt, gegen Trauer gewappnet. Doch als ich die liebevollen Worte der Freundinnen las, dass sie meine Töchter im Herzen tragen werden und Lillys Geschenk für Lissy, eine Fahrkarte von Rendsburg nach Limburg und zurück sah, war es um meine Fassung geschehen.

Lydia H. starb vorletzte Nacht. Ich denke zurück an ihre Herzlichkeit, mit der sie uns vor zwölf Jahren hier im Einrich willkommen hieß.

20.Juli

Heute fliegt Heli mit Lena auf die Insel Farö. Ich freue mich für Heli, dass sie noch etwas intensive Zeit mit ihrer besten Freundin verbringen kann. Hier wird es immer leerer, Kisten stapeln sich. Ich bin erkältet und muss ab morgen meine letzten vier Tage arbeiten. Wie seltsam.

22.Juli

Der Countdown läuft, die Küchenuhr tickt, meine Nase tropft. Warum überfällt einen die Grippe kurz vor einem megagroßen Umzug und nach zwei Wochen frei, pünktlich zum ersten Arbeitstag? Murphys Gesetz hat mich volle Breitseite erfasst und Zweifel steigen in mir hoch, ob ich diesen Tag ohne Kollabieren überlebe.

24.Juli

Heute ist mein letzter Tag auf Station 2 und meine Grippe ist logischerweise am Abklingen. Die Schränke sind größtenteils abgebaut, die Bodenklappe ist geschlossen, so dass man das bestehende Durcheinander oben dezent übersieht. Ich nehme heute Käsezwiebelbrot, Schallplatten für Hansi und Bücher für die Stations-Bibliothek mit. Ich werde zum letzten Mal meine Spind-Tür öffnen, mein Zeug durchwühlen, das letzte Mal die Kittel des Hauses anziehen, das letzte Mal meine halb kaputten, blauen Schuhe überstreifen.

Genauso denkwürdig wie das erste Mal sind viele letzte Male, nur dass diese letzten Male nicht mit freudiger Erwartung geschehen. Sie demonstrieren den Prozess des lebenslangen Loslassens und tun weh.

Auch zu Hause wird sich einiges ändern. Rouven, Sophie und Becky kamen aus Köln und Marburg schnell mal nach Hause, wer weiß, wie oft das nun noch geschehen wird.

Das letzte Mal las ich heute im Krankenhaus: „A. Martens gehend“. Ich hielt mein Schild an den Apparat und las die vertrauten Worte. Ich räumte meinen Spind aus und fand mindestens 40 Kulis a la couleur und eine Kocherklemme.

Ein letzter Spaziergang mit meiner Ulli. Wir setzten uns ans Windrad, auf MEINE Bank und verdrängten beide den Gedanken an unsere gemeinsamen Walking-Runden, die bald der Geschichte angehören werden.

Zwischen allen Ups and Downs des Tages ruft Heli aus Dänemark an. Sie badet, spielt Karten, lässt es sich gut gehen und dennoch sagt sie zu Lissy, dass sie die Tage zählt, bis sie ihre Schwester wiedersieht. Das wärmt mein Herz und ich erinnere mich daran, dass man so etwas als lieblich bezeichnet.

MOIN

Gerade noch saß ich auf unserem Balkon in Katzenelnbogen, frühstückte mit Krähen als Publikum und lauschte den vertrauten Klingelbacher Kirchenglocken. Gerade noch putzte ich mich durch hallende Räume, sah ein letztes Mal aus dem Küchenfenster hinüber zur Grundschule.

Dreizehn Stunden später liege ich im Ein-Euro-Ebay-Bett in Bellinghusen, höre ein Käuzchen rufen und Stimmen vom See herüberschallen. Wie seltsam dieser schnelle Ortswechsel ist. Reinhard R., unser Import-Umzugshelfer, schläft eine Etage höher und erholt sich von den Strapazen des heutigen und gestrigen Tages. Um fünf ist die Rückfahrt geplant.

28.Juli

Tag 2 im Durchgangslager. Lissy und ich erkundeten gestern ein wenig die Gegend, fuhren zum Einkauf nach Büdelsdorf, saßen am Badesteg, grüßten die Nachbarschaft beharrlich mit „Hallo“ und wurden zurück gegrüßt mit „Moin“. Da spätestens stellte sich ein minimales Gefühl der Realität ein.

Nun sitze ich im Wohnzimmer mit vertrautem Blick auf unser Klavier.

29.Juli

Dritter Tag im Durchgangslager mit spätem Frühstück, Anruf meiner vielleicht zukünftigen Chefin in herrlichem norddeutschem Slang, mit ersten Putz-, Aufräum- und Kistensortier-Aktionen. Irgendwie fühle ich so eine bestimmte Urlaubsmelancholie, kann nicht begreifen, dass das jetzt KEIN Urlaub, sondern Dauerzustand ist, dass ich definitiv nicht mehr in Rheinland-Pfalz wohne. Theoretisch weiß ich es, aber mein Herz, der kleine Rebell, will es nicht wahrhaben.

Morgen besichtigen wir ein Haus und am Sonntagnachmittag ein weiteres. Alyssa möchte sich gern mit uns am Montag in Hamburg treffen. Der Einsatz, den sie zeigt, überrascht mich.

30.Juli

Vierter Tag im Asyl, Hausbesichtigung in Westerrönfeld, wo uns die Besitzerin sehr nett durch das Haus geleitete. Immer wieder sind die Gärten mit viel Arbeit verbunden und da ich unseren Nachwuchs kenne, ahne ich, wer den Löwenanteil leisten darf. Bin von einer immer stärkeren Traurigkeit befallen. Hier, wo andere Urlaub machen, sollen wir jetzt wohnen. Möchte allein sein, mit niemandem reden müssen, und denke ich an den morgigen Gottesdienst, krampft sich mein Herz zusammen. Wenn ich höre, dass es eine große Erleichterung sein muss, dass wir als Familie zusammen sind, muss ich leider gestehen, dass bei mir die Trauer überwiegt. Ich vermisse und vermisse und vermisse mein Zuhause, mein Leben und meine gekappten Wurzeln schmerzen.

Sonntag, 31.Juli

Erster Gottesdienst in neuer Gemeinde, alle sind nordisch herb und nett. Gefühlte hundert Mal gebe ich Auskunft über Probearbeiten in Lieks und Rendsburg, über diverse Hausbesichtigungen, Schulpläne der Mädchen. In meinen Augen brennt es, fühle mich überrollt und ziehe mich bei der Rückkehr nach Bellinghusen ins Bett zurück, Tränen wollen mit aller Macht heraus und Friedel kreist hilflos um mich herum. Nach kurzer Verschnaufpause geht es ab nach Nübbel zu weiteren Hausbesichtigungen, wo uns der Makler versetzt und uns das andere Haus nicht im Geringsten zusagt.

Anschließendes Eisessen im „Eisstübchen am Kanal“, dem „Coney Island“ von Rendsburg. Hartgesottene Biker, Großeltern mit blondgelockten Mädchen, ganze Generationen stehen Schlange, um Eis in kreativen Varianten zu schlecken. Wieder in Bellinghusen pilgern wir bald zu einer Doppelhaushälfte, die zum Verkauf steht, genauso teuer wie manch andere Häuser in den letzten Tagen aber ein Standard, der uns den Atem verschlägt. Die Mädels liegen abends im Bett, hoffend, bangend, dass diese weiß möblierte Oase bald unser neues Zuhause sein darf. Auch wenn Bellinghusen hinter „Pusemuckel“ liegt, das Haus ist ein Traum, genügend Zimmer, Topzustand, ….

AUGUST IM HOHEN NORDEN

Halb acht Frühstück im abgekühlten Haus „An See 14“, Viertel nach acht Abfahrt nach Rendsburg zum Bahnhof. Vom Parkplatz schnell hinüber zum Edeka, aufs Klo. Vor mir ein leicht übelriechender, älterer Mann. Mir wird schlecht. Schnell wieder zu den Mädels, die gackernd an meinem Rucksack herumzerren. Ein bedeckter Himmel über uns. Froh über eine Ausruh-Möglichkeit steigen wir in den Zug nach Hamburg, wo heute das Treffen mit Ally, unserer ehemaligen Austauschschülerin aus Amerika, stattfinden soll. Bewaffnet mit Schirmen, Charme und einer Wasserflasche hängen wir lustlos und müde im Zugabteil herum.

