Wach werden und unser Leben wirklich leben - Jon Kabat-Zinn - E-Book

Wach werden und unser Leben wirklich leben E-Book

Jon Kabat-Zinn

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  • Herausgeber: Arbor
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Sie haben keine Zeit für Achtsamkeit? Überlegen Sie es sich noch einmal. "Tiefsinnig und provokant (…) dieses Buch ist zweifellos maßgeblich, denn es hinterlässt uns inspiriert und frohen Mutes, dass echte Heilung tatsächlich möglich ist."   Sharon Salzberg Seit vier Jahrzehnten vermittelt Jon Kabat-Zinn einer breiten Öffentlichkeit, welch tief greifende Wirkung Meditation haben kann. Er stützt sich dabei auf zahlreiche wissenschaftliche Studien, die die heilende Kraft der Meditation belegen. Hier beantwortet er grundlegende Fragen: Welche Formen der Meditation gibt es? Wie sieht eine formale Meditationspraxis eigentlich aus? Was kann uns dabei unterstützen? Und wie überwinden wir die vielfältigen Ablenkungen, die unser Leben heute für uns bereithält? Wach werden und unser Leben wirklich leben beantwortet diese und andere häufige Fragen. Ursprünglich im Jahr 2005 als Teil des Buchs Zur Besinnung kommen veröffentlicht, wurde es nun vom Autor vollständig überarbeitet und mit einem neuen Vorwort versehen - und ist aktueller denn je zuvor. Ein Klassiker der modernen Achtsamkeitsbewegung, der Ihr Leben verändern kann.

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Seitenzahl: 269

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Jon Kabat-ZinnWach werdenund unser Leben wirklich leben

Jon Kabat-Zinn

Wach werden und unser Leben wirklich leben

Wie wir Achtsamkeit im Alltag praktizieren

Aus dem amerikanischen Englischvon Stephan Schuhmacherund Mike Schäfer

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel:

Falling Awake. How to Practice Mindfulness in Everyday Life bei Hachette Books, New York, USA.

Dieses Buch wurde erstmals 2006 als Teil des Buchs

„Zur Besinnung kommen“ im Arbor Verlag 2005 veröffentlicht.

1. Auflage 2019

© 2019 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Copyright der Originalausgabe © 2018 by Jon Kabat-Zinn, Ph.D. This edition published by arrangement with Hachette Books, New York, New York, USA. All rights reserved.

Titelfoto: ©2019 Samuli Vainionpää/gettyimages.de

Hergestellt von mediengenossen.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net

Alle Rechte vorbehalten

E-Book 2020

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book 978-3-86781-302-0

für Myla

für Stella, Asa und Toby

für Will und Teresa

für Naushon

für Serena

in Erinnerung an Sally und Elvin

sowie Howie und Roz

und für all jene, denen das am Herzen liegt,

was möglich ist

was ist, wie es ist

die sich bemühen um

Weisheit

Klarheit

Güte

und Liebe

Inhalt

Vorwort Was meinen wir, wenn wir sagen, wir „kultivieren Achtsamkeit“?

Erster Teil Das Mysterium der Sinne und die Magie des Sinnlichen

Sehen

Gesehen werden

Hören

Landschaften des Hörens

Landschaften der Luft

Landschaften des Berührens

In Fühlung mit deiner Haut

Landschaften des Riechens

Landschaften des Schmeckens

Landschaften des Geistes

Die Landschaft des Jetzt

Zweiter Teil Sich auf die Praxis einlassen: Achtsamkeit kosten

Meditationen im Liegen

Meditationen im Sitzen

Meditationen im Stehen

Meditationen im Gehen

Yoga

Einfach wissen

Bloßes Hören

Bloßes Atmen

Die Meditation der liebevollen Güte

Mache ich es richtig?

Was uns häufig am Praktizieren hindert

Hilfen für Ihre Praxis

Danksagung

Literatur

Über den Autor

Vorwort

Was meinen wir, wenn wir sagen, wir „kultivieren Achtsamkeit“?

Es ist keine Frage, dass Achtsamkeit eines der Dinge dieser Welt ist, das kontinuierlich in unser Leben einzubeziehen uns Menschen enorm schwerfällt (obwohl sie ja kein „Ding“ ist). Und das, obwohl wir sie kosten können und diesen Geschmack sofort wiedererkennen. Jedes Mal.

Die Einladung lautet immer gleich: Halte einen Moment inne – nur einen Moment – und lass dich in die Wachheit hineinfallen. Das ist alles. Halt inne und lass los: soll heißen, falle in das Erleben deines Daseins und halte es im Gewahrsein, auch wenn es nur ein winziger Moment ist. Augenblicklich – oder anders ausgedrückt: in diesem zeitlosen Moment namens „jetzt“ (dem einzigen Moment, den wir überhaupt jemals haben).

Glücklicherweise gibt es, wenn wir diesen Moment verpassen – weil wir von irgendetwas abgelenkt sind, in Gedanken oder Emotionen verstrickt sind, im Trubel all der Dinge, die scheinbar ständig irgendwie erledigt werden müssen –, den nächsten Moment, in dem wir wieder anfangen können. Anhalten und in die Wachheit fallen, in diesem Moment des Jetzt.

Es scheint so einfach. Ist es auch.

Aber es ist nicht leicht.

