Kinder-Dorf-Momente - Anja Martens - E-Book

Kinder-Dorf-Momente E-Book

Anja Martens

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Beschreibung

Ein Umzug in den Norden von Schleswig-Holstein, es war bereits der vierte für die fünffache Mutter Anja Martens, der erneut einen großen Umbruch für die Familie bedeutete, in Kombination mit einem mehrstündigen Arztbesuch, bei dem die gelernte Krankenschwester endlich einmal Zeit fand, die Schreibübungen auszuprobieren, von denen sie gehört hatte, führten dazu, dass die 51jährige wirklich anfing zu schreiben. Bei einem Besuch im Dorf ihrer Kindheit, als die Erinnerungen mit aller Macht auf sie einstürmten, begab sie sich auf die Suche nach ihren Wurzeln. Nach Träumen und Traditionen. Es entstanden die warmherzig, humorvoll und doch tiefgründig geschriebenen Kinder-Dorf-Momente, die einladen, mit auf eine Reise in die Vergangenheit zu gehen.

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Für Mutti, die in ihrer Kittelschürze stets ein Taschentuch für mich bereit hielt und für Vati, der für uns den Riesen Monkeponkedu lebendig werden ließ.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Heimkehr

Das Haus an der Ecke

Hände

Spinnstunden

Schwestern

Gerüche

Westbesuch

Die Lügenbank

Das Haus Nr. 7

Der Ernst des Lebens

Russendisco

Die Bremserin

Geheimnisse

Der erste Geiger

Sitten und Bräuche

Kindheits- Soundtrack

Nachbarn und Besuche

Vorwort

Alles beginnt mit einer Fahrt der Autorin, die heute hauptberuflich als Krankenschwester im Norden Schleswig-Holsteins arbeitet, durch eine weiße Winterlandschaft. Zurück in ihre Heimat in Sachsen-Anhalt, in das Dorf ihrer Kindheit. Es wird eine Reise in eine Welt, wo die Uhren noch anders ticken, wo die Zeit zum Teil stehen geblieben scheint. Aber gleichzeitig jedes Haus, jeder Winkel Erinnerungen weckt. Schönes, Lustiges und auch Trauriges lebt so wieder auf.

Anja Martens, selbst fünffache Mutter, denkt an ihre Familie, in der sie eine behütete und vielfältige Kindheit erlebte. An Freundschaften, die bis heute Bestand haben und sie erinnert sich an Gerüche und Melodien, die alle mit bestimmten Momenten ihres Lebens verknüpft sind. In warmen Worten versteht es Anja Martens, die Leser mit auf ihre Reise in die Vergangenheit zu nehmen. Sie in eine Zeit zu entführen, als in den 70er Jahren, in Naundorf bei Wittenberg, noch niemand an einen Fall der Mauer zu denken wagte. Liebevoll erweckt die 51-Jährige die Bewohner des Dorfes zum Leben und lässt in kleinen Anekdoten den Leser zu ihren Mitbewohnern werden.

Ulrike Gawande

Heimkehr

Fahrt durch die weiße Winterlandschaft. Reise in eine andere Welt. Hier ticken die Uhren noch anders, keine Räumfahrzeuge weit und breit. Das Auto schleicht vorsichtig auf verschneiten Straßen, vorbei an Lüttchenseyda. Ich halte die Luft an, hier fuhr ich jedes Jahr zu meiner Schulfreundin Heidrun zum Geburtstag, deren Lieblingsblumen Pantoffel-blumen waren und wo wir „Viereckenraten" spielten. Ihr Pony hieß Ute und wir ritten zu dritt auf dem armen Tier, wollten "Pippi Langstrumpf", Tommy und Annika sein....Wir fahren weiter, durch Seyda. Hier wartete ich oft an der Feuerwache auf den Schulbus.

Die Wände der Feuerwache waren vollgeschrieben mit Begriffen, die ich erst viele Jahre später verstand.

