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MBSR (mindfulness-based stress reduction) ist ein wissenschaftlich geprüftes Achtsamkeitstraining bestehend aus Meditationen, Atem- und Yogaübungen. Der weltweit renommierte Achtsamkeitslehrer und Meditationsforscher Jon Kabat-Zinn hat mit der MBSR-Methode Meditation für das alltägliche Leben der Menschen zugänglich gemacht – mit all seinen Schwierigkeiten, Stressphasen und auch gesundheitlichen Problemen (die Originalausgabe heißt bezeichnenderweise Full Catastrophe Living). Wie hilfreich eine solche Praxis gerade in herausfordernden Zeiten sein kann, wird nirgendwo so deutlich, wie in diesem Klassiker. Gesund durch Meditation ist zu einem der erfolgreichsten Bücher für das sukzessive Erlangen von Gelassenheit, Präsenz und nachhaltiger Gesundheit geworden. Chronisch kranke Menschen und Schmerzpatienten finden hier hilfreiche Hinweise für einen entspannten Umgang mit ihren Beschwerden. Das Phänomen Stress wird anschaulich erläutert und nachhaltige Maßnahmen für eine veränderte Haltung im und zum Leben angeboten.
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Seitenzahl: 1026
Jon Kabat-Zinn
Gesund durch Meditation
Das vollständige Grundlagenwerk zu MBSR
Aus dem Amerikanischen von Horst Kappen
Knaur e-books
Dieses Buch beschreibt das MBSR-Programm der Stress Reduction Clinic des University of Massachusetts Medical Center. Sein Inhalt ist weder durch die University of Massachusetts autorisiert, noch spiegelt er deren offizielle Position wider.
Die hier gegebenen Empfehlungen sind allgemeiner Natur und können eine professionelle medizinische oder psychologische Behandlung nicht ersetzen. Leser mit gesundheitlichen Problemen sollten einen Arzt zu Rate ziehen, um abzuklären, ob das hier dargestellte Übungsprogramm für sie in Frage kommt. Das gilt insbesondere für einige der Yoga-Positionen, die unter Umständen der individuellen Abwandlung bedürfen.
Die im Buch veröffentlichen Ratschläge und Übungen wurden von Verfasser und Verlag mit größter Sorgfalt erarbeitet und geprüft. Eine Garantie und Haftung kann jedoch nicht übernommen werden.
FürMyla,
fürWill, Naushon und Serena,
fürAsa, Toby und Teresa,
für Sally,
füralle Menschen in der Stress Reduction Clinic, die bereit waren, sich der ganzen Katastrophe des Lebens zu stellen und daran zu reifen,
füralle früheren, gegenwärtigen und künftigen Teilnehmer am MBSR-Programm und anderen Achtsamkeitskursen
und fürdie Lehrer und Erforscher der Achtsamkeit auf der ganzen Welt – vor deren Engagement, Aufrichtigkeit und liebender Hingabe an ihre Arbeit ich mich tief verneige.
Es ist mir eine große Freude, mich mit diesem Grußwort an die deutschsprachige Lesergemeinde zu wenden, zu der ich seit langem eine besondere Verbindung habe, auch wenn ich weit von ihr entfernt lebe. Im Laufe der Jahre habe ich viele Male Deutschland, Österreich und die Schweiz bereist, um dort Vorträge zu halten und Ausbildungs-Retreats zu leiten. Dabei kam es zu vielen Begegnungen mit Menschen, die es sich in diesen Ländern zur Aufgabe machen, den MBSR-Ansatz oder andere an der Achtsamkeit orientierte Übungsmethoden in ihr Leben und ihre Arbeit zu integrieren – Kontakte, aus denen sich oftmals echte Freundschaften entwickelt haben.
Die erste deutsche Ausgabe dieses Buches erschien im April 1990 fast gleichzeitig mit der ersten englischen Originalausgabe und war damit auch die erste Übertragung in eine andere Sprache. Das ist für mich kein Zufall, sondern Ausdruck des großen Interesses, das in Ihrem Kulturraum an der Arbeit mit der Achtsamkeit, ihren therapeutischen Möglichkeiten und ihrem Wert für unser gesamtes Leben besteht.
Vielleicht haben Sie die Bedeutung der Achtsamkeit für Gesundheit und Krankheit, für den Umgang mit Stress und Schmerz längst schon für sich entdeckt. Vielleicht ist Ihr Interesse daran auch erst vor kurzem erwacht. Wie dem auch sei, meine Hoffnung ist, dass diese zweite, aktualisierte Ausgabe, nahezu fünfundzwanzig Jahre nach dem ersten Erscheinen von Full Catastrophe Living, für Sie von Nutzen sein wird.
Möge Ihre Achtsamkeitsübung an Tiefe und Kraft gewinnen, möge sie Ihrem Leben und Ihrer Arbeit zugutekommen, in jedem Augenblick eines jeden Tages.
Jon Kabat-Zinn
Lexington, Massachusetts, im April 2013
Dieses lesenswerte, lebensnahe Buch wird dem Leser auf vielerlei Weise zum Nutzen gereichen, denn es veranschaulicht die praktischen Aspekte der Meditation in einer leicht verständlichen Art und Weise. Meditation ist keineswegs etwas Weltfremdes, vielmehr hat sie ganz konkret mit unserem Leben und Alltag zu tun. Mit ihr eröffnen sich sogar gleich zwei Wege: einer, der von der Welt zum Dharma führt, und ein zweiter, der vom Dharma zur Welt führt.
Wenn das Dharma sich für unser tägliches Leben als nützlich erweist, wenn es uns hilft, das Leben zu meistern, dann ist es echtes Dharma. Dieses Buch ist daher eine wirkliche Lebenshilfe. Ich danke dem Autor dafür, dass er es geschrieben hat.
Thich Nhat Hanh
Willkommen zur Neuausgabe von Full Catastrophe Living. Zweierlei hat mich bewogen, das Buch nach fünfundzwanzig Jahren erstmalig einer Revision zu unterziehen: Einerseits galt es, den Text inhaltlich auf den neuesten Stand zu bringen; andererseits – und das ist angesichts der vielen Jahre, die seither verstrichen sind, vielleicht der wichtigere Aspekt – ging es mir darum, eine noch präzisere Anleitung zur Meditation zu bieten, eine vertiefte Beschreibung der Möglichkeiten, mit dem menschlichen Leben und Leiden auf achtsame Weise umzugehen. Die Aktualisierung erwies sich als notwendig, da die wissenschaftlichen Forschungen zur Achtsamkeit und zu ihren Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden in diesem Zeitraum einen gewaltigen Zuwachs erfahren haben. Je mehr ich aber in die Arbeit am Text hineinkam, desto spürbarer wurde es für mich, dass die grundlegende Botschaft des Buches, sein eigentlicher Inhalt im Wesentlichen erhalten bleiben musste. Daher habe ich mich darauf beschränkt, die Ausführungen dort, wo es angebracht war, zu ergänzen und zu verdeutlichen. So verlockend es auch schien: Ich wollte der Versuchung, die explodierende Zahl wissenschaftlicher Nachweise für die Wirksamkeit der Achtsamkeit vor den Wagen der MBSR[1]-Methode zu spannen, nicht erliegen. Nach wie vor sollte es vor allem um die Achtsamkeit als inneres Abenteuer gehen. Letztlich bleibt das Buch also das, als was es von Anfang an gedacht war: ein praktischer und allgemeinverständlicher Leitfaden zur Kultivierung der Achtsamkeit mit ihrer verwandelnden Kraft und zutiefst optimistischen Sicht des menschlichen Wesens.
Seit meiner allerersten Begegnung mit der Übung der Achtsamkeit war ich überrascht und ermutigt von den wohltuenden Auswirkungen, die sie in meinem eigenen Leben hatte. Und dieses Grundgefühl hat in den gut fünfundvierzig Jahren, seit ich begonnen habe, mich in ihr zu üben, nichts von seiner Intensität verloren. Im Gegenteil: Es hat nur an Tiefe und Beständigkeit gewonnen, wie eine alte, verlässliche Freundschaft, die sich auch in noch so schweren Zeiten bewährt und uns gerade dadurch mit großer Demut erfüllt.
Als ich noch an der ersten Textausgabe arbeitete, riet mir mein Lektor davon ab, das Wort »Katastrophe« in den Titel aufzunehmen, weil viele Menschen allein durch den Ausdruck abgeschreckt werden könnten. Also bemühte ich mich redlich, einen anderen Titel zu finden. Ich ersann und verwarf Dutzende von Alternativen. Die heilende Kraft der Achtsamkeit war einer der Favoriten. Gewiss brachte diese Überschrift zum Ausdruck, worum es in dem Buch ging. Aber der ursprüngliche Titel Full Catastrophe Living stellte sich hartnäckig wieder ein. Er ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Der Grund dafür wird bald deutlich werden.
Schließlich blieb es bei dem Titel, und das war gut so. Noch heute kommen Menschen auf mich zu, um mir zu sagen, dass das Buch ihnen selbst, einem Verwandten oder einem Freund buchstäblich das Leben gerettet habe. Bill Moyers, der als Teil seiner PBS[1]-Serie Healing and the Mind eine TV-Dokumentation über unser Übungsprogramm gedreht hatte, erzählte mir, dass er während der Berichterstattung über den Feuersturm von Oakland im Jahr 1991 Zeuge wurde, wie ein Mann es an sich gedrückt hielt, nachdem sein Haus in Flammen aufgegangen war. Und wer aus New York ist, scheint den Titel ohnehin auf Anhieb zu verstehen.