Mehr noch, und einmal anders betrachtet: Ein Moment der Achtsamkeit, mit keiner Agenda außer der, bewusst da zu sein, gehört für uns Menschen so ziemlich zu den am schwersten erreichbaren Dingen. Noch schwieriger ist es für uns, zwei Momente der Achtsamkeit aneinander zu knüpfen.

Und doch geht es bei Achtsamkeit paradoxerweise überhaupt nicht darum, irgendetwas zu tun. Im Gegenteil, sie ist ein Nicht-Tun, ein radikales Nicht-Tun. Und in jedem Moment des Nicht-Tuns liegen Friede, Einsicht, Kreativität und neue Möglichkeiten, trotz alter Denk- und Lebens-Gewohnheiten. Genau in diesem, in jedem Moment des Nicht-Tuns sind Sie bereits okay, bereits vollkommen, in dem Sinne, dass Sie vollkommen Sie selbst sind. Und deshalb sind Sie genau in diesem Moment bereits zu Hause, auf eine tiefreichende Art, viel tiefer als alles, was Sie über sich denken, tiefer als die Ideen und Meinungen, die Ihre Perspektive für das große Ganze prägen und manchmal schmerzhaft einengen. Ganz zu schweigen von Ihren eigenen Möglichkeiten, diese Ganzheit zu erleben und davon zu profitieren. Am interessantesten von allen ist die Erkenntnis, dass es keinen „anderen Moment“ zu einem anderen Zeitpunkt gibt – außer im Denken. In Wirklichkeit gibt es nur diesen einen Moment, um da zu sein.

All das bedeutet überhaupt nicht, dass Sie im praktischen Leben nichts geschafft kriegen. Im Gegenteil, wenn Ihr Tun wirklich aus Ihrem Sein kommt, wenn es wirklich ein Nicht-Tun ist, ist es ein viel besseres Tun und viel kreativer, ja sogar müheloser, als wenn Sie sich ohne kontinuierliches, jeden Moment neues Gewahrsein abmühen, ihre Angelegenheiten auf die Reihe zu bringen. Wenn unser Tun unserem Sein entspringt, wird es ein integrales und intimes Element einer Liebesaffäre mit dem Bewusst-Sein selbst und mit unserer Fähigkeit, diesen Raum in unserem Geist und Herzen zu bewohnen; ihn mit anderen zu teilen, die sich ebenfalls auf diese Art zu leben eingelassen haben – potenziell also mit uns allen.

Und natürlich bedeutet all das überhaupt nicht – und das wird in den vier Bänden dieser Reihe ziemlich detailliert beschrieben –, dass immer angenehm sein wird, was Sie erleben, ob nun in der formellen Meditationspraxis oder in der Entwicklung Ihres Lebens. Kann es nicht sein und wird es nicht sein. Der einzige Grund, warum Achtsamkeit einen Wert hat, ist der: Sie ist voll und ganz dazu geeignet, mit jeder Erfahrung klug umzugehen, egal, ob angenehm, unangenehm oder neutral, erwünscht oder unerwünscht, womöglich auch grauenerregend oder unvorstellbar. Achtsamkeit ist fähig, sich jedem Leid frontal zu stellen und es anzunehmen (wenn und falls es Leiden ist, was Ihr Leben in einem bestimmten Moment gerade dominiert).

In der Schule lernen wir nicht viel über das Nicht-Tun, wenn überhaupt,1 aber die meisten von uns haben als Kind Momente eines radikalen Nicht-Tuns erlebt. Eigentlich sogar haufenweise. Manchmal kommen sie als Staunen. Manchmal kommen sie als Spiel. Manchmal entstehen sie als Fürsorge für andere, als ein Moment der Freundlichkeit.

Man könnte es auch so sagen: Bei der Achtsamkeit geht es um das Da-Sein: „an-wesen-d sein“ sein wie in dem Wort „menschliches Wesen“, und um das Leben, wie es ist, wie es sich hier und jetzt entfaltet und in Gewahrsein umfangen wird. Deshalb ist dazu praktisch keine Anstrengung nötig, weil es ja bereits geschieht. Nötig ist lediglich, im direkten Erleben dieses Augenblicks wohnen zu lernen, wie er auch immer sein mag, ohne dabei notwendigerweise zu denken, er „gehöre Ihnen“. Auch das „Ihnen“ ist ja letztendlich nur ein Gedankenkonstrukt, wenn Sie es unter das Mikroskop legen und untersuchen. Wenn Sie das tun, entdecken Sie vielleicht: Was Ihrer Meinung nach Ihre Persönlichkeit ausmacht, ist nur ein sehr kleiner und zumindest teilweise unzutreffender Ausschnitt dessen, was Sie tatsächlich sind. In einem einzigen Moment können Sie erkennen, wie riesig die volle Dimensionalität Ihres Wesens wirklich ist. Sie sind bereits ganz, bereits vollständig – so, wie Sie sind. Und gleichzeitig sind Sie Teil eines viel größeren Ganzen, wie immer Sie das auch definieren wollen. Und dieses größere Ganze, nennen wir es einmal „die Welt“, hat diese voll und ganz anwesende, selbstverwirklichte Version Ihrer bitter nötig!