Ally und ihre Freundin Ida entdecken wir, sich suchend umschauend, am Busbahnhof. Auf beiden Seiten fröhliches Wiedersehen. Alle Alpträume des letzten Jahres, in denen sich Ally bei uns ausschließlich unwohl fühlte, scheinen ein Hirngespinst gewesen zu sein. Die quirlige Potsdamerin Ida zeigt keine Berührungsängste, quasselt nett und interessiert an allen Dingen des Lebens drauflos. Erster Unterschlupf in einer Bäckerei, beschirmt platschen Regentropfen über uns. Kaffee, Spritzkuchen, Mohnschnecken und Fragen, was wer macht, welche Veränderungen ein Jahr mit sich bringt. Die Mädels sind inzwischen aufgetaut, machen sich auf den Weg zum Schokoladenmuseum, da Ally eine bekennende Schokoholikerin ist. Die Sonne lunzelt erst behutsam, dann in voller Pracht hervor.

6. August

Kurzentschlossen und „todesmutig“ haben wir den Frankreich-Urlaub in einem unbekannten Kaff storniert und Urlaub an einem Dänemark-Fjord, in einem Haus mit Whirlpool, gebucht, auch wenn es nicht billig wird. Doris mit ihrem messerscharfen Verstand und allzeit klaren Worten meinte beim Hören unserer Frankreich-Urlaubspläne: „Ditt is ja wohl nich euer Ernst! Ihr fahrt 1600 km in een Kaff, wo nüscht los is.“ Wo sie Recht hat, hat sie Recht.

SEPTEMBER IM HOHEN NORDEN

2. September

Heli und ich sitzen am Frühstückstisch, in morgendlicher Muffellaune. Wir nehmen uns einen Tag frei, machen einen Tag „blau“ und düsen gen Ostsee. Welch schönere Sehenswürdigkeit als das Meer gibt es hier schon? Kurz vor der Abfahrt ruft 1&1 an, um mich anzuleiten in der Kunst der mobilen Internet-Nutzung beim „Tablet“.

Endlich sitzen wir im Golf, geben Heikendorf ins Navi ein und genießen bald darauf das gemeinsame Unterwegssein. Noch nicht einmal eine Dreiviertelstunde später passieren wir das Ortseingangsschild „Heikendorf”, ein typisches Touristen-Ostseebad-Städtchen mit kleinen Läden, Cafés mit wohlklingenden Namen wie „Seeblick“ und „Leuchtturm“ und allem für den täglichen Bedarf. Wir stöbern in einem Kunstladen, in dem wir von einer freundlich sprudelnden Blondine gefragt werden: „Einmal gucken?“ Wir antworten unisono: „JA!“, was sie zum Anlass nimmt, uns über all die Widrigkeiten und Schönheiten des Wohnens an der Küste aufzuklären.

Nach einer gefühlten Ewigkeit dürfen wir wirklich „gucken“.

Anschließend streben wir dem Strand entgegen, Meeresluft umgibt uns, riesige Möwen tummeln sich über, vor und auf dem Wasser. Zwei leerstehende, bunte Strandkörbe laden förmlich zum Ausruhen ein. Heli und ich lassen uns fallen und grinsen schief in das Handy, um zu „selfen“. Weiter geht es am Ufer entlang, vorbei an einem Schwimmbad mitten im Meer. Ungläubig sehen wir Kinder, Erwachsene und Jugendliche in diesem kaum sichtbaren Grenzbereich schwimmen. Seltsam. Mein Opa hätte gesagt: „Watt et allet jiebt!“

Wir schmunzeln, als wir ein älteres Paar auf der Bank sitzend und mit Feldstecher bewaffnet in die Ferne schweifen sehen. Ich frage Heli, ob sie sich mehr Action wünscht, aber sie ist zufrieden mit der langsamen Gemächlichkeit, der Entschleunigung des Tages. Auf einer Kinderschaukel bewegen wir uns nebeneinander, machen nicht viele Worte. Das Ende der Saison ist eingeläutet, denn nur wenige Strandkorbnutzer sind zu sehen und die Atmosphäre erinnert ein klein wenig an Herbst. Langsam knurren unsere Mägen und so schlendern wir Richtung Auto, nicht ohne vorher das riesige U-Boot-Gefallenen-Denkmal aufzusuchen. Wir überlegen schaudernd, was für ein qualvoller Tod es sein muss, eingeschlossen unter Wasser zu sein.

Tausende von Namen, unbekannte Personen, Menschenleben mit Träumen, Plänen, Hoffnungen, Sorgen und individuellen Schicksalen. An einer Mauer mit Namen lehnt ein Brief eines Enkels, hebt seinen Großvater heraus aus einem Meer von Anonymität und verspricht, ihn nicht zu vergessen. Nachdenklich gehen wir weiter.

Welch Segen ist ein Auto! Wir sind völlig geschafft vom Nichtstun und mein Rücken tut weh. Dankbar für diesen fahrbaren Ort der Erholung begeben wir uns auf den Weg zu Ikea, um dort kurze Zeit später Köttbullar, Pommes und Lachsfilet auf Korbsesseln zu verspeisen. Heli checkt WhatsApp und liest eine Nachricht der uns vermissenden Lissy, die nachfragt, wie lange wir noch unterwegs sein werden. Doch ich will keine Zeit angeben, will diesen Tag genießen, trödeln, schauen, von Möbeln träumen und die immer seltener werdende Zweisamkeit mit meiner Jüngsten auskosten. Zwei Stunden danach biegen wir auf der Zielgeraden ein.

Im Laufe des Abends kuschelt sich Heli an mich und flüstert mir die lieblichsten Worte der Welt ins Ohr: „Ach Mutti-Schnucki, ich habe dich sooo lieb!“

3. September

Ich dusche, mache mich „ausgehfein“, packe Blümchen ein und formuliere Glückwünsche für meine neue Nachbarin Beate. Nicht ahnend, dass halb Bellinghusen samt Gemeinde zu diesem Geburtstags-Frühstück eingeladen ist, laufe ich im stärker werdenden Regen hinüber, einen Katzensprung entfernt und begegne mehreren Frauen, die selbstverständlich ebenfalls zu Beate pilgern. Mir gegenüber sitzen Birte und Rita, beides Schwiegertöchter unserer Rosen züchtenden Direktnachbarin. Es ist nett und ich erfahre von familiären Banden und Festen, werde kurzerhand zum Polterabend der jüngsten Tochter eingeladen, um als Neu-Bellinghusenerin die alteingesessenen Dorfbewohner kennenzulernen. Ruth kommt aus dem süddeutschen Raum und wohnte zeitweise in Limburg. Wie klein ist doch die Welt.

Beate und Eberhard haben ein kleines Buffet aus Lachsstreifen, Tomate Mozzarella, Wurst, Käseplatte, Nutella und anderen Köstlichkeiten in der kleinen Küche aufgebaut. Kaffee und andere Getränke dürfen wir im zweifach geteilten Wohnzimmer auffüllen. Eberhard nimmt Bestellungen für weich und hart gekochte Eier entgegen und widmet sich voller Hingabe dieser herausfordernden Tätigkeit. Der Morgen vergeht wie im Fluge mit Reden, Kennenlernen, Zuhören, Ausloten chemischer Verbindungen und dem schlängelnden Anstehen nach kulinarischen Genüssen. Noch immer ist der Himmel wolkenverhangen und das Wetter alles andere als spätsommerlich. Dabei wollen wir heute noch nach Bad Segeberg zur vorletzten Veranstaltung dieser Saison.

Ich halte kurzen Mittagsschlaf und sehe rein zufällig aus dem Fenster. Mensch, ist das nicht Tante Brigitte vor unserem Haus?? Ich springe aus dem Bett. Schon klingelt es an der Tür. Der Altinspektor R. mit seiner Frau und eben auch Tante Brigitte aus Flensburg stehen überraschend vor der Tür. Der väterlich-warmherzige Alt-Bruder überreicht mir galant einen wunderschönen Gartenstrauß. Eine halbe Stunde erzählen wir miteinander, wie es wem wo geht. Tja, unverhofft kommt oft. Jetzt muss ich nur überlegen, in welcher Kiste meine Vasen gelagert sind. Kaum sind die Gäste verabschiedet, steigen wir gegen siebzehn Uhr in den VW Bus, da wir Winnetou begleiten wollen, wie er zum x-ten Mal den Schatz im Silbersee beschützt. Die Wetterprognose für diesen ersten Samstag im September verheißt Sonnenschein. Dennoch beobachten wir während der Fahrt die feinen Regentropfen, die an der Windschutzscheibe hinuntergleiten. Nach anderthalb Stunden sehen wir aus der Ferne den uns schon vertrauten Turm von Bad Segeberg. Wir parken, wie all die Jahre zuvor, auf unserem Lieblingsparkplatz und pilgern, wie viele andere Wild-West-Fans, gemächlich dem Kalkberg entgegen. Jungs mit Peitschen, junge Damen mit pinkfarbenen Lederhüten, Senioren mit Federschmuck, die skurrilsten Personen und Kostüme sind wieder zu bewundern. Einige tragen Wolldecken, Regenschirme, Capes und Verpflegung mit sich. Heute findet die letzte Abendvorstellung der Saison statt, von daher gab es nur noch vier einzeln verstreute Sitzplätze für uns. Zumindest sitzen wir alle in einem „Block“ und können während der

Vorstellung Blickkontakt aufnehmen.