Eine Resonanz wie diese ist es, die mir bestätigt, was ich seit den Anfängen der Arbeit in der Stress Reduction Clinic gespürt habe, als ich erstmals die wohltuenden Auswirkungen beobachten konnte, die die Übung der Achtsamkeit auf unsere Patienten hatte – von denen viele durch die Lücken des Gesundheitssystems gefallen waren und die durch die verschiedenen Therapien gegen ihre chronischen Leiden, wenn überhaupt, keine vollständige Genesung erfuhren.[2] Ganz offensichtlich geht von der Pflege der Aufmerksamkeit etwas Heilendes und tief Verwandelndes aus, eine Kraft, die in der Lage ist, uns unser Leben zurückzugeben, nicht in einem romantisch-weltfremden Sinn, sondern weil aufgrund unseres ursprünglichen Wesens als Mensch – um mit William James, dem »Vater« der amerikanischen Psychologie zu sprechen – »… wir alle einen nährenden Quell der Lebenskraft in uns tragen, von dem wir kaum zu träumen wagen«.
Hier ist von ur-menschlichen Ressourcen die Rede, die in der Tiefe unseres Wesens verborgen sind wie ein unterirdisches Gewässer oder ein Mineralvorkommen, das im Felsgestein des Planeten eingeschlossen liegt. Wir können uns diese Ressourcen erschließen und nutzbar machen, Ressourcen, die uns erlauben, unser Leben zu transformieren. Wie aber geschieht diese Verwandlung? Sie ergibt sich unmittelbar aus unserer Fähigkeit, eine weitere Perspektive zu gewinnen, uns bewusst zu werden, dass wir größer sind, als wir zu sein glauben. Sie folgt unmittelbar daraus, dass wir uns in der Tiefendimension unseres Seins wahrnehmen und annehmen, mit der ganzen Bedeutung dessen, wer und was wir in Wirklichkeit sind. Und wie sich herausstellt, beruhen alle diese in uns liegenden zutiefst menschlichen Kräfte auf unserer Fähigkeit zu einem im Leib verankerten Gewahrsein (embodied awareness)[3], auf unserem Vermögen, unsere Verbindung zu diesem Gewahrsein bewusst zu entdecken und zu entwickeln. Wir gelangen dahin, indem wir auf eine ganz besondere Weise aufmerksam sind, und zwar gezielt im gegenwärtigen Moment und ohne zu werten.
Diese Dimension des Seins war mir seit meinen eigenen Meditationserfahrungen vertraut, lange bevor das Phänomen »Achtsamkeit« wissenschaftlich erforscht wurde. Und es würde für mich nichts von seiner Bedeutung verlieren, selbst wenn sich eine solche Wissenschaft niemals entwickelt hätte. Die Praxis der Achtsamkeit oder Meditation steht für sich selbst, besitzt ihre eigene überzeugende Logik, ihre eigene empirische Gültigkeit – etwas, das sich nur von innen heraus erfahren lässt, indem man sie über einen gewissen Zeitraum im eigenen Leben kultiviert und sich dabei der Führung derer anvertraut, die diesen Weg vor uns beschritten haben. Sie können uns zeigen, worauf wir zu achten haben und auch, worauf wir entlang des Weges gefasst sein müssen. Denn er wird uns nicht nur an Orte führen, die es genauer zu erkunden gilt und an denen zu verweilen sich lohnt, sondern die Pflege der Achtsamkeit hält anfänglich auch einige Abwege und Fallstricke bereit – von denen der größte darin besteht, dass wir uns selbst zu ernst nehmen und uns mit einzelnen Aspekten unserer Erfahrung (wie Gedanken, Meinungen, Vorlieben und Abneigungen) identifizieren, die uns weder als Ganzes ausmachen noch wesentlich zu dem gehören, wer wir in Wirklichkeit sind. Eine andere Gefahr sind unsere schlechten Angewohnheiten, die wir irgendwann einmal angenommen haben, vielleicht ohne uns ihrer wirklich bewusst zu werden. Daher kann es von unschätzbarem Wert sein, sich auf entscheidenden Etappen des Weges auf die Anleitung durch Menschen, deren Lebensweg bereits durch ähnliche Gefilde geführt hat, verlassen zu können.
Anleitung in Anspruch zu nehmen bedeutet nicht einen Verlust an eigener Kreativität oder die Verleugnung der einmaligen Lebensumstände, in denen jeder von uns sich vorfindet. Im Gegenteil. Was sie uns bieten kann, ist die zuverlässige Begleitung bei einem Prozess, der uns lehrt, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind, auch wenn uns das manchmal unmöglich erscheint. Anleitung ist also vor allem als eine verlässliche Wegbegleitung zu verstehen, die uns hilft, auch in schweren Zeiten offen für die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten zu bleiben und für uns selbst und die Menschen, die uns am Herzen liegen, ein neues oder besseres Leben aufzubauen. Wie ich hoffe, werden dieses Buch und das MBSR-Programm, das in ihm beschrieben ist, ihren Lesern in diesem Sinne von Nutzen sein, als eine Landkarte, die in unbekanntem und manchmal bedrohlich erscheinendem Gelände den Weg weist. Im selben Sinn ist auch die Literaturliste im Anhang gemeint: Die ausgewählten Bücher sollen als mögliche Begleiter auf einer – womöglich lebenslangen – Entdeckungsreise in das Reich der Achtsamkeit verstanden sein. Letztlich handelt es sich um nichts Geringeres als das Abenteuer, ein erfülltes Leben zu leben oder, besser gesagt, zu ihm zu erwachen.
Keine Landkarte vermag indes, eine Landschaft vollständig abzubilden. Wir müssen sie selbst erleben, das heißt unmittelbar mit eigenen Sinnen erfahren, um sie wirklich kennenzulernen und ihren wohltuenden Einfluss zu erfahren. Dazu müssen wir sie wenigstens von Zeit zu Zeit aufsuchen, besser noch in ihr heimisch werden. Im Falle der Achtsamkeit ist diese unmittelbare Erfahrung nichts anderes als das große Abenteuer des sich entfaltenden Lebens, das immer jetzt – dort, wo wir bereits sind – seinen Anfang nimmt, wo immer und unter wie schwierigen Umständen dies auch sein mag. Oder wie wir häufig unseren Patienten beim Einführungsgespräch in der Stress Reduction Clinic sagen:
»Aus unserer Sicht haben Sie, solange Sie atmen, mehr gesunde als kranke Anteile in sich, egal, was alles mit Ihnen nicht stimmt. Vieles von dem, was gesund in uns ist, beachten wir entweder gar nicht, vernachlässigen wir oder nehmen es als selbstverständlich hin. Innerhalb der kommenden acht Wochen werden wir daher diese gesunden Anteile in Ihnen, in der Form gezielter Aufmerksamkeit, mit Energie versorgen. Die andere, »kranke« Seite überlassen wir inzwischen der Klinik mit ihrer Ärzteschaft und warten einfach ab, was geschieht.«
In diesem Sinne ist es gemeint, dass sich mit dem Konzept der Achtsamkeit und insbesondere mit dem MBSR-Programm, wie es in diesem Buch beschrieben wird, die Aufforderung verbindet, sich auf das Abenteuer des eigenen Lebens einzulassen, das Abenteuer einer neuen Erfahrung, die Körper, Seele und Geist umfasst. Indem wir auf gezieltere und zugleich liebevollere Art und Weise aufmerksam sind, entdecken wir vielleicht ganz neue und wesentliche Dimensionen unseres Lebens, die wir bislang nicht wahrgenommen oder aus irgendeinem Grund ignoriert haben.
Dabei zeigt sich, dass es ein sehr gesundes und heilsames »Tun« ist, auf diese neue Weise wach und aufmerksam zu sein, obwohl es sich, wie wir noch sehen werden, keineswegs um ein Tun im herkömmlichen Sinn handelt oder darum, irgendwohin zu gelangen. Es geht vielmehr um ein Sein und darum, sich so anzunehmen, wie man jetzt schon ist. Es geht darum, die in diesem Ansatz liegende Fülle und sein reiches Potenzial für sich selbst zu entdecken. Dabei markiert das als MBSR bekannte Acht-Wochen-Programm zum Abbau von Stress lediglich einen Anfang. Das eigentliche Abenteuer ist und bleibt das eigene Leben. MBSR ist gewissermaßen eine Durchgangsstation und hoffentlich ein Sprungbrett in eine neue Art des Seins, bei der man in Kontakt ist mit den Dingen, wie sie nun einmal sind. Und ob es uns anfänglich bewusst ist oder nicht: Mit der Aufnahme der Übung werden wir Teil einer weltweiten Gemeinschaft von Menschen, die sich ebenso wie wir selbst von dieser Art zu sein, mit der Welt und dem Leben in Verbindung zu stehen, angezogen fühlen. Dank Internet und seiner sozialen Netzwerke ist diese Gemeinschaft niemals fern.