Unsere Ganzheit manifestiert sich im Alltag als Wachheit, als reines Gewahrsein. Unser Gewahrsein ist eine angeborene menschliche Fähigkeit, aber eine, auf die wir kaum achten, die wir kaum würdigen oder zu bewohnen lernen. Ironischerweise aber gehört Sie Ihnen bereits, konventionell gesprochen. Sie wurden mit ihr geboren. Sie müssen sie also nicht erwerben, sondern sich einfach nur vertraut machen mit dieser Dimension Ihres eigenen Wesens. In Ihrer Fähigkeit zum Gewahrsein sind Sie „mehr Sie selbst“, und sie ist nützlicher als praktisch alles andere an Ihnen, einschließlich all Ihrer Gedanken und Meinungen (so wichtig Gedanken und Meinungen sein mögen, solange wir sie nicht glauben und an ihnen als absolute Wahrheiten festhalten).

Und weil das Paradoxe darin liegt, dass wir alle bereits wir selbst sind, in all unserer Fülle, bedeutet das: Im Kultivieren von Achtsamkeit gibt es buchstäblich kein Ziel zu erreichen, nichts zu tun und kein spezielles Erlebnis, das man haben sollte oder verpassen könnte. Die Tatsache, dass Sie in der Lage sind, überhaupt etwas zu erleben, ist an sich schon etwas Besonderes! Ironischerweise jedoch wird diese Tatsache kaum je erkannt, während wir jenem „ganz besonderen Etwas“ nachjagen, das uns irgendwie immer zu entschlüpfen oder uns zu enttäuschen scheint – vielleicht jenem perfekten meditativen Moment (in Ihrer Fantasievorstellung davon, was bei Meditation herauskommen müsste, wenn Sie sie „richtig“ machen würden).

Es gibt nichts zu erwerben, weil Ihnen nichts fehlt und nichts mangelt, auch wenn Ihnen die Gewohnheitsmuster Ihres Denkens und Haben-Wollens immer wieder etwas anderes erzählen. Sie sind bereits komplett, ganz, lebendig in diesem Moment und so, wie Sie sind, schön! „Verbesserungen“ sind weder notwendig noch möglich. Das ist alles!

Das Einzige, was uns entgeht, ist die Erkenntnis, dass das Leben sich in diesem Moment tatsächlich entfaltet – in Form Ihrer Person, in Form meiner Person –, in jeder Dimension dieser Entfaltung in zeitloser Gegenwart, die wir „jetzt“ nennen; und das Begreifen dieser Tatsächlichkeit, sodass sie erfasst und in ihrer ganzen Fülle Wirklichkeit wird. Dafür gibt es keine Worte, weil Worte, trotz aller Kraft und Schönheit wohlgesetzter Formulierungen, lediglich Elemente des Denkens über Dinge sind und deshalb vom direkten Wahrnehmen immer einen Schritt entfernt. An diesem Punkt betreten wir das Reich reiner Dichtung, in dem wir Worte benutzen, um über Worte hinauszuweisen, um zu vermitteln, was in Prosa zu sagen nicht möglich ist. An diesem Punkt berühren wir auch das, was ein Kollege2 bezeichnenderweise „implikative holistische Sinngebung“ nennt – etwas, das viel mehr einem direkten Fühlen ähnelt, einem Wissen, das uns in den Knochen steckt, im Herzen, weit entfernt von den Worten und Vorstellungen, die wir später vielleicht auf das Erlebnis anwenden. Vielleicht ist es letztendlich diese Fähigkeit, die uns aus Automaten in Menschen verwandelt. Und genau hier ist der Ort, an dem wir das Gebiet einer im ganzen Körper lebendigen Achtsamkeitspraxis betreten.

Das Geheimnisvolle am Gewahrsein ist, dass es wirklich und wahrhaftig jenseits aller Worte liegt. Es ist in unserem Wesen angelegt. Wir alle haben es bereits, haben es immer. Es ist uns näher als nah. Und doch habe ich, paradoxerweise, schon jetzt eine ganze Menge Worte gebraucht, um Sie zu einer Ahnung dessen zu verleiten, was Ihnen schon gehört, was Sie sind – was Sie in Wirklichkeit sind, einfach nur, indem Sie Mensch sind. Ich hoffe, dass dieses mein „Zeigen mit Worten“ bei Ihnen und in Ihnen Widerhall findet, auf einer tiefen intuitiven Ebene, weit weg von Worten und Geschichten.

Dieses Buch und die anderen in dieser Reihe sind voll mit Worten, mit Tausenden von Worten. Und doch sind sie alle nur Fingerzeige, Visierlinien, entlang derer Sie anpeilen, nachfühlen, nachspüren können, während Sie innehalten und loslassen, innehalten und loslassen, innehalten und ankommen, Moment für Moment. Wo? In dem, was gerade zur Hand ist, was relevant ist, Ihnen in diesem Moment ins Auge springt. In die Aktualität des Jetzt, der Dinge, wie sie sind.

Einfach? Ja! Können Sie das? Natürlich! Muss man dazu etwas machen? Eher nicht. Jein. Es sieht nur so aus, als müsste man etwas machen. Eigentlich geht es darum, ins Wachsein zu fallen. Und das ist, wie wir gesehen haben, eine Liebesaffäre mit dem, was ist, und mit dem, was im nächsten Moment möglich sein könnte, wenn wir bereit sind, im Jetzt voll da zu sein, ohne ein bestimmtes Ergebnis zu erwarten oder darauf angewiesen zu sein.