Vor mir sitzt eine Familie mit einem Jungen und einem Mädchen. Mein geschulter „Bad-Segeberg-Kennerblick“ ordnet sie als „Karl-May-Profis“ ein. Der Junge spielt ohne Unterbrechung an seinem Gewehr herum und ich schicke insgeheim ein Gebet gen Himmel, dass diese Lieblingsbeschäftigung während der Vorstellung pausiert. Gegen zwanzig Uhr ertönt die akustische Einstimmung auf den Wild-West-Abend, verbunden mit einer Warnung für nicht ausgestellte Handys. Minuten später gibt es schon den ersten Toten und alle ahnen, Winnetou ist nicht mehr fern. Ein Raunen geht durch die Zuschauerreihen und da ist er, der blauäugige Jan Sosniak, alias Winnetou, der seine Darstellung der berühmtesten Rothaut mit einer gewissen Ernsthaftigkeit verkörpert. Immer wieder beobachte ich Kinder, die mit großen Augen die an ihnen vorbei preschenden Reiter anstarren. Ich denke an Rouven zurück, mit welch Begeisterung und Intensität er diese Abende erlebte. Meine Güte, jetzt wird er schon fünfundzwanzig Jahre alt, wie die Zeit dahinfliegt! Komischerweise hat er sich seine Affinität für Indianer bewahrt.

In der Pause klettern die Mädels hoch in meine Sitzreihe und plaudern atemlos über Szenen, Schauspieler, Pferde und Beobachtungen. Nach fünfzehn Minuten ertönt die Fanfare zum Pausenende und die Story nimmt an Spannung zu, Winnetou wird durch Adlerschwingen wie durch Zauberhand vom Marterpfahl befreit, Ellen überwindet alle Widerstände und liebt „Kleinen Bär“. Als diese junge Liebe durch einen Kuss besiegelt wird, jubelt und klatscht das Publikum. Warum gibt es so eine Bekräftigung besonderer Momente im realen Leben nicht? Man stelle sich vor, eine junge Frau hilft einem gehbehinderten Mann über die Straße und am Straßenrand würde jemand klatschend diese Hilfe bejubeln oder ein Schüler wird auf dem Schulhof gemobbt und jemand ruft lautstark: „Buhhhh!“ zu diesem Verhalten. Schade eigentlich, dass so viele Dinge übersehen werden, die kleinen Gesten der Freundlichkeit sowie die winzigen, messerstichartigen Verletzungen unserer Seele.

Feuerwerk und „One Moment“ beenden den Abend am Kalkberg. Etwas müde und kreuzlahm laufen wir zum Parkplatz, um kurze Zeit später in der Auto-Karawane mit „Stop and Go“ Bad Segeberg zu verlassen. Erst da wird uns richtig bewusst, dass es wirklich nicht geregnet hat.

5. September

Becky schreibt im Familienchat, dass im Tierheim eine Schildkröte abgegeben wurde, die in Marburg-Wehrda aufgefunden wurde. Ich muss lachen. Das könnte tatsächlich Beckys vor einem Jahr verschollene Groby sein, eigensinnig wie die Besitzerin.

Heli kommt aus der neuen Schule mit einem Kopf voller Eindrücke. Wir quetschen sie aus, wollen alles haarklein und aus erster Hand erfahren. Die gute Nachricht für diesen Tag lautet: Heli wird keinen Physik- und Chemieunterricht erhalten!! Yippi! Die schlechte lautet, Französisch geht weiter, sicherlich zur Freude von Herrn Frahm.

Am späten Nachmittag nehmen die Girls das erste Mal am Jugendkreis teil, bei dem sie vier andere Mädchen kennenlernen. Kaum zu Hause angekommen, fahren Lissy und ich los, um Autofahren zu üben. Ich und Autofahren lernen! Haha. Wir suchen einen Feldweg, holpern durch Pfützen und Matsch, bleiben fast stecken. Mein Herz klopft wie verrückt und der Schweiß bricht mir aus. Zu guter Letzt wählen wir die wenig befahrene Straße nach Mohr. Peinlich wird es, als ein Auto anhält und eine junge Frau aus unserer neuen Gemeinde fragt: „Ich habe euch erkannt und wollte wissen, ob ihr Hilfe benötigt?“

Verlegen schütteln wir die Köpfe, Lissy am Lenkrad …

6. September

Heli kommt aus der Schule, sie verschwindet sofort in ihrem Zimmer eine Etage höher. Ich setze mich zu ihr aufs Bett und frage, ob sie sich sehr alleine fühlt. Da bricht es aus ihr heraus und die so stark verdrängten Tränen fließen. Sie tut mir so leid. Wie gern würde ich ihr helfen …

Lissy kommt fröhlich von der Jeep-Fahrstunde zurück. Der Fahrlehrer bezeichnete sie als ein bisschen „schissig“, was aber okay sei. Sie stürmt zu Heli hoch und zum Mittagessen, eine Viertelstunde später, scheint Heli gelöster, erleichtert. Mit Umarmungen und schwesterlicher Liebe abgefüllt, erzählt sie von kleinen Erlebnissen des Tages und lächelt sogar. Heli skypt mit Lena und Becky, was sie aufmuntert und dennoch in ein Wechselbad der Gefühle stürzt. Schuberts holen mich gegen sieben zum Polterabend bei Familie K. ab, obwohl ich weder Wiebke, die Braut noch den Bräutigam kenne. Ein paar Nachbarn stellen sich vor. Carmen zum Beispiel, berichtet von ihrem Mann Ben, der „Time -Wave-Coach“ ist. Sie selbst trägt ein magnetisches Energiefußband. Etwas spooky finde ich diese Wave-Beratung schon, denn für eine Behandlung benötigt ein Timewaver unter Umständen nur Wohnort und Geburtsdatum. Zu halb neun verlasse ich die Poltergesellschaft und husche in unser Haus. Die Mädels hängen vorm Fernseher und ich ziehe mich um, denn es hat sich abgekühlt. Irgendwann macht sich Heli fertig zum Schlafengehen. Sie liegt mit roten, verquollenen Augen und Turban um ihre nassen Haare im Bett. Sie wirkt so klein, verletzlich und einsam, dass mein Herz ihr zufliegt. Wir reden miteinander, dass sie Judith und Isa damals verlassen musste und so Lena kennenlernen durfte.Ich streichle ihr Gesicht und fahre über ihren Kopf, versuche zu trösten und fühle meine Begrenztheit.

Inzwischen dröhnt von der Festgesellschaft „Ein Bett im Kornfeld“ und „Die immer lacht“ herüber. Ich schließe alle Fenster, was wenig hilft.

7. September

Gedankenverloren sortiere ich Kleidung, Ordner, Wäsche in den Zimmern der Mädchen. Ich überlege, wie ich Heli helfen kann, schicke ein Stoßgebet gen Himmel, dass der heutige Schultag für sie hoffnungsvoller verlaufen möge. Kurz vor drei öffnet sich die Tür und Heli umarmt mich stürmisch: „Heute war es besser! Ich habe Anna kennengelernt! Wir sitzen in mehreren Fächern zusammen!!“

Ein mittelgroßer Beklommenheitsstein fällt von meinem Herzen und ich ahne, dass all die Gebete der Paten, Freunde und Geschwister nicht umsonst ausgesprochen wurden.

10. September

Ines und Reiner sind zu Besuch. Die Sonne scheint ins Schlafzimmer und ich lausche den Schritten auf der oberen Etage. Die beiden rüsten zum Brötchenkauf nach Borgstedt, Alarmsignal für mich zum Aufstehen. Ich setze Kaffee auf, decke den Tisch und dusche geschwind. Eine Viertelstunde darauf sitzen wir zu dritt am Wohnzimmertisch, wo Ines erst einmal die Gardine zurückziehen muss, um ungehinderten Ausblick in den Garten zu erhalten.

Wir erzählen von unseren Kindern, von Naundorf, von „Hinz“ und von „Kunz“, so dass die Zeit verfliegt. Eine vorbei huschende Katze wird von meiner Schwester in einer höheren Stimmlage mit: „Miez, Miez, Miez und Mulle, Mulle“ begrüßt. Ich muss schmunzeln. Dieses kindliche Sprechen meiner großen Schwester mit den Artgenossen unserer früheren Haustiere, befördert mich zurück in meine Kindheit, in der Kathrinchen jeden Tag beim Auffüllen ihres Schälchens, in dieser Tonlage gerufen wurde. Doch das ist lange her, die Liebe meiner Schwester zu diesen eigenwilligen Tieren ist jedoch geblieben.