Sofort ist der Gummigeruch des Busses in meiner Nase. Ich möchte halten an unserer alten Schule. Vati biegt ab in die kleine Gasse und plötzlich steht sie da, versteckt, eingezäunt, altehrwürdig. Ich kann einen kleinen Blick auf den Schulhof erhaschen.

Es scheint mir alles so gegenwärtig, so nah. Sehe mich mit meinen Schulfreundinnen Gummitwist oder „Himmel und Hölle“ spielen.

Im Sommer wurden die Außentemperaturen genauestens beobachtet, da wir Kinder alle sehnsüchtig auf „Hitze-frei“ hofften. Die erste Erdbeertorte am 17.Juni, dem Geburtstag meiner Schwester, gab es etwas früher durch „Hitzefrei“! Ich schieße ein paar Fotos und werfe einen Blick auf die Kirche neben der Schule. Hier rauchten die größeren Jungs heimlich und fühlten sich erwachsen. Ich steige ein und kurze Zeit später sehe ich das Schild "Naundorf 2 km". Mir wird warm ums Herz, Birken säumen die Straße. Ich steige am Ortseingangsschild aus, während Mutti und Vati schon vorfahren zum Kaffeetrinken zu Lehmanns.

Gedankenverloren fotografiere ich unsere Bushaltestelle. Hier fuhr ich jeden Morgen mit dem Schulbus los. Oma wohnte gleich gegenüber und beobachtete uns Schulkinder, sah mit den Ellenbogen aus dem Fenster gelehnt zu. Praktisch diese Nähe, wenn man schnell mal auf die Toilette musste...

Lars mit Turnschuhen, auf denen Elvis stand, Antje, die Bürgermeistertochter, selbstbewusst und groß gewachsen, Angie, meine Buddelkastenfreundin, meine Zwillingscousine und mein Zwillingscousin, unzertrennlich, ein eingeschworenes Team. Palli, mein einziger Mitschüler, Akka,....Gedanken schweifen zurück. Akka, der kleine Bruder meiner Freundin, fast täglich fuhr er in schnellem Tempo, mit dem Fahrrad durch das Unterdorf, begleitet von imitierten Autogeräuschen: “Ön, ön". Es kam vor, dass er in den Ferien verreiste. In diesen Zeiten meinten meine Eltern spaßeshalber, dass sie gar keinen richtigen Mittagsschlaf halten könnten, da ihnen das vertraute "Ön, ön" fehlte.

Mein Blick fällt erneut auf das kleine Wartehäuschen. In Gedanken beame ich mich zurück, sehe meine früheren Mitfahrer, die mit mir jeden Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr, auf den Schulbus warteten.

Ich gehe an der Kirche vorbei, an der Friedhofsmauer entlang, wo meine Schritte vom Schnee verschluckt werden. Die alte Schmiede erkenne ich kaum wieder, denn Angie ist zurückgezogen und hat viel Zeit und Geld in einen Umbau investiert. Ich möchte zur Lücke, diesem schmalen Weg zwischen zwei Mauern, der auf mich immer geheimnisvoll und mysteriös wirkte. Sie hat sich nicht verändert, ist begehbar und nicht zugewachsen. Aus der Ferne höre ich vereinzelt ein paar Stimmen, ansonsten Stille, dörfliche Idylle. Endlich biege ich in das Unterdorf ein.

Rechts liegt wie eh und je die Kneipe, Gasthaus Müller. Hier wurde Fassbrause gezapft, trafen sich die Männer sonntags zum Stammtisch, erfolgten Filmvorführungen in den Ferien, Filme mit Louis de Funes und der Olsenbande. Außerdem feierten wir Kinderfasching.

In meiner Erinnerung wühlend fällt mir wieder der „Partykracher“ "Da sprach der alte Häuptling der Indianer …", ein. Lächelnd gehe ich weiter. Eine für mich unbekannte Frau schippt Schnee vor dem Haus von Lisbeth Schmidt. Ich möchte ein Foto von diesem Haus machen, mit dem mich so manches verbindet.