Wenn Sie denken, bei der Meditation müsse man etwas machen, dann können Sie es auch bleiben lassen – es sei denn, Sie erkennen, dass in der scheinbaren Verrücktheit oder Sinnlosigkeit des Nicht-Tuns eine Methode liegt. In der alten chinesischen Zen-Tradition wird dies manchmal als „Methode, keine Methode zu haben“ bezeichnet. Dies ist der Punkt, an dem die Einheit zwischen dem instrumentellen Ansatz (etwas tun, etwas geschafft bekommen) und dem nicht-instrumentellen Ansatz (Nicht-Tun), die ich im ersten Band behandelt habe, ins Spiel kommt. Unsere angeborene Wachheit lässt sich nicht aufbauschen, lässt sich nicht verkaufen, lässt sich nicht korrumpieren. Sie kann nur aufgezeigt und erkannt werden. Und der einzige Weg, sie zu erkennen, ist: sich selber nicht im Weg zu stehen, sondern für einen Moment einfach innezuhalten und anzukommen. Innehalten und ankommen. Innehalten und ankommen.

Ein sehr praktischer Weg, das zu tun, führt über ein bewusstes Erleben der Sinneswahrnehmungen.

Wir können also experimentieren: Ist es uns möglich, genau jetzt, in diesem Moment, „bei Sinnen“ zu sein? Können wir hören – und zwar nur das, was auch wirklich zu hören ist? Können wir sehen – und zwar nur das, was auch wirklich zu sehen ist? Können wir fühlen – und zwar nur das, was auch wirklich zu fühlen ist? Ist es uns möglich, in der Tatsächlichkeit dieses jetzigen Moments aufzuwachen und in dem, was wir „unsere eigentliche Natur“ nennen könnten – was hinter all unserem Denken, unseren Vorstellungen, Perspektiven, Weltmodellen, religiösen Lehren, Philosophien, unserer Bildung usw. liegt? Denn nichts davon ist unverzichtbar für den Prozess, in dem wir ins hellwache Dasein fallen – obwohl all diese Dinge natürlich paradoxerweise auf eine schöne Weise wichtig sein können, solange man sich nicht an sie klammert. Sich nicht zu identifizieren mit irgendetwas; nicht zu sagen: „Das bin ich, das gehört zu mir, das macht mich aus“: Das ist der Schlüssel. Denn wir haben im Grunde keine Ahnung (oder eben nur vage Ahnungen), worauf sich diese Personalpronomina der ersten Person eigentlich beziehen. Deshalb steht am Anfang und am Ende aller meditativen Übungen dieses: „Wer bin ich?“, und dann folgt das Innehalten und Ankommen in Gewahrsein, im Nicht-Wissen, hinter allem Denken. Innehalten und ankommen. Wann? Wenn Sie sich daran erinnern. Wie wäre es mit jetzt? Und jetzt? Und jetzt? Nichts muss anders werden. Sie müssen nichts tun. Nur sich erinnern.

*

Während die Welt immer komplexer wird, unsere Tage aus endlosen Listen von Dingen bestehen, die erledigt und abgehakt werden müssen, oder aus Momenten, in denen wir aufgefordert werden, nicht bloß herumzustehen, sondern etwas zu unternehmen – da ist es sehr leicht, sich immer mehr in den Narrativen im Kopf zu verlieren, den Erzählungen darüber, was eigentlich vor sich geht, wo unser Platz in all dem ist; darüber, wo wir dereinst landen werden oder anzukommen hoffen oder im Gegenteil fürchten, eben gerade nicht anzukommen – und dabei fast völlig aus den Augen zu verlieren, welches Wunder, welche Pracht es ist, überhaupt am Leben zu sein.

Wir konstruieren im Kopf Identitäten, „Zu-erledigen“-Listen und Zukunftspläne und verlieren uns dann in diesen Konstrukten, in unseren Realitätsmodellen und in unseren Gedanken, die, sogar wenn sie zutreffend sind, nur teilweise zutreffen, definitiv nicht hundertprozentig – und im Normalfall reicht das eben nie. An diesem Punkt angelangt, sind wir wahrscheinlich schon viel zu beschäftigt, viel zu sehr schon in die Eigendynamik dieser Geschäftigkeit verstrickt, um noch daran zu denken, dass wir auch wach sein könnten. Wir schalten so schnell in den Autopiloten-Modus – rutschen in die vertrauten ausgetretenen Pfade unseres Denkens und unserer Emotionen, verlieren uns darin, Punkt für Punkt auf unserer Liste abhaken zu müssen, und werden immer süchtiger nach den vielen Ablenkungen, die uns Smartphone, Tablet & Co. mit ihrer „grenzenlosen Vernetzung“ liefern –, dass wir aus den Augen verlieren, was direkt vor unserer Nase liegt und was jetzt gebraucht wird, und jetzt, und jetzt.

Wenn wir Achtsamkeit kultivieren, sei es formell oder informell, können wir die Blase genau in dem Moment, in dem sie aufsteigt, platzen lassen, oder sobald wir merken, was vor sich geht. Sie kann verborgene Dimensionen unserer selbst aufdecken und wiedergewinnen helfen, die wir für unser Weiterleben dringend brauchen werden, wenn wir unserer Menschlichkeit und ihrer vollen Entfaltung treu bleiben wollen. Keine(r) von uns will eigentlich, dass auf seinem oder ihrem Grabstein steht: „Ich hätte mehr arbeiten sollen“ oder „Ich hätte mich mehr ablenken lassen sollen“, aber in der Art und Weise, wie wir unsere Energien einsetzen, und in der Summe aller unserer verpassten Gelegenheiten leben wir genau so. Achtsamkeit kann ein Gegengewicht gegen all das sein, ohne es gewaltsam zu stoppen. Nur wir müssen stoppen, und nur für diesen zeitlosen Moment.