Die Übung der Achtsamkeit besitzt das Potenzial, zum lebenslangen Begleiter und Verbündeten zu werden. In erster Linie geht es in diesem Buch aber um die Einübung einer achtsamen Haltung, ein Bemühen, das von uns größte Entschlossenheit verlangt und zugleich große Leichtigkeit und Zartheit im Umgang mit unserer Erfahrung und unserem eigenen Sein. Alles, was in diesem Buch zur Sprache kommt, ist ausnahmslos dazu bestimmt, Sie in diesem Bemühen zu unterstützen. Während alles Wesentliche über die richtige Vorgehensweise in Teil I des Buches zu finden ist, können Sie sich den anderen Abschnitten nach Belieben auch später widmen, sobald Sie sich dazu bereit fühlen. Vielleicht spricht das eine oder andere daraus Sie an oder vertieft Ihr Verständnis, warum es sinnvoll sein kann, den gegenwärtigen Augenblick niemals mehr aus den Augen zu verlieren.
Das vorliegende Buch und die in ihm beschriebene MBSR-Arbeit der Stress Reduction Clinic haben zur Ausbildung neuer Forschungszweige in Medizin, Gesundheitswesen und Psychologie beigetragen. Damit einher geht eine stetig wachsende Zahl an wissenschaftlichen Studien zur Achtsamkeit und ihren Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden auf biologischer, psychologischer und sozialer Ebene. Darüber hinaus beeinflusst das Konzept der Achtsamkeit zunehmend auch andere Bereiche der Gesellschaft wie Pädagogik, Rechtswissenschaften, Technologie, Führungsfragen, Sport, Wirtschaft und sogar die Politik. Das ist eine spannende und vielversprechende Entwicklung, die für unsere heilungsbedürftige Welt nur von Vorteil sein kann.
Im Jahre 2005 gab es im wissenschaftlichen und speziell im medizinischen Schrifttum gut einhundert Veröffentlichungen zur Achtsamkeit und deren klinischen Anwendungen: Heute, im Jahre 2013, sind es bereits über eintausendfünfhundert. Hinzu kommt eine ständig wachsende Zahl an Büchern zum Thema. Es existiert sogar eine wissenschaftliche Fachzeitschrift mit dem Namen Mindfulness. Weitere Fachzeitschriften folgen dem Beispiel, indem sie dem Thema Achtsamkeit Sonderausgaben oder eigene Sparten widmen. Tatsächlich ist das Interesse an der Achtsamkeit, an ihren klinischen Anwendungen und möglichen Wirkungsweisen in Fachkreisen so ausgeprägt, dass die Forschungen in diesem Bereich einen exponentiellen Zuwachs erfahren, ohne dass ein Ende dieser Entwicklung abzusehen wäre. Und die wissenschaftlichen Befunde samt der Schlussfolgerungen, die sich aus ihnen für unser Wohlbefinden und unser Verständnis des Zusammenhangs von Geist und Körper sowie für das Verständnis von Stress, Schmerz und Krankheit ergeben, sorgen mit jedem Tag für neue, noch faszinierendere Ausblicke.
Auch in der revidierten Neuausgabe geht es – so interessant das Thema auch sein mag – weniger um das Verständnis der psychologischen Mechanismen und Neuralverbindungen, über die die Übung der Achtsamkeit ihre Wirkung in unserem Inneren entfaltet. Weiterhin steht im Mittelpunkt unsere Fähigkeit als Einzelwesen, unser Leben und unsere Lebensumstände in den Griff zu bekommen, mit der größten Milde und Duldsamkeit uns selbst gegenüber, und einen Weg zu finden, um unsere Möglichkeiten zu einem geistig gesunden, erfüllten und sinnvollen Leben in ihrem ganzen Umfang zu würdigen. Niemand, so will ich hoffen, wird sich der Übung der Achtsamkeit widmen, nur um ausgefallene Hirnströme vorweisen zu können. Andererseits scheint die Übung der Achtsamkeit, ohne dass wir uns dessen bewusst würden, tatsächlich positive Veränderungen in den Strukturen, Verknüpfungen und Abläufen im Gehirn zu bewirken, abgesehen von anderen günstigen physiologischen Auswirkungen, auf die wir noch zu sprechen kommen. Diese positiven Effekte ergeben sich in natürlicher Weise aus der Übung der Achtsamkeit und stellen sich mit der Zeit ganz von selbst ein. Unser Motiv, Achtsamkeit zu pflegen – wenn wir denn den Entschluss dazu fassen, sie in unserem Leben zu verwirklichen –, ist hoffentlich von grundlegenderer Art, weniger akademisch und abstrakt: ein vollständigeres und erfüllteres Leben zu führen, intensiver, gesünder und vielleicht auch glücklicher zu leben, wenn nicht sogar weiser. Die Beweggründe können auch etwas anders gelagert sein: sich dem eigenen oder fremden Leid stellen, sich mitfühlender und effektiver damit auseinandersetzen zu können, oder mit dem Stress, dem Schmerz oder der Krankheit in unserem Leben besser zurechtzukommen – was ich hier die ganze Katastrophe des menschlichen Daseins, der conditio humana, nenne – oder auch das vollständige, mit emotionaler Intelligenz ausgestattete Wesen zu sein, das wir bereits sind und von dem wir manchmal abirren, weil wir zu ihm die innere Verbindung verloren haben.
Während meiner jahrzehntelangen eigenen Meditationspraxis und »weltlichen« Arbeit habe ich gelernt, die Übung der Achtsamkeit als einen radikalen Akt zu begreifen – als eine radikale Maßnahme mentaler Gesundung, des Mitgefühls mit sich selbst und letztlich der Liebe. Dazu gehört die Bereitschaft, sich selbst zu begegnen, mehr im gegenwärtigen Augenblick zu leben, von Zeit zu Zeit innezuhalten und einfach zu sein, anstatt sich in endlosem Tun zu verausgaben und darüber zu vergessen, wer der Urheber all dieses Tuns ist und welchem Sinn es eigentlich dient. Es hat damit zu tun, unsere Gedanken nicht einfach für bare Münze zu nehmen und uns nicht ohne weiteres den Gefühlsstürmen hinzugeben, die häufig genug nur den Schmerz und eigenes wie fremdes Leid vergrößern. Diese Einstellung dem Leben gegenüber stellt in der Tat auf jeder Ebene einen radikalen Akt der Liebe dar. Es gehört zur Schönheit dieser Haltung, dass sie von uns keinerlei Tun verlangt, sondern lediglich, dass wir aufmerksam, wach und bewusst sind – Dimensionen des Seins, die immer schon das ausmachen, wer und was wir sind.
Vor kurzem war in der Science, einer der weltweit angesehensten und einflussreichsten Fachzeitschriften, ein Artikel mit der Überschrift zu lesen: »Ein unsteter Geist ist ein unglücklicher Geist«. Im einführenden Absatz heißt es:
»Im Unterschied zu den Tieren verbringt der Mensch viel Zeit mit dem Nachdenken über Dinge, die nicht um ihn herum geschehen, und sinniert über Ereignisse, die in der Vergangenheit stattgefunden haben, in der Zukunft stattfinden könnten oder auch niemals stattfinden werden. Tatsächlich scheint das ›reizunabhängige‹ Denken oder die ›Gedankenflucht‹ der Grundmodus unseres Gehirns zu sein. Auch wenn diese Fähigkeit eine bemerkenswerte Errungenschaft der Evolution darstellt, die den Menschen in die Lage versetzt, zu lernen, zu reflektieren und planvoll vorzugehen, so ist der Verlust der Seelenruhe möglicherweise der Preis, den er für sie zu bezahlen hat. In vielen philosophischen und religiösen Traditionen wird gelehrt, dass Glück nur erfährt, wer im gegenwärtigen Moment lebt. Und so werden die Adepten darin geschult, der Gedankenflucht zu widerstehen und ›im Hier und Jetzt zu sein‹. In diesen Traditionen kommt zum Ausdruck, dass ein unsteter Geist ein unglücklicher Geist ist. Haben sie damit recht?«[4]
Die Ergebnisse dieser ersten großangelegten Studie über das Glück im Alltag haben möglicherweise weitreichende Bedeutung für jeden von uns. Die Wissenschaftler entwickelten ein iPhone-App, mit dessen Hilfe sie nach dem Zufallsverfahren mehrere tausend Personen über ihr Glücksempfinden, ihr gegenwärtiges Tun und den Grad ihrer geistigen Anwesenheit beziehungsweise Abwesenheit dabei befragten (»Denken Sie, während Sie sich in diesem Moment einer Sache widmen, gleichzeitig über anderes nach?«). Wie sich herausstellte, war nahezu die Hälfte der Befragten gedanklich mit anderen Dingen beschäftigt. Offenbar beeinträchtigte das geistige Abdriften, insbesondere wenn es belanglose oder negative Inhalte hatte, die Stimmung der Befragten oder trug, anders ausgedrückt, dazu bei, dass sie unglücklicher wurden. Matthew Killingsworth, Hauptautor der Studie, kommt zu dem Schluss: »Unabhängig davon, womit Menschen sich beschäftigen, sind sie weitaus weniger glücklich dabei, wenn sie geistig abwesend sind, als wenn sie ganz in ihrem Tun aufgehen.« Und weiter: »Wir sollten mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit darauf verwenden, wo unser Geist weilt, wie darauf, was unser Körper tut. Für die meisten Menschen gilt jedoch, dass die Frage nach der Richtung, die ihre Gedanken nehmen, nicht Teil ihrer Tagesstruktur ist … wir sollten uns daher [ebenso] fragen: ›Was werde ich heute mit meinem Geist anfangen?‹«[5]
Im MBSR-Ansatz und in diesem Buch geht es genau darum, uns dessen bewusst zu werden, was sich von Augenblick zu Augenblick in unserem Geist abspielt und in welcher Weise dieses Bewusstsein unsere Erfahrung verwandelt. Und, um auch das noch einmal zu sagen, bei der Achtsamkeit handelt es sich nicht etwa darum, seinen Geist dazu zu zwingen, nicht abzuschweifen oder, in den Worten des Artikels, »der Gedankenflucht zu widerstehen«. Das würde uns nur Kopfschmerzen einbringen. Es geht vielmehr darum, der Gedankenflucht innezuwerden und, so gut und behutsam wir es vermögen, unsere Aufmerksamkeit zurückzulenken zu dem, was in diesem Augenblick für uns von Bedeutung ist, um uns erneut damit zu verbinden.