Lisbeth Schmidt, genannt Fräulein Schmidt, war unsere Dorfkatechetin. Bei ihr besuchten wir wöchentlich die Christenlehre. Sie war es auch, die das jährliche Krippenspiel mit uns einstudierte. Eine tragende Rolle, im wahrsten Sinne des Wortes, war für mich in einem Jahr, der Wegweiser nach Bethlehem. Fräulein Schmidt war winzig und konnte trotzdem bissig sein. Mein Opa zog sie regelmäßig auf, wusste, welchen imaginären Knopf er drücken musste, und dann ging sie hoch wie eine Rakete. Zurück in die Gegen-wart. Die Schnee schippende fremde Frau wirkt nicht begeistert von meinem Fotografierwunsch. Sie ruft etwas unfreundlich: "Aber nicht mit mir!" Ich kenne sie nicht, warum sollte ich sie fotografieren wollen? Ich werfe einen kurzen Blick auf die andere Straßenseite, auf das Haus Nummer 7, wo ich aufwuchs und meine Kindheit verbrachte und das ich bis zu meinem 17. Lebensjahr mein Zuhause nannte.

Ich mag nicht länger hinsehen, denn es wirkt marode, ungepflegt und verfallen. Danach zieht es mich unweigerlich zum Dorfteich, der ebenfalls von Schnee bedeckt ist. Verwundert bleibe ich unter der alten Trauerweide stehen. Sie hält nach wie vor die Stellung, als wären inzwischen nicht 30 Jahre vergangen. Der Teich wirkt unberührt, zeigt keine Fußspuren. „Ob es hier überhaupt noch Kinder gibt, die Schlittschuh laufen oder mit den Holz-Bobs fahren?“, schießt es mir durch den Kopf. Durchgefroren klingle ich bei Lehmanns.

Meine ganze Kindheit hindurch ging ich in diesem Haus ein und aus, denn einen Kindergarten besuchte ich nur in Erntezeiten. An den anderen Tagen, in jeder freien Minute, lief ich zu Lehmanns. Tante Lehmann war mein Zufluchtsort. Morgens, wenn ich mich langweilte, musste ich zu ihr, wo sie mich in ihrem alten Nähkasten wühlen und mit Knöpfen spielen ließ.

Der braune, hölzerne Nähkasten verwandelte sich in meiner Phantasie zu einer Kasse und die Knöpfe zu Geld. Ich liebte ihre Wandschränke, die ich mit der Wohnzimmertür so auf-klappte, dass ein kleines Kämmerchen für mich entstand. Hier lebte ich mit Puppenkindern, kochte Suppe, putzte ich eifrig und sorgte für Ordnung. Ich wartete auf die Söhne des Hauses, die schon längst erwachsen waren, erwartete sie wie eine kleine Hausfrau.

Sie spielten einfach mit und schienen nicht genervt, so dass ich mich in ihre Familie hineingenommen und dazugehörig fühlte. Hannchen, meine Patentante, arbeitete schon längst als Krankenschwester und gründete ihre eigene Familie. Ihr Bruder Otto studierte auswärts, Heinz arbeitete in der Landwirtschaft und Horst, der Jüngste, begann eine Ausbildung. Als Horst mit 18 Jahren durch einen Arbeitsunfall starb, war ich untröstlich. Alpträume verfolgten mich wochenlang. Dies alles geht mir durch den Kopf, als ich etwas aufgeregt auf das Öffnen der Tür warte. Schritte nähern sich, ein freudestrahlender Heinz, inzwischen mit grauem Bart, kommt mir entgegen.

Auch nach all den Jahren, denke ich, bin ich willkommen- welch ein Geschenk.

Das Haus an der Ecke

Heute ist der 11.Januar. Meine Gedanken gehen zurück in die Vergangenheit. Der elfte Januar war immer der Tag, an dem bei Oma im Haus der Weihnachtsbaum abgeschmückt wurde, denn an diesem Tag feierte sie ihren Geburtstag. Zu diesem wichtigen Ereignis marschierten meine Eltern, meine Schwester und ich vom Unterdorf in das Haus meines Onkels, in dem meine Oma Lydia ein kleines Zimmer bewohnte und statteten ihr den obligatorischen Geburtstagsbesuch ab.