Dieses Nichtstun und „Ohne-Zeit-Druck“ beim Frühstück ist Relaxen pur. Ich denke an eine Formulierung, dass Geschwister unsere Brücke in unsere Vergangenheit sind und merke, dass ich dankbar bin, in Ines jemanden zu haben, der mich als Kind kannte, jemanden der meine Vergangenheit teilt.

Zu um Viertel vor Zwölf fahren wir nach Rendsburg, schlendern durch die Straßen und flüchten vor einer Demonstration der Linken gegen die AFD. In den Straßen und auf dem Marktplatz sammeln sich Polizisten mit Helmen und Schlagstöcken. Mir wird kalt, die Härchen an meinen Armen stellen sich auf und ein Buchladen bringt aus Sorge vor der radikalen Linken-Demo die Kartenständer in Sicherheit. Schnell weg hier!!

Wir orientieren uns Richtung Kanal, an dem Reiner uns Frauen einen Erdbeerbecher spendiert. Mit Ines und Reiner unterwegs zu sein ist lustig, erst hält Reiner an, öffnet seinen Kamerarucksack und sucht nach Motiven, dann zückt Ines ihr Handy auf der Jagd nach schönen Momentaufnahmen und dann hole auch ich mein Handy zum Fotografieren heraus. Somit wird aus einem kurzen Weg plötzlich eine lange Strecke.

Wir steigen ins Auto, „voll gefuttert“ bis obenhin und machen uns auf den Weg nach Bellinghusen, um die Mädels abzuholen. Bellinghusen ist gerade in Hochzeitsstimmung. Die Straße füllt sich mit einer Auto-Kolonne, an der Spitze steht ein kleiner, geschmückter VW-Käfer. Rita, Tante der Braut, rennt an mir vorbei und ruft:

„Wenn ihr ein Seil über die Straße spannt, bekommt ihr einen Schnaps.“ Reiner grinst aber verzichtet auf dieses Angebot, da wir noch weiter wollen nach Eckernförde. Wir entfliehen den Hochzeitsgästen, mit Heli und Lissy auf der Rückbank, in entgegengesetzter Richtung. Problemlos finden wir den Weg in den Badeort, die Straßen sind fast leer. Kurzer Zwischenstopp bei Edeka, in dem Ines und Reiner nach Wein und Brillenputztüchern fahnden. Meine Töchter bleiben derweil lieber im Auto. Weiter geht es, Parkplatz suchen in der Innenstadt, um uns dann auf den Weg zum Strand zu begeben. Heli meint: „Da lief gerade einer mit Badehose und Handtuch, dann ist der Strand bestimmt nicht mehr weit!“

Kurze Zeit darauf weht uns eine frische Brise um die Nase und Ines juchzt auf. Der Strand ist bevölkert mit kleinen Nackedeis, die fröhlich ins Wasser springen, eine Großmutter mit weißem Dutt erzählt im Strandkorb sitzend, angeregt mit ihrem erwachsenen Enkelsohn, eine am Bein mit Blümchen tätowierte Frau läuft barfuß mit einem Zweig in der Hand am Ufer entlang. Ein Pärchen küsst sich lange und ausgiebig im tiefen Wasser stehend, ein anderes Paar läuft eng aneinandergepresst, hintereinander im Schneckentempo, ebenfalls ins Wasser. Vier ausländisch wirkende junge Männer sitzen im Halbkreis am Strand und gestikulieren wild. Erholung Suchende jeden Alters liegen im Sand, spielen oder lesen am Handy. Wie merkwürdig, innerhalb eines Jahrzehntes liest Frau oder Mann weniger in einem Buch oder in einer Zeitung als in einem Smartphone.

Reiner will es wissen und stürzt sich in die Fluten, in denen wir bald nur noch seinen Hinterkopf erkennen. Wir vier Frauen beginnen eine Fotosession, zu zweit, zu dritt, zu viert. Reiner stößt zu uns und wird nun ebenfalls fotografisch festgehalten. Lissy und Heli bekommen langsam Appetit und so begeben wir uns mit GPS auf die Suche nach einem Fischrestaurant. Beim „Lucifer“, direkt am Ufer, lassen wir uns nieder. Wir klauen Stühle an benachbarten Tischen und geben bei Kellner Marc unsere Bestellung auf. Das Abendlicht schimmert so warm und in den verschiedensten Farben über dem Wasser, so dass wir drei Star-Reporter abwechselnd vom Tisch aufspringen, um ja nicht die kleinste Veränderung der Lichtverhältnisse zu verpassen. Allmählich wird es kühler und die neben mir sitzende Heli bekommt „Haut wie Gans“. Marc beliefert uns gekonnt und galant mit den maritimen Genüssen und Heli und Lissy mit den von ihnen bevorzugten Nudelgerichten. Meine Herren, habe ich heute viel gegessen! Gegen halb neun kommen wir wieder in „An See 14“ an, wo die Girls noch eine abendliche Runde drehen und wir „Erwachsenen“ bei Wein den Abend ausklingen lassen. Schön war's!

11. September

Welch geschichtsträchtiger Tag. Ich erinnere mich, wie Anne B. mich in Velten mit Klein-Merle besuchte und wir wie gebannt vorm Bildschirm verharrten, fassungslos über den Todesflug ins World-Trade-Center. Heute nun, fünfzehn Jahre später, frühstücke ich mit meiner Schwester und ihrem Mann in Schleswig-Holstein in unserem „Übergangs-Wohnzimmer“. Gegen halb zwölf rüsten sie zum Aufbruch. Um 13.44 Uhr trudeln die nächsten Besucher hier ein, Mutti und Vati, die erst einmal das Haus und den Garten inspizieren. Vati erfasst innere Unruhe, da er die reifen Pflaumen an unserem Baum sichtet. Am liebsten würde er Mutti gleich zum Pflaumenkuchen-Backen abkommandieren und so erkundigt er sich postwendend bei mir nach den nötigen Zutaten. Diese Väter!!

Ich versuche, ihn abzulenken mit einer Tasse Kaffee. Wir setzen uns an den großen Esszimmertisch, an dem drei Stunden vorher noch Ines und Reiner frühstückten. Sie erzählen begeistert von ihrem Traumsommer-Usedom-Urlaub und von Verwandten und Bekannten. Lissy und Heli stoßen dazu. Anschließend besichtigen wir erneut unser zukünftiges Haus. Vati und ich umrunden, Mutti vorher wieder in „An See 14“ abliefernd, den Wittensee mitsamt den Bänken. Irgendwann begutachtet Vati dann die Unterkunft bei „Ilse 2“ und schnackt schon charmant mit ihr über dies und das. Inzwischen ist es fast Abendbrotzeit und so stelle ich Mutti einen Stuhl in die Küche, sodass wir beim Zubereiten miteinander reden können. Tomate Mozzarella, Schmand-Brötchen und Salat sind geplant. Nach dem Abendbrot unterrichte ich die beiden Senioren in der Kunst des Sprachnachrichten-Verschickens, was beide mehrmals bei Enkeln und Freunden ausprobieren müssen. Schritt für Schritt kämpfen sie sich durch den Dschungel der modernen Kommunikation und entwickeln zunehmend Spaß daran.

Abends im Bett erhalte ich noch eine Nachricht von Susi aus Katzenelnbogen, ein Foto von ihrem schon wieder bandagierten Sohn Niklas. Ungläubig lese ich, dass ihm nun noch ein Reh vors Moped gelaufen ist. Er müsste eigentlich in den umliegenden Krankenhäusern Rabatt erhalten!

12. September

Stundenausfall bei Heli, das heißt, eine Stunde später Abfahrt nach Rendsburg. Die Autos drängeln um diese Zeit nicht mehr ganz so und ich finde mich fast ohne Navi in die Kieler Straße. Auf dem Rückweg lege ich einen kurzen Stopp bei Bäcker Drews ein. Die Dame vor mir in der Warteschlange wird zuvorkommend und höflich mit „Frau Martens“ begrüßt. Ich denke kurz an Bäcker Zorn und dass wir dort, im fernen Katzenelnbogen, auch einen gewissen Bekanntheitsgrad genossen haben. Ach ja!