Achtsamkeit ist eine Fähigkeit, die wie jede andere Fähigkeit durch Übung entwickelt werden kann. Wir können sie uns auch als einen Muskel denken. Der Achtsamkeits-Muskel wird durch Gebrauch sowohl kräftiger als auch geschmeidiger und beweglicher. Und wie ein richtiger Muskel lässt sich auch unsere Achtsamkeit am besten anhand eines gewissen Widerstands trainieren, durch den sie gefordert und gekräftigt wird. Unser Körper, unser Geist und der Stress, dem wir tagtäglich ausgesetzt sind, versorgen uns in dieser Hinsicht mit einer Menge an Widerständen, mit denen wir arbeiten können. Was sich in unserem Geist abspielt, hat möglicherweise größeren Einfluss auf unser Wohlbefinden als das, was wir in einem gegebenen Moment tatsächlich tun und erfahren. Wenn wir dies erkennen, so hat das weitreichende Folgen nicht allein für unser Selbstverständnis als Mensch, sondern auch für die Vorstellung, die wir uns – in sehr konkreter, persönlicher und sogar intimer Weise – davon machen, was es bedeutet, gesund und wahrhaft glücklich zu sein. Hier handelt es sich freilich um den intimen Kontakt zu uns selbst, und darin liegt das Wesentliche der Achtsamkeit und ihrer Pflege anhand der MBSR-Methode.
Etliche Strömungen innerhalb der Wissenschaft – von der Genomik über die Proteomik bis hin zur Epigenetik und Neurowissenschaft – zeigen heute in neuartiger und unstrittiger Weise auf, dass die Welt und die besondere Art und Weise, wie wir mit ihr in Beziehung stehen, auf jeder Ebene unseres Seins bedeutsame Auswirkungen auf uns haben. Dies betrifft nicht nur unsere Gene und Chromosomen, unsere Zellen und Körpergewebe, spezielle Hirnregionen und die neuralen Netzwerke, über die sie miteinander verknüpft sind, sondern ebenso unsere Gedanken, Gefühle und unser soziales Umfeld. All diese und die vielen weiteren dynamischen Komponenten unseres Lebens stehen untereinander in innigster Verbindung und machen zusammengenommen das aus, wer wir sind. Und sie definieren den Grad an Freiheit, den wir haben, um unser ganzes menschliches Potenzial zu entwickeln – ein Potenzial, das uns stets unbekannt bleibt und zugleich so unendlich nah und vertraut ist.
Die Frage, was unser Menschsein für jeden von uns bedeutet, bildet – gemeinsam mit der Frage der Harvard-Forscher: »Was werde ich heute mit meinem Geist anfangen?« – das Herzstück der Achtsamkeit als einer besonderen Art des Seins. Allerdings möchte ich die Frage für unsere Zwecke ein wenig umformulieren und im Präsens stellen: »Wie ergeht es in diesem Augenblick meinem Geist?« Wir können die Fragestellung auch erweitern: »Wie ergeht es in diesem Augenblick meiner Seele?« »Wie ergeht es in diesem Augenblick meinem Körper?« Und dabei müssen wir nicht einmal unser Denken bemühen, denn wir können spüren, wie es unserem Geist, unserer Seele, unserem Körper ergeht. Dieses Erspüren oder Wahrnehmen stellt für uns eine andere Form, um etwas zu wissen, dar, die über das rein gedankliche Wissen hinausgeht. Im Englischen haben wir für diese Form des Wissens das Wort awareness (Gewahrsein).
Dieses Gewahrsein oder diese Achtsamkeit verlangt jedoch von uns, dass wir mit unserer Aufmerksamkeit ganz in der Gegenwart zu Hause sind und sorgsam mit dem umgehen, was uns auf dem Weg an Gefühlen, Erfahrungen und Einsichten begegnet. Für unsere praktischen Belange definiere ich Achtsamkeit, wie später noch deutlicher wird, als die Bewusstheit, die sich durch gerichtete, nicht wertende Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Augenblick einstellt. Gewahrsein ist nicht dasselbe wie Denken. Es ist eine andere, das übliche Denken ergänzende Form von Intelligenz. Darüber hinaus sind wir in der Lage, unser Denken seinerseits zum Gegenstand dieses Gewahrseins zu machen, womit wir eine gänzlich neue Perspektive auf unsere Gedanken und ihren Inhalt gewinnen. Und ebenso wie sich unser Denken entwickeln und verfeinern kann, so kann sich auch unser Zugang zur Ebene des Gewahrseins weiterentwickeln und verfeinern. Es entwickelt sich, indem wir es bewusst pflegen und unser Vermögen zu aufmerksamer und unterscheidender Wahrnehmung trainieren, ganz so, wie wir unsere Muskeln trainieren würden.
Im asiatischen Sprachraum werden Mind/Geist und Heart/ Herz in der Regel mit demselben Wort bezeichnet. Und wenn wir hier von Achtsamkeit (mindfulness) sprechen, so dürfen wir nicht vergessen, dass damit nicht nur eine Dimension des Geistes gemeint ist, sondern immer auch die des Herzens (heartfulness). Wenn wir uns daher, sooft von Achtsamkeit die Rede ist, nicht auch in unserem Herzen angesprochen fühlen, werden wir mit großer Wahrscheinlichkeit das Wesentliche verfehlen. Achtsamkeit ist nicht bloß ein begriffliches Konzept oder eine gute Idee. Sie ist eine Form zu sein. Und das Synonym Gewahrsein (awareness) bezeichnet eine Art des Wissens, das schlichtweg umfassender als bloßes Denken ist. Es bietet uns weitaus mehr Wahlmöglichkeiten, wie wir unser Verhältnis zu dem, was sich in unserem Geist, unserer Seele, unserem Körper und in unserem Leben begibt, gestalten wollen. Gewahrsein geht über begriffliches oder intellektuelles Wissen hinaus, steht der Weisheit näher und damit auch der Freiheit, die sie verleiht.
Wie wir im Weiteren noch sehen werden, ist bei der Pflege der Achtsamkeit die aufmerksame Beobachtung unserer Gedanken und Gefühle im gegenwärtigen Moment nur ein – wenn auch äußerst wichtiger – Aspekt des Ganzen. Neueren Untersuchungen zufolge, die von Elissa Epel, Elizabeth Blackburn[6] und ihren Kollegen an der University of California, San Francisco, durchgeführt wurden, beschleunigen unsere Gedanken und Gefühle, insbesondere aber stark belastende Gedankengänge wie Zukunftssorgen oder zwanghaftes Grübeln über die Vergangenheit offenbar den Alterungsprozess, und zwar bis hinab zur Ebene der Zellen und Telomere – spezielle, die Chromosomenenden bildende repetitive Sequenzen der DNA, die notwendig für die Zellteilung sind und sich im Laufe des Lebens verkürzen, bis sie schließlich ihre Funktion verlieren. Blackburn und ihre Kollegen konnten zeigen, dass der Verkürzungsprozess unter chronischer Belastung sehr viel schneller vonstattengeht. Sie konnten aber auch aufzeigen, dass die Art und Weise, wie wir Stress erleben, eine entscheidende Rolle dabei spielt, wie schnell sich die Telomere abnutzen. Das heißt also, dass wir nicht die Ursachen von Stress zu beseitigen brauchen, von denen einige, wie die Notwendigkeit, sich um ein körperlich oder geistig behindertes Kind zu kümmern, sich auch gar nicht aufheben lassen. Vielmehr lehrt uns die Forschung, dass wir unsere Haltung und damit unseren Umgang mit den Gegebenheiten auf eine Weise verändern können, die für unsere Gesundheit, unser Wohlbefinden und vielleicht auch für unsere Lebenserwartung einen gewaltigen Unterschied bedeuten kann.