Das runde Gesicht, die kräftige Statur und die zu einem Dutt hoch gesteckten Haare meiner Oma sind mir bis heute in guter Erinnerung geblieben. Oma Lydia putzte mit Liebe, Perfektion und Leidenschaft die eigenen Schuhe und die der sechsköpfigen Familie. Ich weiß bis heute nicht, welche geheimen Tricks oder Hausmittel sie anwendete. Nie wieder sah ich so glatt gewienerte Schuhe, obwohl mein Vater ähnlich glänzendes Schuhwerk zustande bringt.

Morgens sah sie oft schon aus ihrem Fenster hinaus und beobachtete das Geschehen an der gegenüberliegenden Bushaltestelle. Von dort aus stürmte ich so manches Mal mit unserer Nachbarstochter in das Haus an der Ecke. Diese wurde des Öfteren von heftigen Panikattacken und Schul-ängsten geplagt, verbunden mit starker Übelkeit. So steuerte sie geradezu die Toilette an, rannte den Flur hinunter, verschwand für einige Minuten und eilte wieder hinaus zur Bushaltestelle. Stunden später hatte sich diese Angst - wie durch Zauberhand- aber in Luft aufgelöst und sie winkte mir fröhlich zu auf dem Schulhof.

In dem Haus an der Ecke feierten „die Zwillinge“ jährlich ihren Geburtstag, zu dem auch ich eingeladen wurde. Mein Zwillings- Cousin erhielt stets Strümpfe, Süßigkeiten und eventuell etwas Geld, die Präsente seiner Schwester fielen dagegen etwas abwechslungsreicher aus. An die Geburtstage selbst erinnere ich mich kaum, nur daran, dass es zum Abendbrot alljährlich „Ei-Stulle“ und Gürkchen gab und wir den Abschluss der Feier ewig hinauszögerten durch verschiedene Variationen des legendären "Stopp-Essens".

Die Decke des Hauses wirkte ausgesprochen niedrig, so dass ich den Eindruck gewann, dass die Erwachsenen nur die Arme ausstrecken müssten, um sie zu berühren. Zum Haus an der Ecke gehörte ein Garten, in dem wir manchmal spiel-ten. Besonders reizvoll erschien mir dort ein hoher Baum, an dem eine Schaukel befestigt war, mit der ich in meiner Vorstellung fast den Himmel erreichte.

Mehrmals im Jahr besuchte uns Onkel Richard aus Westberlin. Damals mussten wir auch samstags zur Schule gehen. Ein absolutes Highlight ereignete sich, als er all die Kinder seiner Cousins, mit seinem komfortablen Mercedes, von der Schule abholte, in dem sich schon seine drei eigenen Kinder befanden. So quetschten wir uns zu zehnt in das wunderbar nach "Westauto" riechende Gefährt. Sicherheitsgurte existierten nicht und so lagen wir schichtweise auf der Rückbank. Niemanden wollte sich diese einmalige Chance entgehen lassen.

Meine zwei Cousinen konnten rennen, was das Zeug hielt und erzielten Höchstwerte in allen Kategorien der Leicht-athletik. Dieses sportliche Talent lag leider nie in meinen Genen. In einem meiner immer wiederkehrenden Alpträume zogen alle meine Mitschüler beim jährlichen Sportfest an mir vorüber, während ich mich wie in Zeitlupe bewegte und vergeblich versuchte, den Vorsprung zu verringern. Die Realität zeigte niederschmetternde Parallelen. Beim Weitsprung konnte ich ausmessen, was ich wollte, ich übertrat das Sprungbrett regelmäßig. Bis heute ist mir die sogenannte Kunst der „Sprungvorbereitung“ verborgen geblieben. Wie bewunderte und beneidete ich meine sportlichen Cousinen vom Haus an der Ecke!

Am Ende der Schulzeit, als meine Sportnote meinen Zensuren-Durchschnitt bedrohte, übte die jüngere