Da dieses Buch davon handelt, wie man im alltäglichen Leben Achtsamkeit praktiziert, stellen wir eines am besten gleich klar: Es gibt kein Leben außer dem alltäglichen.

Nichts wird aus dem alltäglichen Leben ausgegrenzt, auch nicht all die Gedanken und Emotionen, die wir jeden Moment haben, unabhängig von der Situation. Im Wesentlichen findet alles, was entsteht, in der Sphäre unseres Lebens statt. Und deshalb wird es in diesem Moment Teil des „Achtsamkeits-Lehrplans“, könnte man sagen. (Und wenn es immer wieder auftaucht, wird es in vielen, vielen Momenten Teil des Lehrplans, denn manchmal lässt der Lehrplan uns einfach nicht gehen.) Letztendlich kann jeder Moment unseres Lebens zur Kultivierung von Achtsamkeit beitragen, nicht nur die Tageszeit, die wir für formelle Meditation reserviert haben. Das Leben selber wird zum Lehrplan. Das Leben selber wird zur Meditationspraxis.

Darauf läuft es im Wesentlichen hinaus, wenn wir Achtsamkeit kultivieren und zur „Be-Sinn-ung“ kommen wollen (das ist sowohl wörtlich als auch metaphorisch gemeint). Wenn wir nur dieses eine Leben zu leben haben – wollen wir es wie Schlafwandler verbringen, verloren in Gedanken und Geschichten und Emotionen? Oder wollen wir Wege finden, wach zu werden für die Fülle jedes Augenblicks und dessen, was er bereithält, wenn wir ihn – und uns – nur annehmen und berühren, egal, was in einem einzigen Moment oder im Laufe eines Tages alles entsteht? Dieses Buch lädt Sie zu einem Training ein (und ich sollte sagen, „uns“, denn ich bin keine Ausnahme, und wir arbeiten in diesem Forschungsabenteuer zusammen, so wie Millionen andere, die sich dafür entscheiden, ihr Leben in diese Richtung zu orientieren), im Laufe eines Tages immer wieder ins hellwache Dasein zu fallen. Und es auch zu bestimmten Zeiten in einem formelleren Rahmen zu üben, indem man bestimmte Zeiten reserviert, die allein dem Dasein gewidmet sind, in denen es keine Agenda gibt, was zu tun oder zu erledigen wäre (auch keine geheime Agenda, besser meditieren zu lernen!). Die Fülle Ihres Erlebens ist in jedem Moment vollständig, also lässt sie sich nicht verbessern. Die Herausforderung lautet immer: Können wir voll bei der Sache sein, dafür da sein, darin sein, bis wir erkennen, dass alles, was sich in einem gegebenen Moment entfaltet, der Lehrplan dieses Moments ist? Und somit erkennen, was in einem alten Cartoon des „New Yorker“ ein Mönch zu Beginn der Meditation zum anderen sagt: „Es passiert nichts. Genau darum geht’s.“

Vom Anfang bis zum Ende werden wir auf den Seiten dieses Buches lebendige, leibhaftige Achtsamkeit kultivieren. Jedes Kapitel bildet auf gewisse Weise eine andere Tür in denselben Raum: den Raum Ihres Gewahrseins. Jede Eingangstür – und natürlich auch jeder Ihrer Sinne – hat ihre eigenen, ziemlich staunenswerten Eigenschaften. Der verbindende Faktor der Praxis ist jedoch, dass der Raum, den wir betreten, der Raum unseres eigenen Gewahrseins ist, egal, durch welchen Eingang wir gekommen sind. Wir nehmen unseren Platz ein – im wörtlichen wie im metaphorischen Sinne – und erden uns in der Praxis, ohne das, was Moment für Moment in unserem Erleben entsteht, zu bearbeiten oder zu beurteilen. Wir tun das, so gut wir können, ohne uns in Fragen zu verstricken, ob unsere meditative Erfahrung „gut“ ist oder ob unsere Erfahrung so ist, wie sie „sein soll“. Wenn Sie etwas erleben und sich dessen bewusst sind, dann ist das, was Sie erleben, für diesen Moment perfekt – perfekt als das, was es ist.

Die wirkliche Frage ist: „Welche Beziehung werden Sie zu dem haben, was sich im jeweiligen Moment entfaltet – der immer der jetzige Moment ist?“ Mit anderen Worten: Können Sie das, was Sie erleben, im Gewahrsein halten, ohne es auf irgendeine Weise zu beurteilen oder eine Geschichte über Ihr Erleben – sei es angenehm, unangenehm oder neutral – zu erfinden, die Sie schließlich selber glauben? Die Bereitschaft, in ruhigem Gewahrsein bei dem zu verweilen, was Ihr Erleben im Moment ausmachen mag (erwünscht, unerwünscht oder nahezu unbemerkt; angenehm, unangenehm oder weder noch), lädt zu einer ganz neuen Art von Beziehung zu unserem Erleben ein (wozu auch gehört, wie viel wir urteilen und werten!). Dies bringt eine neue Möglichkeit mit sich, einen Raum der Freiheit zu bewohnen, der viel größer ist als Vorlieben und Abneigungen und bevorzugte Ansichten, wie die Welt ist (oder nicht ist). Und somit lädt es Sie dazu ein, zu sein, wer und was Sie sind, und wenn es nur für einen kurzen Moment ist: jenseits Ihres Namens, jenseits von „Das ist meine Geschichte!“, überhaupt jenseits des Denkens, oder vielleicht sollten wir sagen: hinter allem Denken.