Die bislang vorliegenden Forschungsergebnisse deuten außerdem darauf hin, dass ein Zusammenhang besteht zwischen der Länge der Telomere und dem Grad an mentaler Präsenz. Dazu stellten die Forscher Fragen wie: »Gab es im Verlauf der vergangenen Woche Momente, in denen Sie vollständig und konzentriert bei der Sache waren?« und erkundigten sich nach dem Ausmaß an gedanklicher Abwesenheit innerhalb der zurückliegenden Woche (zumal in Form eines »inneren Widerstands gegen die momentane Umgebung oder das momentane Tun«). Die Unterschiede in der mentalen Präsenz, die sich aus der Fragestellung ergaben – von den Forschern vorläufig als »Bewusstheitsgrad« (state of awareness) bezeichnet –, weisen dabei einen sehr engen Bezug zur Achtsamkeit auf.
Aus anderen Studien, die sich weniger mit der Länge der Telomere als mit der Häufigkeit des »Reparatur-Enzyms« Telomerase befassen, geht hervor, dass unsere Gedanken – insbesondere dann, wenn wir eine Situation als persönlich bedrohlich erleben – bis hinab zur Ebene dieses einen spezifischen Moleküls (das in Immunzellen bestimmt wurde) Auswirkungen haben. Offenbar spielt es eine große Rolle für unsere Gesundheit und Lebenserwartung. Auch wenn die Forschungsergebnisse bis jetzt noch vorläufig sind, ist diese Entdeckung doch Anlass genug, ein wenig wacher zu sein, dem Stress in unserem Leben mehr Beachtung zu schenken und uns zu fragen, wie wir unser Verhältnis zu ihm gezielter und besonnener gestalten können.
In diesem Buch geht es um Sie, um Ihr Leben. Es geht um Ihren Geist, um Ihren Körper und ganz konkret um die Frage, wie Sie lernen können, beiden gegenüber eine sinnvollere Einstellung zu gewinnen. Das Buch ist auch als Einladung gedacht, mit der Übung der Achtsamkeit und ihren möglichen Umsetzungsformen im Alltag zu experimentieren. In erster Linie habe ich es für die damaligen (und künftigen) Patienten der Stress Reduction Clinic geschrieben[7] – und damit für all diejenigen, die sich irgendwo auf der Welt in einer ähnlichen Situation befinden, also für ganz normale Menschen. Es geht um Sie und mich, um uns alle, die wir uns in derselben Lage wiederfinden, wenn wir einmal die Legenden persönlicher Mühen und Verdienste, an denen jeder von uns hängt, abziehen und uns der wesentlichen Frage zuwenden, was es bedeutet, am Leben zu sein und sich der ganzen Wucht, mit der das Leben uns trifft, stellen zu müssen. Und damit meine ich keineswegs nur die Härten und Widrigkeiten des Daseins, sondern all das, was uns an Gutem und Schönem, an Schlechtem und Hässlichem widerfährt.
Und an Gutem und Schönem gibt es enorm viel – nach meinem Verständnis genug, um sich mit dem, was schlecht oder hässlich, schwer oder unerreichbar ist, zu arrangieren, und zwar nicht nur nach außen hin, sondern auch im Inneren. Zur Übung der Achtsamkeit gehört es, das, was aufgrund unseres Menschseins schon jetzt schön, heil und ganz in uns ist, zu erkennen, zu würdigen und für uns zu nutzen. Achtsamkeit lehrt uns, uns dieser Qualitäten zu bedienen, um aus ihnen heraus unser Leben zu leben, im Bewusstsein, dass wirklich zählt, wie wir unsere Beziehung zu dem gestalten, was immer uns begegnet.
Im Verlauf der Jahre ist es mir immer mehr zu Bewusstsein gekommen, dass es bei der Achtsamkeit im Wesentlichen um Bezogenheit geht, also um die Art und Weise, wie wir mit allem in Beziehung stehen, einschließlich unseres Geistes und Körpers, unserer Gedanken und Gefühle, unserer Vergangenheit und all der Geschehnisse, die uns in den gegenwärtigen Augenblick geführt haben, in dem wir uns, noch immer atmend, wiederfinden; dass es darum geht, wie wir lernen können, diese inneren Bezüge, in denen wir zu allem stehen, zu nutzen, um unsere lebendige Eigenart unverstellt in jeden Aspekt unseres Lebens einfließen zu lassen, mit Weisheit und voller Wohlwollen uns selbst und anderen gegenüber. Das ist gewiss nicht einfach, sondern so ziemlich die schwerste aller Aufgaben, ebenso schwierig und chaotisch wie das Leben selbst. Besinnen wir uns aber einen Augenblick lang, was die Alternative dazu wäre. Welche Konsequenzen wird es für uns haben, wenn wir es versäumen, das Leben, das zu leben uns aufgetragen ist, gänzlich anzunehmen und uns zu eigen zu machen, und zwar in diesem Augenblick, dem einzigen, in dem wir es je erfahren können? Wie groß wären wohl der Verlust, der Schmerz und die Trauer darüber?
Kommen wir noch einmal zur iPhone-Studie über die Glücksfähigkeit zurück. Einige der Antworten, die die Wissenschaftler aus Harvard gefunden haben, sind hier auch für uns von Interesse:
»Wir wissen, dass Menschen sich am glücklichsten fühlen, wenn sie auf angemessene Weise gefordert werden, also mit Aufgaben konfrontiert sind, die zwar schwierig, aber nicht unerfüllbar sind. Anforderung und Bedrohung sind zweierlei. Während Menschen unter Anforderungen aufblühen, verkümmern sie unter Bedrohungen.«
MBSR fordert uns in hohem Maße. In vieler Hinsicht kann für uns Menschen sogar die allerschwerste Aufgabe darin bestehen, ganz in der Gegenwart zu sein und uns dem wirklichen Geschehen in seiner ganzen Bandbreite zu öffnen. Zugleich ist es aber eine Aufgabe, die für uns unbeschränkt erfüllbar ist, wie so viele Menschen in aller Welt bewiesen haben, die nach ihrer Teilnahme an den MBSR-Programmen die Übung der Achtsamkeit als festen Bestandteil ihres Alltags über Jahre hinweg fortgesetzt haben. Wie wir sehen werden, eröffnet uns das Bemühen um mehr Achtsamkeit ebenfalls neue Möglichkeiten, mit dem, was wir als bedrohlich erleben, zu arbeiten. Wir können lernen, intelligent mit subjektiven Bedrohungen umzugehen, anstatt automatisch zu reagieren und uns den ungesunden Folgen auszusetzen, die dieses Verhalten zwangsläufig nach sich zieht.
»Wenn ich über die Fähigkeit eines Menschen, glücklich zu sein, eine Aussage machen wollte und dazu nur eine einzige Information zur Verfügung hätte, so wäre es nicht sein Geschlecht, sein Gesundheitszustand oder Einkommen, was ich wissen wollte, sondern ich würde etwas über sein soziales Umfeld erfahren wollen – über seine Familie, seine Freunde und die Tiefe seiner Bindungen.«
Die Tiefe dieser Bindungen steht bekanntlich ihrerseits in engem Zusammenhang mit dem generellen Gesundheitszustand und dem Wohlbefinden eines Menschen. Und mit Hilfe der Achtsamkeit gewinnen sie noch an Tiefe und Stabilität, weil es in der Achtsamkeit vor allem um Bezogenheit und Verbindung geht – zu sich selbst und anderen.
»Wir stellen uns gerne vor, dass es einige wenige große Dinge oder Ereignisse seien, von denen [unser Glück] abhängt. Aber es sieht eher so aus, als ob Glück in der Summe aus hunderterlei kleiner Dinge bestünde … Es sind die kleinen Dinge, auf die es ankommt.«
Aber damit nicht genug. Diese vermeintlich kleinen Dinge, auf die es ankommt, gewinnen unter Umständen eine gewaltige Dimension, denn selbst kleinste Veränderungen des Blickwinkels, der inneren Einstellung, des Bemühens um Präsenz können erheblichen Einfluss auf Körper und Geist besitzen und damit auf die Welt, in der wir leben. Eine noch so winzige Bekundung von Achtsamkeit in einem beliebigen Augenblick kann zu einer wichtigen Intuition oder Einsicht führen, die uns in der Tiefe verwandelt. Getreulich fortgesetzt, münden diese zunächst noch zarten Bemühungen, achtsamer zu sein, dann nicht selten in eine stabilere und beständigere Form des Seins.
Daniel Gilbert, einer der Autoren der Studie über die Glücksfähigkeit im Alltag, sagt im Hinblick auf jene kleinen Dinge, die wir tun können, um uns glücklicher und wohler mit uns selbst zu fühlen:
»In der Hauptsache geht es darum, ein paar einfache Gewohnheiten zu pflegen – zu meditieren, sich Bewegung zu verschaffen, ausreichend zu schlafen – sowie für andere Menschen da zu sein … und soziale Kontakte zu pflegen.«
Und das aus dem Munde eines Harvard-Wissenschaftlers, der die Meditation hier gar an die erste Stelle setzt. Wenn zutrifft, was ich weiter oben sagte: dass die Meditation ein Akt radikaler Liebe ist, dann ist sie auch eine fundamentale Geste der Toleranz und der Akzeptanz – und zwar sich selbst gegenüber.