Das Angebot ist vielseitig, ich stelle ein buntes Sortiment zusammen aus Hafer-, Roggen-, Vollkorn- und Weizenbrötchen. Der Duft erfüllt das ganze Auto. Stunden später sind Mehl, Eier, Hefe, Eier, Butter und Pflaumen in der Küche verteilt, Vati rückt seiner Sehnsucht nach frischem Pflaumenkuchen näher. Dieser Tag plätschert in sommerlicher Leichtigkeit dahin, einfach sein, Sonne und Ruhe genießen, ab und zu reden über dies und das. Gegen halb acht ziehen sich Mutti und Vati in Frau Thales Pension zurück, in der sie selbst ihr Fernsehprogramm bestimmen können. Da es relativ früh ist, begleite ich Friedel noch zum traditionellen, abendlichen Beisammensein bei Schuberts, bei dem zirka dreißig Hauptamtliche mit und ohne Anhang im Wohnzimmer, bei aufgeheizten Temperaturen, verweilen. Eberhards Spezial-Spiegeleier, im Kamin zubereitet, machen die Runde. Ein paar Anwesende suchen das Gespräch mit mir, erkundigen sich nach meinem Befinden und erfragen unseren familiären Hintergrund. Zwischendurch kommt Eberhard mit Schweiß durchtränktem Hemd und Handtuch um seinen Hals, wie ein aus dem Ring steigender Boxer, vorbei und nimmt weitere Bestellungen entgegen. Mir scheint, dass „Schubi“ das alles gern tut, dass er freundliche Massenansammlungen genießt. Neben uns sitzt ein Ehepaar aus Güstrow, das sieben Kinder hat, mindestens drei davon angehende Juristen. Natürlich verbindet uns die gemeinsame DDR-Vergangenheit. Nach zwei Stunden Kontaktaufnahme mit einem Prediger aus Schleswig, einer mit drei pubertierenden Töchtern gesegneten Referentin, einem Paar aus Neumünster, ist mein Kopf zum Bersten gefüllt und meine Seele müde. Das Stimmengewirr schwillt weiter an aber wir ziehen uns zurück.

13. September

Hui, es ist zwölf vor halb neun und halb neun trudeln meine Eltern zum Frühstück ein. Ich stehe mit einem Hauruck auf, flitze in die Küche, decke den Tisch im Affentempo (Warum sagt man das eigentlich?) und stelle die Dusche an, als Mutti und Vati bereits die Haustür öffnen. Heli testet heute zum ersten Mal die Buslinie nach Rendsburg, wodurch ich zeitlos und ohne Druck meine Eltern in Empfang nehme.

Zwischendurch schneit Friedel von der Tagung der Hauptamtlichen mit Rucksack und Holzkreuz herein, durchgeschwitzt und geschafft von dem gerade schauspielerisch dargestellten „Wanderer“. Wir wechseln ein paar Worte und weiter geht es, für ihn im gegenüber liegenden EBZ und für uns in „An See 14“. Mutti widmet sich der Wäsche, Vati erkundet Bellinghusen und Lissy schläft aus.

Nach anderthalb Stunden ist Vati endlich zurück von seinem Erkundungs-Tripp. Ich fing schon an, mir Sorgen zu machen. Völlig unnötig, wie sich herausstellt, da er schon erste Ortskontakte knüpft. Gegen meinen Vater bin ich introvertiert. Bereits gestern rief er wildfremden Fahrradfahrern Kommentare zu.

Heli sagte ebenfalls gestern, dass wir unsere Kaninchen doch nicht unbedingt nach Bellinghusen holen müssen, dass „die Sehnsucht nicht ganz so stark sei“. Durch diese Aussage ermutigt, schreibe ich heute Vormittag an mehrere Frauen aus unserer alten Heimat, um tierliebe Adoptiveltern zu finden.

Parallel dazu schwirrt in meinem Kopf die Idee eines eigenen Kätzchens für Heli, die ich kurz darauf meinem Mann mitteile. Als ich am Nachmittag von einer Autotour zurückkehre, rennt mir Heli mit leuchtenden Augen entgegen: „Ich bekomme echt eine Katze!“ Ich dämpfe ihre Euphorie etwas und erwidere: „Die darf aber nur in den Schuppen, eine richtige Dorfkatze halt!“ Heli grinst dennoch glückselig vor sich hin.

Gegen halb sechs fahren wir, nachdem die Mädchen noch in den Wittensee gesprungen sind, mit meinen Eltern nach Eckernförde, um innerhalb von vier Tagen zum zweiten Mal im „Luzifer“ einzukehren. Das Essen ist lecker und nach zwei Stunden schlendern wir gemächlich zurück zum Auto. Auf dem Weg durch die Fußgänger-Passage gibt es noch ein Eis auf die Hand und mein Vater erzählt, woher das Wort „Boulevard“ kommt- dort „starb mal ein „Bulle“- „Bulle war“. Unsere Mädchen kennen ihren Opa schon und wissen, ihn zu nehmen. Plötzlich kommen sie zu mir gerannt: „Mutti, wie ist das eigentlich, ältere Kinder zu haben? Wenn man sich Kinder wünscht, denkt man immer nur an kleine. Das ist sicher gar nicht so einfach. Sind wir sehr schlimm???“ Wow, ich staune über diese tiefschürfenden Gedanken der Mädchen.

Auf der Heimfahrt fragt Opa sie, welchen musikalischen Wunsch sie haben. Sie erwidern, vielleicht auch, um mich zu ärgern, „Anja, du mein Mädchen“ vom längst verstorbenen Schlagerstar „Ronny“. Ich stöhne auf.

14. September

Ich blinzle in den neuen Morgen und eine WhatsApp-Nachricht wird angezeigt. Ulli: „Bist du schon wach?“ Ich bejahe ihre Frage und schon bimmelt das Handy. „Ich warte darauf, dass Aldi öffnet. Bist du schon wach?“ Naja, nicht ganz aber das Plaudern mit Ulli stimmt mich fröhlich und mein Morgenmuffel-Blut beginnt langsam zu zirkulieren. Nach einer halben Stunde Ulli-Telefonat fühle ich mich für den Tag gewappnet. Viertel vor neun öffnet sich erneut die Tür und meine Eltern erscheinen zum Frühstück. Bald wollen wir nach Lieks, zu meiner neuen Arbeitsstelle aufbrechen, wo ich heute meinen Laufzettel ein Stück abarbeiten muss. Nachdem ich im Liekser Krankenhaus relativ schnell meine neuen Kittel bestellt habe, begeben wir uns wieder nach Eckernförde. Die Sonne scheint herrlich und Mutti und Vati holen ihre Strohhüte heraus. Wir lassen uns auf eine Parkbank fallen und versuchen mehrmals ein Selfie, das sie dann selbständig versenden müssen. Sie sind kindlich begeistert, als meine Schwester, noch nicht einmal eine Minute später, aus ihrem Büro in Berlin verlauten lässt: „Euch geht es ja gut!“ Moderne Technik hat auch ihre Vorteile.

Vati und ich überlassen unsere Schuhe Muttis Aufsicht. Vati krempelt die hellen Hosen hoch und so laufen wir bis zum ins Wasser ragenden Steg am Ufer entlang, erzählend und in bester Urlaubsstimmung. Wir bohren unsere nackten Zehen in den glitschigen Sand und laufen vorbei an vier kleinen süßen Mädchen, die eifrig die Eimerchen mit Wasser füllen und so unbeschwert und selbstvergessen spielen, wie nur Kinder das können. Auf dem Rückweg umarme ich mein Väterchen kurz und eine ältere Dame lächelt mich musternd an. Ob sie uns für ein Liebespaar hält?

Ich bin so erschöpft von unserem kleinen Eckernförde-Trip, dass ich mich zu Hause erst einmal ins Schlafzimmer zurückziehe, um kurz in anderen Sphären zu schweben. Zu um vier trinken Mutti, Vati und ich wie abgesprochen eine Tasse Kaffee. Anschließend laufen wir in sehr gemächlichem Tempo zur Kirche, in der um fünf der Festgottesdienst zur Verabschiedung des Inspektors stattfinden soll. Enno Hinrichsen, Vorsitzender des Werkes, begrüßt mich freudestrahlend. Die Gäste sind sehr unterschiedlich gekleidet, von festlicher Abendgarderobe bis hin zu Vatis blauem T-Shirt. Für einen winzigen Moment hatte er beim Kaffeetrinken überlegt, sich in „Schale“ zu werfen, doch den Gedanken nach Muttis „Du kannst auch in einem T-Shirt die Hände falten!“, wieder verworfen. Manchmal finde ich meine Mutter ziemlich cool.