Was Sie entdecken werden, ist kein Geheimnis, und doch ist es gleichzeitig eine versteckte Goldmine. Es ist Ihr eigenes Gewahrsein, das sich einen klaren Blick und damit größere Weisheit zu eigen macht. Es ist Gelassenheit und somit eine unerschütterliche Stabilität im Geist und im Herzen, die von tiefer Fürsorge und Anteilnahme getragen wird. Es ist eine angeborene Liebesaffäre mit dem Leben, jenseits unserer viel zu beschränkten Erzählungen, wer wir seien und wie die Welt sei. Wie wir in „Meditation ist nicht, was Sie denken“ gesehen haben, ist das Begreifen, wer und was wir in unserer Fülle tatsächlich sind, und wie und was die Welt in ihrer Fülle tatsächlich ist, ein radikaler Akt der Liebe und geistigen Klarheit. Und dies macht uns offen für die Möglichkeit, in dieser Welt zumindest ein bisschen klüger zu handeln und dadurch die Heilung und Transformation und Befreiung zu erleben, die solch ein Handeln begleiten, Moment für Moment, Tag für Tag.

Die Empfehlung lautet also: Stürzen Sie sich, als gäbe es kein Morgen, als hinge Ihr ganzes Leben davon ab, in die formellen und informellen Übungen, die dieses Buch anbietet. Denn Ihr Leben hängt tatsächlich auf vielfältige, sehr reale und entscheidende Weise davon ab. Genauso wie das volle Potenzial Ihrer Präsenz und Wirksamkeit in der Welt, in der Familie, in dem, was Sie unternehmen, ja, selbst in Ihrem Körper und wie Sie sich in der Welt betragen (und wie Ihr Körper Sie trägt).

Dieses Engagement erfordert eine gewisse Disziplin und Entschlossenheit. Wenn es Ihnen irgendwie möglich ist, so schaffen Sie jeden Tag – ob Sie Lust haben oder nicht – Ihren Hintern sowohl im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinne auf ein Meditationskissen oder einen Stuhl oder ein Bett und belassen Sie ihn da – gerne auch ein bisschen länger, als Ihnen lieb ist. Es bedeutet, das unvermeidliche Unbehagen, die Ungeduld, die Langeweile, die sprunghaften Gedanken, den Ärger und überhaupt alles willkommen zu heißen, was aufkommt. Es bedeutet, all das einzuladen, damit es Ihre Lehrerin wird und Ihnen gestalten hilft, wie Sie sich dazu verhalten wollen – zum Erwünschten und zum Unerwünschten, zum Angenehmen und zum Unangenehmen, zum Leichten und zum Schwierigen. Das ist keine Folter (obwohl es sich manchmal so anfühlen kann), sondern Freiheit – die Freiheit, nicht verstrickt, ja womöglich gefangen zu sein in den eigenen Vorlieben und Abneigungen oder den endlosen Geschichten, die nie so ganz stimmen. In diesem Spiegel wacht der Geist auf. Er lernt sich selbst kennen, sich selbst und allem Erleben zum Freund zu werden. Und in diesem Prozess werden Sie selbst, so wie Sie sind, zur Verkörperung dieses Wissens. Durch diesen Prozess werden Sie viel besser wissen, wie einfach Dasein geht, und wenn Handeln gefragt ist, was zu tun ist.

Viel Spaß! Und bleiben Sie in Kontakt! Vor allem mit sich selbst. Seien Sie gewiss, dass Sie nicht allein sind bei diesem Unterfangen, auf vielfältige Art und Weise Wachheit zu kultivieren. Wir sitzen alle in diesem Boot, geben unser Bestes, lassen uns, so gut es geht, auf die formelle und informelle Praxis ein und sehen und begreifen, was herauskommt und wie es im Moment ist.

Jon Kabat-Zinn

Berkeley, Kalifornien

20. Februar 2018

1 Es sei denn, Achtsamkeit ist in den Schulen in Ihrer Gegend Teil des Lehrplans, was hierzulande und weltweit zunehmend der Fall ist.

2 Siehe: Teasdale, John und Chaskalson, M.: How Does Mindfulness Transform Suffering II: The Transformation of Dukkha. In: Williams, J. und Kabat-Zinn, J. (Hg.): Mindfulness: Diverse Perspectives on Its Meaning, Origins, and Applications. Milton Park, UK: Routledge, 2013, S. 103–124.

Erster Teil

Die Welt der Sinne:dein einziges, wildes, kostbares Leben

Wer hat die Welt gemacht?

Wer hat den Schwan und den schwarzen Bären gemacht?

Wer hat den Grashüpfer gemacht?

Ich meine diesen Grashüpfer hier –

den, der sich gerade aus dem Gras katapultiert hat,

der jetzt Zuckerkörnchen aus meiner Hand frisst,

der seine Kiefer nicht auf und ab bewegt, sondern vor und zurück –

der sich umschaut mit riesigen und komplizierten Augen.