Seitdem dieses Buch vor 25 Jahren erstmals erschien, hat sich die Welt in gigantischer und kaum vorstellbarer Weise verändert, vielleicht mehr als jemals zuvor in einem so kleinen Zeitraum. Man denke nur an Errungenschaften wie Laptop, Smartphone, an das Internet, Google, Facebook und Twitter, an die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und des mobilen Zugangs zu Informationen, an die Auswirkungen der unaufhaltsam fortschreitenden digitalen Revolution auf nahezu all unser Tun, die rasante Beschleunigung und Rastlosigkeit unserer Lebensführung, ganz zu schweigen von den enormen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen, die während dieser Periode weltweit eingetreten sind. Das Tempo, in dem sich der Wandel heute bereits vollzieht, wird sich kaum verringern, sondern weiter steigern, und das wird immer spürbarere und letztlich unausweichliche Konsequenzen haben. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die wissenschaftliche und technologische Revolution mit ihren Folgen für unser aller Leben kaum erst begonnen hat, und es ist gewiss, dass der Stress, den die notwendige Anpassung mit sich bringt, in den kommenden Jahrzehnten noch weiter anwachsen wird.
Ziel dieses Buches und des in ihm beschriebenen MBSR-Programms ist es, eine wirkungsvolle Alternative anzubieten, ein Gegengewicht zu all den Formen des Verlustes unserer selbst, der uns schließlich auch aus den Augen verlieren lässt, was in unserem Leben wirklich von Bedeutung ist. Wir sind so anfällig dafür, uns von den Anforderungen unserer alltäglichen Aufgaben beherrschen zu lassen, von dem, was sich in unserem Kopf abspielt und was wir in unserem Denken für wichtig halten, dass wir Gefahr laufen, in einen Grundzustand permanenter Anspannung, Unruhe und Überreizung zu verfallen, von dem unser ganzes Leben automatisch gesteuert wird. Dieser Dauerstress verstärkt sich noch, wenn wir uns mit einer ernsten Erkrankung, mit anhaltenden Schmerzen oder einem chronischen Leiden auseinandersetzen müssen, ob wir nun selbst davon betroffen sind oder einer unserer Angehörigen. Die Übung der Achtsamkeit ist heute also wichtiger denn je – als ein zuverlässiger Weg zu Gesundheit und körperlichem Wohlbefinden und nicht zuletzt als ein inneres Gegengewicht, das uns hilft, in einer sich überstürzenden Welt unsere geistige Gesundheit zu bewahren.
Denn während wir die Segnungen einer 24-Stunden-Vernetztheit erfahren, die uns erlaubt, überall und jederzeit mit aller Welt in Verbindung zu treten, machen wir paradoxerweise zugleich die Erfahrung, dass es noch nie so schwierig war, mit uns selbst und unserer inneren Welt in Kontakt zu kommen. Und damit nicht genug: Wir haben immer weniger Zeit für die Begegnung mit uns selbst, obwohl jedem von uns nach wie vor 24 Stunden am Tag zur Verfügung stehen. Wir füllen diese Stunden mit so viel Tun aus, dass uns kaum mehr Zeit zum Sein bleibt.
Das erste Kapitel dieses Buches ist überschrieben: Das Leben besteht aus Augenblicken. Das ist eine unumstößliche Wahrheit, die auch in Zukunft ihre Gültigkeit behalten wird, für jeden Einzelnen von uns, wie sehr sich die Welt auch weiter digitalisieren mag. Dennoch sind wir während eines großen Teils unserer Zeit nicht im Kontakt mit der Fülle des gegenwärtigen Moments. Es ist eine Tatsache, der wir meist viel zu wenig Beachtung schenken: Wenn wir bewusst im gegenwärtigen Augenblick leben – der allein Realität besitzt –, so wird dies Auswirkungen auf den ihm folgenden Moment haben, und dies wiederum wird sich, vorausgesetzt, es gelingt uns, diesen Prozess aufrechtzuerhalten, auf die Zukunft, unsere Lebensqualität und unsere Beziehung zu anderen Menschen auswirken. Das einzige Mittel, auf die Gestaltung der Zukunft Einfluss zu nehmen, besteht darin, sich die Gegenwart zu eigen zu machen, wie immer sie sich uns darstellen mag. Wenn wir ganz im Gewahrsein des gegenwärtigen Augenblicks aufgehen, dann wird der kommende Augenblick eine ganz andere Qualität haben, weil wir im Jetzt präsent sind. So können wir kreative Wege zu einer Lebensführung entdecken, die wirklich dem Leben entspricht, das zu führen uns aufgegeben ist.
Erfahren wir neben Leid auch Freude und Zufriedenheit? Gelingt es uns, inmitten des alles verschlingenden Mahlstroms, der das Leben ist, uns in unserer Haut wohl zu fühlen? Kennen wir Unbeschwertheit und Heiterkeit, erfahren wir sogar Momente tiefen Glücks? Um nichts Geringeres geht es hier. Dies ist es, was uns der gegenwärtige Moment zu geben vermag, wenn wir uns ihm, ohne zu urteilen, in wohlwollendem Gewahrsein zuwenden.
Bevor wir uns aber gemeinsam in dieses Abenteuer begeben, sei uns noch ein Ausblick auf eine Reihe neuerer MBSR-Studien mit faszinierenden und äußert vielversprechenden Resultaten erlaubt. Die Übung der Achtsamkeit besitzt, wie schon erwähnt, ihre eigene innere Logik und Poesie, bietet aus sich selbst ausreichend überzeugende Gründe, sie zu einem Teil unseres Lebens zu machen und systematisch zu pflegen. Vielleicht aber geben die wissenschaftlichen Ergebnisse, wie sie hier kurz vorgestellt oder auch an anderer Stelle im Buch diskutiert werden, einen zusätzlichen Anreiz, dem MBSR-Programm mit dem gleichen Engagement und der gleichen Entschlossenheit zu folgen, wie unsere Patienten es tun. Oder wie wir manchmal unseren künftigen Teilnehmern am Programm sagen:
»Sie müssen dem täglichen Meditationsprogramm nicht gern folgen, Sie müssen ihm einfach nur folgen. Am Ende der acht Wochen können Sie uns dann sagen, ob es Zeitverschwendung war oder nicht. In der Zwischenzeit aber gilt: Üben Sie unbeirrt weiter, auch wenn Ihnen Ihr Geist ständig weismachen will, dass es unsinnig oder pure Zeitvergeudung sei. Üben Sie mit ganzem Einsatz, als ob Ihr Leben davon abhinge. Denn das tut es in mehr als einer Hinsicht und weit mehr, als Ihnen selbst oder irgendjemandem von uns klar sein kann. Während Sie üben, wird Ihr Geist sich mit allen möglichen Bewertungen, Kommentaren und Einwänden einmischen. Messen Sie all dem gleich wenig Bedeutung bei, etwa so viel wie der Frage, was Sie vor drei Tagen zum Abendessen hatten.«
Wissenschaftler des Massachusetts General Hospital und der Harvard University konnten mit Hilfe des fMRT-Verfahrens (funktionelle Magnetresonanztomographie) zeigen, dass ein achtwöchiges MBSR-Training zu einem erhöhten Gewebsvolumen in solchen Hirnregionen führen kann, die mit Lernfähigkeit, Gedächtnis, der Steuerung emotionaler Abläufe, mit dem Selbstgefühl und vorausschauendem Denken in Zusammenhang stehen. Außerdem wies die Amygdala, eine Kernregion des Gehirns, die bei der Gefahrenwahrnehmung und -beantwortung eine wesentliche Rolle spielt, nach dem Achtsamkeitstraining ein geringeres Volumen des Zellgewebes auf, und zwar proportional zur Abnahme subjektiven Stresserlebens.[8] Auch wenn es sich dabei noch um vorläufige Forschungsergebnisse handelt, so zeigen sie doch, dass zumindest bestimmte Hirnareale auf die Achtsamkeitsmeditation mit strukturellen Veränderungen reagieren, ein Phänomen, das auch als Neuroplastizität bekannt ist. Und sie zeigen, dass mentale Funktionen, die entscheidend für Wohlbefinden und Lebensqualität sind – wie vorausschauendes Denken, Lenkung der Aufmerksamkeit, Lernen, Gedächtnis, Regulierung emotionaler Abläufe und Gefahrenwahrnehmung –, durch das MBSR-Training positiv zu beeinflussen sind.