Eberhard Schubert entschuldigt sich noch kurz bei Mutti für die Quartierprobleme im Vorfeld und auch Enno Hinrichsen sucht den Kontakt zu meinen Eltern. Nur muss er auf das persönliche Händeschütteln meines Vaters lange warten, da Vati ziemlich ausgiebig die Grabinschriften der Bellinghusener Urahnen studiert. Endlich beginnt der Gottesdienst und nach „Lobe den Herren“ predigt der Bald-Senior. Man versteht nur Wortfetzen, da die Batterie des Mikros gerade ihr Leben ausgehaucht hat. Schade.

Ein kurzes Zitat aus dem Lieblingsbuch des Noch-Inspektors prägt sich mir besonders ein. Ich erinnere mich nur noch sinnbildlich daran. „Ob Gott sich wirklich über das Geschenk unseres Herzens freut? Es ist doch eher wie eine zerlöcherte, verrostete Büchse, die auf den Müll gehört. Und ist es nicht eher so, dass Gott wie ein Wanderer mit Stock ist, der diese kaputte Büchse mit seinem Stock im Vorübergehen aufspießt und mitnimmt?“

Alle Anwesenden begeben sich nun ins EBZ, in dem lange Tischreihen mit roten Deko-Bändern und Blumen geschmückt sind und das Buffet eröffnet wird. Ein Musiker-Duo, bestehend aus einem Klavier- und einem Saxophon-Spieler eröffnet den Abend mit Gershwins „Summertime“. Sie spielen virtuos und mitreißend, laden zum Träumen ein.

Um mich herum sehe ich fast ausschließlich unbekannte Gesichter und ich fühle mich etwas fremd, wie ausgesetzt von einer Raumfähre auf einem anderen Planeten. Beim Rückweg vom Buffet werfen wir einen elterlichen Blick auf unsere in der Küche arbeitende Viertgeborene, die fröhlich ihrer Tätigkeit nachgeht. Die Predigerschaft hält eine Rede, in der vieles positiv aber auch etwas neckend die Arbeit des baldigen Ruheständlers beleuchtet wird. Zwischendurch hören wir immer wieder die fast himmlischen Klänge des Duos. Der Höhepunkt des Abends ist eindeutig das Überreichen des Geschenks, einer Kettensäge mit dem dazugehörigen Kettensäge-Kurs und „gesägneten Wünschen“.

Das Publikum prustet los bei diesen Wortschöpfungen. Offiziell endet der bunte Abend um Viertel nach neun mit herbstlichen Jazz-Melodien.

15. September

Heli stürmt fröhlich zur Haustür herein und plaudert ununterbrochen. Ich sage: „Schön, dass du so fröhlich bist!“ Heli: „Ja, heute habe ich gute Laune!“

Kurz nach drei gibt es Mittag und Heli redet weiterhin ohne Punkt und Komma: „Sorry, dass ich so viel rede. Das mache ich nur, weil ich das in der Schule nicht kann!“ Ich muss lachen. So ein fröhlich plauderndes Kind ist mir tausendmal lieber als ein verschlossenes, trauriges.

16. September

Heute beginnt der Unterricht von Heli erst um halb zehn. Da kein Bus um diese Zeit aus Bellinghusen nach Rendsburg fährt, erbarme ich mich über mein Kind und chauffiere sie mit dem Auto. Ich denke zurück an viele Jahre, in denen ich zu viel Angst vor dem Autofahren hatte, wo mich die Angst beherrschte, jemanden „umzunieten“. Fakt ist, es ist immer möglich. Ein winziger Augenblick der Unaufmerksamkeit- und schon bringen wir andere in Gefahr oder sie uns. Irgendwann begann ich, diese Angst loszulassen, denn meine Angst nützt niemandem und Gott kennt die Zukunft.

Inzwischen finde ich mich ohne Navi in die Kieler Straße, zu Helis Schule. Sie springt bei der Tankstelle an der gegenüberliegenden Seite aus dem Auto, winkt mir lächelnd zu und verschwindet hinter der großen Eingangstür. Momentan sind viele Erstklässler unterwegs und ich sehe meinen inzwischen erwachsenen Sohn vor mir, wie er nach dem ersten Schultag stolz verkündet: „Ich habe Hausaufgaben auf! Stifte anspitzen!“ Nun ist unsere Jüngste schon in der 11. Klasse. Stand sie nicht gerade noch vor mir mit hellblonden Zöpfen und Zahnlücke?

Einkauf bei Lidl, Regale in ganz Deutschland scheinen nach demselben System angeordnet zu sein. Manchmal bin ich verwirrt, erwarte an der Kasse Lucy und andere bekannte Gesichter, doch ich sehe fremde Menschen, höre kein Hessisch. Ich schiebe die aufkommende Traurigkeit zur Seite und konzentriere mich auf das Ausräumen meines Einkaufskorbes.

Wochenende, ein wohliges Gefühl breitet sich in mir aus und die Töchter rufen: „Hoch die Hände, Wochenende!“ Eine nicht ganz vorbildliche Wochenration füllt die Schränke. Der Sommer geht unweigerlich dem Ende entgegen, denn erste Regenwolken ziehen auf. Lissy und ich marschieren los, Richtung Wentorf, fast am Ufer entlang. Schon von weitem hören wir ein Schnattern aus dem Wäldchen, das den Wegrand säumt. Wir laufen einen Waldpfad entlang- dem Geschnatter näher kommend- und lachen. Dieses laute Erzählen der sich zur Ruhe begebenden Wildgänse erinnert mich an das Gute-Nacht-Sagen der Waltons. „Gute Nacht, John-Boy!“, „Gute Nacht, Mary Ellen!“

Ob diese wunderbaren Vögel sich ähnliches zurufen? Vielleicht spüren sie aber auch die kühler werdende Luft, ahnen den Herbst und planen ihre Reise in den Süden, wer voran fliegt und wer das Schlusslicht bildet?

Langsam beginnt es zu tröpfeln. Wenn wir noch trocken nach Hause kommen wollen - “Flinke Hufe“, wie meine Freundin „Pumuckl“ vor vielen Jahren gesagt hätte, jetzt als praktizierende Pastorin vielleicht nicht mehr.

Kurz darauf gießt es wie aus Kannen, ich laufe mit riesigen Schritten die Treppe hinauf und schließe die Dachfenster. Meine auf der Außentreppe stehenden Blümchen saugen sich durstig voll Wasser. Die schwarze Katze mit den weißen Tatzen, die schon seit Tagen unsere Beine umschleicht, sucht Unterschlupf und Schutz vor dem Regenguss.

17. September

Noch immer ist der Himmel trübe. Die Schafe blöken dennoch vor sich hin. Im Erholungszentrum „EBZ“ singt ein Chor, der seine Stimmübungen voller Hingabe schmettert. Die Mädels schlafen noch, typisch Teenager, genießen den Tag ohne Zeitdruck. Ich denke an meine Kindheit zurück, in der wir Samstagvormittag noch die Schule besuchen mussten. In diesen wenigen Stunden am Samstagnachmittag, als alle Hausaufgaben hinter mir lagen und ein völlig, niegelnagelneuer Tag ohne Schule erwartungsvoll auf mich wartete, fühlte ich mich entspannt und ohne Leistungsdruck. Ich packte damals schon samstags den Ranzen für Montag, weil ich keine einzige sonntägliche Minute an Schule verschwenden wollte. Heutzutage dürfen Kinder ein ganzes Wochenende für sich haben, welch Privileg.

Ich frühstücke allein aber nicht einsam im Wohnzimmer, sehe aus dem Fenster und lasse meine Gedanken spazieren gehen. Minuten später sitze ich im störrischen Golf, der immer wieder für Überraschungen gut ist. Heute spurt er jedoch und so fahre ich nach Rendsburg an den Bahnhof, wo unsere Gemeinde einen renovierungsbedürftigen Raum gemietet hat. Als ich ankomme, läuft mir Architektin Doro, Frau von Arne und stolze Mutter von Emma, mit Kopftuch in die Arme. Ein Teenager schmiert Löcher mit Gips zu, Männer ziehen Strippen und Mädchen streichen die bisher roten Wände weiß über. Mitten „mang“, wie man hier sagt, spielen Zwillingsmädchen mit Lego, balanciert der lütte Bruder der beiden auf dem Gerüst und kreischt Lotta: „Iiih, eine Spinne!“ Ich bekomme Reinigungs- und Fliesenputzdienst im WC zugewiesen, etwas abseits von den anderen Helfern, was mir momentan sehr entgegenkommt, zu fremd sind mir diese freundlichen Menschen noch.

Nach drei Stunden Malern, Schrubben und Steckdosensäubern, rüste ich für die Heimfahrt. Doro fängt mich ab und fragt, ob ich eventuell mal im Mutter-Kind-Kreis einen Erziehungsvortrag halten könnte. Ich und vor Menschen reden. Naja, schauen wir mal.