Jetzt hebt er seine blassen Vorderbeine und wäscht sich gründlich das Gesicht.

Jetzt klappt er seine Flügel aus und schwirrt davon.

Ich weiß nicht genau, was ein Gebet ist.

Ich weiß aber, wie man achtsam ist, wie man hinfällt

ins Gras, niederkniet im Gras,

wie man faul und gesegnet sein kann, wie man durch die Felder streift (was ich ja schon den ganzen Tag tue).

Sag mir, was hätte ich sonst tun sollen?

Stirbt am Ende nicht alles, und immer zu früh??

Sag mir, was willst du anfangen

mit deinem einzigen, wilden, kostbaren Leben?

MARY OLIVER,Der Sommertag (The Summer Day)

Das Mysterium der Sinne und die Magie des Sinnlichen

Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut,

schließt ein neues Organ in uns auf.

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

Was fähig ist, zu sehen, zu hören,

sich zu bewegen, zu handeln, das

muss dein ursprünglicher Geist sein.

CHINUL,KOREANISCHER ZEN-MEISTER,12. JAHRHUNDERT

Unsere Sinne (und das, was sie erschaffen) sind, wenn man darüber nachdenkt, in jeder Hinsicht völlig verblüffend. Leider betrachten wir sie als etwas Selbstverständliches und ignorieren ihre Tiefe und Tragweite – falls wir sie überhaupt beachten. Unsere Sinne untermauern unsere Fähigkeit, ein erstaunliches Arsenal intelligenter Verfahren zu rekrutieren und zu entwickeln, mit denen wir unser Erleben dekodieren und uns in der Welt der Phänomene positionieren. Mit den Sinnen im Kontakt zu sein – und es sind, wie die moderne Gehirnforschung zeigt, wesentlich mehr als nur fünf – und mit den Welten, die sie uns innen und außen eröffnen: Das ist die Essenz der Achtsamkeit und des meditativen Gewahrseins. Sich ihnen achtsam zu widmen, liefert zahllose Gelegenheiten, im alltäglichen Leben Wachheit, Weisheit und gegenseitige Verbundenheit zu erkennen.

Unter besonderen Bedingungen können sich unsere Sinne außerordentlich verfeinern. Es wird berichtet, dass Jäger der australischen Aborigines, die im Outback leben, mit dem bloßen Auge die größeren der Jupitermonde sehen konnten, so geschärft war ihr Jägerblick. Es scheint, dass wenn bei der Geburt oder vor Vollendung des zweiten Lebensjahres ein Sinn verloren geht, die anderen Sinne eine Schärfe gewinnen können, die das, was wir normalerweise für möglich halten, weit übertrifft. Dies ist durch mehrere Studien belegt, sogar für Sehende, die für kurze Zeiträume (Stunden oder Tage) des Augenlichts beraubt wurden. Sie zeigen dann, mit den Worten des Hirnforschers Oliver Sachs, „einen auffälligen Zuwachs an taktil-räumlicher Sensibilität“.

Helen Keller konnte, wenn sie mit anderen Menschen in einem Raum zusammen war, einfach durch ihren Geruchssinn herausfinden, „was sie arbeiteten. Die Gerüche von Holz, Eisen, Farbe oder Medikamenten hängen in den Kleidern der Leute, die damit arbeiten … Wenn ein Mensch schnell an mir vorbeigeht, bekomme ich einen Geruchseindruck, wo er oder sie gewesen ist – in der Küche, im Garten oder im Krankenzimmer.“

Die verschiedenen isolierten Sinne (wir betrachten sie ja meist als getrennte, sich nicht überlappende Funktionen) schneiden für uns verschiedene Segmente der Welt heraus und verwerten die Rohdaten sensorischer Eindrücke (und unserer Beziehung zu ihnen) zur Konstruktion und Erkenntnis der Welt. Jeder Sinn hat sein ganz eigenes Gefolge von Eigenschaften um sich, aus denen wir nicht nur unser „Bild“ von der „Außenwelt“ bauen, sondern auch Bedeutungen und – Moment für Moment – unsere Fähigkeit, uns in ihr zu verhalten.

Wenn wir die Berichte von Menschen lesen, denen – von Geburt an oder durch spätere Ereignisse – ein oder mehrere Sinneskanäle fehlen, die die meisten von uns besitzen, können wir eine Menge über uns selbst lernen und das, was wir so oft als selbstverständlich voraussetzen. Und wir können ausloten, wie sich für uns die Erfahrung eines so tiefgreifenden Verlustes (das scheint es uns jedenfalls zu sein) anfühlen würde, und von denjenigen lernen, die Wege gefunden haben, trotz solcher Einschränkungen ein reiches Leben zu führen. Und dadurch könnten wir das Geschenk, das uns die Sinne, die wir haben, genau jetzt in diesem Moment bereiten, und das Geschenk unseres praktisch grenzenlosen Potenzials, sie in den Dienst einer (wie zu hoffen ist) stetig wachsenden Bewusstheit für die inneren und äußeren Landschaften unseres Lebens zu stellen, besser schätzen lernen. Denn was wir wissen, wissen wir nur durch das volle Spektrum unserer Sinne, gekoppelt mit jener Fähigkeit des Geistes, die wir „Wissen an sich“ nennen könnten, seiner eigenen sensorischen und integrierenden Funktion.