Ebenfalls mit Hilfe des fMRT-Verfahrens haben Wissenschaftler der University of Toronto bei Absolventen eines MBSR-Trainings festgestellt, dass die Gehirnaktivität in solchen neuralen Netzwerken erhöht war, die mit der Gegenwartserfahrung in Zusammenhang stehen, während sie in anderen Bereichen abnahm, nämlich im sogenannten »narrativen Netzwerk«, das mit dem lebensgeschichtlich geprägten Bild, das wir uns von uns selbst zu machen pflegen, assoziiert ist. Zugleich ist es dasjenige Gehirn-Netzwerk, das maßgeblich an der Gedankenflucht beteiligt ist, jenem Umstand also, der, wie wir soeben gesehen haben, eine eminente Rolle dabei spielt, ob wir uns im gegenwärtigen Augenblick glücklich fühlen oder nicht. Die Studie ergab außerdem, dass MBSR diese zwei Formen der Selbstwahrnehmung, die in der Regel aneinander gebunden sind, zu entkoppeln in der Lage ist.[9] Aus diesem Resultat geht also abermals hervor, dass wir lernen können, uns weniger vom Drama unseres »narrativen« Selbst und damit von der Gedankenflucht gefangen nehmen zu lassen, indem wir lernen, im Leib verankert ganz im gegenwärtigen Augenblick zu Hause zu sein. Und sollten wir uns dennoch in unserer persönlichen »Geschichte« und unseren Gedanken verlieren, so sind wir dank unserer geschulten Achtsamkeit in der Lage, dies zu erkennen und unsere Aufmerksamkeit zu dem zurückzulenken, was im gegenwärtigen Augenblick wirklich von Bedeutung ist. Wertungsfreies Gewahrsein unseres abschweifenden Geistes kann sich also tatsächlich als eine Pforte zu gesteigertem Glück und Wohlbefinden im Hier und Jetzt erweisen, ohne dass zuvor irgendeine besondere Veränderung eintreten muss. Diese Forschungsergebnisse sind insbesondere für Menschen mit sogenannten affektiven Störungen relevant, also im Falle von Stimmungslabilität, Angstzuständen und Depressionen. Letztlich aber gehen sie uns alle an. Schließlich gibt die Studie uns einen wichtigen Anhaltspunkt zur Klärung dessen, was Psychologen als das »Selbst« bezeichnen. Die Unterscheidung zwischen den beiden Netzwerken des Gehirns, das Verständnis ihres Zusammenwirkens und der Rolle, die die Achtsamkeit dabei spielen kann, dürfte zumindest ein wenig Licht auf das Mysterium unserer Identität und unseres Selbstgefühls werfen. Wir wären einen kleinen Schritt weiter in der Lösung des Rätsels, wie es uns gelingt, als ein ganzheitliches Wesen aus dem Wissen um uns selbst heraus zu leben und zu handeln.
Wissenschaftler der University of Wisconsin konnten zeigen, dass ein MBSR-Training mit gesunden Teilnehmern die Auswirkungen psychischer Belastung auf eine unter Laborbedingungen induzierte, stresssensible Hautirritation mit Blasenbildung verringerte. Den freiwilligen Probanden wurde dazu eine Salbe mit dem Reizstoff Capsaicin auf den Unterarm aufgetragen. Den psychologischen Stressfaktor bildete ein Vortrag, den die Testpersonen vor einem emotional unbeteiligten und unbekannten Gremium zu halten hatten (Trier Social Stress Test, TSST). Diese Studie ist die erste dieser Art, die unter sorgfältig konstruierten Vergleichsbedingungen stattfand. Die Kontrollgruppe folgte dem Health Enhancement Program (HEP), das, abgesehen von der Achtsamkeitsübung selbst, in allen Aspekten dem MBSR-Programm entspricht. Laut Teilnehmerangaben wiesen die Gruppen bei sämtlichen Parametern sowohl für psychischen Stress als auch für die physischen Symptome keinerlei Unterschiede auf. Jedoch fiel die Größe der Blasenbildung bei der MBSR-Gruppe durchweg geringer aus als bei der HEP-Gruppe. Weiterhin ergab die Studie, dass bei denjenigen Probanden, die mehr Zeit auf die Achtsamkeitsübung verwandten, der negative Effekt der psychischen Belastung auf die Hautirritationen schwächer war als bei solchen, die weniger lange übten.[10] Die Autoren dieser Studie zur sogenannten neurogenen Entzündung setzen ihre vorläufigen Forschungsergebnisse zu den Resultaten in Beziehung, die wir aufgrund eigener Tests mit Psoriasis-Patienten veröffentlicht haben (Psoriasis oder Schuppenflechte stellt ebenfalls eine neurogen entzündliche Hauterkrankung dar). Unsere Studie, die in Kapitel 13 vorgestellt wird, hat gezeigt, dass bei Psoriasis-Patienten, die während der UV-Bestrahlungstherapie meditierten, im Vergleich mit Patienten, die während der Therapie nicht meditierten, der Heilungsprozess um das Vierfache beschleunigt war.[11]
Gemeinsam mit dieser Forschergruppe haben wir an der University of Wisconsin eine weitere Studie durchgeführt, bei der es um die Effekte des MBSR-Trainings in einem betrieblichen Umfeld während der regulären Arbeitszeit ging. Die Probanden waren keine Patienten im klinischen Sinn, sondern gesunde Arbeitnehmer, die unter Stress standen. Die Gehirnströme in solchen Bereichen innerhalb des präfrontalen Cortex, von denen man weiß, dass sie mit emotionalem Ausdruck in Zusammenhang stehen, verlagerten sich auf eine Weise (nämlich von der rechten in die linke Gehirnhälfte), die darauf schließen lässt, dass die meditierenden Probanden mit Gefühlen wie Angst und Frustration zweckmäßiger im Sinne einer »emotionalen Intelligenz« umgingen als die Mitglieder der Kontrollgruppe, die sich denselben Labortestreihen unterzogen, jedoch erst im Anschluss daran für die Teilnahme am MBSR-Programm vorgemerkt waren. Die Rechts-Links-Verlagerung war auch vier Monate nach Programmende noch deutlich nachweisbar. Die Studie ergab darüber hinaus, dass nach einer anschließenden Grippeimpfung aller Probanden die Immunsysteme der Mitglieder der meditierenden Gruppe in den folgenden Wochen mit einem weitaus höheren Anstieg der Antikörper reagierten als die der Kontrollgruppe und dass sich vermehrte Antikörperproduktion und Seitenverlagerung der Hirnströme durchweg entsprachen. Bei der Kontrollgruppe fanden sich keine entsprechenden Übereinstimmungen.[12] Hierbei handelte es sich um die erste Studie, die zeigen konnte, dass sich durch ein achtwöchiges MBSR-Training tatsächlich ein Merkmal des Gehirns beeinflussen ließ, das bei Erwachsenen als eine psychische Konstante, als ein relativ unveränderlicher emotionaler »Fixwert« galt.
In einer randomisierten, also mit zufälliger Probandenzuordnung entwickelten Studie, die an der University of California, Los Angeles, und der Carnegie Mellon University mit Erwachsenen im Alter zwischen fünfundfünfzig und fünfundachtzig Jahren durchgeführt wurde, zeigte sich, dass die Teilnahme an einem MBSR-Programm effektiv der Vereinsamung entgegenwirken kann, ein Faktor, der insbesondere bei älteren Menschen ein erhebliches Gesundheitsrisiko darstellt. Darüber hinaus ergab die Studie, dass die Expression von am Entzündungsgeschehen beteiligten Genen (die in Immunzellen aus Blutproben der Probanden bestimmt worden waren) abgenommen hatte. Außerdem waren die Blutkonzentrationen des C-reaktiven Proteins, eines Indikators für Entzündungsvorgänge, herabgesetzt.[13] Diese Resultate könnten sich also in doppelter Hinsicht als bedeutsam erweisen. Zum einen stehen Entzündungsvorgänge zunehmend im Verdacht, eine Hauptrolle bei der Entstehung von Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Alzheimer zu spielen. Und zum anderen müssen wir heute etliche der unterschiedlichen Programme, die sich mit dem Problem der sozialen Isolation und Vereinsamung befassen, als gescheitert betrachten.
Was folgt nun aus alledem? Achtsamkeit ist nicht bloß eine gute Idee oder eine nette Form zu philosophieren. Soll sie irgendeinen Wert für uns besitzen, so müssen wir sie in unserem Alltag verwirklichen, und zwar so weitgehend, wie es uns ohne Zwang und Verkrampfung, das heißt mit einer gewissen Leichtigkeit und Anmut möglich ist. Dies ist der eigentliche Sinn eines akzeptierenden, liebevollen und nachsichtigen Umgangs mit sich selbst. Nicht nur in den USA, sondern auf der ganzen Welt entwickelt sich die Achtsamkeitsmeditation zunehmend zu einer festen Größe in der geistigen Landschaft, und vor diesem Hintergrund möchte ich Sie zu dieser revidierten Neuausgabe von Full Catastrophe Living begrüßen.
Möge Ihre Achtsamkeit wachsen und gedeihen und so Ihr Leben, Ihre Arbeit und Ihren inneren Weg an jedem Tag von Augenblick zu Augenblick bereichern.
Jon Kabat-Zinn
16. März 2013
Dieses Buch will den Leser zu einer Entdeckungsreise einladen, die ihn zu persönlicher Weiterentwicklung, Selbstfindung und Heilung führt. Grundlage dafür sind vierunddreißig Jahre klinischer Erfahrung mit mehr als zwanzigtausend Patienten, die sich im Rahmen der Acht-Wochen-Kurse, die wir am Medical Center der University of Massachusetts in Worcester anbieten, bereits auf diese lebenslange Reise begeben haben. Das Programm, als MBSR oder Mindfulness-Based Stress Reduction bekannt geworden, hat seinen Ursprung in der dem Medical Center angeschlossenen Stress Reduction Clinic. Heute existieren überall in den USA und weltweit mehr als 720 Klinikprogramme, denen das MBSR-Achtsamkeitskonzept zugrunde liegt. Abertausende von Menschen haben seither an entsprechenden Programmen teilgenommen.