Stopp bei Rewe, wo mich manche frech angrinsen, wahrscheinlich wegen meiner mit weißer Farbe durchzogenen Haare.

Im Laufe des späten Nachmittags entscheiden wir uns kurzentschlossen, das Rendsburger Kino auszutesten. Nach dem letzten völlig sinnleeren Kino-Highligt in Nastätten, möchten Lissy und ich heute was fürs Herz, Heli tendiert eher zu etwas Modernem, Action geladenen. Der Herzschmerz siegt aber Heli toleriert es. Im Kinosaal suchen wir vergeblich nach Sitzplatz-Nummern, denn hier gibt es Tischreihen mit Buchstaben-Kennzeichnung, an denen runde Lämpchen mit einer Klingel befestigt sind wie in einer Kuschel-Lounge. Die Wände scheinen den Siebziger Jahren entsprungen zu sein. Heli testet die Bestellklingel, die sie anfänglich für den Lichtschalter der Retrolampe hält. Sekunden darauf darf sie ihre Bestellung aufgeben. Mann, ist das aufregend, Bistro-Service im Kino-Kuschel-Plüschsessel. Die heimeligen Lampen erlöschen und der Film beginnt.

Eine überglückliche Karoline Herfurth erscheint auf der Kinoleinwand, die ihren Liebsten verabschiedet, der kurz darauf von einem Auto erfasst wird. Die junge Kinderbuchautorin verfasst daraufhin nur noch deprimierende Bilderbücher, in denen die Hauptfigur, eine Raupe, suizidale Gedanken hegt oder mit der Magersucht kämpft. Nora Tschirner als komische Freundin und Frederik Lau sind witzig, ein bunter Farbtupfer in dem nicht ganz stimmig wirkenden Film. Katja Riemanns Song am Ende des Filmes könnte sich ungewollt zum Hit entwickeln. Alles in allem ist es ein netter Film, der nicht hohl ist aber auch nicht tief schürft oder sonderlich berührt. Größenwahnsinnig suche ich den Heimweg im Dunkeln ohne Navi, prompt verfahre ich mich.

Die Pflaumen von unserer Nachbarin, Frau T., stehen immer noch unberührt im Flur. Eine tadellose Hausfrau hätte statt eines Kinobesuches mit den pubertierenden Töchtern Zwetschgen entkernt. Pfui, wie verantwortungslos.

18. September

Mit den mahnenden Worten meiner Teenie-Töchter im Ohr, dass wir um Punkt Viertel vor neun frühstücken wollen, hüpfe ich nach dem Erklingen der Ocean-Handy-Weckmusik aus dem Bett und bereite den Frühstückstisch vor. Soweit ist es schon gekommen, Mutter pariert, wenn Kinder etwas festlegen. Heli hüpft kurz nach halb neun in die Dusche, um kurz nach der vereinbarten Zeit im Wohnzimmer zu erscheinen. Tadelnd und ein bisschen triumphierend werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Heli: „Ich bin doch nur zwei Minuten zu spät!“

Im Gottesdienst begleitet uns heute S. am Klavier, die fast hüpft auf ihrem Hocker, da sie sich so mitreißen lässt von der Musik. Die rothaarige Sina, die gestern noch fröhlich mitmalerte, singt teilweise im Duett mit der hüpfenden Vollblutmusikerin am Klavier. In der Rendsburger Gemeinde werden keine englischen Lieder gesungen, was mir ein klein bisschen fehlt. Nach der Dialog-Predigt eines Ehepaares, gibt es Kaffee, Tee und Plätzchen. Mühsam trainiere ich die Namen der Anwesenden. Harry und Heidi, das müsste ich mir doch merken, Eselsbrücke: Autokennzeichen HH, Regina, die gestrige Blumendekorateurin. Wer war noch mal Tanja? Leider spreche ich Solveig als Tanja an, da sie irgendwie wie eine Tanja aussieht. Dabei stellte sie sich mir vor kurzem bei Beates Geburtstagsfeier vor. Mein Gedächtnis ist auch nicht mehr das, was es einmal war. An den Keks-Tischen lerne ich Irmchen aus Ostpreußen kennen. Mein Kopf rattert, um weitere Eselsbrücken zu entwerfen.

Letztendlich spreche ich noch mit Tina, Frau des Jugendleiters, Schwiegertochter des frisch pensionierten Kettensägenliebhabers und Mutter der hinreißenden Kinder Hilda, Lara, Matts und Pia. Lara hat rote, lockige Haare, eine süße Stupsnase und ein Gesicht voller Sommersprossen. Ein bisschen erinnert sie mich an eine Sarah-Kay-Puppe. Tina lädt mich sehr herzlich zum Kaffee- oder Teetrinken am Dienstag-Vormittag ein, nach Groß-Wittensee. Hurra, ich weiß schon, wo das ist.

Wieder zu Hause angekommen, erwartet uns immer noch ein unverarbeiteter Plastikbeutel mit Pflaumen meiner betagten Nachbarin.

Telefonate mit Doris sind immer herzerfrischend. Heute ist es mal wieder soweit. Ihre erste Frage: „Darf ick wissen, wieso ditt nüscht jeworden iss mit eurem Frankreich-Urlaub?“ und schon pruste ich los. Sie ist einfach unglaublich!

19. September

Das Haus leert sich, Schafe blöken, Tauben gurren und ich wurschtel mich durchs Haus. Noch immer suche ich nach Adoptiveltern für unsere Zwergkaninchen im fernen Katzenelnbogen. Ich ahnte nicht, wie schwierig das sein würde. Eventuelle Arztkosten, fehlender Stall, schon vorhandene andere Nager, Urlaubsunterbringungsprobleme und zig andere Hindernisse gilt es zu bedenken.

Nach drei wunderschönen Altweibersommerwochen wird es ungemütlich, der Himmel zeigt sich ausschließlich von seiner grauen Seite und die Blätter fallen vereinzelt von den Bäumen.

Am späten Nachmittag fahre ich die Girls nach Rendsburg, zum Jugendkreis. Auf dem Weg dorthin drängeln Autos und der Berufsverkehr ist in vollem Gange. So komme ich mitten auf dem Fußgängerüberweg zum Stehen. Lissy, frisch gebackene Fahrschülerin: „Eigentlich darf man aber nicht auf einem Fußgängerüberweg stehen bleiben!“ Wir fahren weiter und ich verstelle nochmals den Spiegel. Da höre ich von Heli mit pädagogischem Unterton: „Eigentlich soll man den Spiegel doch vor der Abfahrt einstellen!“ Warum wissen Teenager eigentlich immer alles besser??

20. September

Vor fünfundzwanzig Jahren lag ich bei schönstem Sonnenschein im Kreißsaal in Frankfurt/Oder und hielt kurze Zeit später unser Roüvchen im Arm, fasziniert betrachtete ich sein Köpfchen mit den dunklen Haaren und staunte über seine Überlänge, die zur Folge hatte, dass ich die ersten Strampler nicht benutzen konnte. Ich durfte erleben, wie aus einem sensiblen, fröhlichen Jungen ein sensibler und fröhlicher Mann wurde, der sich seine Vorliebe für Indianer und komplizierte Wortschöpfungen erhalten hat. Heute nun feiert er mit Freunden im fernen Paris, wie schön!

Zur selben Zeit nehme ich eine Einladung nach Groß Wittensee zu Tina an. Das Haus ist gemütlich, mit dem für mich angenehmen Grad an Ordnung und Sauberkeit. Tina erinnert mich mit ihrer netten, herzlichen Art so sehr an meine Freundin Sabine aus dem Rapunzelhaus, dass ich mich sofort wohl fühle.

21. September

Kühle Herbstluft dringt durch das Schlafzimmerfenster, ich höre die Haustür zuschlagen von Heli, die sich im Morgengrauen auf dem Weg zum Bus macht. Gestern war sie nach dem Unterricht in den falschen Bus gestiegen, saß irgendwo in einem Industriegebiet in Osterrönfeld fest, wo der inzwischen ortskundige Vater sie dann abholte. Abends musste sie sich dann einige Neckereien gefallen lassen.

Lissy schläft noch, glücklich, dass sie heute nicht im EBZ arbeiten muss und über das Telefonat mit ihrer Freundin Lilly. Gerade jetzt, in der neuen Heimat, fern von allem Vertrauten, gewinnen diese Freundschaften eine ganz neue Bedeutung.

Wieder einmal Fahrt nach Rendsburg, bei der sich die Fahrschülerin tapfer dem Straßenverkehr stellt und ich in der Zwischenzeit „Anti-Aging-Produkte“ zum 50. Geburtstag einer Freundin besorge. Die Vielfalt in der Drogerie ist riesig aber letztendlich werde ich fündig und kaufe Cellulite-Lotion, Falten mildernde Cremes und Masken. Ob sie sich freut? Ich hoffe es und höre in meinem Kopf ihr Gackern und ein sächsisches: „Och Onjoo!“ Das allein ist es schon wert!