Helen Keller schreibt:

„Ich bin genauso taub, wie ich blind bin. Die Probleme der Taubheit reichen tiefer und sind komplexer als die der Blindheit. Taubheit ist ein viel schlimmeres Unglück. Sie bedeutet nämlich den Verlust eines zentralen Stimulus – des Klanges einer Stimme, die Sprache transportiert, Gedanken anregt und uns in die Gemeinschaft des menschlichen Intellekts aufnimmt … Wenn ich noch einmal leben könnte, würde ich viel mehr für die Gehörlosen tun, als ich getan habe. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Taubheit ein viel größeres Handicap ist als Blindheit.“

Der Dichter David Wright erlebt seine Taubheit als etwas, in dem meistens die Ahnung eines Hörerlebnisses mitschwingt:

„Nehmen wir an, es ist ein ruhiger Tag, absolut still, es regt sich kein Zweig und kein Blatt. Mir erscheint er still wie ein Grab, obwohl in den Hecken zahllose unsichtbare Vögel lärmen. Dann kommt eine Brise, die ausreicht, ein Blatt zu bewegen; und diese Bewegung höre und sehe ich wie einen lauten Ruf. Die scheinbare Lautlosigkeit ist durchbrochen. Ich sehe, als ob ich hören würde, den Wind als visionäres Geräusch im bewegten Laub … Manchmal muss ich mich richtiggehend anstrengen und mir sagen, dass ich nichts ‚höre‘, denn es gibt ja nichts zu hören. Zu solchen ‚Nicht-Geräuschen‘ gehört zum Beispiel der Flug und die Bewegungen von Vögeln, es können aber auch Fische im klaren Wasser oder in einem Aquarium sein. Ich nehme an, dass der Flug von Vögeln, zumindest aus der Entfernung, lautlos sein muss … Und doch erscheint er mir hörbar, wobei jede Vogelart eine andere ‚Augen-Musik‘ erzeugt, von der gelassenen Melancholie der Möwen bis zum Stakkato herumflitzender Blaumeisen …“

John Hull, der in seinen späten Vierzigern komplett das Augenlicht verlor, erlebte den allmählichen Verlust aller visuellen Bilder und Erinnerungen und glitt in eine, wie er sagt, „tiefe Blindheit“. Laut Oliver Sachs’ Artikel im „New Yorker“ zum Thema Sinneswahrnehmung geschah bei dem „Ganzkörperseher“ (so charakterisierte Hull selbst seinen Zustand tiefer Blindheit) eine Verlagerung der Aufmerksamkeit, seines Schwerpunkts, hin zu den anderen Sinnen. Und Sachs berichtet: „Hull schreibt immer wieder davon, wie die anderen Sinne eine neue Fülle und Kraft gewinnen. So spricht er zum Beispiel davon, wie das Geräusch des Regens, dem er zuvor nie besondere Aufmerksamkeit gewidmet hatte, nun eine ganze Landschaft erstehen lässt, denn Regen auf dem Gartenweg klingt anders, als wenn er auf den Rasen trommelt oder auf die Büsche im Garten oder auf den Zaun, der den Garten von der Straße trennt.“

„Der Regen hat die Gabe, die Konturen aller Dinge hervortreten zu lassen; er breitet eine farbige Decke über zuvor unsichtbare Dinge; anstelle der intermittierenden und dadurch fragmentarischen Welt schafft der stetig fallende Regen die Kontinuität des akustischen Erlebens … präsentiert in einem einzigen Moment die Fülle der gesamten Situation … gibt dir ein Gefühl für die Perspektive und den tatsächlichen Zusammenhang der einzelnen Teile der Welt.“

Sachs’ Formulierung „dem er zuvor nie besondere Aufmerksamkeit gewidmet hatte“ ist aufschlussreich. In Menschen, denen ein oder mehrere Sinne fehlen, fördert und verstärkt die bloße Notwendigkeit solch eine Verlagerung der Aufmerksamkeit. Aber wir müssen nicht erst den Verlust unseres Gehörs oder Augenlichtes (oder eines anderen Sinneskanals) erleben, um ihm Aufmerksamkeit zu widmen. Achtsamkeit lädt uns ein, unseren Sinneseindrücken am Punkt der Berührung zu begegnen (siehe dazu auch „Wie die Schuhe entstanden“ im ersten Band „Meditation ist nicht, was Sie denken“, S. 100), diese überreichen Welten zu erkennen und im Erkennen zu verweilen, statt sie durch Ignorieren oder gewohnheitsmäßiges Abstumpfen der Sinnestore wie auch des Geistes, der sie durchschreitet und ihnen und uns Sinn verleiht, einzuebnen.

Genauso, wie wir von denen lernen und von ihnen in Erstaunen versetzt werden können, die den Verlust eines oder mehrerer Sinne erlitten und sich körperlich und geistig auf erstaunliche Weise angepasst und umgestellt haben, um ein reiches Leben führen zu können – genauso können wir dazulernen, indem wir der Welt der Natur, die uns über alle Sinne gleichzeitig ruft und sich uns darbietet, absichtlich Aufmerksamkeit widmen; einer Welt, in der unsere Sinne ja geschaffen und geschärft wurden, und in die wir von Anfang an nahtlos eingebunden waren.