Seit der Gründung der Klinik im Jahre 1979 hat MBSR in der Medizin, Psychologie und Psychiatrie kontinuierlich Anstöße zu einer neuen Entwicklung gegeben, die man am besten als partizipatorische oder einbeziehende Medizin bezeichnen könnte. Übungsprogramme, die auf der Achtsamkeit beruhen, werden zur Chance für Menschen, die sich – über ihre reguläre medizinische Versorgung hinaus – für ihr eigenes körperliches Wohl einsetzen wollen.
Im Jahre 1979 war MBSR eine neuartige Methode klinischer Betreuung im Rahmen der Verhaltensmedizin, eines damals noch jungen Forschungszweigs, der heute allgemeiner als integrative oder ganzheitliche Medizin bezeichnet wird. Sie geht davon aus, dass mentale und emotionale Faktoren nicht nur erhebliche positive wie negative Auswirkungen auf unsere körperliche Gesundheit und unsere Fähigkeit zur Gesundung haben, sondern auch darüber bestimmen, ob wir auch angesichts chronischer Erkrankungen, chronischer Schmerzen und einer verbreitet von Stress geprägten Lebensweise in der Lage sind, uns Lebensqualität und Lebensfreude zu bewahren.
So radikal diese Betrachtungsweise 1979 noch war, gehört sie inzwischen zum theoretischen Grundbestand in der gesamten Medizin. Aus heutiger Sicht lässt sich sagen, dass MBSR einfach einen weiteren Aspekt gediegener medizinischer Versorgung darstellt. Wert und Nutzen der Methode sind heute gut belegt, und für ihre Wirksamkeit wird der wissenschaftliche Nachweis in zunehmendem Umfang erbracht. Zu der Zeit, als dieses Buch erstmals erschien, war das noch keineswegs der Fall. In der vorliegenden Neuausgabe werden einige der prägnantesten wissenschaftlichen Belege zusammengefasst. Sie zeigen auf sehr unterschiedliche Weise die Wirksamkeit der auf Achtsamkeit beruhenden Übungsprogramme auf, sei es im Sinne der Reduzierung von Stress oder der positiven Einflüsse auf Gehirn und Immunsystem, sei es auf der Ebene körperlicher Symptome oder des seelischen Gleichgewichts. Außerdem werden einige Beispiele dafür angeführt, wie das Achtsamkeitstraining fester Bestandteil sowohl der medizinischen Ausbildung als auch solider ärztlicher Heilkunst werden kann.
Wer dem MBSR-Ansatz folgt und diese innere Reise der Persönlichkeitsentwicklung und Selbstfindung, des Lernens und Heilwerdens antritt, hat das Bedürfnis, seine Gesundheit wiederherzustellen oder wenigstens zur inneren Ruhe zurückzufinden. Die Patienten kommen mit einer Vielfalt gesundheitlicher Probleme wie Kopfschmerzen, Bluthochdruck, Rückenschmerzen, Herzerkrankungen, Krebs und Aids oder auch mit Depressionen und Angstzuständen. Sie gehören allen Lebensstufen an, und sie lernen durch MBSR, wie sie verantwortungsvoll mit sich selbst umgehen, nicht als Ersatz für eine medizinische Behandlung, sondern als unverzichtbare Ergänzung dazu.
Im Laufe der Jahre hat es zahlreiche Anfragen von Menschen gegeben, die sich die Inhalte unseres Acht-Wochen-Programms zu Hause erarbeiten wollen. Dies bedeutet nichts anderes, als selbständig einem intensiven Übungsprogramm mit dem Ziel bewusster Lebensführung zu folgen. Das vorliegende Buch will vor allem diesem Bedarf gerecht werden. Es ist als praktischer Ratgeber für Kranke und Gesunde, für Gestresste und Schmerzgeplagte gedacht, für alle, die ihre mentalen Beschränkungen hinter sich lassen und eine andere Dimension der Gesundheit und des Wohlbefindens erfahren möchten.
Das MBSR-Programm basiert auf einer Form der Meditation, die in den buddhistischen Traditionen Asiens entwickelt wurde, einer streng geregelten und systematischen Schulung der Achtsamkeit. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet Achtsamkeit, in jedem Augenblick präsent zu sein, ohne zu bewerten. Wir können sie entwickeln, indem wir unsere Aufmerksamkeit bewusst auf all die Verrichtungen und Geschehnisse des Alltags richten, die wir für gewöhnlich nicht beachten. Es ist ein systematischer Ansatz zur Ausbildung einer zuvor unbekannten Ebene der inneren Kraft, der Selbstbestimmung und Weisheit, der auf unserer natürlichen Fähigkeit zur Aufmerksamkeit aufbaut.
Die Stress Reduction Clinic versteht sich nicht als Notdienst, in dem Menschen Beratung empfangen und sich passiv einer therapeutischen Prozedur unterziehen. Vielmehr ist sie eine Plattform für aktives Lernen, das auf vorhandenen inneren Potenzialen aufbaut und die Menschen, wie gesagt, in die Lage versetzt, selbst etwas dafür zu tun, körperlich und seelisch gesünder zu werden und sich wieder wohler mit sich selbst zu fühlen. Bei diesem Lernprozess gehen wir von Anfang an davon aus, dass, solange wir noch atmen, die gesunden Anteile in uns überwiegen, wie krank, entmutigt oder verzweifelt wir uns im Augenblick auch fühlen mögen. Es gelingt jedoch nicht ohne ein gewisses Maß an Energie und Einsatzbereitschaft, innere Wachstums- und Heilungsreserven zu mobilisieren und das eigene Leben in einem umfassenderen Sinn wieder in die Hand zu nehmen. So betrachtet kann unser Programm zur Stressbewältigung für die Teilnehmer auch schon mal »in Stress ausarten«.
Manchmal benutze ich dafür die Metapher vom Gegenfeuer, das man legen muss, um ein anderes Feuer zu löschen. Es gibt kein Medikament, das gegen Stress oder Schmerz unempfindlich macht, kein Wundermittel, mit dem Probleme von selbst verschwinden und Heilung einsetzt. Es verlangt den bewussten Einsatz unserer Kräfte, wenn wir den Weg in Richtung Heilung, des inneren Friedens und Wohlbefindens einschlagen wollen. Und das bedeutet zu lernen, mit dem Stress und dem Schmerz zu arbeiten, der uns eben jetzt zu schaffen macht.
Heutzutage stehen wir unter so massivem und unausweichlichem Druck, dass immer mehr Menschen sich ganz bewusst fragen, was diesen Druck eigentlich ausmacht, wie sie ihm auf kreative Weise begegnen und ein anderes Verhältnis zu ihm gewinnen können. Dem Phänomen Stress ist mit simplen Ad-hoc-Lösungen nicht beizukommen. Stress ist ein natürlicher Teil unseres Lebens, dem wir ebenso wenig entrinnen können wie anderen Grundbedingungen unserer menschlichen Existenz. Dennoch unternehmen manche den Versuch, dem Stress zu entkommen, indem sie sich gegen das Leben abschotten oder auf die eine oder andere Weise zu betäuben versuchen. Natürlich ist es nur vernünftig, unnötigem Schmerz und Leiden aus dem Weg zu gehen, und hin und wieder haben wir es nötig, uns von unseren Problemen zu distanzieren. Wenn Flucht und Vermeidung jedoch zur gewohnten Strategie werden, lassen sich die Probleme dadurch nicht auf magische Weise verbannen, sondern werden nur umso größer. Was wir aber tatsächlich verbannen, verschütten oder betäuben, wenn wir unsere Probleme auszublenden versuchen oder vor ihnen davonlaufen, ist unsere Kraft zu persönlichem Wachstum, Wandel und Heilung. Letzten Endes können wir unsere Probleme nur dadurch überwinden, dass wir ihnen ins Auge sehen.
Jeder kann die Kunst erlernen, Schwierigkeiten auf eine Weise zu begegnen, die nicht nur zu effektiven Lösungen führt, sondern auch zu innerem Frieden und Ausgeglichenheit. Wenn es uns gelingt, unser inneres Potenzial zu aktivieren, um Probleme auf gekonntere Weise anzugehen, entdecken wir für gewöhnlich in uns die Fähigkeit, uns selbst innerlich so auszurichten, dass wir den Druck des Problems zu seiner Überwindung einsetzen können, so wie ein Matrose ein Segel kundig zu setzen weiß, damit er die Kraft des Windes optimal als Schubkraft nutzt. Direkt gegen den Wind zu segeln ist unmöglich, und wer andererseits nur mit Rückenwind zu segeln versteht, gelangt bloß dahin, wohin der Wind ihn gerade weht. Wer aber die Energie des Windes richtig einzusetzen versteht, kann mit Geduld sein Ziel erreichen und behält darüber hinaus die Kontrolle über die Situation.
Wollen Sie die Dynamik Ihrer Probleme nutzen, um sich davon vorwärtsbringen zu lassen, müssen Sie ein entsprechendes Gespür für sie entwickeln, ganz so, wie ein Segler ein Gespür für sein Boot, das Wasser und den Wind braucht, um auf seinem Kurs zu bleiben. Sie müssen lernen, in allen möglichen Stresssituationen mit sich selbst zurechtzukommen, nicht nur bei Schönwetter und idealen Windverhältnissen.