Heute sehen wir die Papiere von Lissys Uni in Hamburg durch. Jetzt, wo alles konkret wird, steigt die Aufregung. Wir checken die Mitfahrzentralen nach günstigen Preisen und planen die Einführungstage der Erstsemester-Studentin. Es wird jedenfalls anstrengend, von Bellinghusen mindestens dreimal wöchentlich in die Hansestadt zu gelangen. Noch immer ist kein Bafög-Bescheid eingetrudelt. Ohne Bafög weiß ich nicht, wie das finanziert werden soll.

Am späten Nachmittag sehne ich mich nach Bewegung und frischer Luft, die Mädels ziehen es vor, allein an den Wittensee zu gehen. Ich kann sie verstehen, Mütter sind manchmal nicht so cool. So walke ich allein im Eiltempo, Richtung Wentdorf, vorbei an dem Wildgänse-Wäldchen und mit Blick auf einen roten Abendhimmel. Kurz setze ich mich auf eine Bank am Ufer, von der aus ich das sanfte Plätschern der Wellen beobachte. Bei meiner Ankunft im Dunkeln leuchtet bereits Licht aus Helis Zimmer.

22. September

Yippi, Becky ist „Nurse“, sie hat alle Prüfungen gemeistert. Ich stehe parallel dazu mit einem Paket weißer Kittel, die meinen Namenszug tragen, im Dschungel meines neuen Krankenhauses. Vor zwei Jahren wurde ich von Nastätten eingekleidet, nun bin ich in Lieks angestellt. Wie verrückt. Innerhalb so kurzer Zeit kann sich ein halbes Menschenleben ändern.

Nachmittags scheint die Sonne durch die herbstlich geschmückten Bäume und ich fühle mich an den goldenen Herbst vor zwei Jahren in London erinnert. Wie gern wäre ich heute im St.James-Park spazieren gegangen, wäre mit der „Tube“ durch die britische Hauptstadt gefahren, die modisch gekleideten Menschen beobachtend, die stets die neuen Trends der Modewelt erahnen lassen. Wie gern wäre ich in der Abbey Road entlang geschlendert und bei den Straßenkünstlern in Covent Garden stehen geblieben. Widerwillig schüttle ich innerlich den Kopf, denn stattdessen bin ich in Bellinghusen, schnappe ich mir den Elektrorasenmäher und verbinde mindestens fünf Verlängerungskabel, um alle Ecken des Grundstückes mit dem Rasenmäher erreichen zu können.

23. September

Heute regnet es. Wie gut, dass ich gestern das lästige Rasenmähen erledigt habe. Hier gibt es keinen Fredi, der sich mit schelmischem Grinsen durch unsere Wildnis arbeitet.

Heute Morgen erreicht mich erneut eine Kaninchen-Adoptiv-Absage, so dass ich mich schweren Herzens entschließe, die arme Lucy nochmals zu behelligen, die im Notfall, wenn sich niemand anderes findet, unsere Hoppels beherbergen würde. Ich organisiere bei meinem Lieblingsbauern den Heu- und Strohnachschub, rede mit der Kaninchenflüsterin Elke und lasse mich erleichtert in meinen Sessel plumpsen. Eine Sorge weniger!

Gegen vier sind Friedel und ich bei Steffi zum „Schnacken“ eingeladen. Ursprünglich wollte Steffi bei uns klingeln um diese Zeit, doch durch flüchtiges Überfliegen von Steffis Email sitzen wir nun bei ihr auf der sonnendurchfluteten, weißen Terrasse statt sie bei uns. Im Wohnzimmer befindet sich noch ein Kuchen essender Handwerker im fortgeschrittenen Alter. Verwundert schaue ich im Vorübergehen auf seinen Finger, der liebevoll mit Steffis Kinderpflaster medizinisch versorgt wurde, da Steffi ausschließlich Pflaster mit Kindermotiven besitzt. Schmunzelnd sagt er: „Eigentlich wollte ich lieber eins mit Krokodilen, aber das hier ist auch in Ordnung.“ Sagt's und schaut auf seinen mit Entchen-Pflaster beklebten Finger.

Auf Steffis Terrasse stehen eine helle Couch, ein Holzstuhl mit Fußstütze, Blumentöpfe in allen Varianten und eine Gießkanne. An dem durchsichtigen Wellblechdach hängt, startklar für laue Sommerabende eine Lichterkette. Ich lasse meinen Blick durch den Garten schweifen und atme unwillkürlich auf, ein Ort zum Chillen, Relaxen, Seele-Durchpusten. Steffi ist Mutter dreier Töchter, zwei davon sind Zwillinge. Ihr freundliches Gesicht ist mit Sommersprossen gesprenkelt und wenn sie lächelt, kann man an den Wangen kleine Grübchen erkennen. Ihre rötlich-blonden Haare trägt sie locker nach oben gesteckt. Sie erzählt von den Menschen in Bellinghusen, denn sie kennt fast jeden und kann von familiären Erlebnissen und Verbindungen berichten, die für uns hilfreich sind. Steffi leitet die sogenannten „Kirchenmäuse“, den Mutter-Kind-Kreis und diverse andere Treffpunkte des Ortes, engagiert und voller Tatendrang tanzt sie auf vielen „Hochzeiten“ und das gern und mit viel Power. Es macht Freude, ihr beim Erzählen zuzuhören, da sie wertschätzend und konzentriert auf das Gegenüber eingeht. Außerdem besitzt sie eine warme, sanfte Stimme. Im März durfte ich sie im Gottesdienst singen hören. Es kommt selten vor, dass mich eine Gesangsstimme sofort seelisch berührt, dass ich „ergriffen“ bin. Ihr Mann Andreas nimmt neben ihr Platz. Er ist rank und schlank, hat schwarze, schon leicht grau melierte Haare und scheint eher der ruhige Pol an ihrer Seite zu sein, denn er sagt nicht viel, nickt nur ab und zu freundlich bestätigend.

Nach unserer Rückkehr von Steffi ruft Sophie an. Wir reden über Stress in der Kita, ein Fest, bei dem sie unsere Theater-Hüte ausprobierte und über dies und das. Sophie möchte hören, wie es den Schwestern geht und so nehme ich zwei Stufen auf einmal und gebe den Hörer an die schläfrige Jüngste weiter.

Mein Koffer steht startklar, denn morgen fahre ich zu Kristin, ehemals Görschel, zum 50. Geburtstag. Kurz vor dem Schlafengehen meldet sich die frischgebackene Kranken- und Gesundheitspflegerin, zurzeit in der Nähe von Rostock Urlaub machend: „Muddi, bist du nun morgen in der Nähe?“ Oh Mann, das hatte ich völlig vergessen …

24. September

Juchhu, die Sonne scheint, das motiviert einen extremen Morgenmuffel wie mich ein bisschen mehr zum Aufstehen. Kurz vor zehn starten Lissy und ich gen Rendsburg zur Fahrschule, während Heli noch schläft und Friedel schon längst zu einer ganztägigen Sitzung unterwegs ist. Von dort will ich weiter zu unserem Sandwichkind, das in der mecklenburgischen Pampa mit einer Freundin Urlaub genießt. Je tiefer ich mich nach MeckPomm hineinbegebe, desto öfter sehe ich Alleen. Durch unzählige Schlängelwege, vorbei an Vogelscheuchen, reiht sich ein Dorf an das nächste. Hier ticken die Uhren noch anders. Nach zweieinhalb Stunden erreiche ich Neu Karin. Am Ortseingang fällt mir als erstes ein mit Entengrütze bedeckter Dorfteich ins Auge, vor dem eine Holzbank steht. Ich muss einfach anhalten und versuchen, diese dörfliche Stille fotografisch einzufangen. Kurze Zeit darauf stehe ich vor einem gemütlichen Haus, in dem sich die gesuchte Ferienwohnung befindet. Becky und ihre Freundin Magda treffen wenige Minuten nach mir ein. Mich umschauend stolpere ich den behindertengerechten Hauseingang hinunter. Wie peinlich. Ihre Wohnung liegt in einem kleinen Paradies, umgeben von Büschen und Apfelbäumen, die auch Herrn Ribbecks Wohlwollen gefunden hätten. Nach Abwägen, was „Frau“ mit vorhandenen Utensilien und Vorräten kochen könnte oder nicht, beschließen wir, faule Hausfrau zu spielen und begeben uns in den nächstgrößeren Ort, um gemeinsam essen zu gehen. Dieses Vorhaben entpuppt sich